Wenn man dir sagt: „Du bist auserwählt“ - dann ändere deinen Namen, wechsle die Haarfarbe und tauche unter. Am besten in einer anderen Stadt.
Zugegeben, das ist schwer. Jede Stadt hat ihre Nachbarschaften, ihre Vettern und ihre Clubmitglieder. Die brauchst du – wenn du nicht ganz unten landen willst. Genaugenommen brauchst du sie auch da.
Wer wüsste das besser als er. Er kam aus den Randbereichen des dritten Bezirks. Den Randbereichen zum vierten hin. Immer mit dem Drang nach oben, gejagt vor der Angst, weiter abzurutschen, so waren sie, die Einwohner des dritten Bezirks.
Wollten eigentlich alle Teenager die Welt retten?
Und wer rettete die Teenager vor der Welt?
Ihm war das widerfahren, von dem sie alle immer geträumt hatten: Er war auserwählt worden. Ein Leben im ersten Bezirk für ihn, eine lebenslange Rente für seine Eltern. Vielleicht, damit sie nicht allzu laut riefen: „Seht da, unser Sohn!“?
Auserwählt, erhoben aus den Massen, befreit vom Dasein einer Ameise der Straßenschluchten. Die oben lebten von denen unten, das war schon so, seit die erste Horde von Plünderern es vorgezogen hatten, in dem überfallen Dorf zu bleiben, statt es nieder zu brennen, als die ersten Edlen.
Auserwählt – von wem, und vor allem – wozu?
Dazu gibt es stets zwei Möglichkeiten: daß du für sie die Kastanien aus dem Feuer holst oder den Hofnarren machst. Für ersteres gab es die Bat-Teams. Von denen hatte er einst geträumt. Aber er gehörte nicht zu den Bat-Teams. Er war der Auserwählte unter den Auserwählten.
Aus einem einzigen Grund: Er konnte fliegen. So konnte er schon nicht abstürzen, wie einer seiner Vorgänger, als eines der technischen Gimmiks versagt hatte. Das hatten sie nämlich noch nicht herausbekommen, die Frankensteins der Gesellschaft: die genetische Formel für die Heldenkräfte. Und praktischerweise war er Tänzer gewesen. Das verlieh seinen Bewegungen diese unwiderstehliche Anmut.
Dabei hatte er niemals fliegen können und Tänzer war er auch nicht gewesen, der, den er darstellen sollte. Und existiert hatte er auch nie. Dafür hatte man diesem allzu gebrochenen Helden immer neue Gesichter verliehen und das, das er nun tragen durfte, entsprach dem allzeit flüchtigen Geschmack der Zeit.
Er war nicht Bruce Wayne. Auch wenn sie den Goldton aus seiner Haut heraus gebleicht und dafür sein Haar nachgedunkelt hatten. Das war der Heldenkörper, über dessen neustes Design sie abgestimmt hatten, die Top-Kreativen von Eden. Jetzt war sein Kinn kantig und seine Augen stahlblau, doch seinen wahren Namen trug er noch immer in sich. Verborgen.
Über ihm spielten sie mit den neuen Farb-Lasern. Absolut ungefährlich. Und so dekorativ. Dazu musste nicht einmal sein Stellvertreter antreten, Pardon, sich anseilen lassen für die Freitagabend-Show. Während er hier drunten durch den Schnee stiefelte.
Von wegen Schnee. Wenigstens gefror der Schneematsch schon wieder. Zumindest zum Rand der Gehsteige hin. Im ersten Bezirk hätte das Clean-up-System den Schnee bereits unter diesen Rand gesaugt und den federnden Belag der Gehsteige mollig warm geheizt. Nur auf den üppigen Rasenflächen durfte er liegenbleiben, der schöne dekorative weiße Schnee. Der erste Bezirk war die grüne Lunge der Stadt. So sagte man daselbst.
Bis die frische Luft dann über die hohe Mauer getrieben, die den ersten Bezirk abschottete, und durch den Wall aus Hochhäusern, der ihn umgab, gedrungen war, stank sie so wie ganz New Eden, wenn mancherorts auch nur im Kern: verrottet.
Das würde Ärger geben, wenn sie herausbekämen, daß er seinen teuer designten Heldenkörper hier spazieren führte, im zweiten Bezirk, auf den Ameisenstraßen am Grund der Häuserschluchten. Aber er musste ihm einfach einmal wieder ein wenig nahe kommen, sozusagen daran riechen, dem wahren Leben.
