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Der Sturz in die Tiefe

Amber lauschte angestrengt.

Es war alles still. Seit Stunden herrschte Stille. Noch.

Sie konnte nicht hinaus. Ihr Vater hatte die Schlüssel mitgenommen. Sogar die Fenster hielt das E-System geschlossen.

„Blindy, Blindy, Vierer-Kindy, armes Aa-.“

Wie gerne wäre sie jetzt in der Schule gewesen. Wie gerne hätte sie selbst diesen Singsang gehört. Alls war besser als diese Stille, diese dröhnende Stille, die selbst ihren Namen verschlang.

Wie gerne wäre sie jetzt an ihrem Platz in der Schulmensa gesessen, diesem Platz, an dem sie stets ganz allein saß. Unbehelligt, so lange die anderen noch zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt waren um nach dem Objekt zu sehen, an dem sie ihren wie auch immer gearteten Frust ablassen konnte.

Die seien unglücklich, hatte ihre Mutter gesagt, deshalb seien sie so. Amber hatte aber nicht den Eindruck, daß die anderen unglücklich waren.

Armes Aaa-.

Amber, das Aa-, die einzige, die einfach so am Checkpoint vorbei ging. Weil sie nämlich nichts abzugeben hatte. Die einzige, die mit nackten Augen wieder hinaus spazierte, während die anderen grinsend durch ihre VVs in ihre Abenteuerwelten lugten.

Amber hatte keine Ahnung, wie die Welt durch eine Vision View aussah. Das, was für alle anderen selbstverständlich war, blieb für sie unerreichbar. Für die anderen war sie die Andere, so gut oder besser so schlecht wie eine aus dem vierten Bezirk, diesem Bezirk, in den ihr Vater all sein sauer verdientes Geld trug, um sich den illegalen Fusel zu besorgen. Alkohol gab es für die Bürger des dritten Bezirks nur auf Lizenz – zu besonderen Anlässen.

Der vierte Bezirk, in dem sie über kurz oder lang landen würde. Bei den Outlaws, in der Wildnis, in den Ruinen aller Hoffnungen.

Immerhin hatte sie dann schon alle möglichen Kleider übereinander gezogen. Es war eiskalt hier. Strom und Heizung waren heute Morgen schon abgestellt gewesen. Zum Glück lief das Wasser noch, da konnte sie wenigstens etwas trinken. Und auf die Toilette gehen. Sie hatte sogar noch ein paar Kekse gehabt, in ihrem Versteck. Mrs. Jones hatte ihr die mal zugesteckt, Komisch, wo die doch so ein Drache war. Sie hatten schon etwas muffig geschmeckt, aber immerhin.

Selbst das blöde Algen-Zeug hätte sie jetzt zu gerne gehabt. Aber – es waren Weihnachtsferien. Niemand würde sie vermissen. Die anderen bräuchten gerade niemanden, um ihren Frust abzulassen, die wären zu sehr beschäftigt mit Geschenke aussuchen und die Lehrer würden ihre abschätzigen und ihre wohlwollenden Blicke in ihren Aktentaschen verstauen bis zum neuen Jahr. Und das System hielt seine elektronischen Augen geschlossen und würde erst dann wieder mit Schülerzählen anfangen.

Draußen glitzerte die Adventslichterketten, während hier drinnen die Dunkelheit tiefer wurde. Amber hatte sich in ihrem Bett zusammengekauert. Ihr Zimmer lag nach hinten hinaus, zum Hof hin.

Weihnachten war es auch gewesen. als ihre Mutter gestorben war.

Vielleicht waren die anderen doch frustriert. Daß sie nicht so schön waren wie die Kinder in den VisionWalls, diese Kinder aus dem ersten Bezirk, die ihr erstes Genetic Forming schon vor der Geburt bekamen. Und daß sie immer noch auf dieser Schule waren, nicht auf einer der Hochbegabten oder Sonderbegabten. Die Sonderbegabten mit ihren unheimlichen Fähigkeiten, deren Formel die Genetiker noch immer nicht entschlüsselt hatten.

 

Mit einem Mal zerbarst die Stille.

Da war es, das Geräusch, vor dem sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte.

Die Wohnungstür wurde geöffnet, jemand polterte herein. Das erste, was sie hörte, war ein gemurmelter Fluch. Und dann, nach einem winzigen Moment der Stille, brach das Brüllen los.

Amber sprang aus dem Bett. Das wenige Licht, das durch ihr Fenster fiel, ließ sie gerade noch die Türklinke erkennen, unter die sie die Lehne ihres Stuhles geschoben hatte.

