Cover

Veruntreute Träume

 

2. Bezirk, 3. Dezember, 16:40

 

 

Über Gotham leuchtete das Bat-Symbol.

Irgendwo dort oben kämpfte der amtierende Batman gegen einen Superschurken. Und wieder rettete die Gesellschaft ihre Stadt vor dem personifizierten Bösen. Aber wer rettete deren Bürger vor dem Verlust ihrer Träume?

Brianna saß ganz nah an der großen Fensterfront des Cafés und verrenkte sich den Hals in ihrem Bemühen, nach oben zu schauen. Sie tat das noch immer, nach all den Jahrzehnten, die sie hier verbracht hatte, eingeschlossen in den steinernen Klüften dieser Stadt, ihr ganzes Leben lang. Starrte nach oben, dabei konnte man den Himmel nur in den VisionWalls wirklich sehen. Wenn sie diese Stadt verlassen könnte, tatsächlich nach „Draußen“ käme, ob sie sie letztendlich ertragen könnte, die Weite des Himmels?

Vielleicht gab es ja gar kein „Draußen“ mehr. Vielleicht war über der Stadt nur eine weitere VisionWall, die einen Himmel suggerierte.

Haha.

Sollte sie nicht noch ein wenig im Café bleiben? Man wusste nie, ob nicht irgendwelche Trümmerteile auf die Straße stürzten. Fast erwartete sie sie schon - Mauerbrocken, die mitten in die Menge der geschäftig herum wuselnden Bürger in Gothams längster Einkaufsstraße krachten. Ach was - hier grenzte der zweite Bezirk bereits an den ersten. Sie konnte sich an keinerlei Kollateralschäden im Zentrum der Stadt erinnern. Wahrscheinlich waren die Gebäude hier besser geschützt. Auf die eine oder die andere Art. Warum fiel eigentlich niemandem auf, daß die Schäden meist die äußeren Straßen des zweiten und den dritten Bezirk trafen? Danach musste man die getroffenen Gebäude stets abreißen. Und natürlich baute die Gesellschaft sie wieder auf – als wunderbare neue Niederlassungen der Eden Corp.

Ein weiterer ketzerischer Gedanke streifte sie - was nicht weiter schwer war, denn ketzerische Gedanken durchzogen ihren Geist wie die legendären Sardinenschwärme die Meere, bevor die Fangflotten der Gesellschaften sie leer gefischt hatten: Vielleicht rekrutierte die Gesellschaft ihre Superschurken ja genauso wie ihre Bat-Teams? Sie erinnerte sich an ein Gerücht. Es habe, so hieß es in den Randbezirken, einmal eine Zeit gegeben, in denen die Gesellschaft ihre Bürger durch Zusätze im Trinkwasser manipulierte.

Sie starrte mißtrauisch auf den Rest der braunen Brühe in ihrem Pappbecher, denn man hier als „Cyberkaffee“ verkaufte. Aber außer Sodbrennen hatte sie davon wohl nichts zu befürchten. Die Gesellschaft musste ihren Bürgern keine Traumtropfen ins Trinkwasser mischen. Heute waren die Träume in die windschnittigen Gestelle der VisionView-Brillen gefasst, die die Passanten auf den Straßen je nach Einstellung in Gestalten aus Träumen oder Albträumen verwandelten. Die Brillenbügel summten dazu die gewünschte Hintergrundsmusik ins Ohr, die den Alltag von Gotham überzuckerte oder dramatisierte, je nach Bedarf. Nein, die Gesellschaft musste seinen Bürgern nichts ins Trinkwasser kippen. Die versorgten sich schon selbst mit ihrer Gehirnwäsche. Und bezahlten die Gesellschaft noch dafür. Um seine Träume zu verlieren, musste man schon selbst welche haben.

Eigene Träume.

Um sie herum summten die leisen Gespräche der Cafébesucher. Ab und zu wehte ein Schall feuchtkalter Luft ins Innere, wenn die gläserne Tür zur Seite glitt, um jemanden herein oder hinaus zu lassen. Niemand außer ihr schien sich für das Schauspiel über den Wolkenkratzern der Stadt zu interessieren. Nur sie stierte mit bloßen Augen nach draußen. Um sie herum trugen etliche der Gäste ihre VV-Brillen sogar während ihrer Gespräche. Konnten sie einander denn nicht mehr unverhüllt anblicken?

Weshalb war sie so anders?

Vielleicht täuschte sie sich ja und sie war es, die in einem Traum lebte, während all die anderen längst in der Wirklichkeit angekommen waren? Sie lebte in dieser Stadt, diesem einzigen Ort, den sie kannte, wie in einer Blase. Einer Blase der Fremdheit.

So viele „Vielleichts“ – aber keines für die Frage, ob sie all dem entkommen könnte. Die war schon beantwortet.

Sie zerknüllte ihren Becher und warf ihn in den Papierkorb neben der Eingangstür, die einen weiteren Schwall feuchtkalter Luft herein ließ, als sie sich aufmachte. Einige dunkle Spritzer troffen von der Innenseite der Scheibe, stumme Abkömmlinge der wohlverborgenen Dunkelheit in ihr. Wie echter Kaffee wohl schmecken mochte?

 

Sie trat hinaus in das Vorweihnachtsgeglitzer des zweiten Bezirks. Ihre Gedanken schnappten sich einen Superheldengleiter und schossen hinauf aus den Straßenklüften, vorbei an den virtuellen Engeln, die den teuren Tand der Konsumtempel besangen, vorbei an dem leisen Zischen der Schwebebahnen und Lufttaxis, vorbei an den glitzernden Fassaden bis über die Dächer. Doch die Weite des Himmels darüber war keine. „Die Kristallstadt“ nannte die Gesellschaft ihren Besitz. Und wie schwarze Kristalle ragten die Hochhäuser auf, ein dunkler Wall, der sie umschloss. Der Himmel über der Stadt nahm sie mit seiner dunstigen Kuppel gefangen. Mit einem dumpfen Schlag stürzten ihre Gedanken ab, hinunter in den Schneematsch, aus dem sich ihre Besitzerin mit einem leisen Fluch aufrappelte. Wie sollte es auch anders sein, wenn sie ihren Gedanken erlaubte, fliegen zu wollen. Sie raffte ihren dunklen, zerschlissenen Mantel um sich, den sie auf einer der Tauschbörsen des vierten Bezirks ergattert hatte und eilte vorbei an den gaffenden Passanten aus dem dritten Bezirk, die sich durch ihre neonfarbenen Synthetikpelze verrieten.

Weiche, weiße Flocken taumelten aus dem dunkelnden Himmel. Der Schneematsch begann zum Rand der Gehwege hin bereits wieder zu gefrieren. Noch ein Grund, um sich nahe an die Häuserwände zu halten. Die Gefahr der Kollateralschäden hielten einige der Passanten nicht davon ab, mit in den Nacken gelegten Köpfen am Rand der Gehwege zu verharren. Immerhin einige, die wie sie nach oben schauten. Über den Dächern zuckten bunte Blitze. Aber den meisten reichte das Schauspiel ihrer VisionViews. Wozu sollte die Gesellschaft also ihre Superschurken selbst engagieren? Spiele boten bereits die VVs. Aber – wer würde dann für den Abriss der unerwünschten Gebäude sorgen?

Das einzig verlässlich Wirkliche waren diese wunderbaren weißen Schneeflocken, die sich auf dem Asphalt mit dem schmutzigen Matsch der Stadt vermischten. Und die Löcher in den Sohlen ihrer Stiefel, die mit jedem Schritt mehr den letzten ihrer inzwischen zahllosen Versuche, sie abzudichten, verhöhnten.

Dies war nicht Gotham. Genausowenig, wie der amtierende Batman „Bruce Wayne“ hieß. Diese Stadt hieß New Eden und sie gehörte der Eden-Gesellschaft.

 

 

 

Das Kind - Quendolin

 

Es war eine Zeit, in der der Batman noch da war. Quen konnte nämlich das Bat-Symbol über der Stadt leuchten sehen.

Und es war Winter. Dicke weiße Flocken taumelten aus dem dämmrigen Himmel. Ob er wohl liegen bleiben würde? Das wäre wie auf den Weihnachtskarten, die dicken weichen Flocken würden allem eine Schneehaube aufsetzen, den Straßenlaternen, den Dächern über den Haltestellen, und, naja, die anderen Dächer waren ganz hoch oben und in New Eden blieb der Schnee meistens nicht liegen sondern wurde ganz schnell matschig.

Wow, das war ja der zweite Bezirk, eine von diesen Einkaufsstraßen, von denen Ellen und ihre Freundinnen immer so schwärmten. Wie gerne wäre sie einmal dort bummeln gegangen, einfach nur schauen, kaufen konnte sie ja sowieso nicht. Aber schauen!

Es musste vor Weihnachten sein, denn jetzt konnte sie ganz deutlich die Engel erkennen, die die Kaufhäuser umschwirrten. Auf einem landete sogar der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren - ob sie da ein bißchen näher hin könnte? - landete und flog wieder ab, landete und ... Auf die Dauer konnte das ganz schön nerven. Boah, all die glitzernden, funkelnden Lichter!

„Quen!“, mahnte die strenge Stimme ihres Lehrers.

Richtig, sie waren ja hier, um jemanden zu finden. Jemand wichtiges.

Aus einem dieser Cafés, deren Fenster bis zum Boden reichten und in denen man wie auf der Straße und doch drinnen saß, naja, sie war noch nie in einem solchen Café gewesen, nur vorbei gegangen, ja, das war sie schon und da hatte sie immer gedacht, es müsste aufregend sein – da kam eine Frau aus dem Café, das musste sie sein, die wichtige Person!

Quens Herz begann zu klopfen, sie konnte den Blick nicht abwenden, dabei war gar nicht so viel von ihr zu sehen. Sie hatte eine Kapuze über dem Kopf und sie ging sehr schnell. Dick war sie, das konnte sie sehen. Naja, ein bißchen mollig eben. Und alt war sie, mindestens – vierzig, fünfzig, sechzig?

Und irgendwas an ihr machte sie furchtbar traurig. So schrecklich traurig, daß ihr Herz wie ein schwerer Klumpen in ihrer Brust drückte. So sehr, daß sie dachte, sie müsste weinen und weinen und weinen. Am liebsten wäre sie der Frau nachgelaufen, aber das konnte sie ja nicht. Und sie hätte auch nicht gewusst, was sie dann hätten tun können. Oder wollen.

„Quen – konzentriere dich!“, erklang noch einmal die strenge Stimme.

War das gar nicht die Person?

Sie fühlte die Nähe ihres Lehrers und ließ es zu, daß er ihren Blick lenkte.

Ein Mann stand vor dem glänzenden Schaufenster eines der Geschäfte. Das war die wichtige Person?

Offensichtlich.

Ja, irgendetwas kam ihr an ihm sonderbar vertraut vor. Wie vornehm er angezogen war, so einen schicken Mantel hatte er und einen breitkrempigen Hut, Sachen eben, wie sie die Leute aus dem ersten Bezirk trugen. Oder die im zweiten, die ganz oben in den Etagen der Hochhäuser arbeiteten. Sie folgten dem Mann, er schlenderte durch die Straßen und schaute sich all die Geschäfte an, die Quen sich auch anschauen wollte. Sehr gut. Irgendwie war er ihr sympathisch. Sie konnte nicht sagen, warum eigentlich, aber sie war überzeugt, daß er nett sein müsste. Der netteste Mann, den sie je treffen würde.

Komisch.

Dann sah sie ihn auf so ein lustiges kleines Häuschen zugehen – einen Pavillon. Wie ein gedrungener dicker Pilz sah der aus, mit Glasfenstern in verschnörkelten Fassungen und einem grünen Dach. Wunderhübsch.

Jetzt wurde das noch vertrauter, wie sie ihn da von hinten sah, wie er in den Pavillon hineinging, der Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen und der Hut drüber.

Und dann erkannte sie ihn und erschrak

 

 

 

Die Frau - Brianna

 

Sie ging schneller. Die Kälte drang durch die aufklaffenden Risse ihrer Sohlen. Jetzt hielt sie sich an die frostigen Ränder des Bürgersteigs. Sie schlidderte über den gefrierenden Scheematsch. So würden ihre Füße wenigstens nicht so schnell nass. Und sie kam schneller voran. Wenn sie zu spät käme, wäre dies die lang gefürchtete Gelegenheit, sie zu feuern. Aber wenn sie ausrutschte und in der Ambulanz landete, war es mit ihrer bürgerlichen Existenz noch schneller vorbei.

Die Schneeflocken umtanzten sie wie mutwillige Falter, glitzernd in den flirrenden Farben der weihnachtlichen Leuchtreklamen. Tja, bald war wieder ein Jahr vorüber. Im schmalen Ausschnitt des Himmels über ihr waren dagegen die bunten Blitze erloschen. Nunja, die Ameisen der Straßen bekamen im zweiten Bezirk ohnehin noch weniger vom Himmel zu Gesicht. Viel zu hoch ragten die gewaltigen Häuserfassaden zu beiden Seiten auf.

 

Dies war Gotham.

Es war Gotham mit seinen glitzernden schwarzen Hochhäusern, seinen Straßenschluchten und den Skeletten der Industriehallen im 5. Bezirk. Die schwarze Außenhaut sollte möglichst viel von dem kargen Sonnenlicht über dieser kalten Stadt absorbieren, um die Thermosolarpaneele zu füttern. Eine Erfindung der Gesellschaft. Und so hatte die Eden GmbH Gotham erstehen lassen, obwohl sie ihre Stadt New Eden getauft hatte. Aber niemand außer den offiziellen Stellen nannte sie so. Dabei kannte von den Ameisen der Straße wohl kaum noch jemand die Comic-Hefte, die Gotham erfunden hatten, Gotham City und seinen gebrochenen Helden Bruce Wayne. Nur die alten 2-D-Filme hatten manche noch gesehen.

Sie hatte sie alle einmal besessen. Das, was ihr nicht gestohlen worden war, hatte sie schließlich verkauft, um sich den Traum eines sicheren Heims zu erfüllen. Wenigstens einen Traum.

Von wegen.

Wie sollte sie ihre Abgaben bezahlen, wenn ihr gekündigt würde? Die Bürgerversorgung reichte gerade mal für Trockenfutter und eine Schachtel Cyber-Kaffee-Pulver pro Monat.

Wenn sie die Zeit zurück drehen könnte - gäbe es überhaupt etwas, das sie anders machen könnte? Hatte sie überhaupt jemals eine wirkliche Chance gehabt?

Hatten all die bunten Ameisen um sie herum denn letztendlich eine Chance, ihre vorgezeichneten Bahnen zu verlassen? Alle diese betriebsamen Bürger des zweiten und dritten Bezirks, die man an ihren grellbunten Webpelzen erkannte, je weiter draußen, desto greller, als reichten die bunten Visionen der VV-Brillen nicht, um sie von der Schwärze dieser kalten Stadt abzulenken. Sie lief schneller, um den Schatten ihrer Bitterkeit zu entkommen. Doch die hefteten sich beharrlich an ihre Fersen, bis das grünfunkelnde Juwel ihrer Träume endlich vor ihr auftauchte.

 

Als Brianna vor dem Paradise-Port anlangte, zeigte die große Uhr über dem Eingang zum ersten Bezirk bereits fünf Minuten vor ihrer Schicht. Der Pavillon des Eden Flower Temple leuchtete in der fortschreitenden Dämmerung umso wundersamer. Er glich einem dickbauchigen Pilz, der aus dem altmodischen Pflaster des Paradise Port Place hervorbrach, ein verzauberter Ausläufer eines Feenpalastes. Mit seiner grünglänzenden Kupferkuppel und der filigranen Fassung seiner Glaswände umschloss er jenen Ort, der den letzten Abglanz ihrer Träume in sich barg. Eine Ahnung der Pracht, die hinter dem Tor, dem Paradise-Port, auf die wartete, die befugt waren, es zu durchschreiten.

Sie schlüpfte durch die Hintertür, hinein in das glänzende Grün. Die duftgeschwängerte Luft umfing sie mit wärmenden Armen.

„Das wurde aber auch Zeit!“, zerbrach die kalte Stimme des Baronet ihre Träumerei.

George Baron, ein Mann mit beginnender Glatze und Bauchansatz, von seinen Angestellten hinter vorgehaltener Hand „der Baronet“ genannt, liebte es, eben diese Angestellten seiner Filiale zu den unerwartetsten Zeiten zu überraschen. Unter seinem verächtlichen Blick schlüpfte sie rasch in ihr grünes Schürzenkleid und die grünen Galoschen. Sie verbiss sich ein nervöses Kichern. Zu deutlich spürte sie seinen Ärger. Es reichte nicht. Fünf Minuten vor Beginn der Schicht zu erscheinen war spät – aber nicht zu spät. Sie stand auf den Glockenschlag hinter der Theke.

Er würde sie auch diesmal nicht feuern können.

Sie solle mal nicht vergessen, wurde er nicht müde zu betonen, daß sie es nur seiner unerfindlichen Gnade zu verdanken habe, daß sie sich überhaupt noch im Eden Paradise Garden zeigen durfte. Schließlich - was sollte er seinem Vorgesetzten sagen, wenn der ihn fragte, warum sie noch immer hinter dem Tresen stand? Die Männer von New Eden sollten junge Mädchen sehen, so hübsch wie die Blumen, die sie verkauften. Und eine kokette Gartenfee sollte den Cyber-Kaffee und die Kuchen an den winzigen Tischen zwischen den Pflanzen servieren. Keine alternde Matrone mit grau gesträhntem Haar, die die Frauen aus dem ersten Bezirk daran erinnerte, was ihnen blühte, wenn das Genetic-Forming an seine natürlichen Grenzen gelangte, und die aus dem zweiten Bezirk daran, was sie noch viel früher erwartete, wenn sie das Geld dafür nicht zusammenbekamen. Andererseits ahnte der Baronet aber auch, was ihm blühte, wenn die alte Mrs. Teitelbaum aus dem ersten Bezirk bei ihrem Fünf-Uhr-Tee vom Manager der Eden Flower Corp verlangte, sie wolle ihre Lieblingsfloristin wieder haben. Denn seltsamerweise liebten die Stammkunden sie. Fast eben so sehr wie der Baronet sie hasste.

Es genügte ihm nicht, daß er sie in die Abendschicht hatte verbannen können. Sie wusste, daß er sich nicht damit begnügen würde, sie ins Hinterzimmer zu verbannen, wo sie ihre gerühmten Sträuße weiter binden konnte. Er würde sie auch nicht in die Gewächshäuser schicken, wie all die anderen gealterten Blumenmädchen, nein, George Baron wollte sie aus dem Eden Flower Temple vertreiben. Dabei hatte er sich ihre Lorbeeren ans eigene Rever geheftet. Das Eden Flower Café, das den Umsatz dieser Filiale, dem Paradise Garden, verdreifacht hatte, war ganz allein ihrer Initiative zu verdanken. Ihrer Idee, ihrem Design, ihrer Energie. Aber er würde sie erst verschwinden lassen können, wenn die Kunden aufhörten, nach ihr zu fragen. Sie holte tief Luft und strich ihr Kleid glatt. „Bertha“ stand auf ihrem Namensschild. „Bertha“, weil der Baronet damals vor drei Jahren, als er diese Filiale übernommen hatte, befand, daß sie wie eine „Bertha“ aussähe. Sie straffte ihren Rücken. Die war Brianna und hier, vor den kunstvoll arrangierten Pflanzen und Blumen des Eden Flower Temple, war sie ihrem Traum so nahe und doch so fern, daß es schmerzte, ein süßer, unablässiger Schmerz, der ihr Herz lebendig hielt.

Gartenarchitektin hatte sie werden wollen. Aber dazu brauchte man Geld. Geld und/oder Beziehungen. Und letztere hatte die andere gehabt, im Rennen um das Stipendium. Ihre Leistung war der anderen zugeschrieben worden. Einfach so. Und so war das einzige Grün, das sie jemals gesehen hatte, das der Gewächshäuser. Selbst die Planquadrate des Landwirtschaftsgürtels um New Eden kannte sie nur aus den Lehrfilmen. Wenige der Ameisen der Straßenschluchten waren je über ihn hinausgekommen. Um eine Eintrittserlaubnis für die Naturparks des Landes zu bekommen, musste man im ersten Bezirk leben – oder in der Karten-Lotterie gewinnen, deren Lose so viel kosteten, wie ein Kännchen echten Kaffees.

Und so war der süße Duft der Eden Flowers alles, was ihr von ihrem Traum geblieben war, einem ihrer zerbrochenen Träume, einem der vielen zerbrochenen Träume. Die sie doch unablässig weiter träumte inmitten der der Blumenarrangements, Träume von einem Ort, den es vielleicht niemals gegeben hatte.

Heute war das Winter-Arrangement gebracht worden. Vielleicht war das ja der eigentliche Grund gewesen, weshalb der Baronet um diese Zeit noch im Laden war. Weiße Blumen füllten nun den Verkaufsraum, weiße Rosen, weiße Lilien, Margeriten, Schleierkraut und weißer duftender Ginster. Das einzige Rot stammte von den langstieligen Liebesrosen, die so gerne zu fortgeschrittener Stunde gekauft wurden. Wie vereinzelte Blutstropfen im Schnee.

Der Baronet war murrend gegangen, zusammen mit der maliziös lächelnden neuen Blumenmaid. Nur die Serviererin war noch da – daß ihre Ablösung sich heute wie so oft verspätete, darüber hatte er kein Wort verloren. Es gehörte zu den Pflichten der Angestellten, so lange auszuharren, bis ihre Ablösung kam, auch wenn diese sich verspätete. Oder gar ausfiel. Als der Glockenton der Eingangstür ertönte, hoffte Brianna einen Moment lang, es könnte ihre säumige Kollegin sein, die durch die Vordertür herein stürzte, um endlich die mißmutige Cheryl an der Espressomaschine abzulösen.

Aber es war nicht Anjetta, die da herein schneite. Der Glockenton brachte ihr ihren ersten Kunden des Abends. Es war Bruce Wayne.

 

 

Der Held

 

Wenn man dir sagt: „Du bist auserwählt“ - dann ändere deinen Namen, wechsle die Haarfarbe und tauche unter. Am besten in einer anderen Stadt.

Zugegeben, das ist schwer. Jede Stadt hat ihre Nachbarschaften, ihre Vettern und ihre Clubmitglieder. Die brauchst du – wenn du nicht ganz unten landen willst. Genaugenommen brauchst du sie auch da.

Wer wüsste das besser als er. Er kam aus den Randbereichen des dritten Bezirks. Den Randbereichen zum vierten hin. Immer mit dem Drang nach oben, gejagt vor der Angst, weiter abzurutschen, so waren sie, die Einwohner des dritten Bezirks.

Wollten eigentlich alle Teenager die Welt retten?

Und wer rettete die Teenager vor der Welt?

Ihm war das widerfahren, von dem sie alle immer geträumt hatten: Er war auserwählt worden. Ein Leben im ersten Bezirk für ihn, eine lebenslange Rente für seine Eltern. Vielleicht, damit sie nicht allzu laut riefen: „Seht da, unser Sohn!“?

 

Auserwählt, erhoben aus den Massen, befreit vom Dasein eines Hamsters in den Laufrädern der Fabriken. Die oben lebten von denen unten, das war schon so, seit die erste Horde von Plünderern es vorgezogen hatten, in dem überfallen Dorf zu bleiben, statt es nieder zu brennen - als die ersten „Edlen“.

Auserwählt – von wem, und vor allem – wozu?

Dazu gibt es stets zwei Möglichkeiten: daß du für sie die Kastanien aus dem Feuer holst oder den Hofnarren machst. Für ersteres gab es die Bat-Teams. Von denen hatte er einst geträumt. Aber er gehörte nicht zu den Bat-Teams. Er war der Auserwählte unter den Auserwählten.

Aus einem einzigen Grund: Er konnte fliegen. So konnte er schon nicht abstürzen, wie einer seiner Vorgänger, als eines der technischen Gimmiks versagt hatte. Das hatten sie nämlich noch nicht herausbekommen, die Frankensteins der Gesellschaft: die genetische Formel für die Heldenkräfte. Und praktischerweise war er Tänzer gewesen. Das verlieh seinen Bewegungen diese unwiderstehliche Anmut.

Dabei hatte er niemals fliegen können und Tänzer war er auch nicht gewesen, der, den er darstellen sollte. Und existiert hatte er auch nie. Dafür hatte man diesem allzu gebrochenen Helden immer neue Gesichter verliehen und das, das er nun tragen durfte, entsprach dem allzeit flüchtigen Geschmack der Zeit.

Er war nicht Bruce Wayne. Auch wenn sie den Goldton aus seiner Haut heraus gebleicht und dafür sein Haar nachgedunkelt hatten. Das war der Heldenkörper, über dessen neustes Design sie abgestimmt hatten, die Top-Kreativen von Eden. Jetzt war sein Kinn kantig und seine Augen stahlblau, doch seinen wahren Namen trug er noch immer in sich. Verborgen.

Über ihm spielten sie mit den neuen Farb-Lasern. Absolut ungefährlich. Und so dekorativ. Dazu musste nicht einmal sein Stellvertreter antreten, Pardon, sich anseilen lassen für die Freitagabend-Show. Während er hier drunten durch den Schnee stiefelte.

Von wegen Schnee. Wenigstens gefror der Schneematsch schon wieder. Zumindest zum Rand der Gehsteige hin. Im ersten Bezirk hätte das Clean-up-System den Schnee bereits unter diesen Rand gesaugt und den federnden Belag der Gehsteige mollig warm geheizt. Nur auf den üppigen Rasenflächen durfte er liegenbleiben, der schöne dekorative weiße Schnee. Der erste Bezirk war die grüne Lunge der Stadt. So sagte man daselbst.

Bis die frische Luft dann über die hohe Mauer getrieben, die den ersten Bezirk abschottete, und durch den Wall aus Hochhäusern, der ihn umgab, gedrungen war, stank sie so wie ganz New Eden, wenn mancherorts auch nur im Kern: verrottet.

Das würde Ärger geben, wenn sie herausbekämen, daß er seinen teuer designten Heldenkörper hier spazieren führte, im zweiten Bezirk, auf den Ameisenstraßen am Grund der Häuserschluchten. Aber er musste ihm einfach einmal wieder ein wenig nahe kommen, sozusagen daran riechen, dem wahren Leben.

Wer sollte ihn schon erkennen. Die trugen doch alle ihre VV-Brillen und er seinen Hut ins Gesicht gezogen. Und immerhin testete er ihre neueste Erfindung unter seinem gut geschnittenen Anzug. Zumindest auf ihren Tragekomfort. Von wegen Komfort. Die würde ihm heute noch die Schweißperlen ins Gesicht treiben.

Jetzt musste er sich langsam sputen, die alte Mrs. Teitelbaum erwartete, daß man pünktlich zu ihrem Fünf-Uhr-Tee erschien. Auch wenn der meistens eine Stunde später serviert wurde.

Blumen musste er auch noch besorgen.

 

 

Die Frau - Brianna

 

Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, wie sich Cheryl neben der Espressomaschine schlagartig aufrichtete und ein 100-Watt-Lächeln anknipste. In Sekundenschnelle war aus dem Ärgernis des Tages der Glücksfall des Jahres geworden. Das würde sie Anjetta aber unter die Nase reiben, wenn die mit ihrer üblichen Verspätung einrollte.

Er war es.

Unzweifelhaft, er war es!

Da war dieses kantige Kinn unter dem eleganten Hut. Und die breiten Schultern in dem teuren Mantel. Unverkennbar die Art wie er sich bewegte. Die wenigen Schritte von der Eingangstür bis zum Tresen machten unmißverständlich klar: das war Bruce Wayne.

Nein, das war nicht Bruce Wayne, das war nur der Schmierenkomödiant von New Eden, aber zur Hölle, er hatte auch Heldenkräfte, vermutlich jedenfalls, und sie waren sich alle einig, die Frauen von Gotham, er war so ...

„Guten Abend.“ Ja, das war sie. Seine Stimme. Wie flüssige Schokolade. Edelbitter.

Was kann ich für sie tun, versuchte sie zu krächzen, aber kein Laut drang aus ihrem plötzlich trockenen Mund. Stattdessen lächelte sie dümmlich.

Bruce Wayne stand vor ihrem Tresen. Leibhaftig im goldenen Edenlicht, während draußen weiter die Schneeflocken aus dem schwarzen Himmel taumelten.

Ein Blick aus stahlblauen Augen traf sie. Um ihren Ärger noch zu vergrößern, begann ihr Herz zu hämmern. Verdammt, sie war doch kein Schulmädchen.

„Guten Abend,“ zwitscherte nun Cheryl, anmutig an die Espressomaschine gelehnt, so appetitlich wie die Muffins, die sie servierte. Die Pfunde mit denen sie wucherte, waren gut verteilt. Der Blick des Batman glitt über ihre Rundungen.

Ach ja, die Jugend. „Was kann ich für sie tun?“, hörte Brianna sich endlich sagen. Na also, ging doch.

Was er wohl brauchte? Blumen für eine Einladung? Oder gar eine Rose für eine Herzensdame – oder ein Abenteuer für die Nacht. Wer weiß.

„Ich brauche Blumen für eine Einladung.“ Aber ja. Wie höflich er war.

„Für eine anspruchsvolle Hausherrin?“, fragte sie routiniert.

Er lächelte. Sein Lächeln war überraschend. Es verwandelte ihn, als läge hinter diesem Gesicht mit dem kantigen Kinn und den Stahlaugen ein zweites. Eines, das nur in seinem Lächeln aufschien. Auch oder gerade weil eine verborgene Traurigkeit darin schwang. „Eine sehr anspruchsvolle Hausherrin.“

Sie sah, wie er sich entspannte. Er erkannte das, was die Manager von New Eden nicht anerkennen wollten: eine erfahrene Floristin, die genau wusste, was gewünscht war. Sie glaubte, sein Lächeln zu spüren, als sie mit seiner Zustimmung die Blumen wählte und geschickt arrangierte.

Ja, da war es, als sie ihm den gebunden, in Spitzenpapier gehüllten Strauß reichte. Das beglückte Lächeln. Auch ihm hatte sie es schenken können.

Er zögerte.

„Und dann hätte ich noch gerne eine Rose. Eine von den langstieligen roten.“

Also doch.

Wer wohl die Glückliche war?

Er legte einen großen Schein auf den Tresen. „Stimmt so“, sagte er.

Als sie die großzügige Bezahlung dankend entgegennahm, wagte sie es: Sie schaute ihn an, wie sie jeden Kunden anschaute, einfach wie einen Menschen. Diese Augen waren gar nicht stahlblau. Sie waren blau, blaugrau und sie hatten nichts von Stahl an sich.

In diesem Moment geschah es, als sie es in der Tiefe dieser Augen entdeckte, dieses Etwas wie einen unerwarteten Lichtstrahl, der bis zum Grund ihres Dunkels drang und ihn dort weckte, hervorlockte und in Windeseile empor gleiten ließ wie an einem Angelhaken.

Den Schmerz, der sie niederschlug.

 

 

Der Held

 

Er mochte den Pavillon am Paradise Port. Ihm gefiel seine altmodische Eleganz, vor allem, seit er wusste, daß er einst einen Zeitschriften-Kiosk beherbergt hatte. Inzwischen gab es nur noch den Eden Chronicle für diejenigen, die sich einen so teuren Anachronismus leisten konnten und die Gesellschaft bot im Pavillon Blumen an, die kaum weniger kosteten. Seine Mutter hatte immer davon geträumt, sich einmal einen Strauß Eden Flowers leisten zu können. Inzwischen konnte er ihr diesen Wunsch erfüllen. Immerhin etwas.

Aber sich an einen der Tische im exotischen Grün zu setzen, würde auch für ihn ein Traum bleiben. Wenn er unbehelligt leben wollte, musste er im ersten Bezirk bleiben. Dabei weckte das Eden Flowers Café stets diese unbestimmte Sehnsucht in ihn. Wie ein nur erahnter verlorener Traum – wovon? Einer verlorenen Welt? Er kannte nur diese.

Zum Glück schien die Frau hinter dem Tresen Erfahrung zu haben – eine ältere, rundliche Matrone anstelle der dümmlich kichernden Hühner, die ihm sonst bei Eden Flowers auf die Nerven gingen. Das verriet der sichere Griff nach den Blumen, die sie routiniert zu einem Kunstwerk band, mit dem er bei Mrs. Teitelbaum garantiert jede Verspätung ausbügeln würde. Er konnte schon fast ihre entzückten Seufzer hören, wenn sie den prachtvollen Strauß entgegennahm, ihren Augenaufschlag sehen, der verriet, daß sie irgendwann einmal sehr schön gewesen sein musste. So schön wie ihre verwöhnte Großnichte mit dem Millionenerbe.

Eine langstielige Rose wäre sicher nicht schlecht.

Er war so ein Arschloch.

Er hätte später nicht sagen können, ob es die Würdigung ihrer Kunst als Floristin oder sein Schamgefühl war, das ihn das üppige Trinkgeld geben ließ. Aber er vergaß niemals ihre Augen. Wie sie ihn in diesem Moment anschaute. Braun waren sie, mit winzigen goldenen und grünen Sprengseln darin, wie der Grund eines Waldsees. Aber das besondere war, daß ihn zum ersten Mal seit vielen Jahren jemand wirklich ansah.

Dann traf ihn der Schlag in den Rücken.

 

 

Die Frau - Brianna

 

Sämtliche Scheiben barsten in Splitter und der Knall löschte alles aus.

 

In ihren Ohren schrillte es. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, daß das Geräusch nicht in ihr, sondern um sie war, und daß es sich zusammensetzte aus dem Heulen der Alarmanlage und Cheryls hysterischem Kreischen.

Sie lag hinter dem Tresen. War es das jetzt, dachte sie. War das jetzt ihr Leben gewesen, ein Leben, das nur aus unerfüllten Träumen bestand, einem nach dem anderen, bis sie sich auftürmten zu den kantigen Steinen eines vorzeitigen Grabhügels?

Sie hörte den keuchenden Atem des Mannes, der auf der anderen Seite des Tresen lag. Da griff sie aus sich heraus und durch die Wand des Tresens und nahm sich ihren Traum.

 

 

Der Held

 

Es stieg in ihm auf, eine Luftperle, die sich vom Grund einer Quelle löste, immer schneller, sie wuchs und stülpte sich um, als sie seine Haut durchdrang und umgab ihn als blaue Blase. Sonnenlicht schimmerte durch das Blau. Es waren Blütendolden, die sich in einem leichten Wind wiegten. Er saß in einer Laube aus Blauregen. Ein Teich vor ihm leuchtete silbrig mit seinen vom Wind gekräuselten kleinen Wellen und die Iris an seinem Rand leuchteten golden. Der ganze Garten war von Leuchten erfüllt. Und das war auch richtig so, denn er war genauso leuchtend glücklich.

Er saß im Garten und war ganz sich selbst.

Vor ihm blitzten die Flügel der türkisblauen Libellen, die das Irisgold umtanzten, und irgendwo in der Laube über ihm flötete und tirilierte es. Das einzige weitere Geräusch war das Wispern des schelmischen Windes und leichte Schritte auf der anderen Seite der Hecke.

Nun war seine Freude vollkommen, das musste seine Schwester sein. Wie schön sie zu sehen!

 

Als die Verursacherin der Schritte in sein Blickfeld trat, widerfuhr ihm die angenehmste Enttäuschung seines Lebens.

Es war nicht seine Schwester – es war sein goldenes Mädchen. Er ahnte es, als sie durch den Rosenbogen in der Hecke trat, mit diesem tanzenden Schritt, der ihren Rock um ihre Beine schwingen ließ. Sie ging mit nackten zierlichen Füßen, so leicht wie der Wind. Vielleicht war sie auch eine Schwester des Windes. Oder der Sonne mit diesem goldenen Schimmer in ihrem Haar. Und ganz sicher wurde er sich, als sie ihn anschaute mit diesen Bernstein-Augen, in denen sich alles Leuchten sammelte, das Leuchten des Gartens und das Leuchten in ihm. Dies war sein goldenes Mädchen, sie musste es sein, denn sie war so ganz anders als er sie sich hätte erträumen können mit dieser Schönheit, die sich erst in seinem Blick entfaltete. Und doch blieb er vorsichtig.

„Hallo,“ begrüßte er sie, „wer bist du?“

War sie es? Sie musste es sein …

„Amber,“ erwiderte sie mit ihrer singenden Stimme. Einen Moment lang berührte diese Stimme ihn mit einer schmerzlichen Vertrautheit. Aber sicher, das sollte sie ihm doch sein, ihre Stimme, vertraut. Der winzige Stich eines seltsamen Schmerzes schwand. Amber – Bernstein. Aber ja doch.

„Und du?“, fragte sie ihn.

Seine Freude fasste sich in die Silben seines Namens. „Kiran,“ sie funkelten wie die Flügel der blitzgeschwinden Libellen, „Jnanaketu.“ das Lachen perlte mit den Silben aus ihm heraus „Schultze-Khan.“ Wer hieß auch schon „Schultze-Khan“, von all den globalen Verschmelzungen des 21. Jahrhunderts war das doch eine der irrsten. Oder etwa nicht?

„Schultze-Kahn?“, echote sie denn auch mit vergnügter Verwirrung.

„Mein einer Großvater war ein Khan. Mein anderer ein Schultze. Aber ob der eine von einem Fürsten abstammt ist so fraglich wie bei dem anderen.“ Er fühlte sich so leicht in seinem Lachen. Wie befreit, als wäre dieses Lachen für Jahre in ihm gefangen gewesen. Nur sein Lachen?