Wer sollte ihn schon erkennen. Die trugen doch alle ihre VV-Brillen und er seinen Hut ins Gesicht gezogen. Und immerhin testete er ihre neueste Erfindung unter seinem gut geschnittenen Anzug. Zumindest auf ihren Tragekomfort. Von wegen Komfort. Die würde ihm heute noch die Schweißperlen ins Gesicht treiben.
Jetzt musste er sich langsam sputen, die alte Mrs. Teitelbaum erwartete, daß man pünktlich zu ihrem Fünf-Uhr-Tee erschien. Auch wenn der meistens eine Stunde später serviert wurde.
Blumen musste er auch noch besorgen.
Er mochte den Pavillon am Paradise Port. Ihm gefiel seine altmodische Eleganz, vor allem, seit er wusste, daß er einst einen Zeitschriften-Kiosk beherbergt hatte. Inzwischen gab es nur noch den Eden Chronicle für diejenigen, die sich einen so teuren Anachronismus leisten konnten und die Gesellschaft bot im Pavillon Blumen an, die kaum weniger kosteten. Seine Mutter hatte immer davon geträumt, sich einmal einen Strauß Eden Flowers leisten zu können. Inzwischen konnte er ihr diesen Wunsch erfüllen. Immerhin etwas.
Aber sich an einen der Tische im exotischen Grün zu setzen, würde auch für ihn ein Traum bleiben. Wenn er unbehelligt leben wollte, musste er im ersten Bezirk bleiben. Dabei weckte das Eden Flowers Café stets diese unbestimmte Sehnsucht in ihn. Wie ein nur erahnter verlorener Traum – wovon? Einer verlorenen Welt? Er kannte nur diese.
Zum Glück schien die Frau hinter dem Tresen Erfahrung zu haben – eine ältere, rundliche Matrone anstelle der dümmlich kichernden Hühner, die ihm sonst bei Eden Flowers auf die Nerven gingen. Das verriet der sichere Griff nach den Blumen, die sie routiniert zu einem Kunstwerk band, mit dem er bei Mrs. Teitelbaum garantiert jede Verspätung ausbügeln würde. Er konnte schon fast ihre entzückten Seufzer hören, wenn sie den prachtvollen Strauß entgegennahm, ihren Augenaufschlag sehen, der verriet, daß sie irgendwann einmal sehr schön gewesen sein musste. So schön wie ihre verwöhnte Großnichte mit dem Millionenerbe.
Eine langstielige Rose wäre sicher nicht schlecht.
Er war so ein Arschloch.
Er hätte später nicht sagen können, ob es die Würdigung ihrer Kunst als Floristin oder sein Schamgefühl war, das ihn das üppige Trinkgeld geben ließ. Aber er vergaß niemals ihre Augen, als sie ihn in diesem Moment anschaute. Braun waren sie, mit winzigen goldenen und grünen Sprengseln darin, wie der Grund eines Waldsees. Aber das besondere war, daß ihn zum ersten Mal weit vielen Jahren jemand wirklich ansah.
Dann traf ihn der Schlag in den Rücken.
Es stieg in ihm auf, eine Luftperle, die sich vom Grund einer Quelle löste, immer schneller, sie wuchs und stülpte sich um, als sie seine Haut durchdrang und umgab ihn als blaue Blase. Sonnenlicht schimmerte durch das Blau. Es waren Blütendolden, die sich in einem leichten Wind wiegten. Er saß in einer Laube aus Blauregen. Vor ihm leuchtete silbrig ein Teich mit seinen vom Wind gekräuselten kleinen Wellen und die Iris an seinem Rand leuchteten golden. Der ganze Garten war von Leuchten erfüllt. Und das war auch richtig so, denn er war genauso leuchtend glücklich.
Er saß im Garten und war ganz sich selbst.
Vor ihm blitzten die Flügel der türkisblauen Libellen, die das Irisgold umtanzten, und irgendwo in der Laube über ihm flötete und tirilierte es. Das einzige weitere Geräusch war das Wispern des schelmischen Windes und leichte Schritte auf der anderen Seite der Hecke.
Nun war seine Freude vollkommen, das musste seine Schwester sein. Wie schön sie zu sehen!