Das Brüllen und Poltern toste durch die Wohnung. Amber begann schon zu hoffen, vielleicht - vielleicht würde er ja toben und umfallen und einschlafen, bevor er an ihre Tür gekommen war. Es war schon vorgekommen, gewiss doch.

Sie hätte es nicht wagen sollen, diese winzige Flamme einer irrwitzigen Hoffnung zu nähren. Genau in diesem Moment hörte sie den Namen, bei dem sie ihr Vater immer rief.

„Trine! Du dumme Trine! Wo steckst du?“

Amber wich langsam vor der Tür mit dem Stuhl unter der Klinke zurück.

„Du dumme blöde Trine! Wo hast du dich verkrochen? Komm raus, du dämliches Miststück!“ Das Brüllen wurde unausweichlich lauter.

Amber wich zurück, während der Hass ihres Vaters immer mißtönender durch die Tür dröhnte, sie wich zurück, bis sie die kalte Wand in ihrem Rücken spürte. Die Kante des Fensterbrettes.

Und dann geschah das, wovor sie sich gefürchtet hatte. Die Klinke ihrer Tür prallte auf die Stuhllehne. Sein Brüllen schüttelte ihre Knochen wie Stäbchen in einem alten Sack. Die Klinke rüttelte. Er hatte den Schlüssel, er hatte alle Schlüssel. Und doch widerstand ihm ihre Tür. Zum ersten Mal.

Aber wie lange noch?

Sie wusste, sie hätte das nicht tun dürfen. Es war schlechschlechtschlecht. Aber er durfte nicht herein kommen.

Der Stuhl wackelte, die Tür wackelte. Wackelte sie wirklich?

Wenn er jetzt herein kam, dann war es soweit. Dann geschah es auch mit ihr.

Amber drehte sich um und packte den Fenstergriff. Das Fenster schwang auf, natürlich, er hatte ja das System entriegelt, jetzt gingen die Fenster auch wieder auf. Sie sprang hinaus. Mit beiden Beinen landete sie auf dem Fenstersims, es ging so schnell, daß sie es selbst fast nicht begriff. Ringsum leuchtete Licht aus dem einen oder anderen Fenster.

Sie kannte kaum jemanden hier, sie waren erst wenige Wochen in diesem Haus, dieser riesigen Mietskaserne, in der so viele Menschen wohnten. Die hellen Fenster waren fremd. Ihre Knie zitterten. Sie tastete nach der Wand, presste sich gegen die Klinker neben ihrem Fenster. Ihr Herz klopfte so laut, daß sie das Brüllen einen Moment lang nicht mehr hören konnte.

Und dann umso lauter, als der Stuhl polternd umfiel und das Brüllen plötzlich ganz nah war. Und verstummte. Und sich veränderte.

„Ambrosine, dumme Trine,“ hörte sie die Stimme ihres Vaters ganz nah. „Wo steckst du denn, mein Schätzchen? Papa ist da!“ Der Hohn in seiner Stimme drang tiefer ein als die Wut seines Brüllens.

„Ambrosine, dumme Trine.“

Gleich, gleich würde er merken, daß sie nicht im Zimmer war. Daß das Fenster offen stand. Er musste nur noch heraus langen.

Wenn sie nur weg laufen könnte, weit weit weg, so weit weg, daß er sie nie mehr finden konnte. Ringsum leuchteten die Fenster hell, doch der Schacht in der Mitte war so dunkel und tief wie ein Brunnen. Ihre Knie zitterten immer stärker.

Und dann kam er ans Fenster.

Amber fiel.

 

Im Zwischenreich

Sie war noch da.

Alles tat weh. Jemand hatte sie aufgefangen. Jemand mit vielen starken Armen.

Der Baum.

Der Baum hatte sie aufgefangen. Richtig, es gab da diesen Baum in der Tiefe. Sie war gerannt und gerannt, durch einen endlosen Tunnel, weit fort und hatte sich doch festgehalten und war doch gestürzt.

Etwas war weg und doch war sie da. In den Astarmen.

 

Und dann fing sie noch jemand auf. Jemand mit warmen weichen Armen und plötzlich kehrte das Verlorene zurück, für lange Augenblicke, schmolz ihre Gedanken. So warm, so geborgen. Endlich. Ganz. So war das. So war das richtig. Sie sank in sich hinein.

Einen Moment lang sah sie Lichter und weiße Betten. Das war gut so. Zufrieden entglitt sie in die weiche Wärme.

 

 

„Kleines?“

Sie trieb aufwärts durch die warme Dunkelheit eines diffusen Schmerzes.