„Nun,“ erklärte sie mit schulneisterlichem Ernst und zuckenden Mundwinkeln „die Kette unserer Altvorderen dürfte so lange sein, daß ein Fürst schon dabei sein sollte, ebenso wie unzählige Bauern, sowie Heilige und Halunken.“

Sie war sein Mädchen, das wurde von Minute zu Minute deutlicher. „Und irgendwo weiter hinten in der Kette vereinen sich unsere beiden Stammbäume,“ führte er ihre Ausführungen weiter. Und ein kleines Stückchen weiter vorne auch, fügte er in Gedanken hinzu.

„Das ist doch mehr als wahrscheinlich“, kam die Antwort.

Na hoffentlich.

„Und wo sind wir hier?“ hörte er sich plötzlich fragen.

„Hm – am Ort unserer Träume?“

Träume? War dies doch nur ein Traum? Nein, ein Traum war das nicht. Oder doch? Er konnte sich gar nicht erinnern, wie er hierher gelangt war. Ob sie es wusste? Er fragte sie. Einen Moment stand sie in Stille, Er sah, wie das Gold ihrer Augen sich verdunkelte.

„Ich erinnere mich an - einen Knall,“ sagte sie.

Da spürte er ihn wieder, diesen Schmerz, dumpfer diesmal, wie ein Schlag, der nicht so schnell verging.

„Wir sollten zur Quelle gehen“, schlug sie vor.

Zur Quelle – das rührte etwas in ihm an. Die Quelle, das wäre eine gute Idee, befand er.

Sie schritten durch Rosenbögen. Natürlich, das musste so sein, sie sollten bis ans Ende ihres Lebens durch Rosenbögen schreiten. Auch wenn sie dabei durch Gärten gingen, endlos durch einen nach dem anderen. Das war gut so, denn so konnte er sie in Ruhe betrachten, wie sie an seiner Seite dahin tanzte in ihrem himmelblauen Kleid, auf ihren zierlichen bloßen Füßen. Amber im Rosengarten, Amber im Gemüsegarten, Amber im Obstgarten, Amber in ein allen Kombinationen aller denkbaren Gärten. Seinetwegen mussten sie nicht in dieser Mitte ankommen, er hatte seine Mitte schon gefunden.

Natürlich kamen sie schließlich doch dort an, bei einem stillen marmorgefassten Becken und das Wasser darin sah so frisch und klar aus, daß man glaubte, dies müsse der Brunnen der absoluten Klarheit sein, der Brunnen aller Weisheit dieser Welt. Sie setzten sich auf den Rand des Beckens unter der Kuppel des Baumes und das Mädchen schaute versonnen in die herauf quellende Flut.

Er flüsterte ihren Namen und als sie ihm ihr herzförmiges Gesicht zu wandte, da küsste er sie.

Endlich schmeckte er es auch, das goldene Leuchten und als er darin aufgehen wollte, spürte er, wie sie von ihm weg glitt, wie alles, was er sich erträumte. Natürlich dachte er, wie sollte es auch anders sein, so war es stets, seine Träume verhöhnten ihn in dem Moment, in denen er sie zu umfassen glaubte. Und er stürzte zurück in Schmerz und Kälte. Sie zerrten an ihm, er spürte noch den Stich in seinem Arm, dann nichts mehr.

 

 

 

Die Frau - Brianna

 

Frieden umgab sie. Sie lag geborgen, von Wärme umhüllt. Duft kitzelte ihre Nase. Das war nicht der Duft der Eden-Flowers. Das war der Geruch grüner vielfältiger Gewächse.

Sie öffnete die Augen, blinzelte in das goldene Licht, das sie umgab. Das war nicht das Licht der Eden-Solarlampen. Und es war kein Linoleum, auf dem sie lag. Auch kein Parkett, kein Asphalt und kein Polster. Sie wandte den Kopf zur Seite. Vor ihrer Nasenspitze erklomm ein runder roter Käfer einen grünen Halm. An seiner Spitze lupfte er die lippenstiftroten Flügeldecken und flog auf hauchzarten Häuten davon. Fast glaubte sie, den schwirrenden Hauch der winzigen Flügel an ihrer Nase zu spüren.

Ein Käfer, ein echter Käfer!

Warum auch nicht, hier sollte es hunderte von ihnen geben. Tausende? Das war Gras, auf dem sie lag. Dichtes Gras, getupft von kleinen Blumen mit goldenen Herzen und weißen Strahlenkränzen. Manche hatten rosa überhauchte Spitzen. Sie atmete beglückt ihren zarten Duft. Noch nie hatte sie solche winzigen Blumen gesehen.

Aber nicht doch, das waren doch Gänseblümchen!

Sie richtete sich auf und sah wogende Wiesen, die sprießenden Halme leuchteten im goldenen Licht. Blattarme umgaben sie wie die herabrieselnden Strahlen eines Springbrunnens. Es war eine Trauerweide, die ihre frühlingsgrüne Krone über sie wölbte. Vögel zwitscherten darin. Irgendwo in der Ferne wisperte Wasser. Das einzige weitere Geräusch, das sie fand, war ihr eigener Atem.

Vor ihren Füßen begann ein sandgelber Weg, der sich anmutig durch die Wiesen wand bis zu einer immergrünen Hecke. Ein üppiger Rosenbogen umfasste die Öffnung darin.

Sie sah es mit den staunenden Augen eines ersten Erkennens, und doch war ihr der Anblick fast schmerzhaft vertraut. Aber das war doch ihr Garten! Licht und Wärme füllten ihn, obwohl sie keine Sonne sah. Ihr Blick verlor sich in dem blauen Dunst über ihr, ebenso wie sich die Ränder des Gartens im blaugoldenen Dunst verloren. Vielleicht verloren sie sich aber auch nicht darin – vielleicht wuchsen sie daraus hervor, aus dem Urstoff der Träume.

Warum denn Träume? Es war doch alles so, wie es sein sollte! Sie erkannte Beete und Büsche und Gras und Bäume und die gewundenen Wege. Sie fühlte sich leicht, ihre nackten Füße tanzten über den schmeichelnden Sand, der Rock ihres blauen Kleides schwang um ihre Beine. Ein sachter Wind streichelte ihre Wangen, kitzelte sie mit ihren Haarsträhnen und weckte ein Wispern in den Büschen und Bäumen. Selbst die vielfarbigen Blumen tanzten in dem sanften Wind.

Sie trat durch den üppigen Rosenbogen in ein erstes, leuchtendes Gartengemach. In seiner Mitte glitzerten die winzigen Wellen, die der leise Wind in die Seidenfläche eines kleinen Teiches knitterte. Libellen tanzten um die goldenen Iris an seinem Saum. In der Laube aus duftendem Blauregen fand sie ihn.

Er war golden, wie dieses Land, hellgolden seine Haut und braungolden sein Haar, mit roten Funken darin. Seine grünen Augen waren voll brauner und goldener Tupfen und Schalk. Er saß auf einer Bank, die langen Beine von sich gestreckt und lächelte.

„Hallo“, sagte er. „Wer bist du?“ Diese Stimme. Wie flüssige Schokolade, fast schien sie ihr vertraut.

Einen Moment lang verlor sie sich in seinem Anblick. In der zärtlichen Heiterkeit seiner Augen. Doch seine Frage ließ sie nach dem tasten, was hier war, dieses von goldener Wärme umhüllte Sein. Dieses Ich. Fast berührte sie es, eine schmerzhafte Schärfe, die ihr entglitt. Das warme Gold hüllte sie ein und war doch sie selbst.

„Amber“, antwortete sie. „Und du?“

Er strahlte. „Kiran Jnanaketu Schultze-Khan.“ Er präsentierte ihr den Namen wie eine funkelnde Kette kostbarer Edelsteine.

„Schultze-Kahn?“

Jetzt lachte er, ein glucksendes Lachen. Wie sprudelnde Sonnenlichtperlen. „Mein einer Großvater war ein Khan. Mein anderer ein Schultze. Aber ob der eine von einem Fürsten abstammt ist so fraglich wie bei dem anderen.“

„Nun,“ erwiderte Amber „die Kette unserer Altvorderen dürfte so lange sein, daß ein Fürst schon dabei sein sollte, ebenso wie unzählige Bauern, sowie Heilige und Halunken.“

„Und irgendwo weiter hinten in der Kette vereinen sich unsere beiden Stammbäume.“ Augen wie Waldseen. Oder eher Koboldsaugen?

„Das ist doch mehr als wahrscheinlich“, stimmte sie ihm zu.

„Und wo sind wir hier?“ fragte er.

„Hm – am Ort unserer Träume?“ fragte sie zurück.

Er zog die Brauen hoch. Seine Nase hatte einen kleinen Höcker. Er verlieh seinem Gesicht etwas Kühnes. „Weißt Du auch, wie wir hierher gekommen sind?“ Da er saß, blickte er zu ihr empor.

Waren sie nicht schon immer hier? Amber lauschte in sich hinein „Ich erinnere mich an - einen Knall.“

Er nickte. „Ich auch. An Schmerz.“

„Wir sollten zur Quelle gehen“, schlug sie vor.

„Was für eine Quelle?“

„Sollte nicht jeder Garten eine Quelle haben?“

„Und wo finden wir die Quelle?“

„Na, in der Mitte.“

Er schwang sich auf seine langen Beine. Die Anmut seiner Bewegung erinnerte sie an etwas, auch sie schien ihr seltsam vertraut. Es schien ihr verbunden mit diesem – Schmerz, der ihr entglitt. „Na, dann los!“, erklärte er. „Es ist dein Garten!“

Und damit hatte er Recht.

 

Sie gingen durch Rosenbögen.

Sie schritten durch den Schatten von Nadelbäumen, von Laubbäumen, blühenden Bäumen, Bäumen, die vor Früchten strotzten und solchen, die sich über Beete voller Blumen und Gemüse neigten. Sie durchquerten Gärten, die einer einzigen Farbe gewidmet waren, Gärten, die mit den Farben spielten und solche, die Nutzen und Zierde vereinten. Nach außen hin wurde der Garten zum Park, der vielleicht sogar in die Wildnis über ging. Im Inneren öffneten sich kunstvolle Gartenräume in einander, jeder schien in der Nische der Möglichkeiten der vorhergehenden zu erwachsen.

Die Mitte war schlicht. Ein marmorgefasstes Becken unter der Kuppel eines Baumes, zur Hälfte beschattet, zur Hälfte im goldenen Licht. Sprudelnde Wellen ließen Lichtsplitter in der Kuppel des Baumes tanzen.

Sie setzten sich auf den Rand des Beckens. Sie glaubte Bilder emporsteigen zu sehen in dem herauf quellenden Wasser. Sie atmete die Frische, die davon aufstieg und verspürte einen Durst, von dem sie nichts geahnt hatte. Sie glaubte, die köstliche Kühle des Wassers bereits schmecken zu können. Ein Schluck davon würde diesen Durst löschen und ein weiterer Schluck den noch unbekannten Durst. Dieses Wasser würde ihren Geist klären und Erinnerungen bringen und hinter der Erinnerung weitere, sie könnte sie sehen, wie von einem Berggipfel könnte sie hineinschauen in die Vergangenheit und in die Weite des Wissens.

„Amber,“ flüsterte Kiran. Als sie ihn ansah, begriff sie, daß die Zärtlichkeit in seinen Augen ihr galt. Als er den Kopf neigte, wollte sie es nicht glauben, doch als seine Lippen die ihren berührten, erkannte sie den Kuss, von dem sie immer geträumt hatte und sie trank die Zärtlichkeit anstelle des Wassers der Quelle, diese strömende Zärtlichkeit, von der sie nicht mehr wusste woher sie kam, aus seinem oder ihrem Inneren. Etwas öffnete sich und die Zärtlichkeit begann in ihr zu tanzen wie die Lichtflecken der sprudelnden Quelle.

Hatte sie geträumt? Träumte sie?

Das konnte nur ein Traum sein. War da nicht eine alternde Frau auf dem Boden eines Paradieses, das keines war?

 

Der Alarm hämmerte mit seinem metallischen Schrillen auf sie ein. Brianna rang nach Atem, ihr Körper schmerzte. Die Kälte fiel mit gierigen Frostzähnen über sie her. Der Frost, der an den Blumen fressen würde. Brianna richtete sich auf und hieb auf den roten Notfallknopf hinter ihr.

Aber sie waren schon da, während über ihnen noch der Alarm heulte. Farben fegten in den Raum, das musste ein Bat-Team sein, nunja, dies war ja auch eine Filiale der Eden Company. Aber seit wann trug das Bat-Team bunte Tierköpfe wie die Teilnehmer einer Manga-Con?

Die grellbunten Larven ballten sich um den gestürzten Mann vor dem Tresen. Die Rolläden knallten im Notfallmodus herab, aber die Eindringlinge waren schneller. Nur dem herein drängenden Frost schnitten die dicken Metall-Lamellen den Weg ab. Die Eindringlinge waren so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren, aber sie gingen nicht allein. Das Notfallprogramm kappte sämtliche Energiezufuhr und so saßen sie schließlich zu zweit im Dunkeln, Brianna und die schluchzende Cheryl.

Allerdings nicht lange. Diesmal waren es die Cops, und ja, tatsächlich eine Super-Heldin des Bat-Teams, die mit ihren psychokinetischen oder sonstigen Kräften die Sicherheitsgitter hoch stemmte.

„Bruce Wayne!“, schrie Cheryl. „Sie haben den Bruce Wayne entführt!“

 

Die Eden-Flowers-Service Truppe traf nur wenig später ein. Nachdem die Blumen evakuiert waren, die Cops ihre Digi-Protokolle abgespeichert und die hysterische Cheryl auf einer Liege abtransportiert worden war, blieb Brianna allein im Laden zurück.

Waren alle diese jungen Mädchen so nervenschwach?, überlegte sie. Vielleicht ertrugen es die bekennenden VV-Fans nicht, wenn die Welt hinter ihren Brillen derart brachial hervorbrach.

„Die Tier-Mons haben ihn geholt!“, hatte Cheryl geschluchzt und die Cops hatten die Stirn gerunzelt, bis Brianna ihnen die Tiermasken der Angreifer beschrieb.

Sie hob den Geldschein auf, den ihr der Bruce Wayne gegeben hatte. Die Wucht der Detonation hatte ihn zusammen mit den Blumen hinter die Theke gefegt. Immerhin das Trinkgeld gehörte ihr und der erstaunlich unversehrte Blumenstrauß. Wie sie ihn kannte, würde der Baronet ihr ohnehin die nicht mehr einzuhaltende Arbeitszeit vom Lohn abziehen. Jetzt blieb ihr nur noch, die Hintertür abzuschließen und nach Hause zu fahren. Resigniert öffnete sie die Tür in die Gotham Winternacht.

„Was ist denn los? Wieso ist denn alles dunkel?“ Anjetta stand vor ihr, in einem neuen Webpelzchen mit dazu passenden Stiefelchen, ihre VV-Brille über den blondierten Pony geschoben. „Ich kann doch nichts dafür, daß es so lange gedauert hat!“

 

Samen

Die Rebellin - Blue

 

Blue flog durch die Stadt.

Nicht wirklich. Sie benutzte die Spiderman-Methode. Nicht ganz brandneue Eden-Technologie.

Auswerfen – anziehen, auswerfen – anziehen.

Schwingen, schwingen, schwingen.

Sie konnte das besser als irgendeiner aus den Bat-Teams. Würden die glatt leugnen, wenn die sie jetzt sehen könnten. Nein, das konnte doch nicht die sein, nicht Blue!

Ha! Blue, die siegreiche Diebin.

Nächstes Dach! Mit weitausgreifenden Armbewegungen ließ sie die Pfeilhaken ausschießen, in Sekundenbruchteilen auf das anvisierte Ziel zu, die Spitze verhakte sich und sie schnurrte am straffen Seil vorwärts, rasend schnell wie ein Drachen am Seil, rechts, links, rechts, links, sie flog über die Dächer. Tarzan war ein lahmer Affe!

Eden hatte die Methode aufgegeben, nachdem der eine oder andere Superheld böse wo gegen geknallt war. Jaja, die Superhelden. Vermisste wohl keiner, die Spielsachen, die sie ein bißchen aufgepeppt hatte.

Auswerfen - anziehen. Mit den Beinen stieß sie sich da und dort ab, balancierte ihre Flugbahn aus. Dafür taugte selbst ihr steifes Bein.

Die arme kleine Blue. Wer so pfauenblaue Haare hatte, musste doch sicher etwas Besonderes sein, schließlich verrieten sich in solchen Auffälligkeiten gewöhnlich die Superkräfte!

Hatten die Tester von Eden gedacht. Schön war es auf der Akademie gewesen. Genug zu essen, unverdorbenes Essen. Leckeres Essen. All diese Dinge, die man lernen konnte. Blue liebte Lernen. Auch wenn sie es nicht zeigte. Auch wenn sie überhaupt nicht gerne zeigte, was sie wusste.

Und wenn sich deine Superkräfte zeigen, kleine Blue,dann ist es so weit, dann bekommst du so ein teures Genetic Forming, zahlen wir dir als Vorschuss, zwei gesunde Beine.

Was für Superkräfte? Daß sie gut mit Pflanzen konnte, interessierte keinen. Wozu hatte Eden seine Saat- Jäte- Dünge-Spritz- und Ernte-Allroundmaschinen? Und seine preisgekrönten Gartenarchitekten für das grüne Herz New Edens, das niemand je sah, der nicht im ersten Bezirk lebte?

Tja, kleine Blue, jetzt haben wir so viel investiert, das musst du abarbeiten, das siehst du doch sicher ein? Welchen der schönen Fließbandjobs möchtest du denn? Schau nur, wie zuvorkommend. Wir bieten sie dir sogar an.

 

Blue, Blue, die fliegende Diebin. Hoch über den Dächern der Stadt. Schneeflocken umwirbelten sie. Schnell war sie, superschnell. Weit hinter ihr glitzerte der zweite Bezirk. Der Himmel über ihr war hell im Widerschein der Stadt. Sie flog über dunkle Straßenschluchten. Hier ging der vierte Bezirk schon fast in den fünften über, auch wenn ihn keiner der Offiziellen so nannte. Die Backsteinfassaden bröckelten, nur hinter vereinzelten Fenstern war Licht – oder drang durch die Ritzen der Lamellen von Stahlrolläden.

Ihre Arme begannen zu schmerzen. Jetzt war sie fast am anderen Ende der Stadt, das müsste reichen. Wie hatte sie sich nur erwischen lassen können!

Pfui, Blue, wie eine blutige Anfängerin!

Aber die Gewächshäuser der Eden Company waren an sich ein so unkompliziertes Ziel. Da war sie unvorsichtig geworden.

Die nassen Schneeflocken klatschten ihr entgegen. Jaja, sie war ja bald da. Sie konnte den Widerschein der Mülltonnenfeuer bereits flackern sehen. Aber als sie aufatmend auf dem Dach landete, den Blick vorsichtig zurück gerichtet, da sah sie sie. Die Bewegung zwischen den alten Schornsteinen, schattenhaft, schnell.

Die hatten doch nicht etwa ein Bat-Team hinter ihr her geschickt? Wegen einer simplen Tüte Samen?!

Scheiße – das war tatsächlich einer von denen, auf einem schicken Superheldenschwebegleiter!

New Edens ureigenste Technologie, New Edens beste Erfindung, nur schade, daß sie so teuer war, daß sie nur für Frachtschiffe taugte. Und für Spielzeuge für Superhelden und Superreiche.

Könnte sogar einer von Blues alten Klassenkameraden sein, den erfolgreichen, den ERWÄHLTEN.

Scheiße, der durfte sie nicht sehen!

Hatte sie schon gesehen.

Jetzt gab es nur eins: abseilen, entseilen, untertauchen. Was ist? Was willst du von mir? Ich bin nur ein Straßenkid!

Blue kippte über die Dachkante. Im Fallen griff sie in ihre Tasche, es ratschte, in der Eile riss die Tüte auf und die spontan geklauten Samen verteilten sich in den nassen Schnee, dem es hier, weitab vom wärmeren Inneren der Stadt gelang, die schmutzigen Hinterhöfe zu verhüllen. Verdammte Verschwendung, aber wenigstens war sie ihr Diebesgut los.

Sie kam mit den Füßen auf dem Boden auf, die bröckelnde kalte Wand im Rücken, als die Superhelden-Silhouette über der Dachkante auftauchte. Die Gestalt vor dem beschienenen Himmel hob den Arm und dann wurde es taghell.

Jemand fasste ihre Hand. Selbst durch ihre Spezialhandschuhe hindurch konnte sie fühlen, daß diese Hand warm und weich war. Sie blinzelte. Es war nicht mehr taghell, es war das zögernde graue Morgenlicht, das den Hinterhof füllte. Niemand stand über der Dachkante. Die warme Hand ließ sie los.

Blue wandte sich um und blickte in das freundliche Gesicht einer hübschen, rundlichen Frau. Ganz golden und blau war sie. Braungoldenes Haar und braungoldene Augen mit grünen Tupfen. Ein Kleid, so blau wie der Sommerhimmel in einem alten Film. Es war kein Winterkleid. Ein hellgoldener Schein umgab die Frau, gerade so, als stünde sie in einem Sonnenstrahl, obwohl weit und breit kein Sonnenfitzelchen zu sehen war. Nur das Morgengrau über dem Backstein.

Dann nahm Blue aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Grüne Triebe schoben sich aus dem schmutzigen Schnee, rankten die rissigen Backsteinmauern hinauf und entrollten große, dunkelgrüne Blätter. Grüne Schlingen wickelten sich um ihre Knöchel, sogen an ihr.

Blue ließ sich hinab sinken und wurde zur Pflanze.

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

Clarissa war müde.

Was für ein gräßlicher Tag. Erst das Fiasko mit dem Batman und dann sollte sie auch noch einem Pflanzendieb hinterher jagen. Wegen einem Samentütchen. Sonst noch was? Wenn das embryonale Gemüse so wichtig war, warum lagerte es dann nicht im Speziallabor? Geklaut aus einem ganz normalen Eden Gewächshaus, in das jeder Straßendödel eindringen konnte, wenn er zweimal unauffällig um die Ecke schlenderte - hallo?

Oder ging es gar nicht um das Diebesgut, sondern eher um den Dieb? Dieser Jemand war über die Dächer geflogen. Dieser Jemand verfügte offensichtlich über nicht ganz gewöhnliche Fähigkeiten. Ein neuer Superschurke?

Aber wozu klaute ein Superschurke Samentütchen?

Ein neues Supermarihuana, das allein mit seinen Ausdünstungen die gesamte Stadt high machte?

Haha.

Und jetzt hatte sie auch noch die Spur verloren.

Hier war niemand, nichts und niemand, da konnte sie noch so die schmuddeligen Ecken ausleuchten mit ihrem super Leuchtstrahl auf diesem Niemandsdach im Niemandsland des vierten Bezirks. Dabei hatte sie doch gesehen, wie der fliegende Schatten hier gelandet war. Oder etwa nicht? Vielleicht konnte sich der Kerl ja unsichtbar machen. Aber warum hatte er das dann nicht schon vorher getan?

Hier war nur sie, in ihrem superdünnen Superheldenanzug dessen supertolles Superheldenanzugsheizstystem mal wieder ausgefallen war, und fror an. Irgendwo da unten verkokelten irgendwelche Outlaws irgendwelchen Müll und soffen. Und im ersten Bezirk waren die anderen wahrscheinlich längst von ihrem Einsatz im vierten Bezirk zurück und begossen die Aktion, die die hiesigen Bosse mal wieder mal dastehen ließ wie die begossenen Pudel.

Pflichtschuldig glitt sie hinab in die Gasse, dessen Dunkelheit der flackernde Lichtschein mehr betonte denn vertrieb und checkte die Kids drumrum, die sie mürrisch anstarrten. Etwas mehr Enthusiasmus angesichts ihrer Superheldinnenerscheinung hatte sie ja schon erwartet. Hej, sie war die honigblonde Clarissa mit den megamäßigen psychokinetischen Kräften und dem geilen Ganzkörpersuit ohne funktionierenden Kälteschutz. Könnt ihr denn nicht meine prickelnde Gänsehaut sehen?

Dann eben nicht.

Genaugenommen sahen die Youngsters hier nicht nur verwahrlost, sondern auch verfroren und halb verhungert aus. Und eigentlich sah nur dieses feindselig glotzende Metallface einigermaßen menschlich aus. Und das bei all den Piercings. Gütiger Himmel - war das etwa ein Mädchen? Die Gestalten dagegen, die da im Feuerschein hinter ihr herumlungerten …

Dem da wuchs ein Bart im ganzen Gesicht und daneben - das waren Freaks. Am Ende gar wilde Talente. Das plötzliche Frösteln, das sie überkam, hatte nichts mit ihrem defekten Heizsystem zu tun. Das Feuer in der Mülltonne strahlte nämlich eine beachtliche Hitze aus. Hier stand sie nun, teamlos in einer fremden Welt, zehn Flugminuten von ihrem Teil der Stadt entfernt. Und fliegen konnte sie nur, weil sie einen Gleiter hatte. Noch. Alles nur wegen einem blöden Samendieb.

Die Kids blieben reglos und New Edens Whamm-Girl schwang sich ungehindert auf ihr Windsurfbrett.

Dieses rosa Ding hinter der Feuertonne, war das wirklich menschlich gewesen?

 

Clarissa war erleichtert, als sie schließlich in ihrem Apartment anlangte. Auch wenn das ganze Grünzeug sie nervte - es hatte schon etwas für sich, im ersten Bezirk zu wohnen. Dabei war das Bat-Team in einem Apartmentblock untergebracht, ganz im Gegensatz zum Batman in seiner Villa, diesem arroganten Arschloch. Es waren schließlich die Bat-Teams, die die ganze Arbeit machten. Er repräsentierte nur, toll.

Wo er jetzt steckte? Und was wohl dahinter steckte? Oder eher – wer?

Oder war er einfach nur abgehauen und hatte findig sein Verschwinden inszeniert?

Aber wozu denn, schließlich hatte der Batman das As gezogen!

Jetzt endlich ein wärmendes Bad und dann -

„Clarissa, Süße,“ säuselte ihre Vision Wall, „Mrs. Teitelbaum möchte dich sprechen!“

 

 

Die Frau - Brianna

 

Sie fuhr mit der Sub nach Hause, zu ihrem teuer bezahlten Nest am äußersten Rand des dritten Bezirks. Aber immerhin, bis hierher patroullierten die Cops und bis hierher kam die Müllabfuhr. Hier fühlte sie sich auf eine merkwürdig schmerzliche Weise zuhause. Es hatte sie gleich so sonderbar angerührt, das düstere Gebäude aus der Zeit, als die Eden Bau GmbH begonnen hatte, die schwarzen Thermosolarelemente in vereinfachter Form auch für gewöhnliche Wohngebäude einzusetzen. Die Form war noch immer die gleiche wie ehedem: quadratische Wohnblocks mit einem abgeschlossenen Innenhof als Lichtschacht. Nur daß dieser hier einen Baum beherbergte. Vielleicht hatte es auch an dem Baum gelegen, daß sie für diese beiden Zimmer ihre Ersparnisse geopfert hatte. Es war ein seltsamer, exotischer Baum mit riesigen Blättern und duftenden zartrosa Püschelblüten im Frühling. Vermutlich hielt ihn nur der Schutz durch den Innenhof in diesem kalten Klima am Leben.

Warum schaute sie nur immer wieder unruhig nach oben? Schon wieder ertappte sie sich dabei, Was sollte da sein? Da waren nur die unzähligen Fenster anderer Bewohner des Randbezirks. Fast fühlte sie sich wie eine Wächterin. Über was denn?

Ein sicheres Heim hatte sie haben wollen, eines, aus dem sie niemand vertreiben konnte. Die Wohnung war gerade so hoch über dem Erdgeschoss, daß sie sich nicht vor den Eindringlingen der Straße fürchtete und doch so tief, daß sie auf ihrem Balkon fast in der Krone des Baumes saß. Selbst sein kahles Astwerk erfreute sie mit seiner grazilen Schönheit.

Heute gönnte sie sich einen Tee aus den frischen Kräutern, die sie in den Töpfen an ihrem Küchenfenster zog. Sie stellte den Blumenstrauß auf ihren Küchentisch und ihr Blick verlor sich in der Pracht der Blüten, während sie die wärmende Teetasse in den Händen hielt und zu begreifen versuchte, was geschehen war.

Der Batman war in ihren Laden gekommen, um Blumen zu kaufen. Als er an der Theke stand, war auf ihn geschossen worden. Oder hatte jemand einen Sprengsatz gezündet, eine Schallbombe vielleicht? Sicher war: er war entführt worden.

Soweit die Geschichte, die zu erzählen war.

 

Aber – wo war dieser Garten? War sie wirklich dort gewesen?

Mit diesem Mann.

Sie war dort gewesen, es war real, die Erinnerung war fast deutlicher als an alles andere an diesem Tag. Fast, als seien dort all ihre Empfindungen stärker gewesen. Sie war so ganz da gewesen, ganz und gar an diesem Ort, mit allen Sinnen. Sie hatte nichts anderes gekannt, als den Moment. Diese leuchtenden Momente des Gartens.

Jetzt reichte sie nicht mehr hin.

Da waren doch Bilder in dem heraufsteigenden Wasser gewesen.

Auch sie konnte sie nicht mehr fassen. Sie bekam Kopfschmerzen, je mehr sie sich mühte.

Aber eines wusste sie noch – sie war in dem Moment zurückgekehrt, in dem sie gezweifelt hatte. Nach sich gefragt, nach ihrem Ich hinter der Theke, im Moment nach der Detonation.

Sie fühlte sich so müde. Als hätten die Ereignisse des Abends jedes Quäntchen Energie aus ihr heraus gesogen. Jetzt war sie leer, wie ihre Teetasse. Sie musste wider Willen lächeln. Eine Tasse voll Energie, wäre nicht schlecht. Eine Mütze voll Schlaf könnte dafür sorgen.

Draußen glitzerte der Schnee auf dem filigranen Astwerk im Licht der erleuchteten Fenster rings um den Innenhof, eine silbrige Zierleiste für die dunklen Linien des kahlen Baumes. Noch immer fiel Schnee, weiße Flocken im schwarzen Hofgeviert. Sie war froh, daß diese Wohnung nicht allzu hoch lag. Nun gut, die Wohnungen waren ohnehin teurer, je höher sie lagen, je näher dem Sonnenlicht und dem Blick über die Straßenschluchten. Aber es war eben jener Blick, den sie fürchtete. Nicht der Blick nach draußen auf die Straße, es war der in den Schacht des Innenhofs. Dieser tiefe dunkle Tunnel, der einen aufsog, wenn man zu lange hinab schaute. Hier fing die Krone des Baumes ihren Blick, barg ihn in ihrem Grün im Sommer und in ihrem Astwerk an einem Abend wie diesen.

 

Wenn es diesen Garten wirklich gab – wie war sie nur hin gelangt?

Indem sie sich ihre Träume gegriffen hatte.

Sie war so müde. Sie stellte die Tasse in die Spüle und ging schlafen.

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

 

„Clarissa,“ zwitscherte die Vision Wall hinter der beschlagenen Wand ihrer Duschkabine, „Clarissa, Mrs. Teitelbaum möchte dich so schnell wie möglich sprechen! Persönlich.“

Warmes Wasser rieselte sanft auf sie herab und schmolz die Kälte von ihrer Haut. Clarissa schob die Duschkabinentür einen winzigen Spalt zur Seite: „Ich muss mich erst angemessen kleiden!“, brüllte sie hinaus.

Sie drehte den Wasserstrahl auf, bis immer heißeres Wasser auf sie herab prasselte wie ein Tropensturm und die Kälte auch aus ihren Knochen kochte. Bis auf diesen kleinen kalten Klumpen in ihr, der einfach nicht schmelzen wollte. Das Prasseln übertönte selbst das Zwitschern der Vision Wall, trotzdem glaubte sie, es noch immer zu hören. Und noch. Und noch und noch und noch.

Es presste gegen ihre Stirn, aber dieser Druck kam von der Wand der Duschkabine gegen ihre Stirn. Sie hatte sich erlaubt, ihre Stirn dagegen zu lehnen. Nein, sie hatte es sich nicht erlaubt, es war ihr unterlaufen. Das Wasser lief über ihre Augen, sie würden brennen, wenn sie zu lange in der Kabine blieb. Sie musste zu Mrs. Teitelbaum.

 

Sie wählte einen flauschigen weißen Rollkragenpulli über einer tiefblauen Wollhose, Angorasocken in gefütterten weißen Stiefeln und seufzte erleichtert. Sie legte ihr Kettchen mit dem schmalen goldenen Kreuz um. Sie berührte es leicht mit den Fingerspitzen, dünnes helles Gold auf dem flauschigen Weiß, seltsam tröstlich, wie in dem Moment, als ihre Mutter es ihr umgehängt hatte. „Ich werde immer bei dir sein.“

Ihre Mutter war an Krebs gestorben, das Privileg derer im dritten Bezirk. Vom vierten ganz zu schweigen. Im zweiten Bezirk starb niemand an Krebs oder einer anderen diagnostizierten Krankheit und im ersten Bezirk starb niemand, der unter hundertzwanzig war, sofern ihn nicht ein unerwartetes Mißgeschick ereilte oder er doch eine zu hohe Dosis von Schicki-Micki-Irgendwas einpfiff.

Wenn sie damals schon eine Superheldin gewesen wäre …

Heute würde sie das Kreuz offen tragen. Na und?

Mrs. Teitelbaum wohnte in einem dieser – Paläste in diesen Privatparks, die so groß waren, daß man sich vorkam wie auf einem anderen Planeten. Nur daß der der Teitelbaums noch größer war, sowohl Park als auch Palast und dazu noch ein sogenannter Hausgarten, größer als drei Häuser, pardon, Paläste zusammen. Vorne englischer Landschaftspark, hinten Hausgarten. Mehr wollte Clarissa auch nicht über die Gartenarchitektur wissen, von der die Damen des ersten Bezirks so schwärmten und ohne Mrs. Teitelbaums Lieblingsgeschwafel wäre sie auch davon verschont geblieben.

Sie näherte sich besagtem Palast mit seinen hoch aufragenden Türmchen auf ihrem Schwebegleiter, das wurde von ihr erwartet und die Sicherheits-Cams hatten sie schon längst identifiziert. Wenigstens trug sie jetzt einen funktionierenden Mantel, den ihr der Butler abnahm. Ein menschlicher Butler wohlgemerkt, kein Serve-Rob.

Mrs. Teitelbaum empfing sie im kleinen Salon.

Clarissa dünkte dieser Raum keinesfalls klein. Aber wenn man einen Blick durch die halb geöffnete Tür in den anderen Salon warf, dann war dieser schon recht schnucklig.

Im großen Salon war alles Silber und grün und verspiegelt: dicke silbergerahmte Spiegel an seidenbezogenen Wänden mit gestickten Rankpflanzen. Emsige Bedienstete trugen von silbernen Tischchen zwischen riesigen Topfpflanzen die Reste ab - silberne Teekannen und silbergefasste gläserne Tässchen und krümelnde Törtchen und verbliebene Schnittchen auf den silberfiligranen Etageren. Mrs. Teitelbaums Nachmittagstees waren berühmt ob ihrer Üppigkeit an gereichten Häppchen und Prominenz. Clarissa lief das Wasser im Munde zusammen. Hoffentlich tat ihr Magen nicht laut seinen Unmut über die ausbleibende Abendmahlzeit kund.

Im kleinen Salon knisterte ein Feuer im Kamin. Kaminfeuer war Clarissa an sich vertraut, sie hatte selbst eines, aber daß unter den Flammen Holzscheite lagen und ein leichter Geruch davon ausging, das war – das Feuer war echt!

Außer dem Personal und der Hausherrin war nur eine weitere Person anwesend. Eine junge Frau saß auf einem Hocker vor dem Feuer. Platinblondes Haar lag in sorgfältig ondulierten Locken eng um ein Engelsgesicht mit kirschrotem Schmollmund und großen, veilchenblauen Augen. Das war Rose, die Großnichte und Erbin Mrs. Teitelbaums.

Mrs. Teitelbaum thronte in einem Sessel, der so groß war, daß sie darin noch winziger wirkte. Mrs. Teitelbaum war alt, wie alt, darüber sprach niemand. Wenn sie es gewollt hätte, hätte Clarissa es herausfinden können, indem sie die Ausgaben des New Eden Chronicle des letzten oder gar vorletzten Jahrhunderts durchforstet hätte, bis sie auf ihre Geburtsanzeige stieß … Aber wozu, Mrs. Teitelbaum war so alt, daß man es ihr ansah.

Natürlich hatte sie kaum Falten, natürlich saß die Haut nicht allzu locker auf den feinen Knochen, aber sie hatte diese unnatürliche durchscheinende Blässe eines letztmöglichen Genetic Formings. Und wenn man ganz genau hinsah, sah man die winzigen zarten Fältchen unter dem edlen Make Up. Sie war in Spitze gehüllt wie ein Sofapüppchen, weiße Spitze und Perlenketten. Ihr silbriges Haar schimmert heute in einem leichten Violettstich. Eine aktuelle Tönung vielleicht oder auch nur der Widerschein all der Violettöne des kleinen Salons mit seinen dicken Teppichen und den geblümten Polstersesseln. Mrs. Teitelbaum war eine der wenigen alten Damen, die es wagten, ihr Haar weiß zu tragen. Genauer gesagt: erst seit sie das tat, wagten es noch einige wenige andere. Hatte man ihr zugeflüstert.

„Meine Liebe Clarissa - sie kommen gerade von einem Einsatz?“, richtete die alte Dame nun das Wort an sie.

Ein Bediensteter stellte ein silbernes Kännchen mit passendem Tässchen und einen Porzellanteller neben sie. Clarissa identifizierte Beerentarteletts und Gurken- und Lachs-Sandwiches. Der Butler goss Tee in das silberverschnörkelte Glastässchen.

„Oh, wie aufmerksam!“, entzückte sich Clarissa. Ein angesichts der Köstlichkeiten zugegebenermaßen geringerer Teil ihres Entzückens rührte daher, daß die willkommene Offerte sie einer allzu genauen Ausführung über den Ausgang ihrer heutigen Einsätze enthob.