Doch als die Verursacherin der Schritte in sein Blickfeld trat, widerfuhr ihm die angenehmste Enttäuschung seines Lebens.
Es war nicht seine Schwester – es war sein goldenes Mädchen. Er ahnte es, als sie durch den Rosenbogen in der Hecke trat, mit diesem tanzenden Schritt, der ihren Rock um ihre Beine schwingen ließ. Sie ging mit nackten zierlichen Füßen, so leicht wie der Wind. Vielleicht war sie auch eine Schwester des Windes. Oder der Sonne mit diesem goldenen Schimmer in ihrem Haar. Und ganz sicher wurde er sich, als sie ihn anschaute mit diesen bernsteingoldenen Augen, in denen sich alles Leuchten sammelte, das Leuchten des Gartens und das Leuchten in ihm. Die war sein goldenes Mädchen, sie musste es sein, denn sie war so ganz anders als er sie sich hätte erträumen können mit dieser Schönheit, die sich erst in seinem Blick entfaltete. Und doch blieb er vorsichtig.
„Hallo,“ begrüßte er sie, „wer bist du?“
War sie es? Sie musste es sein …
„Amber,“ erwiderte sie mit ihrer singenden Stimme. Einen Moment lang berührte diese Stimme ihn mit einer schmerzlichen Vertrautheit.
Aber sicher, das sollte sie ihm doch sein, ihre Stimme, vertraut. Der winzige Stich eines seltsamen Schmerzes schwand.
Amber – Bernstein. Aber ja doch.
„Und du?“, fragte sie ihn.
Seine Freude fasste sich in die Silben seines Namens. „Kiran,“ sie funkelten wie die Flügel der blitzgeschwinden Libellen, „Jnanaketu.“ das Lachen perlte mit den Silben aus ihm heraus „Schultze-Khan.“ Wer hieß auch schon „Schultze-Khan“, von all den globalen Verschmelzungen des 21. Jahrhunderts war das doch eine der irrsten. Oder etwa nicht?
„Schultze-Kahn?“, echote sie denn auch mit vergnügter Verwirrung.
„Mein einer Großvater war ein Khan. Mein anderer ein Schultze. Aber ob der eine von einem Fürsten abstammt ist so fraglich wie bei dem anderen.“ Er fühlte sich so leicht in seinem Lachen. Wie befreit, als wäre dieses Lachen für Jahre in ihm gefangen gewesen. Nur sein Lachen?
„Nun,“ erklärte sie mit schulneisterlichem Ernst und zuckenden Mundwinkeln „die Kette unserer Altvorderen dürfte so lange sein, daß ein Fürst schon dabei sein sollte, ebenso wie unzählige Bauern, sowie Heilige und Halunken.“
Sie war sein Mädchen, das wurde von Minute zu Minute deutlicher. „Und irgendwo weiter hinten in der Kette vereinen sich unsere beiden Stammbäume,“ führte er ihre Ausführungen weiter. Und ein kleines Stückchen weiter vorne auch, fügte er in Gedanken hinzu.
„Das ist doch mehr als wahrscheinlich“, kam die Antwort.
Na hoffentlich.
„Und wo sind wir hier?“ hörte er sich plötzlich fragen.
„Hm – am Ort unserer Träume?“
Träume? War dies doch nur ein Traum? Nein, ein Traum war das nicht. Oder doch? Er konnte sich gar nicht erinnern, wie er hierher gelangt war. Ob sie es wusste? Er fragte sie. Einen Moment stand sie in Stille, Er sah, wie das Gold ihrer Augen sich verdunkelte.
„Ich erinnere mich an - einen Knall,“ sagte sie.
Da spürte er ihn wieder, diesen Schmerz, dumpfer diesmal, wie ein Schlag, der nicht so schnell verging.
„Wir sollten zur Quelle gehen“, schlug sie vor.
Zur Quelle – das rührte etwas in ihm an. Die Quelle, das wäre eine gute Idee, befand er.
Sie schritten durch Rosenbögen. Natürlich, das musste so sein, sie sollten bis ans Ende ihres Lebens durch Rosenbögen schreiten. Auch wenn sie dabei durch Gärten gingen, endlos durch einen nach dem anderen. Das war gut so, denn so konnte er sie schon in Ruhe betrachten, wie sie an seiner Seite dahin tanzte in ihrem himmelblauen Kleid auf ihren zierlichen blosen Füßen. Amber im Rosengarten, Amber im Gemüsegarten, Amber im Obstgarten, Amber in ein allen Kombinationen aller denkbaren Gärten. Seinetwegen mussten sie nicht in dieser Mitte ankommen, er hatte seine Mitte schon gefunden.