„Kleines – kannst du mich hören?“ Jetzt konnte sie ihre Augen spüren, als ihre Augenlider sich ihr widersetzten. Doch dann erkannte sie verschwommen ein Gesicht.

„Wie heißt du denn?“

Es war ein freundliches Gesicht, das zu ihr herab schaute. Sie schwieg, denn mit ihrer Sicht klärten sich auch ihre Gedanken.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Sicherheit.“ Doch sie hielt den kalten Schutzwall der Furcht um sich geschlossen. Nur nicht ihren Namen verraten ...

„Jetzt wird alles gut.“ Sie war versucht, der gütigen Stimme zu glauben, als sie erneut in der warmen Dunkelheit versank.

 

 

Lange Zeit schwebte sie. Mit jedem Atemzug drang Wohlbefinden in sie ein und vertrieb mehr und mehr den Schmerz. Und langsam, ganz langsam sickerte das Gefühl der Geborgenheit durch den eisigen Wall um ihr Inneres.

 

 

Als sie erneut auftauchte, diesmal ohne Schmerz, sah sie wieder das freundliche Gesicht über sich. Und wieder wurde sie nach ihrem Namen gefragt.

 

Auferstehung

 „Quendolin“.

Ja, das war es. Sie würde ab jetzt „Quendolin“ heißen. Wie es wohl wäre, eine Quendolin zu sein?

Eine Quendolin lebte auf der heiteren Seite der Welt. Sie würde niemals einen Stein umdrehen, um zu sehen, was darunter war. Igitt, da könnte ja ihr Kleid schmutzig werden. Eine Quendolin lebte oben auf der Zuckerkruste einer Cème brulée. Denn was das eigentlich war, eine Crème brûlée, das erfuhr sie nun als Quendolin.

 

 

Zunächst gab sie vor, sich an nichts zu erinnern. Tatsächlich wusste sie nicht so recht, wie sie hierher gekommen war, in dieses Krankenhaus im ersten Bezirk. Aber sie wusste noch ganz genau, woher sie gekommen war.

Am Anfang fühlte sie sich noch etwas seltsam. Als sei etwas verloren und doch nicht. Es war verwirrend. Und Angst hatte sie. Aber er tauchte niemals auf. Wie denn auch – im ersten Bezirk. Niemand schien nach ihr zu suchen. Und dann begriff sie, daß mit der Zeit etwas nicht stimmte. Es war eine andere Zeit.

Langsam verlor sie die Angst davor, ihrem Vater wieder zu begegnen.

Die Ärztin war sehr nett zu ihr. Man unterzog sie allerlei Untersuchungen und dann schickte man sie auf eine Schule für Sonderbegabte. Vielleicht würde sie eines Tages sogar Mitglied der Bat-Teams.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Jetzt war sie Quendolin. Und wenn sie ein bißchen ernsthafter sein wollte, konnte man sie ja „Quen“ nennen.

 

Superheldenkräfte

Zwei Jahre später

 

Quen schaute auf die verschwommene Silhouette. Sie blinzelte.

„Kannst du ihn sehen?“, fragte die Stimme ihres neuen Lehrers.

„Naja,“ murmelte sie.

„Konzentrier dich – es ist wichtig! Unser Schicksal hängt davon ab!“

Der Umriss wurde schärfer. Sie sah einen Mantel und einen Hut drüber. Ein Mann.

„Das ist er, das ist der böse Mann, der New Eden in den Untergang treiben wird. Nur du kannst uns retten, Quen!“

Sie fühlte, wie etwas in ihre Hand gedrückt wurde. Etwas Kaltes.

„Schieß, Quen, rette uns!“ Die Stimme ihres Lehrers drängte

Tatsächlich. Das war so etwas wie ein Abzug unter ihren Fingern. Ein breiter kalter Haken.

„Nun mach schon Quen, schnell, rette uns alle! Drück ab!“

Aber sie konnte doch nicht, ihr Herz klopfte.

„Drück ab!“ Jetzt klang die Stimme in ihrem Kopf sehr, sehr zornig.

Erschrocken krümmte sie die Finger.

Es gab einen furchtbaren Knall.

Erwählt -

Es war alles so schön gewesen.

Bis er kam.

Sie hatten sie tatsächlich auf eine Schule für Sonderbegabte geschickt. Seither lebte sie in einem Schloss mit weißen Kletterrosen an den roten Backsteinmauern. Kastanienbäume beschirmten den Rasen und die Betten in den Mädchenzimmern besaßen seidene Vorhänge.