„Eine Stärkung haben sie jetzt sicher nötig!“, nickte ihr Gegenüber ihr huldvoll zu.

„Mein Anzug war defekt – das Heizungssystem.“, hörte Clarissa sich zu ihrem Entsetzen sagen. Die Behaglichkeit des Salons hüllte sie ein, ihr wurde bereits recht warm in ihrem Kashmir und Angora.

„Ach Kindchen, wie schrecklich!“, entsetzte sich Mrs. Teitelbaum. „George, bringen sie der jungen Dame einen Grog.“

„Ich habe mich kurz unter die Dusche gestellt“, nuschelte Clarissa zwischen zwei Bissen und fühlte, wie ihre Wangen erglühten. Seit wann plapperte sie eigentlich einfach so ihre Gefühle heraus?

Seit gerade eben.

Mrs. Teitelbaum lächelte sie liebevoll an. Sie war die reizendste alte Dame, die man sich nur denken konnte.

„Man sagte mir, sie seien die begabteste Spürerin der Bat-Teams“, fuhr Mrs. Teitelbaum fort.

Clarissa trank einen großen Schluck Tee. Fast hätte sie sich an ihrem Lachs-Häppchen verschluckt. Upps, das Tässchen war ja schon leer.

„Es ist keine Superkraft“, sagte sie schnell. „Und es gelingt auch nicht immer.“, betonte sie und dachte peinlich berührt an die Verfolgung des Samendiebs.

Mrs. Teitelbaum ließ sich eine Tasse Tee reichen. Ihre Hände waren ein weiteres Detail, an dem man ihr Alter ablesen konnte. Gewiss, sie hatte zierliche Hände, anmutige Fingerknöchelchen, die mit dünner Haut überzogen waren. Kleine Skeletthändchen die elegant das Tässchen balancierten.

„Man sagt allerdings, es grenze an Magie, wie sie Spuren auffinden können, Clarissa.“ Mrs. Teitelbaums funkelnde blaue Augen waren das einzige an ihr, das wirklich und wahrhaftig jung wirkte, zeitlos wie Saphire. Und das einzige, das nicht zart und weich war.

„Ich hatte eine gute Schulung meiner Aufmerksamkeit während meiner Ausbildung“, parierte Clarissa. Nur nicht zu den Psychos, nein, nein, nein, sie war keine von den Psychos. Sie würde bei den Einsatz-Teams bleiben, den Erst-Einsatz-Teams und um sich schlagen.

Der Butler schenkte Tee nach und Clarissa griff nach den Tartelettes.

Mrs. Teitelbaum beugte sich vor. „Meine Liebe, helfen sie mir. Clarissa, bitte finden sie den Batman!“

„Oh bitte,“ ertönte jetzt eine helle Stimme vom Kaminfeuer her. Zwei veilchenblaue Augen richteten sich auf sie, so blank wie Teiche, die den Himmel spiegeln. „Bringen sie uns unseren Sonnenstrahl zurück!“

Die Süße des Tartelettes füllte ihren Mund. Zwei blaue Augenpaare waren auf sie gerichtet.

„Tun sie es nicht für uns beide, für Rose oder mich.“ Mrs. Teitelbaum hielt ihren Blick fest. „Tun sie es für uns alle.“

Clarissa schluckte die süßen Krümel und trank den letzten Schluck Tee aus ihrer Tasse.

Sie wandte sich den funkelnden Saphiren zu. „Ich brauche etwas aus seinem Besitz, etwas Persönliches wie ein Schmuckstück oder ...“

„Einen Kamm?“, bot die schimmernd schöne Rose an.

 

 

Die Frau - Brianna

 

Sie erwachte in einen vergessen geglaubten Schrecken. Grobe Hände schüttelten sie. Grobe Stimmen prasselten auf sie ein. Sie öffnete die Augen. Grelles Licht blendete sie. Sie konnte nichts verstehen, die Tiefe des Schlafes, aus dem sie gerissen wurde, hielt sie noch immer mit seiner Bewußtlosigkeit umklammert.

Dann erkannte sie ein Gesicht über sich. Oder besser – erkannte es nicht, als sei es nicht das Gesicht, das sie erwartet hatte. Das, das der Schrecken kannte.

Und doch war der Schrecken hier.

„Los, raus aus dem Bett!“ Männer standen um sie herum. In ihrem Schlafzimmer. Männer in den Uniformen der Garden New Edens. Sie brachten die Kälte der Nacht in ihre Höhle. Sie begriff nicht einmal, daß dies wirklich geschah.

„Raus!“ Sie wurde aus dem Bett gezerrt.

„Anziehen!“ Sie sah sich vor ihren Kleidern.

„Na los doch!“ Wo waren ihre Socken? Keine Socken. Die Männer stießen sie aus der Tür, es gelang ihr gerade noch, in ihre Stiefel zu schlüpfen. Sie fand keinen Atem, um zu fragen, warum ihr das geschah und man ließ ihr auch keinen Atem dazu.

Draußen herrschte tiefe Nacht. Blinkende Streifenwagen standen unten und ein gepanzerter schwarzer Bus. Diese Art Busse kannte sie. Die Kälte der Straße biss durch die zerschlissenen Sohlen ihrer Stiefel, als man sie hinaus zerrte. Die hintere Tür des vergitterten Busses klappte auf und man stieß sie hinein. Von beiden Seiten packte man sie, zwang sie auf den Rücken und presste sie zwischen hartes Gestänge. Es war eine Liege, auf die man sie schnallte. Sie fixierten ihren Kopf. Glaubte man denn, daß sie Superkräfte besaß?

So ging man mit Superschurken um, das war das Metall, das Superkräfte dämpfen konnte. Aber genaugenommen gehörte es zu allen Transportwagen der Sicherheitskräfte von New Eden, es war Standard, eine Vorsichtsmaßnahme.

Die Szenen um sie herum glitten an ihr vorbei wie ein zu schnell geschnittener Zap, der Van, die Beamten, Korridore, Stimmen, Lichter und endlich ein graumetallener Raum. Eine Stimme die schrie: „Wo ist er? WO IST BRUCE WAYNE??!!“ Bis ihr die Ohren schrillten.

Eine andere Stimme, „Könnt ihr es denn nicht erwarten?“, leicht verärgert. Nicht an sie gerichtet.

Dann ein Stich in ihrem Arm und die wirbelnde Bewusstlosigkeit begann wieder an ihr zu ziehen. Sie sank in den Nebel, der voller Stimmen war.

 

„Die haben sie doch gehirngewaschen, so ein Blödsinn, GÄRTEN!!! Wenn ich die erwische, diese Terroristen! Na los Doc, die nächste Potenz, wir müssen hinter die Gehirnwäsche kommen!“

Jetzt waren die Stimmen neben ihr, die Nebelfetzen trieben davon. Endlich wusste sie, wo sie war. In einem Verhörraum. Die nächste Potenz?

„Aber Sir, die muss genehmigt werden!“

„Ist hiermit genehmigt!“

„Aber dies kann irreparable Gehirnschäden hervorrufen!“

„Wissen sie worums geht? Das wissen sie doch, Herr Doktor Schmidt, oder?!!“

„Es könnte genau die Information zerstören, die sie zu erhalten hoffen, Sir!“

Einen Moment lang herrschte Stille. Einen winzigen Moment lang.

Hilfe, betete sie lautlos. Dann …

„Doberman – hätten sie nicht schon längst an mich übergeben sollen?“, fragte eine neue Stimme. Eine ruhige Stimme. Unaufgeregt, freundlich, angenehm und irgendwie unauffällig wie ein grauer Anzug, ja, so klang sie.

Ein längerer Moment Stille. Ein verärgertes Schnauben neben ihr. Jemand hob ihren Kopf und hielt ihr ein Glas Wasser an die Lippen. Es vermochte kaum die kratzige Trockenheit ihres Rachens hinweg zu spülen. Dann setzte sich ihre Liege in Bewegung, glitt unter grauen Decken mit grellen runden Leuchten hindurch, durch stählerne Türen, bis sie unsanft abgelegt wurde. Der kreisende Nebel hinter ihrer Stirn zog sie erneut in die Tiefe.

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

Ich fasse es nicht, dachte Clarissa, während sie auf den eleganten, silbern ziselierten Kamm starrte. Damit meinte sie weniger dieses affektierte Accessoire männlicher Eitelkeit. Weshalb hatte der Anblick sie eigentlich im ersten Moment so verwundert? Passte doch zu diesem Schönling mit seiner maßgeschneiderten Fresse.

Sie konnte es nicht fassen, daß sie sich hatte breit schlagen lassen.

Und was sie alles gelabert hatte, da in dem lila geblümten Postersesselchen, eingelullt von echter Kaminfeuerwärme und edelsten Koolong Sapchong oder was auch immer an First Class Tee serviert wurde in diesem – Palast.

Der kleine Klumpen Kälte in ihrem Inneren hatte sich in einen kleinen, stickig heißen Klumpen Wut verwandelt. Als wäre sie ein Hampelmännchen bei dem man einfach an der Strippe zog.

Hampel, hampel.

Und diese Häppchen hatten ihren Hunger auch noch erst recht angestachelt. Jetzt würde es ihr nicht mehr reichen, etwas kommen zu lassen, nicht mal per Express. Jetzt würde sie etwas in die Mikrowelle hauen, basta.

Sie war so hungrig, daß sie die gebratenen Nudeln mit Bambusente an ihrem Klapptischchen in sich hinein schaufelte, an dem sie ihre schnellen Mahlzeiten verzehrte – und das waren eigentlich die meisten ihrer Mahlzeiten. Der Kamm lag vor ihr. Eigentlich nicht gerade der appetitlichste Begleiter zu einem Essen, aber was solls. Da hingen sogar noch ein paar schwarze Haare dran. Batman-Haare.

Tja, wie die schöne Rose wohl zu einem Kamm von Bruce Wayne kam? Aus der Hosentasche würde sie ihn ihm ja nicht gerade geklaut haben. Lag wohl auf dem Zahnputzbord in ihrem eleganten Badezimmer. Tja. Daß man es mit einem Kamm einer anderen Frau auch unter die Nase schmieren konnte …

Apropos Schmiere – Clarissa schnupperte vorsichtig an den schwarzglänzenden Zinken.

Pomadig. Irgendwie – aufdringlich.

Roch so der Batman? Sie konnte sich nicht recht erinnern. War ihm wohl nie nah genug gekommen. Obwohl, vor ihr gestanden hatte er ja schon bei dem einen oder anderen Presseempfang. Und ähnlichem.

Tjaja, die schöne Rose.

Wieso ärgerte sie das eigentlich so?

Die goldene Rose mit ihrem Werbegesicht für das perfekteste Genetic Design, ihrem Schmollmündchen und ihren Smoky Eyes, so groß, so blau so schmacht. Genau, diese Stummfilmlocken, die sie um ihr Engelsgesichtchen geklebt hatte. War wieder schwer in bei den Schwerreichen, das 19. Jahrhundert. Oder war es doch schon das 20. gewesen? Egal. Jedenfalls hatte ihr Kleid dem selben Stil entsprochen. Golden schimmernd, gewiss doch, fließendes Gold, das ihr nicht ganz so engelhaft sündenverlockende Figur umhüllte.

Daß ihr das erst jetzt auffiel. Dort – hatte sie immer nur auf Mrs. Teitelbaum gestarrt. Die kleine verhutzelte Mrs. Teitelbaum, die hinter all ihren Spitzen und Perlen und den Schminkkünsten der besten Visagistin New Edens doch nichts anderes als einen kleinen geschrumpften Greisinnenkörper und ein geschrumpftes Greisinnengesichtchen aufzuweisen hatte. Mit der Pergamenthaut nach dem allerletztmöglichen Genetic Forming. Als habe sie einen 1000-Watt-Strahler installiert. Wenn sie im Raum war, nahm man vor allem sie war. Sie erschien einem noch immer – bemerkenswert.

Daß Rose so schön war wie Mrs Teitelbaum zu ihrer Zeit, hieß es immer – aber eigentlich, da waren sich alle einig, musste Mrs. Teitelbaum noch viel, viel schöner gewesen sein.

So, jetzt noch einen doppelten Espresso und dann …

Was hatte sie sich eigentlich vorgestellt? Einen Siegelring mit Batzeichen?

Peinlicherweise irgendwie schon. Sie mit dem Siegelring des Batman in ihrer Hand, ihre Finger in seinem Innenleben.

Schande, Clarissa, du hast für immer die Finger davon lassen wollen. Hat es dich nicht immer letztendlich angeekelt?

Auch. Das war wie nach einem Cocktail zu viel. Eigentlich mochte sie auch keinen Alkohol.

Aber in diesem Fall ...

Vielleicht würde es auch klappen, wenn sie sich nur auf das konzentrierte, was von diesem Designerhaarrechen ausstrahlte? Was solls. Clarissa griff mit spitzen Fingern nach dem schwarzglänzenden Protzding.

Ihr wurde ein wenig übel. Aber das war doch genau das, was sie erwartete hatte. Die Selbstgefälligkeit, diese selbstgerechte Selbstgefälligkeit. Diese Gier. Und dahinter – Erbärmlichkeit, verhohlene Angst und – alte Wut, die längst erkaltet war zu schleichendem Gift.

Eigentlich sollte sie Genugtuung empfinden.

Konzentrier dich, Clarissa. Konzentrier dich auf das, was der Besitzer dieses Kamms sieht.

Wo ist er gerade?

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

Die langen, geschmeidigen Finger griffen nach dem Kamm.

Die schwarzledernen Hosen saßen stramm, die Absätze unter den spitzen Stiefeln verliehen einige Zentimeter mehr Größe.

Ja, sie fürchteten ihn. Zu Recht.

Dieses prickelnde Gefühl der Macht und Stärke.

Den versteckten eisigen Kern, der dieses Gefühl befeuerte, den spürte er nicht, nicht wirklich, nicht bewusst. Aber Clarissa erkannte ihn, den winzigen eisigen Kern der Angst, Angst zu klein zu sein, nicht schnell genug zu sein, nicht stark genug zu sein, Angst zu schwach zu sein.

 

Die Macht war Speed für ihn. Da brauchte er keinen Koks. Der war für die anderen.

Yeah, Baby, ich bin cool. Ein Miami Ice Cube Drink – und genauso unwiderstehlich.

Ja, zeigs mir, Baby, du weiche, feuchte -

Nein, das wollte sie nun wirklich nicht mitverfolgen. Außerdem war dies nicht die Gegenwart.

Sie brauchte die Gegenwart – es war eine Erinnerung, in der er schwelgte.

Tatsächlich glitten Bilder vorbei. Backsteinfassaden. Flammen in alten Mülltonnen. Das waren die Straßen des vierten Bezirks. Er saß in einem dahingleitenden Wagen, auf dem Beifahrersitz und schaute durch getönte Scheiben. Gepanzerte Scheiben. Sie passierten vergitterte Tore, der Wagen hielt, es ging durch Türen und Gänge, vorbei an Typen mit breiten Schultern in langen Ledermänteln, die sich genauso cool gaben wie er. Langsam drangen auch Stimme zu ihr durch.

„Nein, keine Ahnung, was der Alte will.“

„Was, ich dachte, es ist alles im grünen Bereich? Unsere Leukozyten haben die Viren vertrieben?“

Jja, die braven Fledermäuschen!“ Der andere lachte. Er lachte mit ihm, obwohl er ihn hasste. Diesen großen Prahlhans, der es bis in den innersten Kern geschafft hatte. Dieser Schönling mit seinen Tätowierungen.

Der war tatsächlich attraktiv. Groß, breitschultrig, die dichte braune Mähne mit einer Spange im Nacken gebändigt, der Haaransatz spitz, strichgerade dunkle Brauen über den kalten Augen, ein glattes Gesicht, ein starkes Gesicht und dazu ein muskulöser Körper, genau der Typ, bei dem ein Mädchen weiche Knie bekam.

Clarissa, konzentrier dich, das hier ist der Feind.

Eben deswegen.

Eine weitere Tür, flankiert von Bodybuildern mit ausgebeulten Jacken, wurde geöffnet. Stimmen wurden laut.

Clarissa spürte, wie der Mann sich anspannte. Er war hier.

 

Er war nicht allzugroß, schmal. Und geschmeidig - er, den der Blick des Mannes erfasste. Für einen Moment nur, der Mann gab sich unbeteiligt.

Sonderbar grausilbernes Haar um ein Gesicht unbestimmten Alters mit schrägen eisblauen Augen, Husky-Augen in einem Wolfsgesicht. Er war unverkennbar.

Fast hätte Clarissa ihre Konzentration verloren.

„Und was für einen Grund sollte ich haben, den Herrschaften ihr Aushängeschild zu entwenden?“, sagte die sonore Stimme des älteren Mannes im Clubsessel. Wuchtige Statur, Hakennase, Halbglatze. Auch ihn kannte sie.

„ Immerhin haben wir dir die Chinesen vom Hals geschafft.“

„Die Chinesen?!“, ein sonderbares Lachen, „Tatsächlich?“ Ein langer Blick, der Mann im Sessel grinste süffisant.

Die Husky-Augen blinkten, eine winzige Regung. „Ich habe dich nur gebeten, die Augen offen zu halten.“

„Wir halten uns an unsere Abmachungen. Genau wie ihr.“

Der andere seufzte und ließ zum ersten mal so etwas wie eine Regung erkennen – Überdruß? „Vater, ich bitte dich, du weißt genau, daß du nur Vorteile davon hast.“

Jetzt wandte sich der Mann im Sessel an die Eintretenden. „Na Jungs – nun ratet mal? Wir sollen den Herrschaften von der anderen Seite der Stadt helfen, ihren Batman wieder zu finden!“

 

Clarissa kauerte an ihrem Küchentisch und umklammerte den schmierigen Kamm, als könne sie es damit festhalten, das, was in ihr gerade Risse bekam und in Stücke brach, ihre fest gefügte Welt, in der sie gelebt hatte, geborgen wie in einem Ei.

Der Sicherheitschef von New Eden nannte Rob McCartney, den Boß von New Edens Unterwelt „Vater“. Was war es nur, das sie ahnen ließ, daß diese Tatsache niemanden, der in New Eden das Sagen hatte, interessieren würde? Vielleicht das „ihr“ und „wir“ in dem Satz mit den Abmachungen?

Clarissa ließ den Kamm los und stütze ihren dröhnenden Kopf in ihre Hände. Sie versuchte den Druck in ihrem Hals hinunter zu schlucken. Er blieb als kratzige Distelwolle hängen.

Verflixt, jetzt hatte sie den Namen des Kammbesitzers noch gar nicht herausbekommen. Aber eines war klar: dieser Kamm gehörte nicht Bruce Wayne.

 

Hintergründe

Der Held

 

Alles war dumpf. Durch den vagen Nebel des Unbehagens spürte er dennoch den Aufprall. Stimmen prasselten auf ihn ein wie Schläge.

„Betty!“ Was für eine Betty? Er kannte keine Betty. Oder?

Es waren Schläge, die auf ihn herab prasselten.

Schläge …

… ins Gesicht.

„Hej, Betty! Hallo!“ Eine höhnische Fratze starrte auf ihn herab. „Ja – da sind wir ja! Hallo mein Mäuschen!“ Er erkannte das Gesicht nur undeutlich, verzerrt wie durch ein Brennglas gesehen. Die Wölbung dehnte das Grinsen während die Stimme dumpf gegen sein Trommelfell dröhnte.

„Na Battilein?“ Der Typ sprach ja mit ihm. Hatten die Söhnchen ihm wieder aufgelauert? Die verwöhnten Kerlchen aus dem ersten Bezirk, denen das Geld ihrer Väter alles, nur keine Heldenkräfte kaufen konnten. Die Formel hatten die Genetiker immer noch nicht entdeckt, so ein Pech aber auch. Da hatten sie aus Frust wohl etwas stärker zugeschlagen. Das würde Ärger geben. Obwohl, der hier sah schon verdammt nach Sohn Nr. 1 aus.

„Jetzt geht dir die Muffe, was?“ Im Hintergrund schrillte Hexengekicher.

„Hej Leute!“ Die neue Stimme kiekste ein wenig, als sei ihr Besitzer noch im Stimmbruch oder sehr aufgeregt. „Wir kennen ihn doch gar nicht!“

Nun brandete das Hexengelächter zu sich überschlagenden Wogen über ihm auf. „Ach, du kennst den nicht? Klar doch – du bestimmt nicht!“

„Aber wir wissen doch gar nicht, was er denkt!“, kiekste es nun verzweifelt. Am Rande seines Blickfeldes hüpfte etwas Rotes.

„Na, das werden wir ja nun erfahren …“ Sohn Nr. 1 beugte sich mit der perfekten Karikatur des genüßlichen Blicks eines Sadisten auf das hilflose Opfer über ihn. „Unser mieser kleiner Harlekin wird gleich singen wie eine Operndiva.“

 

 

Die Frau - Brianna

 

Sie erwachte mit dem Gefühl zu ersticken. Etwas Kratziges bedeckte ihr Gesicht. Sie stieß es zur Seite und grelles Licht blendete sie. Blinzelnd kam sie zu sich. Sie fand sich zusammen gekrümmt, mit schmerzenden Gliedern. Ihr Mund war ausgedörrt.

Das Licht rührte von einer Lampe an einer betongrauen Decke. Betongrau waren auch die Wände, die sie mit klaustrophobischer Enge umfingen. Sie lastete mit einem vertraut schmerzhaften Druck auf ihrer Brust, diese Enge. Als sei sie durch einen langen dunklen Tunnel geflohen, um am Ende nur erneut in einer Falle zu landen, um all ihre Träume betrogen.

Vor der stahlgrauen Tür stand ein Tablett mit Blechgeschirr, eine verdeckelte Kanne und ein Becher. Sie stand auf – und sackte auf die Liege zurück, eine plötzliche Schwärze vor Augen. Ihr Hinterkopf prallte gegen die Wand, sie wartete bis die flimmernde Schwärze schwand. Dann gelang es ihr, nach dem Krug zu greifen. Das Wasser schmeckte schal, doch sie trank es gierig.

Tja, so war das. Genau so, einen Moment lang war sie dort gewesen, mitten in ihrem Traum, nur damit anschließend alles umso schlimmer kommen konnte.

Warum war sie hier? Wie kamen die nur auf die Idee, sie könnte etwas mit der Sache zu tun haben?

Hatte jemand sie angeschwärzt?

Der Baronet ...

Erst eignete er sich ihre Verdienste an und dann vernichtete er sie ganz. Wäre doch die Gelegenheit. Sie sah ihn geradezu vor sie, sein triumphierendes Grinsen. Hatte er es endlich geschafft.

Ob sich wohl irgendjemand für sie einsetzen würde? Lillian, die liebe lustige Lillian vielleicht.

 

Wirklich? War dies der Grund für ihre Verhaftung? Wie konnte sie sich so sicher sein?

In was für Fantasien sie sich hineinsteigerte. Irre. Aber die Situation war irre.

Das konnte ja wohl nur ihr passieren. Das war das, was ihr passierte. Was ihr immer passiert. Der schale Geschmack des Wassers füllte ihren Mund, füllte ihren ganzen Körper. Nein, es war nicht der schale Geschmack des Wassers, es war der Geschmack des Schmerzes, dumpf, ohnmächtig, diese Zementschicht, in die sie eingegossen war, hilflos, elend, nur ganz innen bebte noch etwas, keine Luft mehr, kein Leben mehr und die Schwere zog sie hinab. Das war der Hass, der erstarrte verkrustete Hass, der auf sie eingeströmt war, der auf sie einströmte, diese Übelkeit, die sie in Besitz nahm, bis ihr schlecht wurde, bis sie schlecht wurde, schlechschlecht, ja das bin ich dieser Zorn, diese hilflose mörderische Wut, niedrig, schlecht.

Es war alles so falsch.

 

Sie war dort gewesen. Sie war wirklich und wahrhaftig dort gewesen. In diesem Garten, sie erinnerte sich ganz deutlich daran. So deutlich, daß ihr dieser Ort fast greifbarer schien als diese Zelle hier. Greifen … Sie hatte danach gegriffen. Wie war das gewesen?

Sie hatte nach ihrem Traum gegriffen. Aus diesem Zorn heraus, dieser Entschlossenheit, dieser – ultimativen Entschlossenheit.

Wie war das nur gewesen ...

Sie entdeckte das Gefühl in sich und nahm es sich und tat den entscheidenden Schritt.

 

Sie entschied sich gegen das Elend ….

 

 

 

Die Andere

 

... indem sie sich für das Andere entschied.

 

Es war noch genau so. Das Becken mit der herauf sprudelnden Quelle. Die tanzenden Lichtreflexe in der Wölbung des Baumes. Die zärtliche Wärme, die sie umfing.

Nur der Mann fehlte.

Aber das war auch gut so. So konnte sie die Stille fühlen. Und sich selbst, von den Fingerspitzen bis in die Zehen, von der Nasenspitze bis in die Mitte ihres Herzens.

Der Schmerz war mit ihr gekommen. Der schale Geschmack und der Durst. So beugte sie sich endlich hinab zu der frischen, sprudelnden Quelle und trank.

Trank und löschte endlich ihren Durst, trank und trank und löschte selbst den Durst, den sie so lange in sich getragen hatte. Die Klarheit des Wassers durchströmte sie und löste die Dunkelheit. Das war nicht sie, diese Dunkelheit, das waren die Dinge, die ihr widerfahren waren und in denen sie sich bewegt hatte. Eine fremde Haut, die die Welt ihr aufgezwungen hatte. Aufgezwungen in all den Momenten, in denen sie sich nicht hatte wehren können.

Sie wünschte sich, all diese Hüllen abzustreifen. Und während sie das dachte, fühlte sie, wie ihre Kleider von ihr abfielen. Sie schaute in die Bilder, die aus der Quelle herauf sprudelten, ohne sie erkennen zu können – und doch berührten sie sie. Und dann wagte sie es und tauchte hinein. Kühl war es und klar und köstlich. Sie glitt hinab bis in die Dunkelheit ihrer zerfallenden Häute und spürte all die Schmerzen darin.“Das bin ja gar nicht ich,“ dachte sie, „das habe ich nur erlebt“ und die dunklen Fetzen vergangenen Seins trieben davon.

„Was bin ich denn?“, fragte sie. Doch sie fand nur staunende Stille. In der Stille öffnete sich das Leuchten.

Sie schwebte in dieser köstlichen leuchtenden Stille. Endlich befreit, endlich voller Leichtigkeit. War dies Wasser, war dies Äther? Atmete sie?

Es atmete.

Und doch wusste sie, daß sie zurückkehren musste.

Was wollte sie denn?

Sie fasste etwas in dem Leuchten, vielleicht fasste es auch sie. In ihrem Inneren. Es durchdrang sie und wandelte ihre Haut. Luft füllte ihre Lungen. Sie tat einen Schritt und noch einen. Sie ging durch eine Menschenmenge, die sie nicht bemerkte und war zurück in den Schluchten von Gotham City.

 

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

Sie redeten unablässig auf sie ein. Nein, sagte sie. Nein, ich will nicht!

Der Druck in ihrem Hals war noch immer da. Und in ihrem Kopf.

Sie hatte Halsschmerzen, ihr war schrecklich heiß und in ihrem Kopf summte es. Außerdem bekam sie kaum Luft. Sie lag in ihren Kleidern im Bett, wie eine Wurst in ihre Laken gewickelt und fühlte sich elend. Die New Eden Company hatte eine Abmachung mit dem Unterweltboss, den sie angeblich bekämpfte, ihr oberster Chef war dessen Sohnemann, dieses miese Miststück Rose spielte irgendein doppeltes Spiel und sie hatte sich eine fette Erkältung geholt.

Clarissa richtete sich auf und starrte auf die Leuchtschrift ihrer Zeitanzeige. Es war sieben Uhr morgens, draußen kämpfte noch die Nacht siegreich gegen die Dämmerung. Warum wollte sie eigentlich zu Mrs. Teitelbaum rennen wie ein heulendes kleines Mädchen? Was wollte sie denn der alten Potentatin sagen?

„Oma Teitelbaum, hast du auch eine Abmachung mit dem Oberverbrecher der Stadt? Und weißt du eigentlich, daß dein Rosi-Goldstück ein falscher Fuffziger ist? Und daß das mistige Stück mit so einem schmierigen Gangster-Gigolo bumst?“

Sie würde auf keinen Fall das Com-System benutzen. Mrs. Teitelbaum war eine alte Frau, sie war bestimmt schon wach. Clarissa taumelte ins Bad, aber nur um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie hatte noch ihren Ersatzmantel. Mit intaktem Heizsystem. Und ihren Spezialhelm.

 

Selbst der Butler schien noch zu schlafen. Clarissa wurde von der Köchin ins Frühstückszimmer geführt, einer echten leibhaftigen Köchin – das leistete sich auch nur eine Mrs. Teitelbaum. Die saß hinter einem Frühstücksei im goldenen Eierbecher und starrte Clarissa entgeistert an.

„Kindchen, sie sehen schrecklich aus!“

„Der Kamm,“ stammelte Clarissa und klammerte sich an ihren Helm, trotz ihrer Vermummung war ihr schon wieder schrecklich kalt, „der muss wohl von verschiedenen Personen benutzt worden sein ...“

Mrs. Teitelbaum schaute sie lange an. Sie sah alt aus. „Ich habe noch einen Schal, den er in der Garderobe vergessen hat,“ sagte sie mit schwacher Stimme.

 

Clarissa wusste später kaum mehr, wie sie zurückgekommen war. Diesmal zog sie ihren Schlafanzug an, bevor sie sich ins Bett flüchtete. Gerade, als sie nach dem Schal greifen wollte, schaltete sich ihre Vision Wall ein und ihr Team Chef schaute auf sie herab.

„Clarissa,“ ertönte es, „wo steckst du denn?“

„Ich bin krank!“, krächzte sie geistesgegenwärtig.

 

 

Der Held

 

Trotz des dumpfen Nebels spürte er auch diesen Stich. Alles glitt weit von ihm weg. Er hörte jemanden reden. Die Berichterstattung war korrekt, wie er befriedigt vermerkte.

 

Trotzdem war nicht alles in Ordnung. Das vertraute Gefühl des Verlusts hatte eine neue Schärfe gewonnen. Wo war sie …

Wo war sie nur?

Wer?

Sein goldenes Mädchen!

 

 

Die Andere

 

Die Risse in den Sohlen ihrer Stiefel klafften noch immer bei jedem Schritt. Und ihr war noch immer kalt.

Zum Glück war der Gummizug ihrer Wollhose nicht so ausgeleiert wie der ihrer Unterwäsche und vermochte selbige an Ort und Stelle zu halten. Dafür schlackerte ihr Kleid um ihre Hüften wie ein Zelt im Sturm und auch in ihrem Mantel war erstaunlich viel Platz. Wenn sie ihn ein wenig um sich zusammenzog, würde er sogar wieder wärmen. Irgendwo musste sie noch einen Gürtel haben.

Fühlte sie sich eigentlich anders?

Sie müsste sich doch jetzt anders fühlen. Leichter zumindest.

Sie fühlte sich eher schwerer. Die dunklen Schatten lasteten wieder auf ihr. Und da war wieder dieser nadelspitze Schmerz, der ihr Herz durchbohrte. Sie war darauf aufgespießt wie ein Schmetterling in einer Glasbox.

Ihr 31-jähriges Ich.

Sie fühlte sich genau wie ihr 31-jähriges Ich.

Sie versuchte ihre Reflexion in den Glasfronten der Geschäfte zu erhaschen. Doch der Tag war so trübe, daß das Licht hinter den Glasscheiben die Reflexionen löschte.. Schließlich griff sie sich eines der grellbunten Teile im Eingangsbereich eines der Kaufhäuser, die man ohne ID betreten konnte, und eilte zu den Umkleidekabinen. Zog den Vorhang hinter sich zu und drehte sich um.

Und da war es, ihr lang verlorenes junges Ich.

„Ich hatte ja gar nicht gewusst, daß ich so hübsch war,“ dachte sie verblüfft. Sie betrachtete staunend das herzförmige Gesicht, den feinen Mund und die sanften Augen. Diese goldenen Reflexe im Haar – hatte sie die nicht immer noch?

Die Augen. Und den Mund.

Aber diese Taille – was für eine Taille sie gehabt hatte – wenn sie nur das unförmige Kleid etwas zusammenzog. Was für eine Taille sie zurück hatte!

„Warum bin ich nur so traurig?“, fragte sie sich. Die junge Frau im Spiegel hatte dunkle Schatten unter den Augen. Sie erinnerte sich, als sie nach diesem Schmerz tastete. Aber diesen Schmerz hatte sie inzwischen doch gar nicht mehr gefühlt – wie war er nur verschwunden? Irgendwie musste er geschmolzen sein, damals, in der dunklen Zeit, als sie sich im Schutz ihres Bettes selbst in den Armen hielt. Weggeschwemmt von all ihren Tränen.

Sie erinnerte sich an die unveräußerliche Zärtlichkeit, die sie in sich entdeckt hatte und mit dem Schmerz schwanden auch die Schatten. „Ich bin schön,“ erkannte sie plötzlich, „nicht wie die Idole in den Vision Walls, ich bin genau so, wie ich mich haben will.“ Und sie sah, wie das Licht in den goldgrünen Augen im Spiegel erwachte. „Du Schöne,“ sagte sie zu dem Ich darin, „du bist die, die ich in der Quelle meiner Träume gefunden habe.“ Selbst unter ihrer Haut glomm nun das Licht auf. Jetzt konnte sie es auch in sich spüren, das Leuchten, an der Stelle, die der Schmerz durchbohrt hatte.

Sie trug das Alibi-Kleidungsstück zurück zu seinem Ständer. Als Kleidung fand sie es gräßlich, es biss sich mit ihren eigenen Bernstein-Farben. Aber als quietschgrelles Ausrufezeichen der Farben war es prickelnd wie Brausepulver. All die Farben des Eden Vorweihnachts-Kauf-Rauschens quirlten um sie und kitzelten ihre Sinne. Dabei spürte sie nur allzudeutlich das lastende Dunkel dahinter – als Herausforderung eines Abenteuers des Unheimlichen. Die digitalen Engel sangen, die Schwebetaxis zischten und dahinter wartete der unstillbare Hunger dieser Stadt im ewigen Dämmer ihrer Straßenklüfte. Unter ihrer Haut summte es. War das – Zorn? Ja, Zorn schwelte in ihr wie Glut unter einer Ascheschicht, die, frisch befeuert, näher an die Oberfläche drang. Kein Wunder nach all den Ereignissen der letzten Zeit. Und kein Wunder, daß ihr kalt war, es war nämlich ganz objektiv kälter als gestern. Der Schneematsch hatte sich in eine tückische Eisschicht an den Gehsteigrändern verwandelt. Der Himmel war wolkenlos, was nicht hieß, daß er auch blau gewesen wäre oder daß die Sonne schien. Hier unter den Hochhäusern war ohnehin nicht viel davon zu bemerken. Die Lichtergirlanden glitzerten, die Leuchtreklamen blinkten und die Bewohner des zweiten und dritten Bezirks schlidderten hurtig darunter umher. Nur die wenigen unauffällig teuer Gekleideten aus dem ersten hatten es nicht eilig. Die hattens nie eilig. Scheinbar. Die Straßenbahnen sausten an ihr vorbei und aus den Schwingtüren der Geschäfte quollen warme, mit allerlei Gerüchen gesättigte Luft und konsumfördernde Klänge. Abgesehen von diesem neuen prickelnden Geschmack an den Dingen war alles so wie immer.

 

Aber als sie zum Paradise Port kam, schaltete die dortige Vision Wall auf die 13-Uhr-Nachrichten und ihr eigenes Gesicht glotzte in Titanengröße auf sie herab.

„Hat sie den Batman verraten?“ fragten anklagend rote Buchstaben über ihrem Konterfei.

„Im Fall der Batman-Entführung gibt es eine erste Verdächtige,“ verkündete die melodische Stimme der Nachrichtensprecherin. „Die Eden-Flower-Angestellte Bertha Gardner wurde von ihrem Filialleiter George Baron schwer belastet.“

Bertha - ?! Die Halbglatze löste ihr Gesicht ab. Geschniegelt sah er aus, der Baronet. „Die kamen mir gleich komisch vor, diese Typen mit denen sie sich abgab. Und dann dieses Com-Gespräch – während der Arbeitszeit! - dann morgen, um 17:15, ja, genau das sagte sie. Da habe ich mir noch kaum was gedacht, 17:15, da sollte sie eigentlich arbeiten. Was das zu bedeuten hatte, na das ging mir dann viel zu spät auf.“ Er grinste triumphierend in die Kamera, genau wie sie es sich vorgestellt hatte, genau so. Und ihren Namen hatte er ihr auch genommen. „Ja,“ hörte sie nun eine vertraute Frauenstimme. „Ja, sie hatte seltsame Bekannte. Irgendwie – ungehobelte Kerle. Jaja. Und das Gespräch – ja das habe ich auch gehört.“ Adrett sah sie aus. Mit ihren großen unschuldigen Rehaugen glubschte Lillian auf sie herab. Die hatte an dem Tag noch nicht einmal mit ihr zusammen Dienst gehabt.

Was suchte sie eigentlich hier?

Ihr zweites Zuhause, weil sie sich zu ihrem eigentlichen nicht mehr hin traute.