Natürlich kamen sie schließlich doch dort an, bei einem stillen marmorgefassten Becken und das Wasser darin sah so frisch und klar aus, daß man glaubte, dies müsse der Brunnen der absoluten Klarheit sein, der Brunnen aller Weisheit dieser Welt. Sie setzten sich auf den Rand des Beckens unter der Kuppel des Baumes und das Mädchen schaute versonnen in die herauf quellende Flut.
Er flüsterte ihren Namen und als sie ihm ihr herzförmiges Gesicht zu wandte, da küsste er sie endlich.
Endlich schmeckte er auch das goldene Leuchten und als er darin aufgehen wollte, spürte er, wie sie von ihm wegglitt, wie alles, was er sich erträumte. Natürlich, dachte er, wie sollte es auch anders sein, so war es stets, seine Träume verhöhnten ihn in dem Moment, in denen er sie zu umfassen glaubte.
Und er stürzte zurück in Schmerz und Kälte. Sie zerrten an ihm, er spürte noch den Stich in seinem Arm, dann nichts mehr.
Alles war dumpf. Durch den vagen Nebel des Unbehagens spürte er dennoch den Aufprall. Stimmen prasselten auf ihn ein wie Schläge.
„Betty!“ Was für eine Betty? Er kannte keine Betty. Oder?
Es waren Schläge, die auf ihn herab prasselten.
Schläge …
… ins Gesicht.
„Hej, Betty! Hallo!“ Eine höhnische Fratze starrte auf ihn herab. „Ja – da sind wir ja! Hallo mein Mäuschen!“ Er erkannte das Gesicht nur undeutlich, verzerrt wie durch ein Brennglas gesehen. Die Wölbung dehnte das Grinsen während die Stimme dumpf gegen sein Trommelfell dröhnte.
„Na Battilein?“ Der Typ sprach ja mit ihm. Hatten die Söhnchen ihm wieder aufgelauert? Die verwöhnten Kerlchen aus dem ersten Bezirk, denen das Geld ihrer Väter alles, nur keine Heldenkräfte kaufen konnten. Die Formel hatten die Genetiker immer noch nicht entdeckt, so ein Pech aber auch. Da hatten sie aus Frust wohl etwas stärker zugeschlagen. Das würde Ärger geben. Obwohl, der hier sah schon verdammt nach Sohn Nr. 1 aus.
„Jetzt geht dir die Muffe, was?“ Im Hintergrund schrillte Hexengekicher.
„Hej Leute!“ Die neue Stimme kiekste ein wenig, als sei ihr Besitzer noch im Stimmbruch oder sehr aufgeregt. „Wir kennen ihn doch gar nicht!“
Nun brandete das Hexengelächter zu sich überschlagenden Wogen über ihm auf. „Ach, du kennst den nicht? Klar doch – du bestimmt nicht!“
„Aber wir wissen doch gar nicht, was er denkt!“, kiekste es nun verzweifelt. Am Rande seines Blickfeldes hüpfte etwas Rotes.
„Na, das werden wir ja nun erfahren …“ Sohn Nr. 1 beugte sich mit der perfekten Karikatur des genüßlichen Blicks eines Sadisten auf das hilflose Opfer über ihn. „Unser mieser kleiner Harlekin wird gleich singen wie eine Operndiva.“
Trotz des dumpfen Nebels spürte er auch diesen Stich. Alles glitt weit von ihm weg. Er hörte jemanden reden. Die Berichterstattung war korrekt, wie er befriedigt vermerkte.
Trotzdem war nicht alles in Ordnung. Das vertraute Gefühl des Verlusts hatte eine neue Schärfe gewonnen. Wo war sie …
Wo war sie nur?
Wer?
Sein goldenes Mädchen!
Inzwischen behandelten sie ihn freundlicher.
„N´Schluck zu trinken, Kumpel?“ Dankenswerterweise war es Wasser, das der Junge ihm reichte, frisches perlendes Wasser. Sein Mund, inklusive Rachen, inklusive Hals, fühlte an wie ein muffiger Mäusepelz. Der Junge nickte ihm aufmunternd zu.