Quendolin hatte einen guten Start, indem sie alle damit amüsierte, daß sie jeden Tag eine neue Geschichte ihrer Herkunft zum Besten gab – denn natürlich wusste man, daß sie nicht wusste, woher sie kam. Alle mochten Quendolin und Quendolin mochte alle – naja, bis auf diesen Zitteral Joe, der es nicht lassen konnte, elektrische Schläge auszuteilen. Und sie hatte Freundinnen, echte Freundinnen. Ihre vollen Kräfte würden sich erst mit der Zeit entfalten, hieß es. Bei manchen war das noch das Geheimnis der Talentscouts – bei anderen zeigte es sich bereits. Sara konnte Pflanzen wachsen lassen, naja, erstmal so ein bißchen. Wenn sie einen Samen auf ihre Handfläche legte, begann er zu keimen. Was sie damit eines Tages alles anstellen konnte! Okey, wohl weniger in einem Bat-Team, eher in den Gartenkomitees der Damen im ersten Bezirk, aber das fand Saras Mutter, die zu etlichen dieser Konitees gehörte, schon großartig genug.

Und Jennifer erst: Jennifer konnte mit Tieren sprechen! So hatte man sie auch gefunden – als Adoptivkind einer ausgebüxten Zirkusbärin.

Aber das wichtigste war, daß sie mit ihnen ganz viel lachen konnte. Alles war gut. Bis zu diesem Tag.

 

Es war im März, in den Parks zeigte sich schon das erste zaghafte Grün. Im Hausgarten von Saras Mutter kriegten die Sträucher schon dickere Knospen und Saras Mutter wurde langsam aufgeregt. Sie hatte sie ins grüne Kaufhaus am Paradise Place eingeladen. Sie war so stolz auf ihre sonderbegabte Tochter, daß sie auch ihre beiden Freundinnen, die Findelkinder, quasi mit adoptiert hatte. Sie saßen im Wintergarten der Schule unter den blühenden Fuchsienbäumen und vertrieben sich die Zeit mit ihrem Lieblingsspiel „Was wäre wenn“ - die anderen beiden fanden, daß Quendolin wirklich die aberwitzigsten Ideen hatte.

„Was wäre wenn – wir an dem Tag, an dem die Unruhen begannen, im zweiten Bezirk shoppen gegangen wären?“, schlug Quendolin, die die letzte Runde gewonnen hatte, gerade eine neue Runde des Spiels vor, als die beiden anderen plötzlich verstummten. Zuerst dachte sie, der Chauffeur, der sie abholen sollte, wäre schon eingetroffen, denn Sara und Jenny erhoben sich von ihren Stühlen. Aber dann sah sie den Mann, der plötzlich zwischen den alten Fuchsienbäumen stand, als wären diese der Rand einer exotischen Wildnis.

Die anderen beiden kannten ihn schon. Dies war einer der wichtigsten Männer New Edens. Für sie vielleicht sogar der wichtigste: der Chef der New Eden Sicherheit. Die New Eden Sicherheit umfasste die Garden und die Bat-Teams, die beide die Stadt beschützten. Und damit würde sie auch in gewisser Weise über ihre Zukunft entschieden, denn viele der Sonderbegabten in dieser Schule würden eines Tages für die Sicherheit arbeiten – vielleicht sogar als Superhelden, von allen geliebt und bewundert.

Er hatte so einen seltsamen deutschen Namen. „Deutschland“ - das war ein gruseliges Reich im alten Europa gewesen, voller Werwölfe und schnarrender Soldaten, die einem Dämon namens Hitler gedient hatten. Das ganze Volk hatte von Dämonen abgestammt, das wusste in den vereinigten Konsortien jedes Kind. Das Dämonenvolk war vom ruhmreichen damaligen US-Staat vernichtet worden, aber einige der Verseuchten waren entkommen. Hatte ihr Herz deshalb so geklopft? Bei diesem merkwürdigen Namen: „Dr. Wolpertinger.“

Eigentlich hatte sie da schon ein bißchen Angst vor ihm gehabt. Vielleicht weil er so mächtig war. Vielleicht aber eher wegen seiner Augen. Ganz hellblau und ein bißchen schräg waren die. „Wie ein Husky,“ hatte Jenny später gesagt und gekichert. Aber Quen hatte da schon gefunden, daß er sie eher an einen Wolf erinnerte.

Ihr Herz hämmerte, als habe es damals schon gewusst, was sie erst viel später begriff. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes gewesen. Diese wohlige Woge der Freude aus dem Bauch herauf, als er sich zu ihr wandte und sagte:

„Quendolin – du bist auserwählt.“

 

Impressum

Texte: Elvira Stecher
Bildmaterialien: Annika S.
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

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