Jetzt war der Hunger der Stadt hinter den Glitzerfassaden ein Maul mit spitzen Zähnen. „Aushilfe gesucht“ prangte ein Schild am schmucken Pavillon des New Eden Flower Temple. Von den Schäden des Vortages war nichts mehr zu sehen. Wie von unsichtbaren Schnüren gezogen näherte sie sich der Eingangstür. Kundschaft strömte heraus, richtig, jetzt war die Mittagspause gar mancher Stammgäste vorbei, und sie schlüpfte hinein. Die Vision Wall, die sonst Blumenbilder zu Sphärenklängen produzierte, war auf die Nachrichten geschaltet, George Baron stand höchstpersönlich am Tresen und ihre ehemalige Lieblingskollegin Lillian an der Espressomaschine. Sie glaubte, feine Fältchen unter den Rehaugen zu entdecken. Meine Güte, war der Laden voll.

Der Baronet lächelte ihr entgegen.

„D-dieses Schild,“ stotterte sie.

Das joviale Grinsen des Baronet wurde breiter. „Kannst Du eine Espressomaschine bedienen, Süße?“ Ihr wurde ein wenig übel. Sein gieriger Blick schien geradezu in sie hinein zu kriechen. Und da hatte sie gedacht, als ältere Frau hätte man es schwer mit den Baronet.

Hatte man es auch.

Sie versuchte einen Augenaufschlag „Aber sicher kann ich das.“ Und ich kann noch viel mehr, sagte ihr langer Blick unter gesenkten Wimpern hervor.

Zum Beispiel dir in die Eier treten. Aber der Baronet verstand mit Sicherheit etwas anderes. Jetzt sah sein Grinsen schon richtig dämlich aus. Sein rundes rotes Gesicht glühte geradezu. Fiel ihm denn gar nichts auf? Nicht einmal, daß sie den selben Mantel trug, wie seine in die Betonkäfige der hiesigen Sicherheitswächter entsorgte Angestellte?

Nunja, diese Art Mantel war nicht gerade auffällig. Nicht einmal die liebe Lillian reagierte in merklicher Weise.

„Na dann – verwandeln wir dich in eine Gartenfee!“ Ach was war er doch stolz auf seine Beredsamkeit, der gute Baronet. Und nicht mal die „Gartenfee“ entsprang seinem Schöpfergeist. „Welchen Namen sollen wir denn aufs Schildchen schreiben?“

Gute Formulierung.

„Amber.“

„Amber ...“ schmatzte er.

„Ich bin aber nur zu Besuch in New Eden,“ schob sie schnell nach. Welcher Teufel hatte sie da nur geritten!

„Kein Problem!“, behauptete der Baronet.

Drei Minuten später steckte sie in Cheryls verwaistem Elfenkittelchen. Ihr eigener grüner Habit wäre ihr mit Sicherheit zu groß gewesen.

„Amber -?“ Lillian tippte ihre Daten ins System.

„Bridgestone!“ Als Geburtsort gab sie „Cleveland“ an. Die Cleveland-Company war die ursprüngliche Gesellschaft, von der sich die Eden Corp in einem heftigen Urknall gelöst hatte. Man korrespondierte auch heute noch nicht miteinander. Zumindest nicht offiziell.

Lillian überreichte ihr Namensschild und Firmenausweis. So schnell ging das.

Wirkte Lillians Lächeln nicht doch etwas bemüht heute?

Vielleicht lag es auch am Stress. Nach einer kurzem Einführung, bei der der gute George sich sehr weit über ihre Schulter lehnte, damit sie auch ja alles verstand, widmete der Baronet sich erneut den hereinstürmenden Massen, denen er wieder und wieder versicherte, was für ein intrigantes Biest seine vormalige Angestellte Bertha Gardner doch gewesen sei und in welchem Zustand er Eden Flowers meist geliebte Filiale vorgefunden hatte und ja, ist es nicht wundervoll, heute um elf war bereits alles wieder perfekt repariert. Doch nach der fünfzehnten oder zwanzigsten Wiederholung derselben Frage schien selbst Georgie Rund und Froh des ewig gleichen Spiels überdrüssig zu werden und überließ Lillian diese Aufgabe. Sie ging ihr immerhin mit spürbar weniger Begeisterung als der Baronet nach. Tja, Lillian hatte inzwischen zwei Kinder zu versorgen. Ohne diese Stellung könnte sie in den vierten Bezirk abrutschen.

Der Baronet verließ den Pavillon zu Ambers nicht geringer Erleichterung und Amber war glücklicherweise so mit Kaffee und Kuchen servieren beschäftigt, daß sie nicht genug Zeit hatte, um Lillian finster zu mustern. Sämtliche Tische waren überbelegt. Der Geräuschpegel überstieg den für das beschauliche Eden Flower Café übliche um das mehrfache, während im Hintergrund Lillian die immer gleichen Fragen beantwortete und dabei die gewünschten Blumen mit der immer gleichen mechanischen Routine band. Aber das war immer schon so gewesen. Lillian galt als besonders tüchtig. Im Blumenbinden. Sie band die Blumen nach den erlernten Mustern genau wie alle Floristinnen der Eden Corp - außer Brianna. Und Amber entdeckte endlich einen Unterschied zu Brianna. Sie war schneller. Viel schneller. Sie jonglierte mit Bestellungen und Rechnungen und sprintete zwischen Theke und Tischen hin und her, daß es Brianna sicher schon lange schwindlig geworden wäre. So ging das, bis kurz vor den 15-Uhr-Nachrichten ein knackendes Flirren die Vision Wall überzog.

„Oh – es geht wieder los!“, schrie Lillian auf und im Laden wurde es schlagartig mucksmäuschenstill.

Auf der flimmernden Vision Wall erschienen Buchstaben. „Seid gegrüßt, Ihr Bewohner des gelobten Landes.“ Die Worte glitten wie auf einem Spruchband vorbei. „Hört, was Euer erster Beschützer euch zu sagen hat.“ Im Flimmern hinter den Worten tauchten die Umrisse eines Gesichtes auf. In Sekundenbruchteilen schärften sich die Konturen und das Gesicht Bruce Waynes schaute sie an.

Amber stand wie erstarrt neben der Espressomaschine. Es war gleichgültig, daß sie mit ihrer Arbeit innehielt, denn jeder andere verharrte genauso erstarrt.

Der Batman schien sie alle aus der Vision Wall heraus anzuschauen. Aber das war nur der erste Eindruck. Je länger sie hinsah, desto mehr erschien es Amber, als schaue er durch sie hindurch auf etwas, das in weiter Ferne lag. Seine Stimme klang schleppend, aber es war unverkennbar die Stimme des amtierenden Batmans.

„Ich bin kein Beschützer,“ sagte er. „Es ist alles nur Show. Die Bat-Kämpfe sind inszeniert. Ich bin eigentlich Tänzer.“

Irgendetwas irritierte sie.

Diese Sätze könnten geschnitten sein. Niemand würde es merken, das Schneideprogramm würde für einen nahtlosen Übergang sorgen.

Aber - sie wusste, daß er so dachte. Sie wusste es so genau, als habe sie sich lange mit ihm unterhalten. Der Batman verstummte einen Moment. Er saß da und schaute auf seine Zuhörer. Scheinbar.

„Die oben lebten von denen unten. Den emsigen Ameisen in den Straßenschluchten.“

 

Das Bild verschwand abrupt. Auf der Vision Wall tauchte wieder die wohlfrisierte Nachrichtensprecherin auf, als sei nichts geschehen. Man war ihr ins Wort gefallen und sie hatte es nicht einmal registriert. Beziehungsweise die Techniker der Eden Enlightenment Society. „.. suchen fieberhaft nach Spuren.“ Sie blickte von ihrem Blatt Papier auf, hinter ihr war Briannas Konterfei erkennbar. „Die Verdächtige Bertha Gardner weigert sich weiterhin, mit den Schutzbeauftragten zusammen zu arbeiten.“

Sie weigerte sich? Haha! Sie stand hier in ihrem alten Laden und wusste nicht mehr, was sie von all dem halten sollte.

Dann erlosch die Vision Wall. Von einem Moment zum anderen schwand alles Licht und ließ nur eine samtig dunkle Fläche zurück, wie eine Nacht ohne Sterne. Einen Wimpernschlag lang herrschte absolute Stille.

„Wie schrecklich!“, sagte die Frau, die gerade vor dem Tresen stand und dann setzte in einer erneut aufbrandenden Welle das Stimmengewirr ein.

„Den haben sie doch unter Drogen gesetzt!“, rief eine Männerstimmer. „Und was ist, wenn es eine Wahrheitsdroge war?“, setzte eine andere Stimme dagegen. Jemand schluchzte. Die Diskussion schwoll an zum Summen eines aufgebrachten Bienenvolkes.

Lillian band einen weiteren Blumenstrauß.

„Bist du sicher, daß deine Kollegin darin verwickelt ist?“, fragte Amber.

Lillian blickte auf. War sie verblüfft? Diese Frage hatte ihr sicher noch keiner gestellt.

Verflixt - Brianna hätte ihre Klappe gehalten. Und? Das Unbehagen umgab Lillian wie ein unbequemer Mantel, Amber konnte seine Textur fast greifen.

„Der Baronet schätzt es nicht, wenn seine Angestellten während der Arbeitszeit schwatzen,“ presste ihre Ex- und Neukollegin hervor. Tja - hatte Briannas Fastfreundin nicht etwa von allen am meisten geplaudert?

Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß das Unbehagen eines anderen Menschen sie erleichterte. Aber dann spürte sie die lastende Angst, die die andere umfing und fast hätte sie die Hand ausgestreckt. Ach, Lillian.

 

„Hallo, hier bin ich!“, zwitscherte eine fröhliche Stimme verheißungsvoll.

Anjetta trippelte in ihrem Gartenfee-Ornat aus dem winzigen Belegschafts-Verschlag in den Verkaufsraum.

„Wo kommst du denn her?“, fragte Lillian frostig.

„Na, der Chef hat mich doch angerufen, daß ich früher kommen soll!“, erwiderte die muntere Blondine empört.

„Vor drei Stunden!“

„Aber ja, ich habe doch gesagt, ich komme so schnell ich kann! Und hier bin ich!“ Anjetta strahlte über beide Apfelbäckchen.

Amber trat von der Espressomaschine zurück. „Ich möchte niemandem im Weg stehen!“, behauptete sie. Sie nickte den beiden Frauen zu, dankbar für die hilfreiche Hand des Schicksals, und floh vom Ort des Geschehens.

Die Heldin - Clarissa

 

Ein Whamm-Girl hatte keine rote Schnupfennase. Ein Whamm-Girl lag nicht mit Fieber im Bett. Ein Whamm-Girl stand allzeit bereit.

 

Was New Edens Whamm-Girl selber davon hielt - interessierte nicht. Doch zum Glück hatte der Medi, zu dem ihr Team-Chef sie beordert hatte, beschieden, daß sie nach der Behandlung zu ruhen habe. Immerhin.

Trotzdem war Clarissa in mehr als nur einer Hinsicht verschnupft. Daß dieser Schal so gut roch – dabei sollte sie kaum etwas riechen, ihre Schleimhäute waren schließlich immer noch angeschwollen.

Blödmann – Batman. Sie konnte in diesem schon etwas abgetragenen Kaschmir einfach nicht den Widerhall des Widerlings entdecken, als den sie den amtierenden Bruce Wayne gerne gesehen hätte. Es fühlte sich eher freundlich an. Und traurig.

Und den Besitzer des Schals konnte sie ebenfalls ertasten, vage zumindest. Irgendwo im Untergrund musste er sein, haha, wie zweideutig. Sie könnte sogar das Geviert des Stadtplans ausmachen, wenn sie sich noch etwas anstrengen würde. So viel zum Thema „Bettruhe“.

 

 

 

Die Andere - Amber

 

Von außen sah ihre Wohnungstür so aus wie immer. Aber wenn man sie antippte, schwang sie einfach so auf. Sie hatten sämtliche Schlösser geknackt. Dahinter war nichts mehr so wie zuvor.

Es sah so aus, als wäre es mehr darum gegangen, möglichst viel zu zerstören, als nur zu durchsuchen. Amber ging langsam durch das, was einmal ihre Zuflucht gewesen war. Nun gut, sie hatten die meisten Möbel intakt gelassen, dafür war alles aus den Schränken gerissen worden. Ihr Geschirr lag in Scherben auf dem Küchenboden, vermischt mit einer Schicht Tee, Gewürzen, verschiedenen Nudelsorten und Hülsenfrüchten. Ihre Kleider bedeckten als textile Schicht den Boden, ihre Bücher lagen obenauf. Selbst ihre Matratze hatten sie zerschlitzt. Was hatten sie den vermutet? Ein neuartiges Waffensystem zwischen ihren Socken? Natürlich war ihr Computer verschwunden. Nur ihre Vision Wall war noch da, natürlich. Es war schließlich nur das Grundmodell, das vorschriftsmäßig zu jeder Wohneinheit gehörte und das man, entsprechend den Vorschriften, nicht abschalten konnte. Nur leiser drehen.

Und vorschriftsmäßig schaltete es sich auch ein, als seine Sensoren ihrer ansichtig wurden. Würden sie ihr Erscheinen auch der Polizeizentrale melden? Nun, inzwischen war sie schneller als die Polizei.

Auf dem Bildschirm flackerte das Bild der Nachrichtensprecherin und wurde von der markigen Erscheinung des Batmans ersetzt. Die Umstürzler hackten weiterhin die städtischen Sendefrequenzen Es war die selbe Szene, die sie schon heute Nachmittag gesehen hatte, nur daß sie hier stumm blieb. Offensichtlich hatte auch ihre Vision Wall die polizeilichen Ermittlungen nicht ganz unbeschadet überstanden.

Dann fiel ihr Blick auf das einzige, dem dieses geglückt war. Unversehrt stand über all dem Chaos auf ihrem Fensterbrett der Strauß, den Bruce Wayne für Mrs.Teitelbaum hatte binden lassen. Als seien selbst ihre Blumen über jedem Angriff erhaben. Sie waren noch genau so schön wie in dem Moment, an dem sie ihm den Strauß überreicht hatte. Vielleicht sogar noch eindrucksvoller, denn inzwischen hatten sich einige der Knospen geöffnet.

Mrs. Teitelbaum wäre ja so entzückt gewesen. Nachdenklich betrachtete Amber den Strauß. Der Firmenausweis des Eden Flower Temple diente auch als Passierschein für Botengänge.

 

Mehr als die Summe

Die Andere - Amber

 

Ihr Herz klopfte so laut, daß sie fast glaubte, der Servo-Rob müsste es merken. Aber er speicherte ihren Firmenausweis genauso routiniert wie sein gelangweilter menschlicher Kollege sie musterte. Wie viele Jahre war sie nun schon über den Platz vor dem Paradise Port gegangen …

Heute schritt sie zum ersten Mal hindurch. Es war das Tor, das viele ihrer Kollegen benutzten, um Blumenlieferungen abzugeben. Es würde nicht auffallen. Hoffte sie.

Und dann betrat sie die andere Seite.

 

Brianna hatte im Laufe ihres Lebens die Erfahrung gemacht, daß Erwartungen oft enttäuscht wurden – und je genauer die Vorstellung war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß man eines nicht unbedingt Besseren belehrt wurde. Aber manchmal wurden Erwartungen auch übertroffen.

Sie trat aus den Schluchten der schwarzglänzenden Ameisenfelsen in weißgoldene Weite.

Der Platz vor dem Paradise-Port, der ihr immer so besonders groß erschienen war, war nur der kleinere Teil eines Platzes, von dem der Ringwall um den ersten Bezirk einen vergleichsweise dünnen Streifen abgetrennt hatte. Der größte Teil des Rundes lag auf der anderen Seite. Als zentrales Schmuckstück prunkte das alte Rathaus mit weißem Marmor und vergoldetem Stuck, Ringsum sah sie pastellfarbene Fassaden, kupfergrüne Dächer, glänzende Zwiebeltürmchen und das Azurblau der althergebrachten Solarzellentechnologie. Ein gewaltiger gläserner Bau zeigte in goldenes Licht getauchte Gärten auf verschiedenen Ebenen wie schwebende Tropeninseln. Das war also der Kristallpalast, das edelste Kaufhaus New Edens. Hinter dem Rathaus ragten gewaltige Kuppeln auf - das musste die Oper sein. Und diese filigranen Türme hinter den Kuppeln gehörten wohl zum Dom. Der Platz öffnete sich auf einen zweiten - und dieser auf einen dritten zum Zentrum des ersten Bezirks hin.

Und Bäume gab es! Zahllose Bäume und mit pudrigem Schnee bedeckte Flächen, die im Sommer grün sein mochten. Doch die Straßen waren frei, der Belag des Gehwegs unter ihren Füßen federnd und trocken. Fast schien es ihr, als dringe Wärme durch ihre dünnen Sohlen. Zwischen den glänzenden E-Mobilen ratterten goldbeschlagene Kutschen. Straßenbahnschienen gab es auch hier – doch auf ihnen rollten elegante Kabinen mit wenigen Sitzplätzen dahin. Draußen waren die Bahnen meist überfüllt.

Mit einem leisen Zischen glitt die Tür einer solchen Kabine direkt vor ihr auf. Einen Moment lang war Amber völlig verwirrt. Dann erinnerte sie sich. Der Torwächter hatte genickt, etwas gemurmelt etwas wie: „Ach ja, Mrs.Teitelbaum“ und auf die Konsole vor ihm getippt. Die anderen Boten waren stets zu Fuß aufgebrochen. Amber stieg kurzerhand ein.

Die Sitze waren weich, die Luft warm und parfümiert. Die Straßen, durch die sie fuhr, waren allesamt breit, mit Bäumen gesäumt und mit eleganten Häusern, von denen keines mehr als fünf Stockwerke aufwies. Während die Pracht des ersten Bezirks an ihr vorüber zog, fühlte sie ihre Sympathie für die Aufrührer wachsen.

Die Häuser traten vom Straßenrand zurück, sie verschwanden in Gärten und hinter verschnörkelten Gittern. Schließlich hielt die Kabine vor dem schmiedeeisernen Tor eines Parks an. Amber stieg aus, über ihr blinkten Lichter, Kameraaugen betrachteten sie. Sie hielt ihren Firmenausweis an den kleinen erleuchteten Tabernakel neben dem Tor, der den Scannstationen ihrer Arbeitsstellen ähnelte. Tatsächlich glitt ein roter Strahl über ihren Ausweis und eine schmale Pforte neben dem Tor öffnete sich.

Diesmal rauschte kein Gefährt herbei. Sie ging, die Blumen an sich gedrückt, die lange Auffahrt hinauf, in dessen schneebedecktem Kies sich Fahrspuren abzeichneten. Bäume überwölbten sie. Ihre Füße waren bereits wieder kalt geworden, als sie endlich das Licht am Ende der Allee schimmern sah. Vor ihr erhob sich ein Schloss wie aus einem alten Film, mit Türmchen und Erkern und bodentiefen erleuchteten Fenster. Ein hell strahlender Traum in der herabsinkenden Dämmerung. Ganz still war es hier, als sei sie gar nicht mehr in einer Stadt. Als sei sie ganz weit fort, mitten auf dem Land, einem anmutigen Land für vornehme Reiter, in anderen Zeit, in Merry Old England vielleicht.

Dann müsste sie hier aber zum Dienstboteneingang gehen. Sie sah aber keinen Dienstboteneingang. Dieses prächtige Portal mit den geschwungenen Stufen davor füllte ihr ganzes Blickfeld aus.

Der Traum wurde nicht unterbrochen, als sich die Tür öffnete. Dahinter stand ein echter, dunkel gekleideter Butler und teilte ihr mit, Mrs. Teitelbaum erwarte sie im Wintergarten.

 

Er führte sie in ein Gewächshaus, das alles übertraf, was sie sich hätte träumen lassen. Sonnenlichtlampen täuschten einen Sommertag vor, duftgeschwängerte Luft empfing sie mit Sommerwärme. Mrs Teitelbaum thronte in flamingorosa Spitze in einem Korbsessel unter einem blühenden Jacarandabaum. Die geflochtene Lehne umgab ihre zierliche Gestalt wie das Rad eines Pfaus. Ein rosafarbenes Band durchflocht ihre weißen Locken. Hinter ihr ragten Palmen auf, Passionsblumen berankten die Wände, Hibisken prunkten mit ihrer Blütenpracht und riesige Baumfarne zauberten Urwaldstimmung. Inmitten all dessen leuchtete die reichste Frau New Edens als unbestreitbares Zentrum. Sie war die Perle in der Auster, der Diamant in der goldenen Schmuckschatulle und all die Pracht um sie herum nur ihr Dekor. Ob das an ihren funkelnden saphirblauen Augen lag?

„Liebste Amber!“, begrüßte Edens heimliche Potentatin sie, als sei sie ihre alten Großtante, die ihre Nichte einmal mehr empfing. Dabei hatte sie Amber zwangsläufig noch nie gesehen „Gefällt es ihnen?“, forderte sie ihren bewundernden Blick weiter heraus.

„Es ist wundervoll!“, kam Amber der Einladung bereitwillig nach und ließ offen ihren Blick schweifen. „Diese Hibisken – was für prachtvolle Farben! Eine spezielle Züchtung, nicht wahr? - Ach, und ein echter Drachenbaum, unglaublich!“

Die alte Dame lachte glücklich. „Natürlich, sie verstehen etwas davon, Miß Bridgestone!“ Für die nächsten fünf Minuten plauderte sie mit ihr verzückt über ihre verschiedenen Pflanzen und ihre Eigenheiten und Bedürfnisse. Ja, genau so kannte sie ihre Mrs. Teitelbaum, ihre alte Lieblingskundin.

„Aber setzen sie sich doch!“, sagte sie schließlich. Eine junge Frau mit Häubchen und Schürzchen hatte fast unbemerkt einen Korbstuhl mit dickem Polster zurechtgerückt. „Einen Julep?“ Sie wies auf ein minzgrünes Getränk mit Eiswürfeln und Ananasstückchen, das auf einem zierlichen Tischchen neben ihr stand. Bevor Amber antworten konnte, tauchten neben ihr ein ähnliches Tischchen und ein entsprechendes Glas auf. Eigentlich hätte sie lieber ein Heißgetränk als eine eisgekühlte Minze gehabt, aber sie nahm artig einen Schluck durch den langen Strohhalm und begann zu husteten. Unter dem Eis lauerte Feuerwasser.

Sie fühlte einen spöttischen Blick aus veilchenblauen Augen auf sich ruhen und begriff, daß sie nicht allein waren.

„Was haben sie für mich?“, fragte Mrs. Teitelbaum nun und Amber bemerkte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie schälte umständlich das Seidenpapier von ihrem Strauß.

„Etwas, das ihnen gehört.“

„Oh ist der entzückend!“ Mrs. Teitelbaum klatschte in die Hände. „Rose – bist du so lieb und holst eine passende Vase?“

Die junge Frau, die hinter ihr gesessen hatte, legte das Buch, aus dem sie bis zu Ambers Eintreffen offensichtlich vorgelesen hatte, zur Seite und erhob sich. Amber glaubte, einen Schatten des Unmuts über ihr Gesicht huschen zu sehen. Selbst Rose Worthington, das It-Girl New Edens schien neben Mrs. Teitelbaum so sehr zum Dekor zu gehören, daß man sie erst auf den zweiten Blick bemerkte. Warum schickte Mrs. Teitelbaum nicht die Bedienstete nach einer Vase?

„Rose, mein Schatz, du weißt am besten, welche passt!“, zwitscherte Mrs. Teitelbaum und reichte ihr den Strauß.

Sobald Rose ihnen den Rücken gekehrt hatte, beugte Mrs. Teitelbaum sich vor, ihre blauen Augen wirkten plötzlich sehr hell. „Wer schickt mir diesen Strauß?“

„Liebe Mrs. Teitelbaum,“ Amber schluckte den Knoten in ihrem Hals, „mit diesem Strauß ist eine schmerzliche Geschichte verbunden. Meine Tante wollte ihn ihnen eigentlich selbst bringen. Anstelle desjenigen, der ihn für sie gekauft hat und der einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hat, bevor sie miterleben musste, wie er -“ Sie konnte nicht mehr weitersprechen und kramte hektisch nach einem Taschentuch. Wieso liefen ihr denn jetzt Tränen übers Gesicht, sie war doch zeitlebens immer so gefasst gewesen, war sie denn anders - als Amber?

„Ihre Tante ist Brianna Gardner?“

Brianna, nicht Bertha. Mrs. Teitelbaum hatte sich ihren Namen also schon lange gemerkt, bevor der Baronet den Pavillon übernahm.

„Sie hat nichts damit zu tun!“, schluchzte Amber in ihr Taschentuch Sie kam sich wie eine Schmierenkomödiantin vor und konnte dennoch nicht aufhören, zu weinen.

„Wer könnte denn ein Interesse daran haben, ihrer Tante zu schaden?“, hörte sie Mrs. Teitelbaums sanfte Stimme.

„Der Baronet!“, heulte Amber, „Er hasst sie! Er will sie loshaben!“

„George Baron? Der Filialleiter?“

„Vielleicht hat er Angst, daß herauskommt, daß das Eden Flower Café ihre Idee war!“

„Das Café? Tatsächlich.“

Amber war so aufgelöst, daß sie erst später begriff, daß dies eher eine Feststellung war als eine Frage. „Alles war ihre Idee! Selbst das Mobiliar und die Törtchen.“ Amber schneuzte sich unvermeidlich unfein. „Jetzt denken sie sicher, ich rede Kokolores.“

„Nein. Ich glaube ihnen. Mehr noch, ich bin mir ganz sicher, daß sie die Wahrheit sprechen.“

Amber hob ihren tränenverschleierten Blick und schaute in gütiges Greisinnengesicht. Wenn man genau hinsah, erkannte man die alte Frau hinter dem Porzellanteint. Und die Knitterfältchen, wie sorgsam geglättetes altes Pergament.

„Ich kenne ihre Tante. Sie ist eine Fee. Sie hat ein grünes Herz.“

„Sie wollte Gartenarchtektin werden!“, schrie Amber auf. „Aber jemand hat ihren Entwurf für die Prüfung vertauscht und die andere bekam das Stipendium.“ Jetzt schluchzte es erneut aus ihr heraus. „Ihr ganzes Leben lang wurde sie betrogen. Sie hat sich nie beklagt – aber ich weiß davon!“

Eine kleine zarte Hand legte sich auf ihren Arm.

„Beruhigen sie sich meine Liebe. Trinken sie ihren Julep. Ich werde dafür sorgen, daß die Wahrheit ans Licht kommt.“

Amber kramte nach einem zweiten Taschentuch und bemühte sich, ihre Fassung wieder zu gewinnen. Natürlich, in den Kreisen einer Mrs. Teitelbaum bewahrte man Haltung. Sie nippte an ihrem Julep. Und man musste aufpassen, nicht zur Alkoholikerin zu werden.

Rose kehrte mit einer Kristallvase zurück und Mrs. Teitelbaum entzückte sich noch einmal über die Pracht. „Ja, das ist meine liebe Brianna!“, nickte sie. „Keine hat ein solches Geschick für Blumen wie sie.“

Sie erhob sich betulich aus ihrem Korbsesselthron. „Liebste Amber, würden sie denn gerne meinen Wintergarten besichtigen?“

„Aber mit dem größten Vergnügen!“ Mrs. Teitelbaum reichte ihr ihren Arm.

 

Mrs. Teitelbaum war zweifellos die älteste Made im Speck New Edens. Sie zehrte reichhaltigst von der Sahne, die die Oberen der Stadt von der Milch abschöpften, die den Kindern im vierten Bezirk fehlte. Mrs. Teitelbaum lebte in ihrer heiteren Welt und hatte keine Ahnung, wie es diesen Kindern ging. Natürlich wusste sie von den Zuständen in der Stadt, schließlich las sie den New Eden Chronicle und hatte ohne Zweifel eine Vision Wall – auch wenn sich die ihre sicherlich abstellen ließ. Aber die Geschehnisse in den anderen Bezirken betrafen sie nicht mehr als ein Meteoriteneinschlag auf den Planeten eines anderen Sonnensystems.

Mrs. Teitelbaum verkörperte alles, was die Umstürzler so empörte und - sie war ein guter Mensch. Amber mochte sie. Ihre Herzensgüte war echt. Sie konnte sie sich leisten, denn sie besaß noch etwas anderes außer ihrem Geld.

Sie hatte eine Gabe.

Es musste eine Gabe sein, die die Talentscouts Edens nicht entdecken konnten. Eine stille Gabe. Amber konnte derlei spüren, das mochte Teil ihrer eigenen, endlich erinnerten Gabe sein. Diese stille Gabe war es wohl, die sie so leuchten ließ, daß selbst die schöne Rose dem Blick entschwand. Rose, die wie eine verführerische Lilith schien in diesem Paradiesgarten mit ihrem tiefroten fließenden Gewand, Rose mit der roten Rose im platinblond ondulierten Haar und ihrem unfassbar schönen Stummfilmgesicht, das so beredt anmutete und doch so still. War dies überhaupt ihr eigenes Gesicht? Das mit dem sie geboren war? Wohl eher das exquisiteste Produkt eines gehobenen Genetic Forming. Sie sei so schön wie es Mrs. Teitelbaum in ihrer Jugend gewesen sei, schrieben die Cybertexter gerne. Vielleicht hatte Mrs. Teitelbaum diese Reden selbst angeregt – und es den Beobachtern überlassen, insgeheim zu urteilen, daß Mrs. Teitelbaum sehr viel schöner gewesen sein musste.

Amber empfand Rose wie eine flimmernde Leinwand. Sie war erleichtert, als Mrs. Teitelbaums Erbin erklärte, sie müsse nun aufbrechen zu ihren Terminen.

 

Eine halbe Stunde später verließ Amber mit einem Arm voller Blumen und Früchten den Wintergarten.

Sie hielt sie nicht lange, denn als sie aus dem Gang in die Eingangshalle einbog, prallte etwas heftig gegen sie. Sie spürte noch, wie Mrs. Teitelbaums gute Gaben durch die Luft segelten, bevor sie benommen zu Boden stürzte.

Eine helle, verschnupfte Stimme entschuldigte sich wortreich. „OhGottohGott, das tut mir ja so leid! Haben sie sich verletzt?! Hatschi!“

Amber hielt ihren schmerzenden Kopf.

„Clarissa, meine Liebe! Sie werden doch nicht mit ihrer Erkältung auf ihrem Gleiter her gekommen sein!“, ertönte Mrs. Teitelbaums besorgte Stimme. „Ach herrje - Louise, wir brauchen Hilfe!“

Prompt kam des Schürzen-und-Häubchen-Mädchen angewieselt, begann aber erst einmal, die herumkullernden Offerten einzusammeln.

„Ich, nein – Hatschi! Ich hatte jetzt eine Behandlung. Ha- der Arzt sagt, die Symptome müssten jetzt abklingen. Ich bin auch nicht ansteckend – die Viren sind weg, -tschi!“

Über ihr stand eine junge Frau mit zerzauster honigblonder Mähne, die einen dunklen Herrenschal an sich gepresst hielt. Einen Moment lang glaubte Amber, daß der Aufprall ihr Sehvermögen beeinträchtigt hatte, dann erkannte sie, daß sie auf einem Schwebebrett stand, das wie auf unsichtbaren Wellen vibrierte.

„Ich habe einen Hinweis!“, verkündete die athletische Blondine aufgeregt.

Mrs. Teitelbaum klatschte in die Hände. „Das ist ja wunderbar! Dann werden sie ihn finden?“

„Vielleicht.“ Die junge Frau senkte den Kopf. Sie fixierte Amber..

Amber schaute zu ihr hinauf. Die Amazone auf dem Gleiter sah nicht nur aufgeregt, sondern auch verblüfft aus. Sie stieg von ihrem Gefährt und griff nach Ambers Arm. „Das werden wir, wenn sie uns helfen!“

„Wieso?“, fragte Mrs. Teitelbaum.

„Weil diese Frau in noch viel stärkerer Verbindung mit ihm steht als sein Schal.“

„Was?“ Mrs. Teitelbaum war fassungslos. Vielleicht auch bestürzt.

Clarissa starrte noch immer auf sie herab. „Er hat sie geküsst.“ Sie wirkte sonderbar befriedigt.

„Bruce Wayne hat sie geküsst?“, fragte Mrs. Teitelbaum streng.

Einmal mehr schossen Amber die Tränen in die Augen. „Er heißt Kiran!“, erklärte sie zornig. „Kiran Jnanaketu Schultze-Khan!“

 

 

 

Der Held

 

Inzwischen behandelten sie ihn freundlicher.

„N´Schluck zu trinken, Kumpel?“ Dankenswerterweise war es Wasser, das der Junge ihm reichte, frisches perlendes Wasser. Sein Mund, inklusive Rachen, inklusive Hals, fühlte an wie ein muffiger Mäusepelz. Der Junge nickte ihm aufmunternd zu.

Am Anfang hatte man ihn herum gewuchtet wie einen Sack Kartoffeln. Wobei zu bezweifeln war, daß sie Kartoffeln mit der selben Verachtung begegnet wären, schließlich schnetzelte man aus ihnen die von allen Einwohnern New Edens so heiß geliebten Fritten. Aber geschnetzelt hätten sie ihn wohl wirklich gerne. Und hatten sie auch, in gewisser Weise.

In seinem Kopf sauste es. Er erinnerte sich an grelle Lichter, angeschnallte Arme und Beine und Stimmen. Eine davon war seine.

Wie waren die Jungs nur an Plaudertropfen gekommen? Nun gut, jeder Chemiker, der auch nur halbwegs seiner Berufsbezeichnung gerecht würde, könnte die herstellen. Aber die Formel hatte Eden. Und angeblich konnte niemand die Systeme der Eden Corp hacken.

Was er wohl alles so von sich gegeben hatte?

„Mann Kumpel, wenn dich das alles so angepisst hat, warum haste denn nichts unternommen?“, fragte der Junge. Es war der schlaksige Rothaarige, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersäht war wie anderer Burschen Gesichter mit Pickeln. Er war eigentlich ganz nett, wenn er es nur unterlassen würde, ihn dauernd „Kumpel“ zu nennen.

Kiran starrte ihn nur an. Er hatte die allerstrahlendsten blauen Augen.

„Schon gut, schon gut!“, kam es mit beschwichtigender Geste, „Ist nicht leicht, wenn man mitten im Schlamassel steckt! Glaub mir, ich kenn´ das.“ Wieder nickte er, diesmal voll großväterlicher Großmut.

Du meine Güte, der Kerl war mindestens zehn Jahre jünger als er, Anfang Zwanzig – höchstens.

„Na, jetzt bist da ja raus!“ fuhr Ernesto fort. Ernesto, ja so hieß er. Eigentlich sah er eher wie ein „Jack“ aus. Er sprühte geradezu vor Enthusiasmus. Tatsächlich hatte der ihn schon von Anfang an in Schutz genommen. „Hej Leute, jetzt wartet halt mal ab, was er uns zu sagen hat!“ Ja , das war dieser Rothaarige gewesen, im Hintergrund, als sie ihn fest schnallten. „So, du mieser Harlekin, jetzt ist Schluss mit deinen Spielchen!“, hatte der geknurrt, der ihn festzurrte. So ein schnieker Blonder war das gewesen. Einen, den man auf den Akademien im Ersten erwarten würde. Mit einem Blick … „Batty“ hatten sie ihn genannt, und zwar so, daß es eher wie „Betty“ klang. Was sagten eigentlich die Feministinnen dazu, wenn ein Mann auf solche Weise gedemütigt werden sollte?

Und jemand hatte ihm in die Rippen getreten. Tat immer noch weh. Aber es ging.

Ja, jetzt erinnerte er sich.

„Super!“, rief Ernesto-Jack, der sein Nicken mißdeutete. „Magst du nicht mal was von dem Pamps da essen? Ich weiß, es ist nur eingeweichter Müslischeiß mit Früchtematsch. Aber glaub mir, dein Magen verträgt grad nichts anderes!“

Jack saß ihm gegenüber auf dem einzigen Hocker im Raum, ein Tablett auf dem Schoß und ein unbeirrbares Lächeln im Gesicht. Er hatte ihm geholfen, sich aufzurichten. Jetzt lehnte Kiran auf seinem Klappbett an der Wand. Sie saßen wie in einer silbrigen Höhle. Die Tür musste sich irgendwo hinter Jack befinden, so richtig konnte er das nicht erkennen, bei all der Silberfolie. Dicht über ihnen wellte die sich in surrealistischer Weise. Heizungsrohre, erkannte Kiran, das mussten überklebte Heizungsrohre sein, Wasserrohre und andere Leitungssysteme. Das würde erklären, warum es hier drin so warm und stickig war.

Kiran probierte ein paar Löffel von dem angebotenen „Pamps“. Er schmeckte besser, als Jacks Worte es erwarten ließen und ihm wurde dabei auch besser.

„Lust auf `ne Zigarette, Kumpel?“

Zigarette? Es dauerte einige Sekunden, bis Kirans strapaziertes Gehirn das Wort einsortiert hatte. Eine Zigarette!!! Der Junge rauchte doch wohl nicht etwas Tabak? Diese neue Mode, mit denen sich die schweren Jungs im vierten Bezirk so cool vorkamen? Von ihren Nutten ganz zu schweigen. Die, die blöd genug waren. Im Ersten käme niemand jemals auf die Idee, sich mit Tabak zu vergiften. Nun gut, die ersten Inhals hatten sich als krebserregender als die bereits verpönten Zigaretten herausgestellt, damals, als das Prinzip erfunden wurde, im vorletzten Jahrhundert, aber das war längst behoben.

„Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich halt´die Luft hier drin langsam nicht mehr aus.“

Kiran nickte. Er gab sogar ein zustimmendes Geräusch von sich. Irgendwie traute er sich nicht, seine Stimmbänder zu strapazieren. Außerdem war Jacks Geplapper wie ein Zauber, den er nicht durchbrechen mochte.

Jack-Ernesto wollte an die frische Luft, um Tabak zu rauchen? Na, wenn das nicht den endgültige Beweis lieferte, daß der Junge ein bißchen arg schlicht gestrickt war.