Am Anfang hatte man ihn herum gewuchtet wie einen Sack Kartoffeln. Wobei zu bezweifeln war, daß sie Kartoffeln mit der selben Verachtung begegnet wären, schließlich schnetzelte man aus ihnen die von allen Einwohnern New Edens so heiß geliebten Fritten. Aber geschnetzelt hätten sie ihn wohl wirklich gerne. Und hatten sie auch, in gewisser Weise.
In seinem Kopf sauste es. Er erinnerte sich an grelle Lichter, angeschnallte Arme und Beine und Stimmen. Eine davon war seine.
Wie waren die Jungs nur an Plaudertropfen gekommen? Nun gut, jeder Chemiker, der auch nur halbwegs seiner Berufsbezeichnung gerecht würde, könnte die herstellen. Aber die Formel hatte Eden. Und angeblich konnte niemand die Systeme der Eden Corp hacken.
Was er wohl alles so von sich gegeben hatte?
„Mann Kumpel, wenn dich das alles so angepisst hat, warum haste denn nichts unternommen?“, fragte der Junge. Es war der schlaksige Rothaarige, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersäht war wie anderer Burschen Gesichter mit Pickeln. Er war eigentlich ganz nett, wenn er es nur unterlassen würde, ihn dauernd „Kumpel“ zu nennen.
Kiran starrte ihn nur an. Er hatte die allerstrahlendsten blauen Augen.
„Schon gut, schon gut!“, kam es mit beschwichtigender Geste, „Ist nicht leicht, wenn man mitten im Schlamassel steckt! Glaub mir, ich kenn´ das.“ Wieder nickte er, diesmal voll großväterlicher Großmut.
Du meine Güte, der Kerl war mindestens zehn Jahre jünger als er, Anfang Zwanzig – höchstens.
„Na, jetzt bist da ja raus!“ fuhr Ernesto fort. Ernesto, ja so hieß er. Eigentlich sah er eher wie ein „Jack“ aus. Er sprühte geradezu vor Enthusiasmus. Ja, das war er gewesen, derjenige, der ihn in Schutz genommen hatte, dieser Rothaarige im Hintergrund, als sie ihn fest schnallten. Und der andere - so ein schnieker Blonder war das gewesen. Einen, den man auf den Akademien im Ersten erwarten würde. „Batty“ hatten sie ihn genannt, und zwar so, daß es eher wie „Betty“ klang. Was sagten eigentlich die Feministinnen dazu, wenn ein Mann auf solche Weise gedemütigt werden sollte?
Und jemand hatte ihm wohl in die Rippen getreten. Tat immer noch weh. Aber es ging.
Ja, jetzt erinnerte er sich.
„Super!“, rief Ernesto-Jack, der sein Nicken mißdeutete. „Magst du nicht mal was von dem Pamps da essen? Ich weiß, es ist nur eingeweichter Müslischeiß mit Früchtematsch. Aber glaub mir, dein Magen verträgt grad nichts anderes!“
Jack saß ihm gegenüber auf dem einzigen Hocker im Raum, ein Tablett auf dem Schoß und ein unbeirrbares Lächeln im Gesicht. Er hatte ihm geholfen, sich aufzurichten. Jetzt lehnte Kiran auf seinem Klappbett an der Wand. Sie saßen wie in einer silbrigen Höhle. Die Tür musste sich irgendwo hinter Jack befinden, so richtig konnte er das nicht erkennen, bei all der Silberfolie. Dicht über ihnen wellte die sich in surrealistischer Weise. Heizungsrohre, erkannte Kiran, das mussten überklebte Heizungsrohre sein, Wasserrohre und andere Leitungssysteme. Das würde erklären, warum es hier drin so warm und stickig war.
Kiran probierte ein paar Löffel von dem angebotenen „Pamps“. Er schmeckte besser, als Jacks Worte es erwarten ließen und ihm wurde dabei auch besser.