„Ich soll´ dich ja nicht allein lassen. Also – dann kommste eben mit, was?“

Kiran trottete artig hinter ihm drein. Der Flur draußen war genauso mit Folie austapeziert, trotzdem fühlte er sich nach Keller an. Wieso eigentlich?

Er roch so. Und er hatte typische Kellerlampen. Hinter der Tür, die Jack ansteuerte, wartete allerdings ein ganz gewöhnlicher verspiegelter Aufzug. Kiran stellte fest, daß Bruce Wayne tatsächlich ganz schön fertig aus sah. Gar nicht mehr nach Bruce Wayne. Und Jack aus dem Abstand der Spiegelwände heraus unzweifelbar nach einem viel zu netten Kerl. „Ernesto“ - von wegen.

Ernesto plapperte weiter, während Kiran ihre Spiegelbilder anstarrte und sich wie in einem surrealistischen Traum vorkam. Für einen Moment lang fühlte sich nur eines wirklich an – dieser andere lange Moment, als er in diesem Garten saß, am Rand eines Beckens und das Mädchen seiner Träume küsste. Nunja, in seinen Träumen hätte er eher nicht gedacht, daß sie so aussehen würde, aber angefühlt hatte es sich so.

Und eigentlich war sie viel schöner als jedes erträumte Gesicht. Sein goldenes Mädchen.

Und dann hatte er Zweifel bekommen, lag er nicht in Wirklichkeit vor dem Tresen in diesem Blumenladen und irgendetwas hatte ihn in den Rücken getroffen?

Und dann war er da wieder, auf dem Boden. Jetzt erinnerte er sich, an die Schmerzen in der Brust, die herein strömende Kälte um ihn und die herein strömenden Vermummten. Die ihn wie einen Sack Kartoffeln abtransportierten. Den Stich in seinen Arm, bevor er auch nur das „H“ von „Hallo Bat-Teams“ oder auch nur „Hilfe“ in sein Com hätte hauchen können.

Was war das nur gewesen – ein Ohnmachtsanfall, eine Bewusstseinstrübung? Aber getrübt hatte sich sein Bewusstsein in diesem Moment ganz und gar nicht angefühlt. Eher im Gegenteil. War dieses Mädchen nur ein Phantasmagorum? Schließlich gab es da noch die höchst reale Rose, die sich – hoffentlich – gerade voller Sorge nach ihm verzehrte.

Ernesto-Jack dozierte derweil über die Ausbeutungsmethoden der Company. Kiran ertappte sich dabei, wie er zustimmend nickte. Um ehrlich zu sein, war er tatsächlich erleichtert. Bislang hatte er geglaubt, diese Stadt sei von willfährigen VV-Süchtigen bevölkert. Gut, daß wenigstens einige begriffen hatten. Und dann merkte er, daß er das auch gesagt oder besser gekrächzt hatte. Endlich erkannte er, weshalb Ernesto-Jack ihm so vertraut vorkam: er strahlte die selbe jungmännliche Heldenbegeisterung aus wie seine ehemaligen Kameraden an der Bat-Akademie.

Ernesto war entzückt. Jetzt war sein Kumpel endlich auf der richtigen Seite, war er ja schon vorher gewesen, aber jetzt könnte er sich ihr auch anschließen.

Vielleicht sollte er das ja wirklich tun.

 

 

Die Andere - Amber

 

„Dann hat er sich doch aus eigenem Antrieb den Umstürzlern angeschlossen?“, mutmaßte Mrs. Teitelbaum prompt.

Was denn – nur weil er ihr seinen wirklichen Namen genannt hatte?

Amber saß noch immer auf dem dicken Teitelbaumschen Teppich mit floralem Muster. Inzwischen spürte sie eine Beule auf ihrer Stirn sprießen. Die blonde Amazone hatte sich ihren Schwebegleiter unter den Arm geklemmt und die schürzchenverzierte Louise wieselte noch immer um sie herum und klaubte die davon gekullerten Präsente zusammen.

„Und dann schießen sie ihm in den Rücken?!“, rief Amber erbost und ließ sich von der Superheldin aufhelfen.

„Es wurde wirklich auf ihn geschossen?“, fragte Clarissa.

Als ob sie nicht die Nachrichten gehört hätte.

„Aber ja doch!“, fauchte Amber. „Meine Tante war doch dabei – sie hat gesehen, wie er gestürzt ist und geröchelt hat er, wie bei einer Verletzung.“

Schon lanen ihr wieder die Tränen Langsam gingen ihr Ambers Gefühlsausbrüche auf die Nerven. Lag das an dem anderen Hormonhaushalt einer jungen Frau? Aber sie war doch selbst damals nicht so gewesen. Oder – lag es etwa an Mrs. Teitelbaum?

„Louise, besorgen sie eine Tragetasche. Und wickeln sie die Blumen in ein feuchtes Papier,“ befahl die Hausherrin. Dann wandte sie sich an ihren ersten Gast.„Wie lange kennen sie ihn denn schon?“ fragte sie streng.

„Seit einem Tag“, schniefte Amber und kramte erneut nach ihrem Taschentüchern.

Mrs. Teitelbaum wirkte erleichtert, aber noch nicht ganz zufrieden. „Wo haben sie sich denn getroffen?“

„In einem Garten.“, erklärte Amber reserviert.

Mrs. Teitelbaum ließ es dabei bewenden.

„Aber wenn ihn die Umstürzler entführen wollen, damit er diese – Ansagen für sie macht – weshalb schießen sie denn auf ihn?“, überlegte Clarissa derweil laut.

Die beiden anderen starrten die Superheldin verdutzt an.

„Zur Tarnung? Weil es doch seine Idee war?“ grübelte Mrs.Teitelbaum unglücklich.

„Und deshalb hat er einen Schutzanzug getragen? Aber auch so wäre es doch viel zu gefährlich gewesen - schließlich war sein Kopf ungeschützt!“, fuhr Clarissa fort.

Mrs. Teitelbaum griff nach Ambers Arm.

„Ich glaube,“ sage sie, „wir sollten uns mal zusammen setzen.“

„Ja, das sollten wir,“ bestätigte Amber. Durch die Berührungen rechts und links konnte sie das warme Summen der Energie der beiden anderen Frauen spüren. Drei waren bereits ein Kreis und die darin verbundenen Energien sollten so einiges möglich machen.

 

 

 

Der Held

 

 

Der Aufzug spie sie auf ein Dach, das einen Himmel im letzten lilafarbenen Abendschein und die unerwartete Tatsache präsentierte, daß sie sich im zweiten Bezirk befanden. Ringsum pieksten die Wolkenkratzer vergeblich in den dunstigen Bauch des Himmels.

Ehe er es sich versah, hatte er einen dünnen Papierstengel im Mund. Ernesto ließ ein antikes Feuerzeug aufschnappen, von dem Kiran sich fragte, wo er es wohl her haben mochte. Eines war an Ernesto doch anders als an seinen alten Kameraden: seine blauen Augen zeigten diesen nicht nur wachen, sondern auch fragenden Ausdruck.

„Hej, was geht da ab? - Ziehen!“

Kiran musste sich erst einmal von einem Hustenanfall erholen. Übelriechender Rauch überschwemmte seine Lunge und zerkratzte seine Bronchien. Wie konnte man sich sowas nur antun! Dann endlich sah er, was sich da in der Richtung, in die Ernesto deutete, am Himmel bewegte. „Scheiße! Kumpel – wir müssen in Deckung gehn!“, hörte er sich sagen. So schnell passte man sich an.

Ernesto packte ihn am Arm und er trat den glühenden Stengel aus, bevor sie zum Aufzug stürzten. Der natürlich nicht mehr da war. Daraufhin rannten sie zur Dachluke. Die sich natürlich nicht öffnen ließ

„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, nahm Ernesto seinen Wutschrei auf. Zumindest in der Wortwahl bezeugten sie eine weitere brüderliche Ähnlichkeit.

Kirans Flugfähigkeit wurde durch größere Lasten beklagenswert eingeschränkt, trotzdem - er erwog gerade, sich Ernesto unter den Arm zu klemmen und mit ihm in die Straßenschluchten abzutauchen, als die Luft vor ihnen zu flimmern begann. Heraus trat, eingehüllt in rosa Strick, Mrs. Adeline Teitelbaum höchstpersönlich, flankiert von dieser gräßlich grobschlächtigen Clarissa - und seinem goldenen Mädchen.

 

 

 

Die Andere - Amber

 

„Jetzt weiß ich es wieder!“, rief Clarissa.

„Was?“, fragte die beiden anderen unisono.

„Das mit dem Schuss – der Ballistiker war ziemlich ratlos. Wegen der Richtung, aus der der kam!“

Ihr Publikum saß in erwartungsvollem Staunen.

 

Mrs. Teitelbaums diskreter Salon sah aus wie das verruchte Hinterzimmer eines viktorianischen Freudenhauses – zumindest wie jemand es sich vorstellen mochte, der zu viel Steam Punk gelesen hatte.

Jemand wie ich, dachte Amber. Dabei konnte sie in dem Raum weder Steam noch Punk entdecken, dafür aber eine Menge Plüsch und Troddeln und dicke Kissen und gedämpftes Licht. Alles in tiefen Rottönen, versteht sich. Mrs Teitelbaums flauschiger rosa Strick mit Häkelspitze biss sich aufs energischste mit dem schwülen Rot.Trotzdem oder gerade deswegen spielte eine gewisse Heiterkeit über den samtenen Schwulst, vielleicht war es aber auch ein heimlicher heißer Zorn, der an den Troddeln zupfte. Oder ein verstecktes Heizgebläse.

Eines von dreien, das Rot, die Heizung oder die heimlichen Energien trieben ihr bereits die Schweißperlen auf die Stirn. Vielleicht aber auch alles zusammen.

 

„Der Schuss hätte vom Paradise Port aus abgefeuert werden müssen!“

„Was für ein Unsinn!“, befand Mrs. Teitelbaum.

„Eben!“

„Vielleicht gibt es ja noch eine dritte Partei, von der niemand etwas weiß?“, überlegte Amber.

„Mit besonderen Fähigkeiten,“ fügte Mrs. Teitelbaum hinzu.

„Vielleicht haben wir die ja auch?“, bemerkte Amber.

Zwei Augenpaare richteten sich auf sie, eines blickte mißtrauisch, eines heiter.

Clarissa wandte als erste den Blick ab. Sie versank fast in dem Polster, in das sie sich gekauert hatte. Je länger sie sie vor sich sah, desto mehr erschien es Amber, als sähe sie hinter dem Gesicht der kühlen Amazone mit den hohen Wangenknochen noch ein anderes, herzförmigeres.

Mrs. Teitelbaum räusperte sich. „Wo ist er denn nun?“

Clatissa holte tief Luft. „Im Untergrund.“

„Na das wissen wir ja,“ spöttelte die Hausherrin.

„Nein,“ berichtigte Clarissa und richtete sich auf, „ganz im wörtlichen Sinn. Er ist irgendwo tief drunten versteckt. In einem abgeschirmten Raum.“

Wieder entstand eine kleine Stille.

Mrs. Teitelbaum rückte sich in ihrem Sesselthron zurecht. „Wie machen wir es denn nun?!“

Clarissa schluckte und verschwand wieder ein Stückchen in ihrem Polster. „Ich gehöre nicht zu den Psycho-Teams.“ Ihre Nase schien in der Wärme weiter anzuschwellen.

Mrs. Teitelbaum nickte. „Niemand wird etwas erfahren.“

Clarissa sah zu Amber.

Das war nun also der Moment. Amber rückte den kleinen runden Tisch in ihrer Mitte zur Seite und schob ihren Sessel in die Lücke. „Ich denke,“ sagte sie, „wir sollten uns alle drei bei den Händen fassen.“

Clarissas Lider flatterten einen winzigen Moment, in Adelines Mundwinkeln erwachte ein ebenso winziges Lächeln. Sie streckte die Hände aus.

Plötzlich waren sie ganz nah, die abenteuerlustige Heiterkeit und der tatendurstige Zorn, als sich drei Händepaare verflochten. Im ersten Moment spürte Amber nur die beiden Hände in den ihren. Adelines Hand war so leicht und fein, wie sie es erwartet hatte, zierliche Vogelknochen mit kühler Seidenhaut. Clarissas strahlte Wärme aus und doch schien es ihr, als ertaste sie unter der feurigen Kraft eine gewisse Zartheit.

Dann geschah es.

Ihre gemeinsame Mitte erwachte, Wärme stieg auf und lies sie erblühen wie Blumen, die sich Blatt um Blatt öffneten. Klänge berührten sich und weckten Farben. Staunen kräuselte sich zu glucksendem Lachen. Freude tanzte in der gemeinsamen Musik Und dann schwiegen sie in der Wärme ihrer sich verbindenden Energien. Es schien, als habe etwas in ihnen, das in ihrem Unbewussten verweilte und das mehr verstand als sie, beschlossen, daß es nun soweit sei. Es geschah scheinbar ohne ihr weiteres Zutun und ohne, daß sie sich noch dagegen hätten wehren können. Und es war nährender als jedes Kaffeekränzchen.

Es blieb, als sich ihre Hände wieder lösten. Das gemeinsame Sein war wie ein Raum, in dem sie verweilen konnten. Sie mehrten ihr Wissen ohne Worte.

Es war ganz einfach, die Signatur seines Wesens zu entdecken. Gleich darauf blickten sie wie durch dickes Glas auf zwei Gestalten, die umher irrten wie gescheuchte Hühner. Hier war offensichtlich Eile geboten.

Das Glas wurde dünner. Mrs. Teitelbaum klappte die Kapuze ihres Morgenrocks nach oben und trat als erste hinaus.

 

Sie folgten ihr auf dem Fuß, hinein in die windumtoste Kälte inmitten der anbrandenden Sturmflut der Schutztruppen New Edens. Sie kamen von allen Seiten. In die dunkelgrünblauen Wogen der Garde mischten sich die flatternden bunten Capes der Bat-Teams. Angesichts der beiden verdutzten Gestalten wirkte das gesamte Aufgebaut fast ein wenig grotesk. Die Beschützer New Edens näherten sich in unaufhaltsamer Geschwindigkeit und doch hatten die ersten das Dach noch nicht erreicht, als es geschah. Diesmal sahen sie ihn alle, diesen – Blitz. Oder war es nur das Aufblitzen von etwas, das eigentlich nicht sein durfte, etwas, wie ein in Sekundenbruchteilen aufklaffender Riss im Gewebe der Welt?

Die Zeit gerann. Clarissa riss die Arme hoch. Amber fühlte, wie ihre gemeinsame Kraft sich ballte in dem Schild, den Clarissas Gabe formte. Sie alle spürten den Schlag, diesen und noch einen und noch einen, die Schläge prasselten schmerzhaft auf sie nieder, aufgefangen in dem Schild und doch mit einer Wucht, die in ihren Körpern vibrierte.

 

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

Es war großartig.

Getragen von der gemeinsamen Kraft flog sie hinaus auf das windumtoste Dach. Wobei sie, um der Wahrheit die Ehre zu geben, den Wind vermutlich selbst mitbrachten. Auf dem Dach war es einfach nur kalt, was ihr diesmal aber nichts ausmachte, schließlich ging es heiß her. Von allen Seiten stürmten sie herbei, in einem Aufmarsch, den sie in ihrer gesamten Heldinnenkarriere nicht erlebt hatte. Zugegeben, es gab längere Heldenkarrieren als die einer 23jährigen. Aber das – nicht einmal in den Archiv- und Ausbildungsfilmen hatte sie so etwas gesehen.

Das mussten sämtliche Garden New Edens sein, der Himmel sah aus wie beim Angriff von Hitchcocks Vögeln im Remake von - ach, auch egal. Sie brausten ringförmig heran, inklusive der Bat-Teams! In den vordersten Reihen machte sie die bunten Capes von Annabelle, Kevin und Mark aus. Fireball, Iron Man und Lady Freeze, die alles im Umkreis von hundert Metern erstarren lassen konnte. Hatte aber Probleme mit ihrem Fokus, wenn sie auf einem Gleiter stand, die Gute. Und war immer noch zu weit weg. Da kamen sie und hier war sie schon, die verschnupfte Clarissa im absoluten Zentrum des Geschehens und rettete den Batman.

Und sie sah es, als der mysteriöse Angriff begann. Sah den Riss in der Welt, in Sekundenbruchteilen, sah den Blitz und spürte die geballte Kraft in ihrem Rücken, die die Zeit dehnte, das Geschehen in Zeitlupe zog, weil sie sich beschleunigte, blitzschnell gegen den Blitz, ihre Kraft aus sich herausschleuderte zu einem Schutzschild. Und Pamm! Und Pamm! Pamm!Pamm!Pamm! Schmerzhaft prallten die Geschosse dagegen, dröhnten bis in ihre Knochen, aber er hielt, ihr Schild umschloss sie alle, sie hielt dagegen, gegen die immer heftigeren Schläge, auch als sie begannen, ihren Winkel zu ändern, als wären sie Zielfiguren auf einer Drehscheibe und der unsichtbare Anschläger bewegte sich um sie herum wie bei einem kosmischen Dartspiel.

Und dann schlang sich diese andere Kraft um sie und sie purzelten allesamt hinein in eine andere Wirklichkeit.

 

 

 

Die Andere - Amber

 

Amber war sehr erleichtert.

Obwohl sie nicht genau wusste, wo sie eigentlich gelandet waren. Ein Rund von Bäumen umgab sie. Über ihr spielte der Wind mit dem Laub, Weite öffnete sich dahinter. Sie wandte sich um und da war sie, die blaue Unendlichkeit des Himmels. Es war derselbe Himmel, dem die Sonne fehlte, obwohl ihr Licht die grüne Landschaft unter ihr füllte. Und dies war nun endlich der Himmel, nach dem sie sich gesehnt hatte.

Wieder stand sie hoch über allem, doch im Gegensatz zu dem Himmel, dem sie gerade entschlüpft war, schenkte dieser ihr Freiheit. Der Himmel über Gotham hatte bewiesen, daß auch eine Weite erdrücken konnte, wenn sie über einen hereinbrach in schwarzen Schwärmen. Nun, von einem Moment zum anderen war alles anders und sie fühlte wie sie hineinwuchs in diese neue Freiheit.

So war das also, wenn man neue Gliedmaßen bekam, magische – magische Arme um sie alle zu umfassen und magische Füße um hinüber zu springen in diese andere Welt, deren Wärme sie unmißverständlich umgab. Ja, dies war der Garten und sie waren alle versammelt auf der Kuppe eines Berges.

Eigentlich war es mehr eine Mulde, eine flache moosgrüne Schale, deren Ränder die verflochtenen Wurzeln der Bäume bildeten, Buchen und Linden, dazu Lärchen, Kiefern, Ebereschen und eine knorrige Eiche, die den felsigen Vorsprung umschlossen, der das Panorama darbot. Auf einem der Felsen saß Kiran Jnanaketu Schultze-Khan und ersetzte mit seinem Strahlen die unsichtbare Sonne.

„Wow!“, rief Clarissa, während sie sich einmal staunend um die eigene Achse drehte, die Hände in die Hüften gestemmt und die honigblonden Locken nach allen Seiten geplustert wie das Gefieder eines Falken. „Amber – du bist Edens wahres Whamm-Girl!“

Ein glucksendes Kleinmädchenlachen antwortete ihr. Das dazu gehörige Kind balancierte über die verschlungenen Wurzeln der Bäume, als sei es schon eine ganze Weile hier und genösse diesen neuen Spielplatz, ein entzückendes kleines Mädchen im rosa Spitzenkleidchen mit rosa Schleifen in den goldblonden Locken und den allerverlockendsten tiefblauen Augen.

„Und wer bitte seid ihr Leute?!“, ertönte die empörte Stimme des Rothaarigen, der ganz gut als Modell für den munteren Jüngling einer gewissen Tarotkarten hätte dienen können – wenn nicht dieser kämpferische Enthusiasmus aus seinen sommerhimmelblauen Augen geleuchtet hätte.

Clarissa musterte ihn amüsiert. „Wir,“ verkündete sie, „sind das ganz und gar geheime Batman-Befreiungskommando!“

Der feurrothaarige Jüngling warf ratlose Blicke in die Runde. „Und -“

„Ich bin der Batman,“ beantwortete Kiran seine Frage, bevor er sie stellen konnte. „Gewesen,“ fügte er mit sichtlicher Befriedigung hinzu. Der rote Jüngling schnaubte. Selbst seine Augenbrauen sahen empört aus.

„Hej, Ernesto,“ fuhr Kiran fort, „mach die Augen zu und hör einfach auf meine Stimme.“

Der Unterkiefer des Jünglings klappte herunter.

„Na mach schon.“

Der junge Mann gehorchte nicht, allerdings wurde sein Blick starr, als er sich auf Kirans Stimme konzentrierte.

„Das Mädel vor dir ist New Edens offizielles Whamm-Girl, das neben mir ist mein goldenes Mädchen,“ ein Blick traf Amber, der sie fast blendete, „ein offensichtlich wildes Talent,“ dieses verschmitzte Grinsen ... „ und die süße Kleine da hinten – gibt mir irgendwie das Gefühl, daß ich sie kennen sollte.“

Sein Gegenüber entspannte sich ein wenig. „Uh,“ machte Ernesto, „ich glaubs nicht!“

Erneutes Gekicher antwortete ihm. „Hallo Kiran,“ sagte das Kind. „Schön dich zu sehen.“

„Finde ich auch,“ grinste der Angesprochene, er sonnte sich geradezu in seinem eigenen goldenen Glanz.

„Ich hörs, aber ich kapiers nicht,“ fuhr Ernesto fort.

„Das hier ist mein eigentliches Ich – bevor mich die Genetic Formers New Edens in der Mangel hatten.“ Er sah jünger aus als der Bruce Wayne, den Brianna im Eden Flower Temple bedient hatte. Auch der Blick seiner Augen wirkten jünger – unbewchwert. Nur das Wissen in ihnen deutete auf sein wahres Alter.

„Offensichtlich,“ befand das rosa Mädchen, „hat dieser Ort die Fähigkeit, einem die Wunschgestalt zu verleihen. Oder die eigentliche.“

Jetzt war es an Amber, zu kichern. Clarissa starrte mit offenem Mund auf das Kind und nickte in ungläubigem Begreifen. Ernesto warf einen raschen Blick auf seine Hände. „Ich sehe immer noch gleich aus. Oder?“, fragte er Kiran.

„Anscheinend bis du ganz du selbst,“ befand Kiran.

„Und ich?“, platzte nun Clarissa heraus.

Drei Augenpaare musterten sie angestrengt. Im ersten Moment schien sie ganz die Alte. Aber irgendwie – doch nicht. Irgendwie – war da etwas, daß ihr eine gewisse Süße verlieh, etwas, das sacht anrührte. Etwas, das eine fragile Schönheit enthüllte.

„Du hast wunderschöne braune Augen,“ wagte es nun Amber

.„Oh,“ machte Clarissa und sagte erst einmal nichts mehr. Die Clarissa in der anderen Welt hatte blaugraue Augen, kühle Winterhimmelaugen, wie es sich für eine taffe Amazone gehörte. Die taffe Amazone stand noch immer noch da – aber jetzt war da noch etwas anderes, das den Wunsch weckte, sie zu beschützen.

„Du bist also das Whamm-Girl!“ Ernesto warf ihr einen undeutbaren Blick zu. „Und euch hat man befohlen, den Batman zu retten?“

„Unsinn! Das war meine Idee!“, verkündete das koboldhafte Kind, es mochte vielleicht neun oder zehn oder elf sein.

Ernesto lachte gutmütig. „Klar doch, Kleine. Und wer bist du?“

„Ich, mein allzu junger Mann, bin Adeline Teitelbaum.“, erwiderte das Mädchen von seinem Sitz auf dem dicken Wurzelgeflecht herab.

Ernestos rote Brauen zogen sich zusammen. „Teitelbaum?! Von den Teitelbaums?“ Adeline blickte weiterhin würdevoll auf ihn herab. Ernesto holte tief Luft und hob mahnend den Finger.„Weißt du eigentlich, woher euer Reichtum stammt?“ Er nickte bedeutungsvoll. „Den hat deine Familie den Menschen in dieser Stadt gestohlen!“ Er stemmte die Hände in die Hüften. „Ihr lebt von der Ausbeutung! Ihr bedient euch am Elend anderer!“

Adeline schaute spöttisch auf ihn herab.

„Ach und du bringst das Heilmittel, indem du andere entführst und Aufruhr anzettelst!“, fauchte Clarissa.

„Irgendjemand muss die Leute schließlich aufklären!“ Ernestos Hautfarbe glich sich zunehmend seiner Haarfarbe an. „Auch wenn dir das nicht passt, Miss Whamm-Bamm-A-Bamm! Es lebt sich ja sicher gut als Beschützerin der Maden im Speck!“

„Ich wollte die Menschen beschützen, das wollte ich, immer nur das! Ich wollte dieses Stadt beschützen vor solchen, solchen – verantwortungslosen Idioten wie dich!“ Clarissa schluchzte fast.

Warum regte sie sich nur so auf, fragte sich Amber.

Ernestos Augen sprühten geradezu vor Kampfeslust. „Verantwortungslos?! Ja – du läufst gerne blind herum – und das ganz ohne VV-Brille, nicht wahr? Ist ja ganz praktisch, man teilt alles in Gute und Böse, ist wunderbar einfach, lauter kleine Kästchen in Schwarz und Weiß und man muss sich nicht damit belästigen, herauszufinden, wie die Dinge wirklich sind.“

Clarissa schaute ihn an. Und nickte. „Ganz genau, so habe ich es gemacht. Genau so wie du.“

Einige lange Sekunden herrschte Stille.

Nur der Wind flüsterte und Sonnenflecken spielten im Blätterschatten.

Ernesto fasste sich.„Und, was stellt das hier dar?“, fragte er mit umfänglich wedelnder Armbewegung.

Drei Augenpaare wandten sich Amber zu, ein sommerhimmelblau blitzendes folgte.

„Ähm,“ sagte Amber. „Das weiß ich eigentlich auch nicht so recht.“

„Eine Art Zwischenwelt?“, schlug das spitzenumhüllte Mädchen vor.

„Wo dazwischen?“ forschte Ernesto hartnäckig weiter.

„Zwischen Traum und Wirklichkeit?“, rätselte Adeline.

„Hm, könnte sein.“ Amber nickte. „Ich weiß nur, daß ich zum ersten Mal hierher kam, als ich es wagte, nach meinen Träumen zu greifen.“

Kiran grinste. Der Rothaarige blickte noch immer empört.

 

Das Mädchen warf Amber einen kurzen Blick zu. Ein winziges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Amber deutete ein Nicken an. Ja, sie freute sich auch für Clarissa.

„Wir sollten uns überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen,“ ergriff nun Adeline das Wort.

“Was ist eigentlich passiert?“, fragte Kiran.

„Dieser mysteriöse Angreifer war wieder da,“ murmelte Clarissa heiser.

„Und du hast ihn abgewehrt!“, verkündete Amber.

„Diese Blitze!“, rief Kiran.

„Ich dachte, das kommt von den Garden!“ Ernesto erntete dreifaches Kopfschütteln.

„Der Schuss im Eden Flowers -“, begann Amber.

„Das waren nicht wir!“ Ernesto wandte sich Kiran zu. „Hej, Kumpel, der Plan war, daß der Batman persönlich ihnen die Augen öffnen sollte! Tote sind nicht so redefreudig, wie du vielleicht weißt!“

„Das heißt, es gibt einen unbekannten Feind,“ schloss Adeline.

„Mit besonderen Fähigkeiten,“ fügte Amber hinzu.

„Wie ihr,“ mutmaßte Ernesto.

„Wieso ging das eigentlich alles gleichzeitig los?“, wunderte sich Kiran. „Kaum waren wir auf dem Dach, brach die Hölle los! Wie habt ihr mich gefunden?“

„Wir haben dich aufgrund deiner Persönlichkeitssignatur entdeckt!“, erklärte Clarissa schnell. Und sah erschrocken aus.

„Das waren abgeschirmte Räume – nicht wahr?“, sagte Adeline zu Ernesto. Der starrte sie nur an. Sie wandte sich zu Kiran. „Sobald Du im Freien warst, konnte dich das Sicherheitssystem orten. Und weil seit gestern alle in höchster Bereitschaft sind, schrillte der Alarm durch sämtliche Stationen und der Sturm ging los. Vermutlich hatte man Angst, dein Signal wieder zu verlieren.“

Kiran erstarrte. „Was für ein Signal?“

Adeline seufzte. Mit einem Mal sah das Kind sehr müde aus. Es war immer noch ein kleines Mädchen, doch ein Mädchen mit alten Augen, wie eine Elfe, deren Alter sich nur in ihrem Blick verrät. Sie holte Luft, atmete aus, holte wieder Luft und sah das vor ihr aufgereihte Publikum endlich an. „Alle Superhelden haben implantierte Chips.“

„Was?!“, schrieen Clarissa und Kiran gleichzeitig auf.

„Was glaubt ihr denn!“, rief die Elfe im rosa Spitzenhemdchen verzweifelt, „Ihr wisst doch, was ein Superschurke anrichten kann! Die Chips verhindern das!“

„Wie?!“, fragten zwei aufgebrachte Stimmen.

Adeline biss sich auf die Lippen. „Man kann euch damit jederzeit orten und – still legen.“

„Still legen?“ Kirans Stimme klang nicht weniger schrill als Clarissas.

„So eine Art K.O.!“

„Und das lässt du zu?“, fragte Kiran tief enttäuscht.

„Es war nicht meine Idee. Ich habe damit gar nichts zu tun. Und ich – kann da auch nichts dagegen machen ...“ Ihre Stimme verebbte.

„Ja klar, doch, niemand kann die bestehenden Verhältnisse ändern. Und schon gar nicht die Mächtigen,“ spottete Ernesto.

Adeline hob den Kopf. Sie sah älter aus, nicht mehr wie eine Zehnjährige, eher wie ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren. Ein elfenhaft schönes junges Mädchen. „Ich bin im vierten Bezirk aufgewachsen,“ sagte sie ruhig. „Da hat man nicht die Muse, von Utopien zu fantasieren wie die Schüler des dritten oder zweiten Bezirks. Da lernt man nur, zu überleben.“

„Es wäre nicht die erste Revolution.“

„Eben.“

Ernesto brauchte sichtlich einen Moment, um zu begreifen.

„Revolutionen bringen nur neue Eliten an die Macht,“ Adelines Stimme klang rauh, rauher fast als die der alten Frau, als die sie sie kannten. „Für das Volk bleibt alles beim Alten – oder wird schlimmer. Schließlich wissen die neuen Machthaber alles am besten – und müssen sich behaupten. Dann darf sich das Volk noch tiefer ducken, um den Vorstellungen zu genügen, sonst wird man schneller denn je um einen Kopf kürzer.“

Ernesto öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

„Findest du es denn auch in Ordnung, daß die Bat-Teams Robert McCartney beschützen?“ platzte Clarissa heraus.

„Was?!“ Nun klappte Adelines Mund auf.

„Und ich dachte, nur ich sei der Hampelmann, während die Bat-Teams die echte Arbeit verrichten!“, entfuhr es Kiran.

„Hej, Kumpel, zieh dir nicht alles rein was unser guter Trotzki von sich gibt. Der is´ Spezialist für Beleidigungen!“ Ernsto hatte seine Puste wieder.

„Das habe ich mir doch selber schon lange gesagt. Ich bin doch nicht blind.“

„Jetzt nicht mehr, Kumpel!“ Ernesto knuffte ihm in die Seite.

„Jack?“, sagte Kiran und Ernesto schaute ihn an, „Du könntest mich ruhig Kiran nennen.“

Inzwischen hatte auch Adeline ihre Sprache wiedergefunden. „Die Bat-Teams beschützen Edens Schurkenkönig? Wer hat das behauptet?“, fragte sie Clarissa mit der Miene eines Menschen, der im Strudel einer plötzlichen Überflutung nach einem Strohhalm greift.

„Der Kamm, den Rose mir gegeben hat,“ stammelte Clarissa und lief puterrot an.

Die anderen warteten geduldig.

„Um den Batman zu orten,“ assistierte Adeline.

„Der war nicht von – von Bruce Wayne. Ich hab´den Besitzer gefunden. Der steht auf McCartneys Gehaltliste. War in einer Beratung, als ich mich eingeklinkt habe. Mit dem großen Rob und – seinem Sohn.“ Clarissa schluckte. Inzwischen hing jedes Augenpaar an ihren Lippen. „Dem obersten Chef der New Eden Sicherheit.“

„Eingeklinkt? Warum bist Du nicht bei den Psychos Clarissa?“, fragte Kiran.

Clarissa schnellte herum. „Es ist so – beschämend!“, schrie sie. „Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was das bedeutet? Man dringt in das Innere eines anderen Menschen ein und sieht -“ Sie rang nach Atem.

„Seine ganze Erbärmlichkeit,“ vollendete Adeline den Satz.

Plötzlich kullerten Tränen. Die Bat-Heldin saß reglos, stumme Tränen strömten über ihr Gesicht. als hoffe Clarissa, daß sie unsichtbar blieben, wenn sie selbst so tat, als wäre da nichts.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Amber, daß Ernesto den Arm hob, um ihn gleich darauf mit erschrockener Miene zu sich zu ziehen. Es sah nicht so aus, als habe er sie schlagen wollen.

„Es ist unwürdig,“ wiederholte Clarissa tonlos.

„Genau, das ist es,“ drehte jetzt Ernesto auf. Endlich bekam er Oberwasser. „Niemand sollte im Kopf eines anderen herum fummeln. Aber die kennen ja nix, von wegen Würde des Individuums!“

„Aber in meinem Kopf wolltest du schon herum fummeln?“ kam es von Kiran.

„Von wegen! Ich hab´dagegen gestimmt!“ Ernestos Gesicht übertraf inzwischen den Rotton seiner Haare.

„Woher hatte Rose den Kamm?“, fragte Adeline mit schwacher Stimme. Graue Strähnen mischten sich in das Blond ihrer Locken.

„Dieser - Gangster hat ihn wohl in ihrem Schlafzimmer vergessen,“ hauchte Clarissa.

Adeline sah nicht mehr wie ein Kind aus. Vor ihnen saß eine geschrumpfte alte Frau, älter als die Mrs. Teitelbaum, die sie gekannt hatten, in der anderen Welt.

„Was ist das nur für ein Ort,“ murmelte Ernesto.

„Wussten Sie davon, Adeline?“ Eine alte Dame konnte Kiran anscheinend nicht mehr vertraulich anreden.

Einen Moment lang rätselte Amber, was Kiran genau meinte – den Verrat der schönen Rose oder den der Stadtväter. Adeline schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich möchte man damit die Ordnung aufrecht erhalten.“ Dieser Verrat machte ihr offensichtlich mehr zu schaffen als der persönliche ihrer Nichte.

„Was für eine Ordnung?“, blaffte Ernesto. „Und vor allem – für wessen Nutzen?!“

„Ja glaubst du denn, daß Aufruhr und Chaos eine Lösung bringen?“, rief Adeline aus.

„Man muss doch den Menschen die Augen öffnen!“, insistierte Ernesto.

„Und dann?“ Adeline gab sich nicht so schnell geschlagen.

„Gärten und Parlamente,“ sagte Amber.

Vier Augenpaare wandten sich ihr zu.

„Was?!“, fragte Ernesto.

„Wir haben immer nur gelernt, gegen etwas zu sein. Darauf beruht alles. Der Kampf gegen, der Kampf um. Die Angst vor. Seien wir doch mal für etwas. Und schließen wir uns zusammen. Bringt doch erstaunliche Ergebnisse, oder?“

Adeline und Clarissa sahen sich an und schauten wieder auf Amber.

„Parlamente?!“, trompetete Ernesto empört. „Als ob wir das nicht schon zur Genüge hätten!“

„Orte, wo man mit einander spricht,“ fuhr Amber fort. „Gelegenheiten zur Verständigung. Du erlebst gerade eine davon.“

„Man kann nicht mit allen Leuten reden!“

„Das will ja auch gelernt sein.“

„Dann fangen wir jetzt damit an.“ Adeline sah wieder jünger aus, sie rutschte von ihrem erhöhten Sitz im Wurzelwall in die moosige Mulde und streckte die Hände aus. Clarissa und Amber reichten ihr die ihren.

„Anfangen, womit?!“ Selbst Ernestos rote Locken sträubten sich zu Widerborsten.

„Mit dem Respekt vor einander,“ fuhr Adeline fort.

„Der ist nämlich die Grundlage dafür,“ fügte Amber hinzu. Clarissa schnäuzte sich verstohlen.

„Respekt?! Vor – vor Leuten, die mit den Unterdrückern paktieren?“ Ernestos Stimme quiekte ein wenig, als sei er unversehens zurück in den Stimmbruch gerutscht.

„Jack,“ mischte sich Kiran nun ein, „den hast du doch längst. Du hast sogar mich mit Respekt behandelt – von Anfang an. Du bist einer der respektvollsten Menschen, die ich kenne.“ Er bot Ernesto seine Hand und griff gleichzeitig nach Ambers. Ernesto holte tief Luft und der Kreis schloss sich.

 

 

 

Die Heldin

 

Ernesto nannte er sich. Dabei sah er höchsten wie ein Ernie aus, schlaksig, rothaarig und sommersprossig. Eigentlich bestand sein Gesicht nur aus Sommersprossen. Sommersprossen und vorwitziger Nase. Dieser vor Selbstgerechtigkeit strotzende Möchtegernretter der Menschheit, dieser …

Angenehme Hände hatte er.

Und dann nahm Adeline Teitelbaum ihre Maske ab.