„Lust auf `ne Zigarette, Kumpel?“
Zigarette? Es dauerte einige Sekunden, bis Kirans strapaziertes Gehirn das Wort einsortiert hatte. Eine Zigarette!!! Der Junge rauchte doch wohl nicht etwas Tabak? Diese neue Mode, mit denen sich die schweren Jungs im vierten Bezirk so cool vorkamen? Von ihren Nutten ganz zu schweigen. Die, die blöd genug waren. Im Ersten käme niemand jemals auf die Idee, sich mit Tabak zu vergiften. Nun gut, die ersten Inhals hatten sich als krebserregender als die bereits verpönten Zigaretten herausgestellt, damals, als das Prinzip erfunden wurde, im vorletzten Jahrhundert, aber das war längst behoben.
„Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich halt´die Luft hier drin langsam nicht mehr aus.“
Kiran nickte. Er gab sogar ein zustimmendes Geräusch von sich. Irgendwie traute er sich nicht, seine Stimmbänder zu strapazieren. Außerdem war Jacks Geplapper wie ein Zauber, den er nicht durchbrechen mochte.
Jack-Ernesto wollte an die frische Luft, um Tabak zu rauchen? Na, wenn das nicht den endgültige Beweis lieferte, daß der Junge ein bißchen arg schlicht gestrickt war.
„Ich soll´ dich ja nicht allein lassen. Also – dann kommste eben mit, was?“
Kiran trottete artig hinter ihm drein. Der Flur draußen war genauso mit Folie austapeziert, trotzdem fühlte er sich nach Keller an. Wieso eigentlich?
Er roch so. Und er hatte typische Kellerlampen. Hinter der Tür, die Jack ansteuerte, wartete allerdings ein ganz gewöhnlicher verspiegelter Aufzug. Kiran stellte fest, daß Bruce Wayne tatsächlich ganz schön fertig aus sah. Gar nicht mehr nach Bruce Wayne. Und Jack aus dem Abstand der Spiegelwände heraus unzweifelbar nach einem viel zu netten Kerl. „Ernesto“ - von wegen.
Ernesto plapperte weiter, während Kiran ihre Spiegelbilder anstarrte und sich wie in einem surrealistischen Traum vorkam. Für einen Moment lang fühlte sich nur eines wirklich an – dieser andere lange Moment, als er in diesem Garten saß, am Rand eines Beckens und das Mädchen seiner Träume küsste. Nunja, in seinen Träumen hätte er eher nicht gedacht, daß sie so aussehen würde, aber angefühlt hatte es sich so.
Und eigentlich war sie viel schöner als jedes erträumte Gesicht. Sein goldenes Mädchen.
Und dann hatte er Zweifel bekommen, lag er nicht in Wirklichkeit vor dem Tresen in diesem Blumenladen und irgendetwas hatte ihn in den Rücken getroffen?
Und dann war er da wieder, auf dem Boden. Jetzt erinnerte er sich, an die Schmerzen in der Brust, die herein strömende Kälte um ihn und die herein strömenden Vermummten. Die ihn wie einen Sack Kartoffeln abtransportierten. Den Stich in seinen Arm, bevor er auch nur das „H“ von „Hallo Bat-Teams“ oder auch nur „Hilfe“ in sein Com hätte hauchen können.
Was war das nur gewesen – ein Ohnmachtsanfall, eine Bewusstseinstrübung? Aber getrübt hatte sich sein Bewusstsein in diesem Moment ganz und gar nicht angefühlt. Eher im Gegenteil. War dieses Mädchen nur ein Phantasmagorum? Schließlich gab es da noch die höchst reale Rose, die sich – hoffentlich – gerade voller Sorge nach ihm verzehrte.
Ernesto-Jack dozierte derweil über die Ausbeutungsmethoden der Company. Kiran ertappte sich dabei, wie er zustimmend nickte. Um ehrlich zu sein, war er tatsächlich erleichtert. Bislang hatte er geglaubt, diese Stadt sei von willfährigen VV-Süchtigen bevölkert. Gut, daß wenigstens einige begriffen hatten. Und dann merkte er, daß er das auch gesagt oder besser gekrächzt hatte. Endlich erkannte er, weshalb Ernesto-Jack ihm so vertraut vorkam: er strahlte die selbe jungmännliche Heldenbegeisterung aus wie seine ehemaligen Kameraden an der Bat-Akademie.
Ernesto war entzückt. Jetzt war sein Kumpel endlich auf der richtigen Seite, war er ja schon vorher gewesen, aber jetzt könnte er sich ihr auch anschließen.
Vielleicht sollte er das ja wirklich tun.
Texte: Elvira Stecher
Bildmaterialien: Thomas Lubinski
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2014
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