Gewiss doch, sie hatte sie gefragt und sie hatten zugestimmt, sie auch, in Gedankenschnelle, nein, schneller als ihre Gedanken, es fühlte sich so richtig an und dann -

Sah sie dieses Kind, für das die Welt ein Abenteuer war. Durch alle Schrecken hindurch, genau dieses Kind, das vor ihnen gesessen hatte, aber wilder und sanfter zugleich und viel zauberhafter, als ihre Augen es selbst hier zu erfassen vermochten. Aber nun schaute sie von Innen. Dieses tanzende Kind mit der wunderbaren Gab, das Gute in den Menschen anzurühren. Und doch waren da auch Schmerz und Sehnsucht und spät erkannte Wahrheiten und die eine alte Frau, die zuviel wusste.

Clarissa begriff, daß ein Mensch ein ganzes Universum war und daß es auch darauf ankam, aus welchem Winkel man schaute.

Amber war ein leuchtender Garten voll unergründlicher Schatten. Noch. Sie war der Garten, der diesen Garten sähte.

Und Kiran war tatsächlich ein Luftikuss, keine Fledermaus – sondern ein Tänzer der Lüfte mit einer sonderbaren Gabe, die niemals als Heldenkraft gelistet würde, sie konnte sie nicht recht erkennen, sie war ihr so fremd, als zeichne er unsichtbar bunte Muster in die Welt. Er war niemals der Batman gewesen, nicht wirklich, er besaß etwas, für das die Mächtigen dieser Stadt keine Verwendung hatten, das sie nicht einmal begriffen. Als könne er alles verwandeln, allein durch seinen Blick.

Vielleicht war er auch gar kein Luftikuss, sondern einer, der aus der tiefsten Tiefe der Erde kam mit einem Geheimnis, das noch keiner entschlüsselt hatte.

Vielleicht hatte es etwas zu tun mit diesem Etwas, das sie in allen spürte, dieser – rechtschaffenen Liebe.

Dieser Ernesto mit seinem brennenden Herzen, der so viel erkannte und so viel übersah.

Genau wie sie.

 

Nie mehr hatte sie jemandem so nahe sein wollen. Nie mehr hatte sie diese Liebe spüren wollen, die doch immer da war. Denn was konnte diese Liebe schon ausrichten gegen Hass und Gier und Rücksichtslosigkeit, all die Eigenschaften, die den Mächtigen ihre Macht verschaffte

Wie sie sich satt fraßen an der Emsigkeit und den Träumen der Menschen – und ihrer Verzweiflung. Was konnte sie schon ausrichten gegen die triumphierende Macht, die sie überall überragte?

Clarissa ließ die Hände zu ihren beiden Seiten los. Der Schrei nahm sie auf, bevor sie begriff, daß es ihr eigener Schrei war, den sie hörte.

 

 

 

Die Andere - Amber

 

Das erste was Amber wahrnahm, war eine unerwartete wilde Freude.

Als habe sie nur darauf gewartet, ihre gemeinsame Energie. Einmal mehr. Vielleicht war diese Energie auch etwas, das vorher schon da war, verborgen, im Untergrund. Diese Energie, für die die Welt ein Ort zum Tanzen war und die anderen Menschen dazu da, um sie zu lieben. Diese Energie, deren höchstes Bestreben es war, etwas Leuchtendes zu schaffen.

Jede der Anwesenheiten in diesem Kreis war mehr, als es schien, Welten in der Welt, Räume in Räumen wie Babuschka-Puppen. Jeder Mensch war eine Unendlichkeit. Die Unendlichkeit, die sich durch jeden von ihnen öffnete und verband.

Da war Adeline, die aus der Unbarmherzigkeit kam und die Menschlichkeit in jedem anzurühren vermochte, Kiran, dem man Gesicht und Namen gestohlen hatte und die Gabe besaß, jeden nach seiner Wahrheit greifen zu lassen, Ernesto, der Umstürzler, der ohne es zu ahnen zum Frieden anstiftete und Clarissa, die ihr Gesicht verbarg und den Mut besaß, den letzten Schritt zu wagen. Den über die Schwelle dessen, wovor wir uns im Innersten fürchten.

 

Was war wohl ihre Schwelle, wovor fürchtete sie sich am meisten?

Clarissa begann zu schreien und Angst und Schmerz stürzten auf sie ein.

 

 

Der Joker

 

Wie hatte er sie nur jemals für DEN FEIND halten können?

Sie war so anrührend in ihrem Mut, so voller Würde in ihrer Verletzlichkeit. Wie konnte er ihr nur begreifbar machen, wie wunderschön sie war?

Ihm fehlten die Wort vor all dem Schmerz und so schlang er einfach nur die Arme um sie.

 

 

Die Heldin - Clarissa

 

„Sie ist gestorben,“ sagte Clarissa.

„Menschen sterben bisweilen,“ erwiderte Ernesto.

„Sie ist an Krebs gestorben, weil sie nur eine unwichtige, unvermögende Arbeiterin aus dem dritten Bezirk war!“

„Möchtest du, daß die Welt anhält und alles Licht für immer erlischt?“

Clarissa blickte auf und sah den blauen Sommerhimmel in den Augen, die sie anschauten.

„Nein,“ sagte sie. Die Welt war untergegangen und doch war sie noch immer da und all ihre Schönheit spiegelte sich im Blau des Sommerhimmels. Selbst im Grau des Winters war sie noch immer da.

Jemand schluchzte und sagte: „Wir werden immer wieder Gärten pflanzen.“

 

 

Die Andere - Amber

 

Kiran drückte ihre Hand. „Das werden wir,“ sagte er.

„Und nach uns werden wieder welche kommen, die Gärten pflanzen,“ fuhr Amber fort.

„Und sie pflegen,“ bestätigte Kiran.

 

 

Sie schauten hinauf in die verflochtenen Kronen der Bäume. Das Licht spielte mit den tanzenden Blätterschatten. Die Wärme dieses Landes umfing sie wie die Schale einer geöffneten Hand. Sie waren geborgen in der sorgsamen Kraft, die über ihre Träume wachte. Und doch fühlten sie die bebenden Muster der Welt, das Brodeln in der dunklen Stadt, in der unter der weißen Schicht der Kälte verpuppt etwas darauf wartete, zu schlüpfen.

 

„Ich habe Hunger!“, erklärte Clarissa.

„Wir könnten in meine Küche gehen und Plinis essen,“ schlug Adeline vor. „Nach einem Spezialrezept von Grandma Teitelbaum!“

„Deine Schwiegermutter?“, fragte Kiran.

„Meine Schwiegeroma!“

„Und was ist mit meinem Chip?“, fragte Kiran.

„Oh!“, machte Adeline.

„Kein Problem, Kumpel, den hol´ ich dir raus!“ Ernesto grinste überlegen. Als er alle Augenpaare auf sich gerichtet sah, fuhr er fort: „Ich bin ein Meditec ganz ohne Geräte!“

„Ein Heiler,“ stellte Kiran fest.

„Wenn du so willst,“ erwiderte der Rothaarige geheimnisvoll.

Heilkräfte standen nicht auf der Liste der Talentscouts New Edens. Die Medizintechnik bot mehr Möglichkeiten als jede Art der bisher bekannten Heilerqualitäten, so lautete deren einhellige Meinung. Im dritten und vierten Bezirk sah man das etwas anders.

„Der Chip sitzt an der Schädelbasis!“, erklärte Adeline.

„Kein Problem, geht wie durch Butter, bevor du `s merkst, Kumpel.“

„Ähm, Jack?“

„Ja?“

„Könntest Du mich vielleicht einfach Kiran nennen?“

„Geht klar Kumpel. Woher weißt du meinen Namen?“

 

 

 

Das Kind - Quendolin

 

Jetzt erkannte sie ihn, diesen Mann vor dem Pavillon. Das war der Mann, auf den er sie hatte schießen lassen, ihr neuer Lehrer. Das sollte der böse Mann sein?

Ihr wurde übel.

Der neue Lehrer war wie ihr Vater. Innen schwarz. Und sie hatte gedacht, sie wäre entkommen und jetzt ...

Sie hörte noch einmal den Knall, sie sah wie das Glas des wunderschönen Fensters zerbarst und sie sah, wie der Mann umfiel wie ein Kegel auf der Bowlingbahn. Genaugenommen war es das, was sie gestern gesehen hatte, und ach, wie hatte er sie gelobt.

Heute sah sie nur den Rücken des Mannes und dann glitt sie weg, zurück in den Raum, wo sie mit ihrem neuen Lehrer saß, mit den beiden Helmen und all den Drähten auf dem Kopf.

 

„Nein,“ rief sie, „nein, ich schieße nicht! Auf niemanden!“ Und dann begann sie zu weinen, sie bemerkte kaum, wie die junge Frau im weißen Kittel den Helm mit all seinen Drähten von ihrem Kopf nahm. Aber wie konnte das sein, sie hatte den Mann doch heute erst entdeckt und Dr. Wolpertinger hatte sie gestern auf ihn schießen lassen, in diesem Käfig, diesem komisch kribbeligen Metallgestell.

Traf ihn denn dort jetzt der Knall, der Knall von gestern, war er jetzt tot, der netteste Mann, tot wegen ihr?

Versammlung

„Man sieht uns ja gar nicht!“, bemerkte Clarissa verblüfft.

Die VisionWall zeigte bereits die neueste Entwicklung im „Fall Batman“. Die herbei stürmenden Garden machten sich fast so gut wie in echt, der menschliche Krähenschwarm war gut gfilmt, nur die beiden undeutlichen Gestalten im Zentrum waren schlecht zu erkennen. Sie waberten hierhin und dorthin, seltsam verzerrt wie hinter einer dicken Glasschicht – oder eher einem Energiefeld, das sich in einem plötzlichen Flimmern auflöste und ein leeres Dach hinterließ.

„Wo das Whamm-Girl doch gerade so schön den Batman rettet!“, spottete Jack.

„Um sich dann nachher freudestrahlend verhaften zu lassen –so blöd wie du mich haben möchtest, damit du dich klüger fühlen kannst, kann ich gar nicht sein. Dann hätte ich nämlich nicht mal die Förderschule bestanden!“, fauchte Clarissa.

Überraschenderweise wurde Jack tatsächlich rot. Rotes Haar war eben nicht unbedingt nur ein Vorteil.

„Will jemand noch Plinis?“ Adeline trug ein adrettes Schürzchen. Sie sah wieder aus wie die allen bekannte alte Dame, obwohl ihre neue Familie sich nicht ganz sicher war, ob sie nicht doch ein klitzekleines bißchen jünger wirkte. Sie saßen im plüschigen Geheimraum, nachdem sie Adeline in ihrer angeblich unverwanzten persönlichen Küche beim Kochen zugesehen hatten, mit dampfenden Kakaobechern um einen zerschrammten Tisch versammelt, wie die Dienstbotenschaft einer vergangene Zeit nach Feierabend. Oder eher wie eine den Gouvernanten ausgebüxte Kinderschar, die ihre Beine über dem schwarzweißen Fließenboden baumeln ließen, während die Köchin das Feuer im gußeisernen Herd schürte. Mrs.Teitelbaum war so reich, daß sie es sich leisten konnte, als Hobby eine uralte Küche ohne jede Technologie zu benutzen. Abgesehen vom Kühlschrank, der nur von außen antik wirkte. Nun kuschelten sie sich auf die Sofas, während vor ihnen die Vision Wall die Nachrichten präsentierte.

„Bist du sicher, daß deine Vision Wall nicht spioniert?“, fragte Kiran, der noch genau so aussah wie im magischen Garten.

„Das ist nicht die Vision Wall,“ erklärte Adeline, „das ist die Übertragung der Vision Wall! - Plinis?“

„Also ich bin wirklich pappsatt.“ Clarissa hatte ihre Haltung ebenso wiedergefunden wie ihre graublauen Augen und das kühne Antlitz einer genetisch geschminkten Walküre. Es umgab sie als schützende Eisschicht, hinter der sie verschwand wie hinter der geheimnisvollen Energieschicht beim Angriff auf dem Dach. Ja, sie hatte ein gewisses Mitspracherecht gehabt bei ihrem Genetic Forming. Nur was ihre Haarfarbe betraf, musste sie damals ihre neu zu stylende innere Walkürenhaltung in einem wirkungsvollen Wutanfall erproben, bis die Herren Former begriffen, daß eine platinblonde Walküre keine kooperative Walküre wäre.

Kiran und Amber winkten ebenso essensmüde ab, als Adeline ihnen das Tablett präsentierte.

„Ähm – wenn niemand diese restlichen Plinis mehr möchte -“ Jack häufte sich blitzschnell den ansehnlichen Rest auf seinen Teller.

„Kommst du auch aus dem vierten Bezirk?“, fragte Adeline.

„Nein, aus dem zweiten.“ Ernesto-Jack kaute ungerührt unter den fassungslosen Blicken der anderen.

„Heute gelang den New Eden Sicherheitskräfte ein entscheidender Schlag gegen die Untergrundorganisation, die den Batman entführte,“ tirilierte die wohlklingende Stimme der adrett ondulierten Ansagerin. Ihr lächelndes Gesicht wurde von der steinernen Miene eines jungen Mannes ersetzt

„Oh nein - Mao!“, stöhnte Jack, während das bleiche Gesicht vor ihnen scheinbar emotionslos erklärte: „Ja, wir haben dem Batman eine Droge verabreicht,“ die Kamera verweilte einen Moment auf dem starren Gesicht des Bösewichts, „er hat genau das gesagt, was wir wollten.“

Jack beugte sich vor. „Das ist geschnitten!“, fauchte er.

„Natürlich ist das geschnitten,“ stimmte Kiran ihm zu.

„Woran siehst du das?“, fragte Clarissa mit ehrlicher Neugierde.

„Das hört man an der Betonung. Die schleift der Digischnitt nicht automatisch ab wie die Übergänge.“ erklärte Kiran an seiner Stelle.

„Clarissa, die Nachrichten sind immer entsprechend geschnitten,“ belehrte Adeline sie mit müder Stimme, während Jack „Oh Scheiße – Evita, Che! Scheiße, Scheiße!“ brüllte. Man zeigte wacklige Bilder von gestürmten Fluren und entsetzte Gesichter der überraschten Umstürzler. „Leymah! Hotschi! Das ist meine Schuld, das ist ganz allein meine Schuld. Ich Arsch!“

„Du hättest lieber mich als Gefangenen, was?“, bemerkte Kiran.

„Nein! Aber jetzt sind meine Kumpels gefangen!“

„Gefangen – aber nicht tot.“

„Ernesto holt euch raus, Leute!“, verkündete Jack.

Schweigen breitete sich aus.

„Und - werdet ihr versuchen, mich daran zu hindern?“, fragte Jack herausfordernd.

„Ich komme mit Dir!“, verkündete Kiran.

„Und wie wollt ihr das bewerkstelligen?“ fragte Adeline.

Jack musterte sie der Reihe nach. „So wie ihr es geschafft habt, Kiran zu finden!“

„Dazu braucht man etwas, das dem Betreffenden gehört hat – und zwar etwas, daß er häufig oder intensiv benutzt hat!“, rief Clarissa.

„Intensiv benutzt?“, fragte Amber. Adeline kicherte. Die beiden Männer blickten verwirrt.

„Vielleicht finden wir etwas im alten Hauptquartier,“ überlegte Jack.

„Wieso da, hast du denn nichts, das einer deiner Kumpels benutzt hat?“Kiran war verblüfft.

„Ähm.“ machte Jack, „Also - Trotzki hat darauf geachtet, daß wir uns nur unter unseren Revolutionsnamen kannten.“

„Revolutionsnamen, aha,“ grinste Clarissa.

„Was für ein Trotzki?“, fragte Amber.

„Unser Koordinator.“

„Soso, Koordinator,“ spöttelte Adeline.

„Welcher von den Jungs war denn nun Trotzki?“, wollte Kiran wissen.

Jack stutzte. „Vielleicht ist er ja entkommen?“

„In dem Bericht war er nicht zu sehen?“, fuhr Kiran fort.

„Nein.“

„Den, der mich verhört hat, den habe ich nicht gesehen!“, stellte Kiran fest.

„Das war er. Ist er. Trotzki. Mann – wenn der ihnen durch die Lappen gegangen ist ... !“

„Und du glaubst, daß du in eurem Hautquartier noch etwas findest – nachdem die Garden dort waren?“, gab Adeline zu bedenken.

„Und du bist sicher, daß es nicht überwacht wird,“ setzte Amber eins drauf.

„Das kann man herausfinden,“ schaltete sich jetzt überraschenderweise Clarissa sein.

„Sei vorsichtig,“ demonstrierte Adeline ihre Mütterlichkeit.

„Bin ich doch immer,“ behauptete Clarissa.

„Na also – worauf warten wir?!“ Jack breitete die Arme aus.

Clarissa schüttelte den Kopf. „Nicht vor Morgen.“

„Nee, gleich zuschlagen!“

„Ich kann vor morgen nichts rauskriegen!“, fauchte Clarisa.

„Und ihr solltet vielleicht vorher mal ausschlafen!“, mischte sich Adeline ein.

Jack zuckte mit den Schultern.

„Jack?“

„Clarissa?“

„Kannst du meinen Chip auch entfernen?“

„Clarissa!“Adeline blickte entsetzt.

Als sei ich keine Superheldin, dachte Clarissa.

„Es ist besser, du bleibst bei den Bat-Teams,“ befand Kiran. „Was meinst du, was es für einen Aufstand gibt, wenn du auch noch verschwindest!“

„Seltsam,“ bemerkte Amber, „Sie haben gar nichts über den Batman gesagt.“

„Kein Wort haben sie verloren,“ nickte Adeline.

„Clarissa,“ sagte Jack, „Du kannst den Chip auch einfach auf der Haut tragen. Am besten um den Hals, an der Rückseite eines Schmuckstücks vielleicht. Und wenn du irgendwohin willst, wo niemand dich aufspüren soll, kann jemand anders den Chip tragen und sie in die Irre führen.“

„Woher weißt du, daß das geht?“

„Ich hatte bereits einen in der Hand. Ich sagte doch – ich bin ein Meditec ohne Geräte!“

„Du bist ja ein Trickster, Jack.“

„Ernesto!“

„Aber du heißt doch Jack!“

„Ein Kämpfer für Gerechtigkeit muss einen passenden Namen haben. Und dieser steht für Revolution und Dichtkunst!“

„Du spinnst doch!“

„Soll ich den Chip jetzt raus holen oder nicht? Ist völlig schmerzfrei und ungefährlich!“

Seine Hände in ihrem Nacken waren sehr sanft.

 

Entscheidungen

 

Die Andere - Amber

 

Es war die reinste Zauberei. „Amber,“ hatte Mrs. Teitelbaum gesagt, „Amber öffnen sie dem Team bitte die Wohnung ihrer Tante und sehen sie zu, daß alles seine Ordnung hat.“

Jetzt wuselten die Teitelbaumschen dienstbaren Geister durch die Wohnung mit der Emsigkeit von Ameisen, der Ordnungsliebe von Heinzelmännchen und der Geschwindigkeit eines Dschinns. Nicht nur daß im Handumdrehen die Verwüstungen verschwanden – es erstand eine ganz neue Gemütlichkeit. Mrs. Teitelbaum hatte sie gefragt, was ihrer Tante wohl gefallen könnte. Das hatte ihr Amber ohne jeden Zweifel erklären können.

Es dauerte keine drei Stunden, bis sie in ihrer Traumwohnung stand. Naja, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten. Und sie konnte sich das Vergnügen mit einer neuen Freundin teilen, und bekanntlich war geteiltes Vergnügen doppeltes Vergnügen. Sie hätte niemals gedacht, daß sie einmal mit einer Superheldin in einer runderneuerten Küche Tee trinken würde. Einer dieser Schnepfen in ihren bunten Flatterkostümchen. Privilegierte eben. Daß sich dahinter eine ganz normale junge Frau mit Träumen und Nöten verbergen könnte, darauf war die Menschenkennerin Brianna nicht gekommen. Peinlich.

Was für ein erfreulicher Irrtum.

Auch wenn ihrer Superheldin der Tee offensichtlich nicht recht mundete.

 

Amber war so von dem Wunder gebannt, daß sie es fast verpasste. Doch der vorbeihuschende Schatten an ihrem Fenster genügte, daß sie auffuhr und das Fenster aufriss, in ihrem Herzen ein plötzlich aufklaffender Abgrund, schmerzlich und eigentümlich vertraut, als habe er die ganze Zeit verborgen in ihrem Inneren gewartet. Ein fürchterliches Krachen fuhr ihnen in die Glieder und dann hing in den schwankenden Zweigen des Baums ein Bündel.

Clarissa flog auf ihrem Gleiter hinaus in den eisigen Abend, eine schimmernde Superheldin im Innenhof einer Mietskaserne, und pflückte das Bündel aus den halb gesplitterten Ästen. Amber stand am Fenster und streckte die Arme aus.

„Vorsicht!“, rief Clarissa. Doch Amber konnte nicht anders, sie musste sie zu sich nehmen, es schien, als passe die kleine Gestalt in die aufklaffende Leere in ihr. Lang verloren, lang vergessen, unverhofft gefunden. Sie sank auf die neuen hellen Holzpaneele ihres Küchenbodens, das Kind wie einen wiedergefundenen Schatz in den Armen. Schmerz und Zärtlichkeit überfluteten sie.

„Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen!“, hörte sie Clarissa rufen. „Wer weiß, was für Knochenbrüche die Kleine sich zugezogen hat!“

Jetzt konnte Amber die Schmerzen unterscheiden, die Schmerzen in dem schmalen Körper und die Schmerzen, die tiefer reichten. Bis in ihr eigenes Herz.

Und den Schmerz des Heilwerdens.

„Krankenhaus,“ murmelte Amber. Clarissa hatte recht. Das Kind musste ins Krankenhaus. Weit weg von den Ereignissen. Ein helles, weißes, friedliches Haus. Durch ihren Tränenschleier konnte sie die Betten sehen in dem freundlich gestrichenen Zimmer und das ebenso freundliche Gesicht der Frau im weißen Kittel.

„Sie braucht Hilfe,“ sagte sie zu der verdutzt blickenden Frau und legte das Kind auf das leere weiße Bett vor ihr. Befriedigt registrierte sie, wie sich die Frau sich sofort der Verletzten zu wandte.

„Wo warst du?“, fragte Clarissa.

Amber stand wieder in ihrer nagelneuen alten Küche. Durch das offene Fenster drang die eisige Nachtluft.

„Ich habe sie ins Krankenhaus gebracht!“, erklärte sie verblüfft.

„Du bist mir vielleicht eine!“, Clarissa schloss kopfschüttelnd das Fenster. „Ob es in dieser Stadt noch mehr so wilde Talente gibt wie dich? Aber wir sollten nach den Eltern des Kindes sehen. Irgendwo dort oben hat jetzt jemand Panik.“

„Ich glaube,“ sagte Amber und stockte. Ich glaube nicht, daß der Vater etwas davon erfahren sollte, hatte sie sagen wollen. Statt dessen sagte sie: „ich glaube, da kümmern die im Krankenhaus sich drum.“ Dabei hatte sie das dumpfe Gefühl, daß sie Clarissa gerade belog.

„Naja,“ Clarissa zuckte mit den Achseln, „Es ist schon ratsam, daß wir nicht allzu sehr auffallen.“

 

Das war es gewesen.

Das also war es gewesen, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte. Dieses angespannte nach oben Starren. Da hinauf, wo jetzt das Kind herabgestürzt war. Das jetzt wieder fort war.

Aber sie hatte dieses Kind doch noch nie zuvor gesehen. Sie kannte es nicht!

Oder?

 

Clarissa sprach davon, daß bald eine Ambulanz eintreffen müsste oder zumindest die Polizei oder zumindest jemand in den Innenhof gehen würde. Aber bislang geschah nichts dergleichen. Statt dessen schaltete sich die neu installierte Vision Wall laut. Das die Kamerafunktion bei der Durchsuchung der Wohnung einen Defekt erlitten hatte, war niemandem aufgefallen – nicht wahr?

Die lächelnde Ansagerin verlas die Sieben-Uhr-Nachrichten. Und bemühte sie sich um eine ernste Miene, als Amber hinter ihrem wohlfrisierten Haupt ihr eigenes Konterfei auftauchen sah. Ihr anderes, ihr alterndes Gesicht.

„Brianna Gardner,“ verlas die gut geschminkte Blondine die für die Zuschauer unsichtbare Anzeigetafel, „die erste Verdächtige im Fall Bruce Wayne ist heute vor den Toren der Eden Sicherheitsverwahrung Opfer eines Anschlags geworden. Sie war vom Verdacht der Mitwirkung an der Entführung des amtierenden Batman entlastet worden und sollte am späten Nachmittag die Sicherheitsverwahrung verlassen. Auf den Stufen des Gebäudes wurde sie von einem unbekannten Täter erschossen.“

Die Blondine sprach weiter, doch ihre Worte prallten als bedeutungslose Bruchstücke gegen Ambers Trommelfell. Sie starrte sprachlos auf das Bild, ein schmeichelhaftes Bild überdies, und konnte es nicht fassen. Niedergeschossen? Brianna Gardner?

Aber sie war doch Brianna.

 

„Amber?“, hörte sie Clarissas verstörte Stimme. „Amber, was ist mit Dir?“

Ihr war schwindlig, sie war doch – und dann fühlte sie es zurück kehren, in einer unnennbaren Veränderung, das vertraute Sein. Was war es? Eine gewisse Schwere?

Es war, als gleite sie zurück in ihre Mitte. In eine größere Ruhe.

„Amber?“, fragte Clarissa noch einmal und verstummte.

Eine unerwartete Angst stieg in ihr auf, ebenso heftig wie plötzlich. „Ich bin Amber,“ antwortete sie, „und ich bin Brianna Gardner.“ Damit wäre sie wohl beendet, diese gerade gefundene Vertrautheit. Warum hatte sie sich nur wieder drauf eingelassen, auf diese trügerische Wärme.

„Verdammt,“ fluchte Clarissa, „du bist ja noch ein größerer Knaller, als ich gedacht hatte!“

 

 

Die Frau - Brianna

 

Sie saßen zusammen bei der Quelle. Sie sah noch genau so aus, wie an dem ersten Tag, an dem sie diesen Ort gefunden hatte. Sie saßen an der bemoosten, beschatteten Seite des Beckens, unter dem Lichterspiel der sprudelnden Wellen im Baum. Er strahlte noch immer diesen tiefen Frieden aus.

„Dieses Wasser,“ seufzte Clarissa, „ es sieht so unglaublich – frisch aus.“

„Sollen wir einen Schluck nehmen?“

Clarissa runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht. Hast du es schon einmal versucht?“

„Oh ja.“

„Und?“

„Es hat meinen Kopf klar gemacht – klarer als je zuvor.“

Clarissa starrte weiter stirnrunzelnd auf das helle Wasser. Vielleicht war eine allzu klare Sicht ja nicht immer angenehm. Clarissas Blick kehrte zu ihr zurück

„Ich denke immer noch, daß du Amber bist. Meine Amber,“

„Das bin ich doch auch!“

„Aber du bist -“

„Alt.“

„Komisch, je länger ich dich anschaue, desto mehr denke ich, ich sehe Amber. Ich meine, du bist schon anders – aber doch irgendwie gleich. Das hätte ich nicht gedacht!“

„Das wir uns verstehen könnten? Du hättest diese Person nicht hinter diesem Gesicht vermutet?“

Clarissa wurde rot. „Wie fühlt es sich an? Gibt es für dich einen Unterschied?“

„Als Brianna fühle ich mich irgendwie – leichter.“

„A-aber du siehst eher schwerer aus,“ stotterte Clarissa.

Brianna lachte „Offensichtlich kommt es nicht darauf an. Warum erstaunt dich das so? Bei Adeline hast du das einfach so akzeptiert!“

„Das war an diesem magischen Ort!“

„Kiran hat der Ort doch auch bleibend verändert.“

„Warum hast du uns nichts gesagt?“

„Ich – ähm, Kiran kennt mich nur so.“

„Oh.“ Clarissa nickte. „Alles klar.“

„Also - ich für meinen Teil könnte jetzt noch ein bißchen mehr Klarheit gut gebrauchen.“ Brianna beugte sich vor und schöpfte eine Mundvoll von dem herauf quellenden Nass. Es schmeckte noch köstlicher, als man es erhoffte, wenn man seine sprudelnde Klarheit sah. Es schmeckte nach einer größeren Klarheit, als man je gekannt hatte.

Endlich wagte es auch Clarissa. „Oh,“ sagte sie.

„Ja?“

„Mir geht gerade auf, daß ich gar nicht wissen wollte, wie manche Dinge sind, weil ich lieber glauben wollte, daß sie so seien wie ich sie haben will!“ Jetzt sah sie aus, als habe jemand eine größere Menge unpassender Schminke aus ihrem Gesicht gewischt. „Und du?“

„Tja,“ gestand Brianna, „mir scheint, meine Fähigkeit in Sachen Zeit reicht noch etwas weiter.“

Sie nahm einen zweiten Schluck. Die Klarheit war ein Raum, der sich weitete. Sie sah das Geschehen um sie herum wie von einer Bergspitze und doch so deutlich wie unter einer Lupe. Und dann wusste sie, was sie zu tun hatte.

 

 

Das Kind – Quendolin

 

Er hatte ihr versichert, daß sie auf niemanden schießen müsse. Und dabei hatte er ganz seltsam gelächelt. Und die Schwester wollte ihr einen Pieks verpassen, aber da hatte sie erklärt, es sei in Ordnung, wenn sie nur keinen Pieks bekäme, aber das sei gut für sie, sagte die Schwester und Quendoline na gut, aber sie müsse erstmal ganzganz dringend pinkeln. Ganzganz dringend.

Und jetzt war sie im Klo, in diesem schneeweißen, blitzeblanken Klo mit vielen Spiegeln und ohne Fenster und flüchtete in die Kabine. Sie musste wirklich pinkeln, ihr Herz hämmerte. Als die Wasserspülung rauschte, wusste sie nur noch eines: sie musste weg, sie musste ganzganz dringend hier weg. Und sie erinnerte sich, daß sie schon einmal weg gekommen war, aus so einer Situation, aus der es keinen Ausweg gab. Ohne Tür, durch die sie schlüpfen konnte. Aber diesmal gab es kein Fenster, brauchte sie auch nicht, sie musste nur da durch, wie damals, als es dunkel und kalt gewesen war.

Ach, wenn sie diesen Schlamassel nur in Ordnung bringen könnte, es war plötzlich alles so komisch verdrillt, wenn es nur in Ordnung käme. Wie war das nur gewesen? Sie erinnerte sich und da war er, der dunkle Spalt, durch den sie hindurch schlüpfen konnte.

 

Die Frau - Brianna

 

Es war noch genauso, wie sie es verlassen hatte: die betongrauen Wände, das grelle nackte Licht, die kratzige graue Decke auf der schmalen Liege. Selbst das Tablett mit dem Blechgeschirr stand noch da.

Vielleicht war es sogar noch der selbe Moment. Sie saß noch immer auf dem Bett, so schien es ihr jedenfalls, als sei alles nur ein Traum gewesen.

Eigentlich dachte sie, daß man durch eine Tür anders wieder zurück kam als man hinaus gegangen war.

Sie war ja auch anders.

Aber sie war zurückgekehrt wie in eine Filmaufnahme, die genau in dem Moment angehalten hatte. Seltsam. Gab es sie nun doppelt?

Nein, davon würde sie nur wieder Kopfschmerzen bekommen. Im Gegensatz zu der Situation, die sie verlassen hatte, verspürte sie nun weder Kopfschmerzen noch Durst. Das Bett war noch warm. Und das Zeug in dem Blechnapf auch. Die Überwachungskamera dürfte also nichts Ungewöhnliches festgehalten haben. Hoffte sie. Natürlich gab es eine Überwachungskamera, auch wenn sie die nicht entdecken konnte. Sollte sie ja auch nicht.

Brianna nahm einen Löffel von dem grünlichen Brei. Er schmeckte so, wie sein Aussehen es erwarten ließ. Er ließ sich schlucken. „Was zum Kuckuck soll das sein?“, fragte sie sich, „Algenpampe?“ Sie schob das Tablett von sich und wartete.

 

Sie musste gar nicht so lange warten, bis das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels die Stille beendete. Eine stämmige Frau mit verschlossenem Gesicht, passend zu ihrem Job, holte sie ab. Sie brachte sie in ein Zimmer mit blendend weißen Wänden. Vielleicht sollte das Weiß die dunklen Geheimnisse der Delinquenten beleuchten. Der Tisch in der Mitte war grau und bildete eine willkommene Barriere zwischen Befrager und Befragtem. Hier wartete ein freundlicher Herr im unauffälligen Outfit der gehobenen Bürger auf sie.

„Frau Gardner,“ sagte er zur Begrüßung, „sie wurden entlastet.“

Brianna hätte nicht gedacht, daß es sie so erleichtern würde, das noch einmal zu hören. Von der Behörde, die sie einfach überfallen und gequält hatte. Dabei war er doch gar nicht die Behörde.

„Mein Name ist George McFarlane, ich bin der leitende Kommissar im Entführungsfall Bruce Wayne.“

Er war nicht mehr jung. Nicht ganz so alt wie sie vielleicht, irgendetwas zwischen 45 und 50. Sie sah das Grau, das sich in den Ansatz seines kurz geschnittenen braunen Haars fraß. Seine Augen hatten den müden Ausdruck eines Menschen, der zu viel gesehen hatte und doch zierten kleine Fältchen seine Augenwinkel. Freundliche Fältchen. Tatsächlich war es vor allem seine Stimme, die bewirkte, daß sich etwas in ihr entspannte.

Brianna, schalt sie sich, du kennst ihn doch gar nicht, was legst du da in sein Gesicht hinein. Aber gleichzeitig war sie sich sicher, daß sie in dieses unscheinbare ernste Gesicht nichts hinein legte, daß das alles dort war. Das und mehr.

„Gibt es Neuigkeiten? Hat man ihn gefunden?“, fragte sie rasch. Ihr Herz klopfte, merkwürdig, dabei wusste sie doch, wo er war, was geschehen würde. Trotzdem – vielleicht hatte man es ja schon viel früher herausgefunden, als man die Öffentlichkeit glauben ließ. Und der Gedanke, wo er gerade war, was ihm geschah, schmerzte sie. Dabei war ihr doch das Selbe widerfahren.

Eben.

Der freundliche Herr schüttelte bedauernd den Kopf. Die Unauffälligkeit mochte seine Kunst sein, eine seiner Künste. Er verstand es auch, sein Gegenüber unauffällig zu mustern, so, daß man sich nicht gleich mit Blicken entblößt fühlte. „Frau Gardner, hat ihr Chef ihnen jemals – gewisse Avancen gemacht?“

Ein bißchen verblüffte die Frage sie schon. Hatte Lillian sich doch besonnen? Hatte sie zu den Sicherheitskräften noch etwas ganz anderes gesagt, als das, was die VisionWalls zeigten?

Avancen – ihr ganz bestimmt nicht. Brianna lachte freudlos. „Herr Kommissar – schauen sie mich an. Ich bin 55 Jahre alt.“

„Die meisten Angestellten sind jünger, nicht wahr?“

„Die in den Läden – jung und weiblich. Und hübsch. Sie sollen ja zu den Blumen passen.“

„Sie galten aber als besonders versierte Floristin.“

„Ja, ich hatte schon den Eindruck, daß er mich nur deswegen im Laden behielt – behalten musste, der Kundschaft wegen.“

„Die sie schätzte.“ Nanu, Mrs. Teitelbaum hatte doch sicher noch gar nicht über sie gesprochen! Oder doch? Sie hatte jedenfalls nichts davon erwähnt.

„Haben ihre Kolleginnen sich je darüber beklagt, daß sie sexuell belästigt wurden?“, fuhr ihr Gegenüber ungerührt fort.

Hm, dachte Brianna, das würde so einiges erklären. Wie selbstsüchtig sie doch gewesen war, wie blind. Da hatte sie nun die Mädchen um ihre Jugend beneidet, die ihnen ihre Stellung sicherte. Aber wie er das so sagte – ja, das würde einiges erklären.

„Er ließ jedenfalls nie einen Zweifel daran, daß er es war, dem wir alle unsere Stellung verdankten.“

„Aber sie waren doch schon vor ihm Angestellte der Eden Flower Corp?“

„Eben – Angestellte.“

McFarlane nickte. „Frau Gardner – wer hat denn die Idee eines Eden Flower Cafés umgesetzt?“

Brianna konnte das Lächeln nicht aufhalten, das sich auf ihrem Gesicht breit machte. „Das waren meine Kollegin Lillian und ich. Es war meine Idee. Lillian arbeitete in einem Coffeeshop in der Fleetstreet, an einem der Übergänge zum Dritten. Der Laden machte pleite und da ich schon immer gedacht hatte ...Wissen sie, damals vor fünf Jahren da gab es ja diese Unfälle, von denen auch das Management von Eden Flowers betroffen war ...“

McFarlane nickte auf eine Weise, die vermuten ließ, daß er darüber weitaus mehr wusste, als die Vision Walls verraten hatten.

„Es war ein riesen Chaos, wir waren praktisch auf uns gestellt – sie können es ruhig nachprüfen: Wir haben den Laden am Laufen gehalten. Nicht nur das - wir haben den Umsatz sogar verdreifacht! Das war mehr als ich gehofft hatte. Ich hatte gedacht -“ Brianna stockte, als sie aus ihrer Erinnerung auftauchte und McFarlanes aufmerksamen Blick sah.

„Daß die neue Geschäftsleitung die Veränderung anerkennen würde.“ McFarlane klang verständnisvoll.

„Naja, zumindest akzeptieren. Lillian hätte ihr Auskommen und ich – endlich eine lang gehegte Idee verwirklicht.“

Er lächelte. Für einen Moment. „Aber dann kam George Baron und beanspruchte die Idee als seine. Sie wussten, daß er seinen Aufstieg ins Management diesem Anspruch verdankte?“

„Was?!“ Wie blöd bin ich eigentlich, dachte Brianna, warum ist mir der Gedanke nie gekommen?

McFarlanes Blick blieb unverwandt auf sie gerichtet.„Warum haben sie sich denn nie gewehrt?“

„Gewehrt? Was glauben sie denn, was eine Angestellte in den Läden von Eden Flowers zu sagen hat? Was glauben sie, wie viele Mädchen so einen Job wollen? Wie viele drum anstehen, würden von draußen, vom dritten Bezirk?!“ Für das bißchen Geld. Schließlich sollte eine aus dem dritten Bezirk spätestens mit Ende Zwanzig verheiratet und eine artige Hausfrau sein. Edens Gehaltspolitik hatte durchaus seinen ideellen Hintergrund. Alleinstehende Frauen waren dabei nicht vorgesehen.

„Und Lillian hatte dann auch mit ihnen zusammen Dienst am gestrigen Abend?“

„Wie kommen sie denn da drauf? Sie haben Cheryl doch abtransportiert – auf der Liege, mit einem Nervenzusammenbruch! Dabei hätte sie gar nicht mehr Dienst gehabt, sie war nur noch da, weil ihre Ablösung zu spät kam!“

„Und am Tag zuvor?“

„Da habe ich Lillian abgelöst. Sie musste mit ihrem kleinen Sohn zum Arzt und wollte nicht, daß der Baronet ihr Ärger macht.“

„Aber für einen Arztbesuch sollte eine Angestellte doch frei bekommen?“

“Wo leben sie? In New Eden? Ich lebe in Gotham.“ Verflixt, das passte ja zu gut auf eine potentielle „Aufrührerin“.

„George Baron hat davon nichts mitbekommen?“

„Der war an diesem Nachmittag gar nicht da.“

McFarlane nickte erneut. „Das deckt sich mit den Aussagen ihrer Kollegin,“ ließ er sie wissen.

„Hat Lillian -?“, fragte sie, doch der Schmerz in ihrer Brust erstickte die aufkeimende Hoffnung.

Sein Blick wandte sich ab, streifte den Tisch zwischen ihnen, bevor er sich erneut hob. Sie glaubte einen Hauch von Mitgefühl zu entdecken. „Ihre Kollegin Cheryl hat eine Aussage gemacht, nachdem sie heute morgen erwacht ist.“ Cheryl? Die naive, affektierte Cheryl? „Ihre Aussagen konnten überprüft und bestätigt werden. Bis auf den Vorwurf der sexuellen Belästigung.“

„Ich hoffe, sie kriegen ihn,“ knurrte Brianna.

Der Kommissar seufzte. „Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.“

Sie schaute in sein freundliches Gesicht mit den traurigen, aufmerksamen Augen und sie begriff, daß dies alles echt war, seine Freundlichkeit und sein Mitgefühl, ebenso wie seine unerschütterliche Suche nach der Wahrheit. Er spielte nicht den guten Cop. Er war es. „Jetzt kommt es,“ dachte sie.

„Was waren das eigentlich für Gärten, von denen sie meinem Kollegen erzählt haben?“, fragte er.

Endlich erkannte sie, was es mit seiner Stimme auf sich hatte. Er war das gewesen, er hatte die nächste Dosis der Wahrheitsdroge verhindert. Ihm verdankte sie ihre geistige Gesundheit.

„Gärten? Ich habe von Gärten erzählt?“ Sie hoffte, angemessen erstaunt zu klingen. Vielleicht klang sie auch eher erzürnt. „Ich habe immer von Gärten geträumt. Ich hätte Gartenarchitektin werden wollen.“

„Und woher kannten sie den bürgerlichen Namen des Batman?“

„Ja – das hat mich sehr beschäftigt. Ich habe das jemanden erzählen hören. Im Café. Ich konnte die Person nicht sehen, Lillian hat serviert und ich habe Blumen gebunden. Ich fand diesen Namen so bemerkenswert, so ganz anders: Kiran Jnanaketu Schultze-Khan.“

Jaja, genau, ihr da draußen an den Überwachungskameras. Dieses Gefasel während des Verhörs – nichts anderes als die wirren Fantastereien des Gehirns einer alternden Frau.

Er schaute sie an und sie wusste, daß er sie nicht einfach so gehen lassen würde. Oh, gewiss, er würde sie entlassen. Aber er würde sie mit Sicherheit beschatten lassen. Oder ihr gar einen Chip einpflanzen lassen. Dieser Mann hatte ein Gespür für verborgene Dinge und er spürte, daß da mehr war, als sie ihm verriet.

Also fasste sie seine Hand und nahm in mit.

 

„Wo sind wir?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete sie verblüfft. McFarlane hob die Brauen.

Sie standen auf goldfarbenem Parkett. Hoch über ihnen fielen dunstige Lichtstrahlen durch eine Glaskuppel. Rings um sie reihten sich dicht an dicht antike Bücherregale. Wendeltreppen führten zu Galerien mit kunstvoll gedrechseltem Geländer, Stockwerk um Stockwerk über ihnen. Im Rund um den mit farbigen Hölzern gelegten Stern, auf dem sie standen, schlossen sich polierte Tische an die Regale an.

„Ich wollte ihnen die Gärten zeigen! Hier war ich noch nie.“

„Wirklich?“ Er ging ein paar Schritte bis zur Mitte, drehte sich mit in den Nacken gelegtem Kopf um die eigene Achse. Er wirkte weder überrascht noch konsterniert. Eher entzückt. „Das erinnert an das New Eden Buchmuseum.“

„Drei Nummern größer.“

„Sie kennen es?“

„Ich liebe es.“ Etwas in seinem Blick veränderte sich. Eine Weile schwiegen sie. „Und sie können mir nicht sagen, was das hier ist?“, fragte er schließlich.

„Nun – vielleicht so etwas wie eine Zwischenwelt, in der Gedanken Gestalt annehmen können?“

„Eine Zwischenwelt? Sie sind ein wildes Talent.“

„Ich weiß das erst seit gestern.“

„Was ist passiert?“

„Ich habe den – den Batman gestern Abend zum ersten Mal gesehen – na, leibhaftig, meine ich. Er hat Blumen gekauft für eine Einladung. Als er an der Theke stand, gab es diesen Knall. Ich fand mich am Boden wieder. Er lag auf der anderen Seite. Ich glaubte, sterben zu müssen. Und da habe ich uns beide wohl irgendwie hierher gebracht. Bis ich mich erinnerte. Ich hatte nämlich zunächst alles vergessen, wie ich hieß, was geschehen war. Und dann erinnerte ich mich. Und alles war wie zuvor. Ich lag am Boden. Leute mit Masken kamen herein und schleppten den Mann fort, der mir im Garten seinen Namen genannt hatte. Kiran Jnanaketu Schultze-Khan.“

McFarlane schaute auf die Bücherregale. Auch er sah anders aus in dem weichen hellgoldenen Licht. Das lag nicht an den goldenen Reflexen in seinem braunen Haar. Das Silber darin war immer noch zu sehen und die Fältchen in seinen Augenwinkel. Die Menschlichkeit war sichtbarer an diesem Ort. Das Wissen in seinen Augen.

„Warum erzählen sie mir das?“, fragte er.

„Weil sie nach der Wahrheit suchen.“

„Was ist Wahrheit?“

„Wahr ist, daß ich in keinster Weise an der Entführung des Batman beteiligt war. Wahr ist, das Kiran sich nicht freiwillig hat entführen lassen.“

Er betrachtete sie einmal mehr mit diesem stillen Blick. „Sie sagen mir nicht alles.“

„Ich weiß nicht, was sie mit diesem Wissen tun würden.“

„Aber sie werden das Richtige tun?“

„Das weiß ich nicht.“

„Wen wollen sie retten?“

„Na - die Welt!“

Jetzt lächelte er verhalten. „Es würde mir reichen, wenn die Ordnung nicht zusammen bräche.“

„Welche Ordnung?“

„Die, die die Menschen daran hindert, wie die Tiere über einander her zu fallen.“

„Glauben sie?“

„Woran glauben sie denn? An das Gute im Menschen? Daß sich die Menschen ändern? Es ist stets der gleiche alte Adam, selbstsüchtig und gierig.“

„Naja – wenn sie an die Geschichte vom alten Adam und seinem Herrn glauben wollen … Menschen sind so, wie man ihnen beibringt, zu sein. Sie reagieren auf die Welt um sie herum, ob sie freundlich zu ihnen ist oder sich als feindlich erweist.“

„Es ist stets die gleiche Welt.“

„Für uns Menschen ist die Welt so, wie wir sie uns einrichten. Und dies ist nicht die einzige Art von Welt. Es gab andere. Und es gibt sie noch.“

„Und woher wollen sie das wissen?“

Brianna machte eine Armbewegung, die all die Bücherregale umfasste. „Es wurde aufgeschrieben. Viele menschliche Erfahrungen und Welten.“

„Dann haben sie wohl in anderen Regalen gestöbert als ich.“

„Eigentlich,“ begann Brianna und schloss die Augen, ja, jetzt spürte sie es. Auch hier befand sie sich im Herzen der Quelle. Als steige sie empor aus aus dem Stern im Parkett, ein Quell des Wissens, der in den Worten Gestalt fand. „Eigentlich ist es eher so, daß ich es fühle und die Worte mich nur erinnern an das, was ich ohnehin schon weiß.“ Sie öffnete die Augen und sah ihn kindlich und staunend. Einen Moment lang schutzlos und schön. „Ich glaube nicht an Revolutionen. Etwas Neues erreicht man nur, indem man das Neue schafft.“

„Und das Alte?“

„Wandelt sich.“

„Sie träumen.“

„Und was werden sie jetzt tun?“, fragte sie.

Er zuckte die Schultern. „Ich werde sie gehen lassen.“

„Einfach so?“

„Eine kleine Angestellte, die ihrem korrupten Boss im Weg war? Wen interessiert das noch? Abgesehen von den Klatschkolumnistinnen.“

„Man wird auf der Treppe auf mich schießen.“

„Gibt es noch etwas, das ich wissen muss?“

„Ich weiß nicht, wer diese Anschläge verübt.“

„Dann können sie in die Zukunft blicken?“

„Ich weiß nur einige wenige Dinge die bis heute Abend geschehen werden.“

„Zum Beispiel?“

„Sie werden das Versteck der Entführer entdecken. Und es wird niemand zu Schaden kommen.“

„Und woher wissen sie das?“

„Ich war dort.“

„Ich könnte sie nicht wirklich festhalten, nicht wahr?“

„Nicht wirklich, in der Tat.“

Er sah so jung aus in diesem Licht. Vielleicht hatte auch er eine Gabe. Die Gabe, Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden. „Danke,“ sagte er.

„Wofür?“

„Für das, was sie mir gegeben haben.“

„Was habe ich ihnen denn gegeben?“

„Hoffnung.“

Sie schauten sich an und saßen sich wieder gegenüber, an dem grauen Tisch in dem weißen Raum unter dem grellen Licht.

„Sie können gehen,“ erklärte er.

„Warten da draußen jetzt die Journalisten auf mich?“, fragte sie.

„Ich werde veranlassen, daß man sie zum Hinterausgang bringt.“

 

 

Das Kind – Quendolin

 

Einmal mehr fand sie sich in Dunkelheit und Kälte.

Sie wusste nicht, wo sie war und sie wusste nicht – wann.

Dies war Winterkälte.

Sie dachte sehnsüchtig an ihre warme Jacke. Aber die hing in der Garderobe vor den Labors. Da hatte sie ja noch nicht geahnt, daß sie so schnell würde verschwinden müssen.

Eine dünne Schicht Schnee bedeckte den rissigen Asphalt unter ihren Füßen. Pflanzen schoben ihre verdorrten Häupter durch die Risse. Eine einzige trübe funzelnde Straßenlaterne beleuchtete bröckelnden Backstein und trostlose Verlassenheit. Das sollte der Ort sein, wo sie in Sicherheit war? Zerbrochene Backsteine ließen sie stolpern. Hinter ihr bedeckte Schutt die Straße. Der Einsturz eines großen Gebäudes hatte sie zur Sackgasse gemacht. Die Häuser an den Seiten waren nicht mehr als Skelette mit eingestürzten Dächern. Nicht einmal die Verzweifelten würden dort noch Zuflucht suchen. Solche Mauern taugten nur noch für Ratten und Tauben.

Quendolin glaubte sie fast riechen zu können, die stockfleckige Verlassenheit, dabei tilgte die Kälte alle Gerüche. Auch zu hören war nichts. Nur ihre Schritte, unter denen der harschige Schnee knirschte. Wenigstens hatte sie ihre gefütterten Schnürstiefel an. Es war noch recht kalt gewesen, obwohl in den Parks schon das erste Grün aus dem Rasen spitzte und im Garten von Saras Mutter der Mandelbaum blühte. Was war die stolz gewesen!

Aus Backstein war auch das Gebäude gewesen, in dem sie zwei Jahre gelebt hatte. Zwei glückliche Jahre und an den ehrwürdigen Backsteinmauern hatten weiße Rosen gerankt. Wieder einmal hatte sie alles verloren. Aber sie würde nicht aufgeben. Niemals, niemals, niemals.

Sonderbar, daß unter all den zerstörten Straßenlaternen diese eine noch funktionierte. Die Mauern rechts und links fühlten sich so – leer an. Als wohnten nur noch Gespenster in ihnen. Oder? Spuren vermochte sie keine zu erkennen, der rissige Asphalt und die zerbrochenen Steine narrten sie mit ihren Schatten. Und doch gab es eine Bewegung: den bedrohlich zuckenden Schein eines Feuers am anderen Ende der Straße. Natürlich - dies musste das Revier der Straßenbanden sein, der Ort, an den sie niemals hatte geraten wollen.

Der vierte Bezirk.

Sie war hier, sie war wirklich hier, ganz allein in der Dunkelheit. Ihre Füße trugen sie auf das Feuer zu, weil ihr kein anderer Weg mehr blieb.

Und dann tauchte dieser Junge neben ihr auf. Lautlos, aus den Schatten.

Fast hätte sie geschrieen. Weshalb dachte sie nur, daß er ein Junge war? Er war mit Pelz bedeckt, nein, nicht mit einem Webpelz, gut so einen hatte er auch an, aber darüber hinaus – spross der Pelz auf seiner Haut, sein Gesicht war ganz pelzig, eigentlich sah es weich aus, wie Otterfell. Gelbe Augen hatte er. Und sein Mund war nach vorne geschoben, fast wie die Schnauze eines Tiergesichts. Er war nicht viel größer als sie, das sagte ja nichts, vielleicht wurde dieses Wesen nicht größer als so. Aber irgendwie glaubte sie, daß es ein Junge war.

„Kannst du mir helfen?“ Ihre Stimme kam als ein heiseres Flüstern aus ihrer Kehle. „Er darf mich nicht kriegen!“

Der Junge antwortete nicht, zumindest sprach er nicht. Aber er fasste sie beim Ellbogen, hornige Klauen hatte er an seinen kurzen Fingern, und sie ging mit ihm.

Um das Feuer herum standen Leute. Sie starrten sie an, als sie näher kamen.

„Das sind ja Freaks,“ dachte Quendolin.

 

 

 

Die Frau - Brianna

 

Er hatte versprochen, daß niemand zu Schaden kommen würde. Jetzt stand sie in einer Seitengasse hinter dem Institut für Investigation, wie sich das Untersuchungsgefängnis heutzutage vornehm betitulierte. Der Widerhall der Sirenen war gerade noch zu hören. Das musste die Ambulanz sein. Ob McFarlane einen holografisch verkleideten Roboserve die Treppen hinunter geschickt hatte? Und wie er das wohl begründen würde?

Es war fast 17:00 Uhr. Das Entlassungsprozedere hatte zwei Stunden in Anspruch genommen. Im Einkassieren waren sie schneller. Sollte wohl ihre Macht demonstrieren, daß sie einen erst Mal herum sitzen ließen, bevor sie einen frei ließen.

Die Sirene war immer noch zu hören. Hoffentlich war wirklich niemandem etwas geschehen. Diesmal war gezielt auf sie geschossen worden. Es war so unvorstellbar. Sie war ein Niemand, wer könnte sie töten wollen, warum denn?

Jetzt, in dieser düsteren rückwärtigen Gasse, die nicht mehr war als die Lücke zwischen den Feuerschutzwänden, hätte er leichtes Spiel. Sie war ganz allein. Aber – woher sollte er wissen, daß sie hier war? Wie wer auch immer an seine Informationen kam – es waren immer bekannte Zeitpunkte gewesen, zu denen die Anschläge erfolgten. Tatsächlich?

Den Zeitpunkt, zu dem Bruce Wayne alias Kiran entführt wurde, hatten nur die Entführer gekannt. Den des Angriffs auf das Dach die Sicherheitsbehörde. Sollte man meinen. Und den ihrer Entlassung – die Journaille? Im Nachhinein kannte sie dann jeder, diese Zeitpunkte, man musste nur die Holos der VisionWalls durchgehen.

Ihr Mund wurde trocken. Ein Angriff aus der Zukunft?

Einen Moment lang wurde ihr schwindlig. Schließlich hatte sie selbst diese sonderbare Gabe.

17:00 Uhr: Amber war jetzt gerade auf dem Weg zu Mrs. Teitelbaum. Wenn sie jetzt zu ihrer Wohnung ginge, würde sie sich selbst begegnen, sobald Amber zurück kam.

Aber wäre das denn nicht schon geschehen?

Ob sie es ausprobieren sollte? Ihr wurde ein wenig komisch bei dem Gedanken. Was würde dann geschehen? Gäbe es eine neue Variante der Gegenwart, würde sie sich plötzlich daran erinnern, sich selbst begegnet zu sein, gäbe es eine neue Zeitdimension, würde sie sich aufspalten, oder würde die Zeit sie einfach raus werfen?

Oder wer auch immer.

Sie fühlte sich so winzig zwischen diesen hohen Mauern. So verlassen. Der einzige Ort, an dem sie sich jemals wie sie selbst gefühlt hatte, war in Brianna Westenras Garten gewesen. Und in diesem andere Garten. Die Verlassenheit war wie ein plötzlicher Strom, eine unsichtbarer Strom, der den Canyon dieser Hintergasse flutete. Sie klammerte sich an die Erinnerung wie an einen Strohhalm. Der magische Garten. Der Kuss. Der erste und einzige wirkliche Kuss ihres Lebens. Es war als hätte sie die Sonne umarmt, das Leben, einen Augenblick lang, so süß. Seltsamerweise schauten sie über die Umarmung hinweg die müden Augen McFarlanes an. Der Schmerz und das Wissen darin waren so tief, daß sie auch ihn mit hinein nehmen wollte in diese Umarmung.

Wen sie noch länger über all das nachdachte, würde sie durchdrehn. Also blieb noch eine Option. Diese Gasse war von hohen Mauern begrenzt und just menschenleer. Das Gebäude der Sicherheitsbehörde war hinter ihr zurückgeblieben und mit ihm seine Überwachungskameras.

 

 

Diesmal saß sie auf der Sonnenseite. Tatsächlich war die Sonne genau so wenig zu sehen wie all die Male zuvor, trotzdem schien das Licht so hellgolden wie stets. Hier war das Becken marmorweiß und der gewölbte Rand überraschend warm. Sie hatte ihre kaputten Stiefel neben sich stehen. Hatte sie die eigentlich auch die anderen Male getragen?

Sie konnte sich nicht erinnern.

Aber an das blaue Kleid erinnerte sie sich. Das war nicht das, was sie trug, als sie in der Gasse hinter dem Untersuchungsgefängnis den nun schon vertrauten Schritt getan hatte. Vermutlich richtete sich diese Welt tatsächlich nach den Gedanken, die sie mitbrachte. Ob sie damit ihre Schuhe reparieren könnte?

Sie saß am Rand der Quelle und hatte es gewagt, ihre Füße hinein zu strecken. Es fühlte sich auch zu angenehm an. So, als würde sie leichter und leichter und gleichzeitig spürte sie den warmen Stein unter sich, beständig und ruhevoll. Als wäre sie ein Baum, so friedvoll. Ihre Krone badete im Licht und zu ihren Wurzelfüßen strömte das Wasser vorüber.

Fast vergaß sie, weshalb sie hergekommen war. Aber sie wollte doch verstehen. Sie schaute in die Mitte des Beckens. Als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sie Bilder darin aufsteigen sehen. Und danach hatte jeder Schluck Wasser Räume in ihr geöffnet. Sie hatte so viel gesehen. Aber wenn sie zurückgekehrt war, in die andere Welt, blieb nur wenig davon zurück. Nur das, was ihr bedeutsam erschienen war – es wäre wohl zuviel, was dieses Wasser an Wissen wecken könnte. Sie musste die richtigen Fragen stellen.

Seltsamerweise schien es ihr, als wäre die Antwort schon da. Als wäre sie an dem Ort, an dem sie sich in Wirklichkeit immer befand. Als wäre alles, was geschah, gleichzeitig, als gäbe es gar keine Zeit. Nur für sie, als Faden an dem sich ein menschliches Bewußtsein entlang bewegte.

Ein Faden?

Sie fühlte sich gefangen darin, verstrickt. Ihre Gefühle zogen an ihr wie Fäden. Sie war eine Puppe, die an den Fäden ihrer Gefühle tanzte, immer getrieben vom nächsten Drang, dem ihr am nächsten liegenden Drang, Angst, Hunger, Sehnsucht.

Sollten ihre Gefühle nicht auch die Fäden sein, an denen sie sich orientierte, genau wie die Zeit? Hier konnte sie all das anschauen, von außerhalb, wie ein Bild. Dann war das alles gar nicht sie selbst? Wer war sie denn? Etwas jenseits von all dem?

Hier fühlte sie sich, als wäre sie in Wirklichkeit mehr als dieses enge menschliche Sein. Als wäre sie – alles. Die Quelle, die Bäume, diese und die andere Welt. Selbst die Menschen, die sie kannte. Und genau betrachtet, war dieses eine Ich auch mehr, als sie es sich bewusst war.

Ließ sich das denn begreifen? Mit einem menschlichen Bewusstsein? Würde sie sich nicht verlieren, wenn sie sich auf all diese Räume einließ?

Halt – welches war die richtige Frage, die Frage, die ihr jetzt weiterhelfen würde?

„Was ist das für eine Geschichte, in die ich da verstrickt bin?“, dachte sie und in diesem Moment begann es sich zu entfalten, ein leuchtendes Gebilde aus Pflanzen. Sie tastete nach dem Faden darin und bekam das eine Ende zu fassen. Oder war es der Anfang?

 

Sie flog darauf zu und das Wesen wandte sich ihr zu und umschlang sie. Einen Moment lang schien es ihr, als werde sie selbst zu dieser grünen, sich windenden Kraft und tauche mit ihr aus der Erde auf. Hier war sie, inmitten des sich entfaltenden grünen Wesens, das sie im Spiegel der Quelle ertastet hatte und dies war der Anfang.

Sie fühlte den schneebedeckten Boden unter ihren Füßen, aber die Wärme des Gartens umgab sie. Und wieder stürzte jemand von oben herab, stürzte auf sie zu und landete doch geschmeidig auf zwei Beinen. Mehr oder weniger. Über der Dachkante hoch über ihnen tauchte vor dem Lichtdunst der Stadt die Silhouette Clarissas auf. Dort oben war der Feind.

Brianna griff nach der Hand ihres Zwillings, die der zweite Schlüssel war, und brachte sie in Sicherheit, hin zum richtigen Zeitpunkt.

Konsequenzen

Der Held

 

Als die beiden Mädels endlich aus den Damentoiletten im Hinterhof kamen, saßen sie schon etwas mehr als zwei Stunden in dem Café und hatten den ersten Streit in ihrer beginnenden Freundschaft bereits hinter sich.

Clarissa und Amber waren nicht etwa zu spät dran. Als heute morgen die Fahndungsmeldung zusammen mit dem Bericht über die Plünderung über die VisionWall flimmerte, hatte Jacks Freundin sie noch vor dem Frühstück vor die Tür gesetzt. Dabei hatte Jack geschworen, daß sie ihn heiß und innig liebe und niemals verraten würde und als Beweis ihrer Gesinnung darauf hingewiesen, daß ihre VisionWall von den „Augenöffnern“ gesichert worden war, will meinen: sie hatten die Kamera manipuliert. Sie war abschaltbar. Niemand würde wissen, wo sie waren, denn Trotzki hatte immer darauf geachtet, daß alle stets über sichere Kanäle kommunizierten. Schließlich kannten die meisten von einander nur die unter dem Decknamen verfassten Texte im gruppeneigenen Netz.

Jacks Freundin kannte ihn ab jetzt gar nicht mehr. Nun gut, immerhin befand er sich noch auf freiem Fuß. Fand zumindest Kiran. Er hätte nie gedacht, daß der Vierte Bezirk ein Ort sein könnte, an den man geht, um in Sicherheit zu sein. Aber da saßen sie nun, auf den marokkanischen Kissen eines Cafés, dessen Klientel zumindest am Tag nicht viel anders wirkte als die Bewohner des Dritten Bezirks. Einige des Zweiten mit eingeschlossen. Wahrscheinlich waren sie sogar genau das, wonach sie aussahen und einfach nur hier, um ein bißchen illegalen Alkohol zu genießen oder für den Kick oder was es sonst so gab am Rande der Legalität und darüber hinaus. Selbst die Straße wirkte nicht viel anders als die etwas heruntergekommeneren Bereiche des Dritten. Vielleicht ein wenig bröckelnder und die Häuser ragten nicht ganz so hoch in dem Himmel New Edens, an dem sich die Sonne stets hinter einer Dunstglocke verbarg - an den schönen Tagen. Kiran hatte Müll an den Rändern der Straße erwartet, aber hier war der Asphalt zwar rissiger, aber sauberer als in der City. Die Müllsammler könnten selbst die Kippen gebrauchen, meinte Jack auf seinen Blick hin. Und die Hauseigentümer kehrten den Dreck vor ihren Türen. Tja, da hatten sie den Bürgern etwas voraus.

Das Café unterschied sich noch am stärksten. Nun gut, eine VisionWall durfte auch hier nicht fehlen, auch wenn das über ihren Rand laufende Endlosspruchband „Die ist die Einweg-Piraten-Version der offiziellen New Eden VisionWall. Dies ist (usw.)“ die Gäste in Sicherheit wiegen sollte. Doch selbst im äußersten Bereich des Dritten Bezirks hätte niemand es gewagt, diesen Gästen ein solches Sammelsurium an Möbeln, Stoffen, Quasten, Troddeln und Vorhängen anzubieten. Vielleicht sollte es das Ambiente einer Räuberhöhle signalisieren, Kiran kam sich allerdings eher vor wie in den betulich arrangierten Überresten von Großmutter Gretchens Wohltätigkeitsbazar. Unter den bemühten Gerüchen von Allzweckreiniger und Räucherstäbchen hielt sich der hartnäckige Hauch von Alkohol und Erbrochenem. Jack und er hielten sich dagegen an Kaffee und sie waren schon beim dritten angelangt, als die Mädchen endlich kamen. Niemand schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit. Kiran bezweifelte ohnehin, daß irgendwer in dem unauffällig gekleideten Mädchen mit dem dunkelblonden Pferdeschwanz und der noch immer leicht geröteten Schnupfennase New Edens Whamm-Girl erkannt hätte. Er dankte insgeheim den himmlischen Schutzgeistern der Rechtschaffenen, daß der geheimnisvolle Ort ihm sein altes Aussehen wieder gegeben und Jack sein brandrotes Erkennungsmerkmal unter einer Wollmütze verborgen hatte. Zum Glück hatte das Fahndungsfoto ihn nicht im Profil gezeigt. Vielleicht könnte ja der magische Ort diesen Zinken zurecht feilen, was Kiran allerdings bezweifelte.

 

Wahrscheinlich schenkte in der noch immer leicht aufgeregten Atmosphäre im Lokal ohnehin keiner den anderen Gästen besondere Aufmerksamkeit. New Edens Nachrichtensender war just einmal mehr gehackt worden. Der wiederholte Bericht von der Supermarkt-Plünderung wurde gerade ausgeblendet, die smarte Nachrichtenschickse schickte sich an, die Fahndung zu verlesen, da tauchte auf der Wall das unverhüllte Angesicht des Aufrührers Nr.1 auf. Im Hintergrund befand sich, ganz im Gegensatz zu den VisionWall-Berichten die nur das traurige „Danach“ zeigten, die Plünderung gerade mitten im höchsten Schwange. Der blonde Trotzki grinste in seine Kamera wie ein Werbespotmodel, während hinter seinen Schultern von eifrigen Ameisen üppige Warenberge abtransportiert wurden. „Tja,“ plauderte seine wohlmodulierte Stimme munter,“ da sieht man, wie sich aufgeweckte Bürger das zurückholen, was ihnen die träumestreuenden Sandmännchen des Ersten Bezirks gestohlen haben. Die Früchte ihrer Mühen.“ Er legte eine Kunstpause ein, in der die orgiastischen Geräusche der Plünderung ihre Wirkung entfalten konnten. Dann lächelte er mit der Miene eines erfolgreichen Eventmanagers und beugte sich geheimnisheischend vor. „Und das ist nur der Anfang. Beste Grüße von euren Augenöffnern – haltet die Ohren auf!“ Er richtete sich wieder auf, während das Bild verblasste, erhaschte man ein letztes Zwinkern und ein gemurmeltes „Tja, da staunst du, Daddy.“

Jack war entzückt.

Kiran weniger. „Was glaubst du eigentlich – daß die Company das einfach so mit sich machen lässt?“

Unausweichlicherweise entspann sich ein heftiges Streitgespräch darüber, wer wohl am längeren Hebel saß. Jack warf Kiran Spießigkeit vor und Kiran Jack erschreckende Naivität. Na gut, zugegeben, der Anblick des Kerls, der während seiner Wahrheitsdrogenbefragung so arrogant auf ihn herab gegrinst hatte, war ihm reichlich sauer aufgestoßen. Vielleicht lag es auch nur an dem vielen Kaffee ohne was dazu, denn für mehr reichte Jacks spärliche Barschaft nicht. Sie hatten ihr Untertauchen wirklich sehr schlecht geplant.

Merkwürdig war allerdings, daß dieser „Trotzki“ jetzt sein Gesicht so ohne weiteres zeigte, schließlich war es nicht in der Fahndung aufgetaucht. Dabei hätte man seine DNS genauso wie die aller Anderen in der gestürmten Zentrale identifizieren müssen. Es sei denn „Trotzki“ stammte aus dem Vierten Bezirk. Oder – aus dem Ersten ...Was sollte wohl dieses „Tja, da staunst du, Daddy“ am Schluss? Ob er wirklich glaubte, daß sein hehrer Häuptling sich ausschließlich für das das höhere Ziel opferte, wollte Kiran von Jack wissen. Das saß.

Jack orderte ein weiteres Mokkatässchen Bohnenextrakt, während Kiran grübelte, ob er diesen „Trotzki“ nicht von irgendwoher kennen sollten. Aber die Leute, zu deren Kreisen er in den letzten Jahren gehört hatte, ähnelten meist mehr den Katalogvorlagen der Gen-Designer als ihren eigenen Eltern.

 

Die Stimmung war also nicht gerade auf ihrem Höhepunkt, als die beiden Ersehnten eintrafen. Nach einer gemurmelten Begrüßung machte man sich auf zu einer der vielen versteckten Ecken des Vierten Bezirks, um in eine andere Welt zu entschwinden, ohne daß jemand etwas bemerkte.

 

 

-----------------------------------------------

 

In Ambers Wohnung hatten sie das größtmögliche Chaos hinterlassen, im ehemaligen Hauptquartier der Revolutionäre hallende Leere. Zumindest hätte sie gehallt, diese Leere, wäre nicht wenigstens der Teppich zurückgeblieben, als zertrampelter und verschmutzter Zeuge ihrer Respektlosigkeit.

Doch der ganze Krempel würde den Garden nichts nützen, hatte Jack erklärt, die gesamte Software der Untergrundgruppe verfügte über einen Selbstzerstörungsmechanismus.

„Hat ihnen schon genützt,“ widersprach daraufhin Kiran, „Immerhin haben sie deine DNS. Lass mich raten – Kippen im Aschenbecher?“ Die DNS eines jeden Bürgers von New Eden wurde bereits bei seiner Geburt gespeichert

„Ich habe immer nur auf dem Dach geraucht,“ grumelte Jack. Er wirkte nicht besonders glücklich, dabei begann hiermit der von ihm gewünschte Guerilla-Einsatz.

„Alles sauber!“, verkündete Clarissa und schob das Zauberstäbchen, das sie geschwenkt hatte, wieder zusammen. „Keine Bugs! Sie rechnen nicht damit, daß jemand hierher zurück kommt.“

Sie standen in den ehemaligen Räumen der „Augenöffner“. So hatten sie sich laut Ernesto genannt, die inzwischen stadtbekannten Aufwiegler.

„Und was machst du, wenn die rauskriegen wozu du ihre Ausrüstung hier einsetzt, Whammgirl?“, kommentierte der jetzt die Vorsichtsmaßnahmen der Superheldin.

„Das ist nicht „ihre Ausrüstung“! Das ist meine Standardausrüstung!“, erwiderte Clarissa entrüstet.

„Na, dann wird sie jetzt mal endlich für etwas Vernünftiges eingesetzt.“

„Ich habe sie eingesetzt, um die Stadt vor dem Verbrechen zu schützen!“, fauchte Clarissa.

„Bist du dir da so sicher? - Wohl eher die etablierten Räuber vor den nachdrängenden ...“ stichelte der inzwischen stadtweit gesuchte Aufwiegler.

„Ach und die Leute zum Aufruhr anstacheln ist ethisch viel lobenswerter?!“

„Was bist du den heute so pisserig, Jacko?!“, mischte Amber sich ein. Das Geplänkel begann ihr auf die Nerven zu gehen.

„Gebranntes Kind scheut das Feuer,“ murmelte Kiran.

„Heureka!“, rief Jack und hielt einen orangefarbenen Kugelschreiber hoch. In den verschmuddelten Fasern des grauen Teppichs hatte sich doch noch etwas versteckt. „Rosemarys Glücksbringer!“

 

 

-----------------------------------------------

 

 

„Nein, ich komme nicht mit!“, erklärte Rosemary, „ganz bestimmt nicht!“

Sie war eine kleine mollige Brünette, die die graue Gefängnisdecke eng um sich geschlungen hielt. Amber vermutete, daß sie selbst nach ihrem Verhör genauso blass ausgesehen hatte. Auch der Raum unterschied sich durch nichts von dem, in dem sie sich wiedergefunden hatte.

Rosemary schoss ihr von der Seite ängstliche Blicke zu. Vielleicht lag es ja an der Maske, die sie trug, aber Amber wollte einfach kein Risiko eingehen. Jack trug sein eigenes Gesicht, schließlich war er den Garden wohlbekannt, allerdings sollte im Moment keiner ihrer ansichtig werden, schließlich hatte Jack die Kamera außer Gefecht gesetzt, eine der Fähigkeiten, die er offenbar erst nach und nach offenbarte. Es konnte nur eine Frage von Minuten sein, bis jemand auf die ausgefallene Kamera aufmerksam wurde.

„Aber Rosemary, du bist in den Händen der Ausbeuter!“, flehte Jack.

„Ich wollte niemals Aufruhr anzetteln. Es war ein großer Fehler. Ich bleibe hier.“ Rosemary zog die Decke enger um sich, soweit das überhaupt noch möglich war.

„Aber Rosemary – wir wissen den Weg in eine besseren Welt!“

„Hör auf mit dem Quatsch! Lass mich in Ruhe! Ich schreie um Hilfe!“ Ihre piepsende Stimme erhielt Unterstützung durch das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels. Elektronische Systeme konnten ausfallen, ein guter alter Schlüssel nie.

 

„Alles in Ordnung bei ihnen?“, fragte der Gardist die weinende Gefangene.

„Es tut mir alles so leid!“, schluchzte Gretchen Mayor.

„Das hättest du dir vorher überlegen müssen!“, schnauzte die Aufseherin.

„Ihre Bereitschaft zur Kooperation wird man ihnen anrechnen!“, tröstete der Gardist.

Der Techniker sagte nichts, er tauschte die defekte Kamera aus.

 

 

-----------------------------------------------

 

 

„Na das war ja wohl voll die rauschende Rettung!“, stichelte Clarissa.

Sie saßen unter den Bäumen auf der Bergkuppe. Dies war offenbar der Platz, den der Garten für sie geschaffen hatten. Die unsichtbare Sonne wärmte sie und die Blätter der beschirmenden Bäume fächelten ihnen eine Brise zu. Drunten lag das unbekannte Land im blaugoldenen Dunst.

„Das wars dann wohl,“ murmelte Kiran und betrachtete versonnen Amber. Auch Amber war blaugolden. Das Licht tanzte in ihren honigbraunen Locken und streute Goldglimmer in ihre Augen. Ihr Kleid war so blau wie der Himmel. Sein blaugoldenes Mädchen.

Clarissa wirkte leicht deplaziert in ihrem Rollkragenpullover und ihren Stiefeln. Heute trug sie ihr unnahbares Walkürengesicht mit den graublauen Augen. Nur ihr Haar zeigte heimlich seinen sanften Schimmer.

„Es sind immer noch mindestens drei von meinen Leuten da drin!“, insistierte Jack und sah gar nicht mehr aus wie Jack auf der Bohnenranke. „Bitte, braucht man denn wirklich einen Gegenstand? Ich kann mich doch auch an meine Kumpels erinnern!“ Seine unschuldig blauen Kinderaugen tasteten flehend in ihren Gesichtern nach einem Lichtstrahl.

Kiran seufzte. „Ach Jack, wo willst du sie denn hin bringen? In ihre bürgerlichen Existenzen können sie nicht mehr zurück! Diese Rosemary hat sich eben gegen ein Leben im Untergrund entschieden. Wenn sie rehabilitiert wird, bekommt sie ihr Leben zurück!“

Jack schluckte. Begriff er, was dies tatsächlich bedeutete? „Aber wir wissen doch nicht, wie sich die anderen entscheiden würden! Ich kann ihnen doch nicht meine Hilfe verweigern, wenn ich sie retten könnte!“

„Glaubst du denn, daß du sie retten kannst?“, fragte Amber.

„Und wann werden sie uns schnappen?“, gab Kiran zu bedenken. „Wenn du mit allen erst mal diskutieren willst, fällt es voraussichtlich irgendwann auf, daß in den Zellen der Aufrührer nacheinander die Kameras ausfallen! Voraussichtlich recht schnell und – höchst voraussichtlich noch während unserer Aktion.“

„Wir könnten die Zeit verschieben, wir könnten es so machen, daß alles im selben Moment geschieht, nicht wahr, Amber?“, kam es nun von Clarissa.

Einen Moment lang erschien es Amber, als verdunkle sich der Glanz des Gartenlandes. Sie fühlte sich nackt, als griffen viele Hände nach ihr, vor denen sie sich nicht schützen konnte.

„Wenn wir uns verbinden, verstärkt sich unsere Kraft,“ flüsterte sie mit trockener Zunge. Vielleicht auch unser Wissen, flehte sie lautlos und streckte einmal mehr ihre Hände aus. Jacks lodernde Aufrichtigkeit überrollte sie. Sie glühte durch ihre Gemeinsamkeit. Sie verbanden sich, wurden Teil eines Ganzen und blieben doch sie selbst.

„Was ist das denn?“, fragte Jack empört. Jetzt spürten alle den Ring aus dunklen Wolken, den Ambers Angst hervorrief.

„Wir sollten zur Quelle gehen,“ schlug Clarissa vor.

Jack blickte verdutzt, Amber und Kiran nickten – und wurden Zeuge, wie sich das Gartenland zum ersten Mal vor ihren Augen veränderte. Die Quelle tauchte in ihrer Mitte auf, blitzend und sprudelnd, in ihr helldunkles Becken gefasst, während über ihnen die Blätter der Baumkronen flüsterten. Vielleicht waren sie aber auch in Sekundenschnelle gereist – oder das Land existierte nur um sie herum als Raum, der sich allein durch ihr Dasein formte.

Wieder schien es, als trage das Wasser Bilder, die es mit sich brachte aus seinem unsichtbaren Ursprung.

 

-----------------------------------------------

 

„In die Freiheit?“, fragte Mao mit unbewegter Miene. Er war dunkelhaarig und stämmig, vielleicht waren es die geraden Brauen, die seinem Blick etwas so ernstes verliehen. Er musterte kurz die maskierte Gestalt, die hinter seinem alten Genossen stand. „Und du hast neue Verbündete?“ Er nickte bedächtig. „Das klingt aussichtsreich.“

 

 

-----------------------------------------------

 

„Trotzki ist entkommen?“, rief der blonde Che begeistert. Er reckte die Faust und schlug Jack auf die Schulter. „Ey, Mann, der Kampf geht weiter!“

 

-----------------------------------------------

 

„Ernesto!“, schrillte Evita. „Und ich dachte, du bist ´ne Lusche! Du bist der Hammer!“ Sie warf die graue Decke von sich, ihre bleistiftdünnen weißblonden Zöpfe wirbelten um sie. „Mann, du hasts drauf! Jetzt legen wir diese verdammte Stadt in Schutt und Asche!“

 

-----------------------------------------------

 

 

„Du hast ungeahnte Möglichkeiten!“, erkannte Hotschi und erhob sich. „Ich bin dabei!“

 

-----------------------------------------------

 

„Wir müssen etwas Neues schaffen,“ Leymah nickte. „Ich bin bereit, das Risiko einzugehen. Aber über diese Sache mit den Plünderungen müssen wir nochmal sprechen.“

 

-----------------------------------------------

 

 

„Geiler Platz,“ sagte Che. „Den könnte man doch als Hauptquartier nützen!“

„Du spinnst wohl,“ fauchte Evita, „du glaubst wohl, der echte Revoluzzer pennt aufm Steinboden wie so ein bescheuerter Einsiedler-Mönch?“

„Schon mal was von Zelten und Feldbetten gehört?“, konterte Che.

„Und Plumpsklos ...“ antwortete Evita gedehnt. „Nicht zu vergessen die Sterntaler, die uns all das besorgen!“

Sie befanden sich an einem Ort, der an einen alten Steinbruch erinnerte. Und anders als sie es gewohnt waren, herrschte Dunkelheit. Wind pfiff über die Steinkanten über ihnen. Von Zeit zu Zeit ließ er das Feuer flackern, das in ihrer Mitte brannte und berührte ihre Gesichter mit einem kalten Hauch. Auch der Boden unter ihnen war steinig und kühl.

Jack bemerkte von all dem nichts. Er war glücklich, seine Augen glitten über die Gesichter seiner Mitstreiter, eilten von einem zum anderen, hungrig auf jede Nuance des Enthusiasmus mit dem sie auf die Möglichkeiten reagierten, die er ihnen eröffnet hatte. Nur daß sie hier in einer anderen Dimension gelandet waren, hatten sie den frisch Geretteten noch vorenthalten.

Auch Ambers Blick glitt über die Gesichter vor ihr, so unruhig wie das Feuer, genau so flackerte auch diese unbestimmte Angst in ihr. Da war der auf den ersten Blick smarte blonde Che mit seinen auf den zweiten Blick hektischen Bewegungen, der fast unablässig redete. Die noch blondere Evita konnte dafür keinen Moment still halten und kickte mit ihren schwarzen Schnürstiefeln nach den Steinen. Sie war klein und dünn und ihr spitzes Mädchengesicht hätte fast als hübsch gelten können. Hotschi grinste unablässig über das ganze Gesicht und stimmte Ches Reden zu. Er schien der älteste der Truppe zu sein. Maos Alter dagegen war schwer zu schätzen. Er taxierte ihre Gruppe genauso wie sie die seine. Die dunkelhäutige Leymah hielt sich am Rand.

„Und, Ernesto, wo steckt denn jetzt unser Trotzki? Geil, was der inzwischen an Aufruhr inszeniert!“, schwatzte Che weiter. Der Feuerschein beleuchtete von unten sein schmales Gesicht. Die Schatten ließen ihn hager wirken. Ein unterernährter Untoter, dachte Amber. Sie und Clarissa trugen unbeirrt weiter ihre Masken.

„Was für ein Aufruhr?“, fragte Hotschi. Er hockte zusammengefaltet auf dem harten Boden, das Kinn auf die spitzen Knie gestützt, ein schon leicht zerfledderter Graureiher.

„Na - haben sie dir das noch nicht gezeigt? Die Plünderungen?“

„Nee – im Ernst?“, machte Evita und vergaß ganz, weiter nach den Steinen zu treten. „Geil!“ Ob sie überhaupt schon 18 war?

„Mir haben sie es gezeigt,“ schaltete sich jetzt Leymah ein.

„Und?“ Ches stimme kiekste, als liege sein Stimmbruch noch nicht allzu lange zurück. Dabei musste er mindestens Mitte Zwanzig zu sein. „Der hats drauf, unser Trotzki, nicht?“

„Also,“ Leymah holte hörbar Luft, „ich weiß nicht – Gewalt erzeugt immer Gegengewalt. Das gibt eine Spirale – und wer sind dann die Leidtragenden? Doch die, die vorher schon ganz unten waren! Wollen wir das denn?“ Mit ihrer dunklen Haut hätte sie eigentlich noch mehr mit den Schatten verschmelzen sollen. Aber tatsächlich schien es Kiran, als leuchte sie in diesem Moment wie dunkler Bernstein. Die da ist ja auch ein goldenes Mädchen, dachte er. Dabei war sie wohl kein Mädchen mehr, sondern eher in seinem Alter, irgendwas um die dreißig.

„Also spinnst du jetzt oder was?“ kiekste Che. „Aus was für nem beschissenen Religionsbuch hast du denn das abgelesen?“

„Du wirst doch jetzt nicht den Arsch einziehen!“, fauchte Evita.

„Du kannst doch jetzt unsere Revolution nicht verraten!“, empörte sich Hotschi. „Wir müssen doch jetzt zusammenhalten!“

„Apropos „jetzt“,“ ließ sich plötzlich Mao hören, „Wäre es nicht langsam an der Zeit, diese dämlichen Masken ab zu nehmen?“

„Wir sollten so wenig wie möglich von einander wissen, dann bringen ihnen ihre Wahrheitsdrogen herzlich wenig, wenn sie einen von uns erwischen, hat Trotzki immer gesagt,“ erwiderte Jack.

„Und warum trägt dein neuer Freund dann Gesicht?“ Mao ließ nicht locker.

Kiran zuckte mit den Achseln, Jack grinste. „Das ist seine Sache.“

„Dann sind die anderen beiden Gesichter vielleicht allzu bekannt?“, bohrte Mao weiter.

„Mann, das ist doch jetzt egal!“ , unterbrach ihm Che. „Wo steckt denn jetzt Trotzki?“

„Sie könnten Spitzel sein,“ brummelte Mao.

Jack ignorierte ihn genauso wie alle anderen. „Das weiß ich nicht.“

„Was?!“ Che war fassungslos, was Jack leicht verstimmte. Hatte Che sich etwa eingebildet, Trotzki hätte die Rettungsaktion eingefädelt?

„Wir werden versuchen, ihn zu orten!“, behauptete Jack mit einem schnellen Seitenblick auf die beiden Maskierten.

„Ihn zu orten?“, bemerkte Mao fragend.

„Also ich weiß nicht, wie es euch geht – aber ich sterbe vor Hunger!“, meldete sich nun Kiran zu Wort.

„Jau!“, rief Che. Sämtliche Augenöffner richteten ihre Blicke auf Leymah.

„Für deine Suppenküche sorgt Trotzki auch – mit seinen Super-Einkaufsmöglichkeiten!“, stichelte Evita. Hotschi entfaltete seine langen Gliedmaßen indem er sich aus seiner hockenden Position erhob.

„Woher kenn ich denn deine Stimme?“, fragte Mao. Er taxierte Kiran von der Seite und der begriff endlich, daß er sich nicht erst seit gerade eben unbehaglich fühlte. Wie er sich verwandeln konnte, der unschuldige Enthusiasmus der jungen Männer. Wie schnell gerann er doch zur Selbstgerechtigkeit der Gewalt.

„Wie ist der Weg?“, fragte Leymah und Amber dachte, ja, das frage ich mich auch. Und wie sie alle zu Leymahs Suppenküche bringen sollte, war ihr auch nicht klar. Aber dann nahm sie einfach Leymahs Hand und alles war ganz einfach. Sie traten hinaus auf eine enge Gasse vor eine erleuchtete Glastür.

„Geil, das müsst ihr uns beibringen!“, kommentierte Che.

Blos nicht, dachte Kiran.

Clarissa wartete ab. Sie liebte Abenteuer.

 

-----------------------------------------------

 

 

Sie fanden Trotzki noch am selben Abend bei der nächsten organisierten Supermarktstürmung, rückwärts durch die Zeit.

„Wie kommt ihr hierher?“, lautete seine Reaktion, während um sie herum die Plünderung tobte.

„Wir haben neue Waffen!“, verkündete Che triumphierend und Kiran sah, wie etwas in seiner Miene, die nicht so erfreut gewesen war, wie man hätte meinen können, sich veränderte.

Amber griff aus und trat zurück.

 

-----------------------------------------------

 

„Ich lasse nicht zu, daß man meine Gabe als Waffe mißbraucht,“ sagte sie. Sie stand wieder auf dem lichturchfluteten Bergkegel, gemeinsam mit denen, die zu ihr gehörten. „Ich bin keine Waffe.“

„Ganz richtig,“ erwiderte Leymah.

„Und was ist mit Jack?“, fragte Clarissa.

„Der muss seinen eigenen Weg gehen,“ antwortete Kiran traurig.

 

-----------------------------------------------

 

Sie erwachte erneut in diesem Schrecken. Grobe Hände schüttelten sie. Grobe Stimmen prasselten auf sie ein. Sie waren einmal mehr eingedrungen in ihr Nest.

„Los, wach auf, du blöde Schlampe!“ Aber es war keine Männerstimme, es war eine schrille junge Frauenstimme, die schneidend auf sie eindrang. Amber blinzelte geblendet. Dann erkannte sie das verzerrte Gesicht Evitas.

„Nana, sei doch nicht so unhöflich zu unserem begabten Gast.“ Das wahr Trotzkis wohlmodulierte Stimme, so klangvoll, daß es an Hohn grenzte. Gast? Das war ihre Wohnung!

Einmal mehr ließ man ihr kaum Zeit, ihre Kleider zu finden. Einmal mehr wurde sie aus ihrer Wohnung gezerrt. Nur diesmal kannte sie die Gesichter um sich herum.

 

-----------------------------------------------

 

Nein, nein, das wollte ich nicht,“ rief Jacks Stimme.

Lasst mich weitergehen,“ verlangte Amber.

 

Draußen warteten wie schon einmal die Einsatzwagen der Garden. Aber diesmal waren diejenigen, die sie aus dem Haus geholt hatten, darüber überrascht.

 

Was ist das denn?“, entsetzte sich Jack.

 

„Gilt ihr Angebot noch?“, flüsterte die heisere Stimme am illegalen Comlink. „Dann kann ich Ihnen ein Angebot machen ...“ Die Stimme verklang. „Glückwunsch, Max!“, wurde eine ölige Stimme laut. „Wir werden uns erkenntlich zeigen.“ Und Max, den sie als „Mao“ kannten, verneigte sich und verließ lächelnd das Institut für Investigation.

 

Okey, okey, alles klar,“ erklärte Jack.

Nein,“ widersprach Amber, „da ist noch etwas.“ und tauchte erneut ein in den Zeitstrom.

 

-----------------------------------------------

 

 

Sie saß einmal mehr in dem kleinen grauen Raum, als er herein kam. Er kam einfach in ihre Zelle, so wie sie selbst es vor nicht allzu langer Zeit getan hatte, als andere hier saßen. Das ist er, dachte sie, oh mein Gott, das ist er. Sein harter Griff umschloss ihren Ellbogen.

„Hab´ ich dich!“, sagte er.

 

-----------------------------------------------

 

Der Himmel war schwarz über der vertraut gewordenen Anhöhe. Nur der Horizont war in rotes Licht getaucht, flammendrot wie von einem Sonnenuntergang oder einem großen Feuer. Der Wind zauste die Kronen der Bäume und blies Asche über die Ebene.

Nein, dachte sie, nein, nein, nein, und alles versank in einem kreisenden schwarzen Strudel.

 

-----------------------------------------------

 

„Das ist er,“ erklärte Amber. „das ist der, der hinter den Anschlägen steckt. Konnte irgendeiner von euch ihn erkennen?“

Sie saßen bei der Quelle, wo sie sich nach der mißglückten Befreiung Rosemarys verbunden hatten. Alles war wie zuvor, das Licht in den Bäumen, die funkelnden kleinen Wellen des heraufsprudelnden Wassers und die Geborgenheit des Ortes. Diesmal hatten sie sich fast die ganze Zeit an den Händen gehalten, die gemeinsame Gedankenreise durch den Strom der Bilder hindurch, der so beredt war, daß es ihnen bisweilen fast wie die Wirklichkeit erschienen war.

„Dieses Gefühl, ihn zu kennen ...“ murmelte Clarissa und starrte in das heraufquellende Wasser, als versuche sie darin weitere Bilder zu erhaschen. Sie hatte wieder ihre haselnussbraunen Augen und die feineren Gesichtszüge. „Aber ich könnte nicht sagen, wie er ausgesehen hat.“

Sie sieht so sehr viel schöner aus, so – verwirrend, dachte Jack und versenkte seinen Blick in der Quelle.

„Ich weiß nicht mal mehr, ob ich ihn überhaupt gesehen habe. Mir kommt nur so ein albernes Fabelwesen in den Sinn.“ Amber schüttelte verwirrt den Kopf.

„Ich habe nur die Bedrohung wahrgenommen. Jack war schon ausgestiegen und unser Kreis zerfiel,“ meinte Kiran.

„Ja, schmierts mir nur aufs Brot – ich hab´ schon wieder Scheiße gebaut!“ Jack holte tief Luft, schluckte, und holte nochmal Luft. „War ich das, dieser Strudel der alles verschlungen hat?“

Jetzt schüttelte Amber entschieden den Kopf. „Nein, nein, das warst nicht du. Das hatte mit ihm zu tun, diesem – Kerl.“ Sie schwieg, während sie den Bildern nachspürte. „Ich glaube, er wollte etwas, das nicht möglich war.“

„Weshalb nicht möglich?“, grübelte Jack weiter.

„Ein Zeitparadoxon?“, schlug Clarissa vor.

„Vielleicht ist ja alles ein Schauspiel und wir spielen die Rollen und etwas wacht darüber, daß das Script eingehalten wird,“ kam es von Kiran.

„Die Storyline,“ korrigierte Amber.

„Und wer passt auf?“, fragte Jack weiter.

„Die Gesetzmäßigkeit der Zeit,“ antwortete Amber.

„Und ich habe etwas tun wollen, das falsch war ...“ Selbst Jacks Stimme wirkte kleiner als gewöhnlich.

„Nicht „falsch“ - nur,“ Kiran suchte nach Worten.

„Würdest du nicht auch für die Wahrheit kämpfen wollen?!“, fiel ihm Jack ins Wort.

„Ach Jack, kämpfen ...“ Kiran blickte in die Runde. „Ich war niemals ein Batman. Ich sollte ihn nur mimen. Aber ich selbst – ich bin in Wirklichkeit ein Tänzer der Lüfte. Ich wollte den Menschen Träume schenken. Jetzt merke ich, ich möchte ihnen ihre eigenen Träume zurück bringen, Träume, die sie verwirklichen können. Kämpfe zerstören. Wenn man etwas Neues möchte, muss man es schaffen. Und je mehr ich in diese Quelle blicke, desto deutlicher wird es mir.“

„War denn alles falsch, was ich wollte?“, rief Jack verzweifelt. „Es war so schrecklich, wie meine Kumpel über dich hergefallen sind, Amber!“

„Woher wussten sie nur, wer ich bin?“ flüsterte Amber. Es hatte sich so wirklich angefühlt, als sei es tatsächlich geschehen. Aber es war nicht geschehen, es war nur das Bild des Zeitstroms, der einer Entscheidung gefolgt wäre.

„Ich habe es ihnen gesagt,“ antwortete Jack gequält.

„Hast du nicht!“, widersprach Clarissa.

„Ich hätte es ihnen gesagt!“

„Jetzt nicht mehr.“

Jack starrte Clarissa verdattert an. Und noch etwas anderes war in seinen Augen.

Erkennen? Hoffnung?“

„Es erscheint dir als Unrecht, weil du mich kennst Jack. Was hättest du denn geglaubt, wenn du mich nicht gekannt hättest? Wäre ich dann auch nur eine Waffe, die man benutzen sollte?“

„Scheiße, ich will überhaupt niemanden benutzen!“

„Tja - dann müssen wir dich wohl doch nicht rausschmeißen!“, befand Clarissa.

Jack schlang seine langen Arme um sich. Kiran klopfte ihm auf die Schulter.

„Wir sollten Leymah befreien,“ erklärte Amber.

„Und was wird aus den anderen?“, fragte Jack gequält.

Bilder strudelten herauf, Tumulte, rennende Menschen, offene Gefängnistüren und die ehemaligen „Augenöffner“, die in der Menge verschwanden.

„Sie antwortet mir ja!“, stellte Jack erstaunt fest. „Was ist das denn, diese Quelle?“

„Etwas, das herausquillt aus dem Innersten der Stadt,“ behauptete Kiran.

„Aus der Sehnsucht der Menschen,“ befand Clarissa.

„Dem Herzen aller Dinge,“ schloss Amber.

Und es traf alles zu.

 

 

-----------------------------------------------

 

 

„Was sind das für Bäume?“, fragte Amber und blickte auf die ausladenden Kronen am Horizont. Die grüne Landschaft am Fuß des Berges hatte sich verändert. Sie war weiter geworden.

„Das sind Baobab-Bäume,“ erwiderte Leymah.

„Aber sind deine Vorfahren nicht schon vor langer Zeit aus Afrika gekommen?“

„Du meinst die, die überlebt hatten im Bauch der Sklavenschiffe? Nein, meine kamen mit den Flüchtlingsschiffen im vorletzten Jahrhundert. Die einen. Die anderen waren schon länger da, die kamen mit den Siedlerschiffen aus Europa – oder den Truppentransportern!“

„Verzeih mir.“

„Was denn? Daß ihr mich befreit habt?“

Sie lachten zusammen. „Aber wird Leymah das auch verstehen?“, hatte Jack gefragt, als beschlossen wurde, sie allein zu befreien. Leymah verstand, vielleicht besser als er selbst. Es schien Amber fast, als heiße der Garten Leymah auf besondere Weise willkommen, als sei das Licht intensiver, seit sie hier war. Sie trug ein leuchtendes afrikanisches Gewand und stand mit bloßen Füßen neben ihr auf der Bergkuppe. Vielleicht waren ihre Füße Wurzeln und sie selbst ein Baobab-Baum.

„Ich bin froh, daß du da bist,“ sagte Amber.

Leymah musterte sie aufmerksam. Ihre zahllosen Zöpfe waren zu einem Kranz verflochten, der wie eine Krone über ihrer Stirn lag. „Du kommst mir älter vor, als du aussiehst.“

„Das bin ich auch,“ antwortete Amber.

„Was wollen wir denn jetzt unternehmen?“, fragte Clarissa hinter ihnen. Amber musterte verblüfft die Lederweste mit den Bronzebeschlägen, die sie inzwischen gegen ihren Rollkragenpullover getauscht hatte.

„Hier könnte man Hirse pflanzen,“ murmelte Leymah. „Bohnen. Alle Arten von Früchten. Meine Ahninnen legten Gärten an.“

„Das taten alle unsere Ahninnen,“ erklärte Amber.

„Ähm -“ machte Clarissa.

„Wie wärs mit etwas zu essen?“, schlug Kiran vor. „Mein Magen beutelt wie ein leerer Sack.“ Er lehnte an den verschlungenen Wurzeln der Bäume, die die Mulde auf der Bergkuppe umgaben, und wirkte, seinen Worten zum Trotz, erstaunlich gelöst. Jack saß neben ihm und war ungewöhnlich still. Seine Augen ruhten voller Staunen auf Leymah.

„Wir könnten zu meiner Suppenküche gehen,“ schlug Leymah vor.

„Wir können auch zu einer anderen Küche gehen, deren Besitzerin sicher wissen möchte, was wir erlebt haben,“ erklärte Amber.

 

 

Die Andere - Amber

 

Mrs. Teitelbaum war entzückt. „Jetzt habe ich wenigstens Abnehmer für die Tapas, die ich für den Fünf-Uhr-Tee bestellt habe.“ Mrs.Teitelbaums gerühmter Fünf-Uhr-Tee sah einer geschrumpften Teilnehmerzahl entgegen, weil etliche der Honoratioren sich in Notfallsitzungen befanden.

„Die Plünderungen weiten sich aus.“

„Was für Plünderungen?“, fragte Amber. Sie saßen einmal mehr um den zerschrammten Küchentisch in Mrs.Teitelbaums pseudoantiker Privatküche.

„Da haben die in den Randbezirken wenigstens eine günstige Einkaufsmöglichkeit,“ mümmelte Jack. Er schien mit Kiran eine Art Wettessen abzuhalten.

„Inzwischen greifen sie auf den zweiten Bezirk über.“

„Vielleicht braucht jemand Weihnachtsgeschenke?“, überlegte Jack.

„Das ist genau das, was ich nicht wollte,“ erklärte Leymah zornig. „Ich wollte die Leute auf die Zustände aufmerksam machen und keinen Aufruhr entfachen.“

„Sie sollten ihr Aussehen ändern,“ riet Mrs. Teitelbaum.

„Ich komme aus dem vierten Bezirk, ich wurde nirgends erfasst und vermerkt, der vierte Bezirk wurde von den Besitzern New Edens den Ganoven überlassen.“

„Da haben sie recht,“ stimmte Adeline zu.

„Und sie schämen sich nicht?“, fragte Leymah.

Adeline erstarrte, das Tablett mit weiteren Sandwiches und Tapas in den Händen. Heute sah sie ganz wie die alte Dame aus, die sie war. Oder auch nicht, mit ihrem Häubchen und der adretten Schürze.

„Was hätte ich denn tun können?“

Leymah sah kleiner aus als im Garten, kleiner und hellhäutiger. Eine lebhafte Frau in einem billigen Strickkleid, bei der nur der Kranz aus geflochtenem Haar, der wie eine Krone auf ihrem Kopf lag, an die leuchtende Königin im Garten erinnerte. „Ich habe eine Suppenküche,“ sagte sie.

Adeline schnaubte. „Suppenküchen und Waisenhäuser! Das lieben die vornehmen Bürgerinnen. Suppenküchen und Waisenhäuser ändern nichts an den Verhältnissen.“

„Und warum ändern sie dann nichts an den Verhältnissen, Mrs. Teitelbaum?“

„Ha! Soll das ein Witz sein? Was glauben sie denn?! Wenn man schlau ist, kann man sich hindurch bewegen durch das Gefüge dieser Welt. Aber letztendlich ist jeder an die Vorgaben seiner Position gebunden. Begreifen sie das denn nicht? “Sie setzte das Tablett vor ihnen ab und funkelte sie mit ihren saphirblauen Augen an. „Was würde mit mir denn geschehen, wenn ich zur Revolutionärin würde? Was würde geschehen, wenn auch nur jemand herausbekäme, daß ich hier stadtweit gesuchte Aufrührer bewirte?“.

„Vielleicht begreifen sie nicht, wie sie ihre Macht nutzen könnten?“

„Was sind das nun für Plünderungen?“, fragte Clarissa, die wieder ihren Rollkragenpullover trug.

Adeline schaltete ihre abhörsichere Übertragung der VisionWall ein.

„Er bringt es fertig, die Sicherheitssysteme zu kappen. Inzwischen ist es wie eine Lotterie, auf die die Plünderer hoffen – fast sieht es so aus, als habe er ein System der Vorankündigung, von dem man noch keine Ahnung hat, wie es funktioniert,“ erklärte Adeline. Über die VisionWall flimmerte eine Sondersendung.

Amber beugte sich vor, „Was ist das?“

„Das ist die erste Plünderung – von gestern Abend. Das lief während ihr unterwegs wart.“ Kiran hatte einen Moment lang aufgehört, zu kauen.

„Nein – ich meine, das da im Hintergrund, diese – Kinder?“

 

 

 

Das Kind – Quendolin

 

Das Mädchen mit den fünf Millionen Piercings redete ohne Punkt und Komma. Sie schoss ihre Worte ab als wären es Metallstifte wie die in ihrem Gesicht, pling-pling-pling, sie wurden aber nicht weniger davon. Nicht nur ihr Gesicht war damit getackert, sie sah aus wie ein metallener Igel, man hätte sie glatt in die Artothek im ersten Bezirk stellen können, zu den Skulpturen der „Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts“, das hatten sie nämlich kürzlich erst durchgenommen und sich angeschaut mit der Kunstklasse, jawoll.

Quen war so damit beschäftigt, die Wortpfeile an sich abprallen zu lassen, daß sie gar nicht mitbekam, was sie besagten. War auch egal. „Er darf mich nicht finden,“ wiederholte sie, schließlich war es das, was zählte.

„Woher kommst du?“, bellte es plötzlich neben ihr. Ein komisch vernarbter Kerl schaute sie von der Seite an. Der war kein Junge mehr, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, daß er auch nicht so alt war, wie er auf den ersten Blick wirkte.

Einen Moment lang wirbelten die Bilder durch ihren Kopf. Wenn die wüssten, wozu sie in der Lage war – ob sie dann von denen gezwungen wurde, Dinge zu tun?

„Das kann ich nicht sagen,“ erklärte sie entschlossen.

Seine Augen wurden zu Schlitzen. Dabei hatte er ohnehin schmale Augen, fast schwarz waren sie und das rechte durch eine Narbe zusammengedrückt. Sein ganzes Gesicht sah irgendwie verschoben aus. „Du lügst doch!“

Ihr Herz begann zu hämmern. Sie biss sich auf die Lippen. „Das will ich nicht sagen,“ presste sie hervor.

Zu ihrer Überraschung lächelte er. Plötzlich sah sein Gesicht ganz anders aus. „Akzeptiert.“

Quendoline atmete auf, Fast zumindest. Sie traute sich gar nicht so richtig, die anderen anzuschauen, die hier um das Feuer standen. Sie sahen zu - anders aus. Es war ihr peinlich, daß sie diese Gesichter so irritierten. Was sollten die nur von ihr denken? Wenigstens das Gesicht des pelzigen Jungen war ihr vertraut. Er blickte während ihres Wortwechsels aufmerksam von einem zum anderen. Offensichtlich konnte er wirklich nicht sprechen. Er hatte sogar bewegliche Ohren, gespitzte Pelzohren, die aber an den Seiten seines Kopfes saßen, genau da, wo auch gewöhnliche menschliche Ohren platziert waren. Und er war auch bestimmt kein Tier, seine Augen blickten so wach, als verstünde er mehr, als mancher menschlich aussehende Mensch. Was waren das blos für Leute?

Wie sie für sie aussah?

Quen kam sich komisch vor in ihrer blauen Schulhose und der weißen Bluse.

Immerhin war es einigermaßen warm hier, von dem Feuer, das in der alten metallenen Mülltonne brannte. Die hier sahen nicht so aus, wie sie sich Straßenkids vorgestellt hatte. Natürlich wusste sie einiges über den vierten Bezirk. Über die Straßen, die niemand wollte. Niemand von den Erwachsenen. Die kaputten Gebäude und so. „Wölfe“ und „Drachen“ und „Tiger“ oder gar „Ratten“ nannten sich die Kinderbanden und so sahen sie auch aus. Und die hier?

Starrten sie an. Das Feuer brannte in einer Art kurzer Sackgasse. Eigentlich war es eher ein schmaler Hof vor einem zurückgesetzten Gebäude. Alles in diesem bröckelnden Backstein. Keine Fenster oder Türen, nur so etwas wie ein großer alter Müllcontainer, ganz hinten, hinter einem Gewirr aus glitzernden Fäden, silbrig wie Lametta und kreuz und quer wie wirre Spinnenfäden. Und während sie noch hinschaute, bewegte sich da etwas, kroch aus dem Kasten heraus. Es schob sich mit merkwürdig unbeholfenen Bewegungen näher, wie eine überdimensionale Raupe, ganz rosa sah es aus, schob sich ins Licht und Quen wurde schlecht.

Im ersten Moment wusste sie überhaupt nicht, wie sie das Etwas einordnen sollte. Eine riesige rosa Nacktschnecke? Das Rosa stammte nur zum Teil von einer Art Strampelanzug. Das was aus dem dicken Stoff hervor schaute, war beinahe genauso rosa. Mit komisch verquollenen Gesichtszügen wie die Karikatur eines Embryos. Tatsächlich, das sah aus wie ein Mund, wie Augenschlitze. Aber keine Augen - konnte es überhaupt sehen?

Und dann kroch es direkt auf sie zu. Auf ihren Fuß, berührte ihre blauen Wollhosen und schob sich ihren Schenkel hinauf, das rosa Quetschgesicht zu ihr erhoben. Waren das Stummelärmchen, die sich da nach ihr ausstreckten?

Quen streckte ihre Arme hinab. Sie brachte es einfach nicht fertig, es abzuweisen, dieses schrecklich mißgestaltete Kindchen. Das Wesen quietschte, tastete mit saugnapfähnlichen Gliedmaßen nach ihrer Haut und schmiegte sich an sie. Es fühlte sich – überraschend angenehm an. So sanft. Es fühlte sich schön an. Eine plötzliche Welle der Zärtlichkeit überrollte sie, hüllte sie ein wie ein samtener Mantel.

„Ach,“ seufzte Quendolin und streichelte sacht das blanke Köpfchen. Tatsächlich war die Haut so samtig, wie sie es erwartet hatte. „Du bist so süß!“ Das Kind öffnete strahlende regenbogenfarbene Augen, die vor ihrem Blick verschwammen. Aber ich weine doch nicht, dachte Quen, ich weine nicht. Nie.

„Hast du Hunger?“, fragte der seltsam Vernarbte mit seiner Reibeisenstimme.

„Ich hab´ heute schon gegessen,“ erklärte Quen und der – Junge? - nickte ernst. Irgendwie bekam sie das Gefühl, daß das auf die anderen hier nicht zutraf.

Der Vernarbte, sie hatte sich seinen Namen nicht gemerkt - oder hatte er in ihr noch gar nicht gesagt?, brachte von irgendwoher Konserven und Keksschachteln zum Vorschein. Das gepiercte Mädchen - genau „Spikes“ nannte sie sich, wie überaus phantasievoll – nahm ihr das Kind aus dem Arm und begann, es mit zerbröckelten Keksen zu füttern. Der pelzige Junge machte sich über eine Konservendose her, öffnete sie mit geschicktem Griff – und bot sie erst einmal den anderen an.

„Iß nur,“ sagte Spikes, „schließlich verträgst du keine Kekse.“

„Der verdammte Superstore hat ein neues Sicherheitssystem.“ knurrte der Vernarbte.

„Scheiße,“ kommentierte Spikes. Die anderen raschelten mit den Päckchen. Spikes starrte nach oben in die Dunkelheit, als könne da die Lösung für all die Probleme, von denen Quendoline noch nichts wusste, herab segeln.

„Jetzt ist sie seit einem Tag verschwunden,“ murmelte Spikes .

„Wir suchen morgen weiter,“ der Vernarbte berührte kurz ihre Schulter.

„Die Red Tigers rücken vor,“ wisperte eines der Wesen auf der anderen Seite des Feuers.

„Scheißkerle.“ Spikes wandte sich an Quendoline. „Möchtest du wirklich nichts essen?“

„Morgen wieder.“

Das stahlblitzende Mädchen wirkte erleichtert. Sie schenkte ihr fast so etwas wie ein Lächeln, so richtig erkennen konnte man das nicht, bei all dem Metall in ihrem Gesicht. Eigentlich sah sie gar nicht häßlich aus. Nur eigenartig. Eigen. Eigenwillig schön. Auf eine Art stark, die irgendwie weh tat. „Schmerz, Schmerz, Schmerz,“ sagten die all die Metallstifte und ebenso: „Mut. Mut, Mut.“

Das seltsame Kind schlich sich von Spikes´ Armen wieder zu ihr herüber, seidig und samtig und Quen versank fast in diesem Gefühl. So süß.

Was waren das nur für Leute?

 

Quendolin wusste nur eines: daß sie ihnen vertrauen konnte. Das konnte sie spüren, ganz tief in ihrem Bauch. Dort wo sie auch dieses andere Gefühl verspürt hatte, diese merkwürdig verstörende Leere, als sie zum ersten Mal dem begegnete, vor dem sie nun floh. Hätte sie nur damals auf ihr Bauchgefühl gehört! Aber wäre sie da wirklich bereit gewesen, ihr neues Zuhause zu verlassen, die weißen Rosen und die Himmelbetten, ihre Freundinnen und ihre des Lobes vollen Lehrer?

Nein, damals gewiss nicht.

Der Feind

Das Kind – Quendolin

 

Im ersten Moment glaubte sie, er sei gekommen um sie zu holen. Aber er würde niemals eine solchen Lärm machen. Ein solches Gebrüll. Hatte der doch gar nicht nötig,

Sie hatte ganz tief und friedlich geschlafen. In einer noch größeren Geborgenheit, als sie sie in dem Himmelbett mit den seidenen Vorhängen erfahren hatte. Seidig fühlte sich auch dieses Bettzeug an, in dem sie eng aneinander geschmiegt mit diesen Leuten lag. Im Laufe der Nacht waren noch weitere hinzu gekommen. Warm war es hier in dem ehemaligen Müllcontainer, ob von den Wärmeaggregaten, die irgendeiner von ihnen vermutlich irgendwann geklaut hatte oder ob irgendein wildes Talent dahinter steckte, vermochte sie nicht zu sagen. Nur, daß diese Geborgenheit in diesem Moment zerbrach.

Und sie hatte sich vor denen gefürchtet, mit denen sie sich nun in dieses Nest duckte. Die, die da draußen brüllten und gegen die Wände ihrer Zuflucht trommelten, das waren die, vor denen man sich wirklich fürchten musste. Sie rissen die Vorhänge zurück und herein drang nicht nur die Kälte des Nachtfrostes, sondern auch die Kälte von Menschen, die gelernt hatten, daß Gewalt das beste Mittel ist, um ein, sagen wir mal - akzeptables Leben zu führen.

Es waren nicht die grusligen Tattoos und Piercings und die stachligen Irokesenhaare, es war der Ausdruck in ihren zähnefletschenden Gesichtern, der sie zu Monstern machte.

„Na ihr Schluffen!“, schrie der, der ihr Anführer sein mochte. Größer und grausamer als all die anderen erschien er ihr. Zumindest war er der vorderste. „Was glaubt ihr wohl, wo ihr seid?!“ Die Rotte hinter ihm lachte kreischend. Fast wie hysterische Mädchen an einem aus dem Ruder gelaufenen Spiele-Abend.

„Was bildet ihr euch eigentlich ein – einfach so in unserem Revier rumzuhängen!“ Erneutes Gekreische belohnte seinen Humor. „Tja – was sollen wir nun mit euch machen, um Euch artiges Benehmen beizubringen??“ Er grinste in bösartiger Vorfreude. „Zeigt doch mal, was ihr da so habt – ihr Herzchen?“

In das erneute Gelächter mischte sich ein plötzliches Knurren. Etwas sauste an Quendolin vorbei.

„Nein!“, riefen sie und Spikes im selben Moment, als der Fremde auch schon ein Schnappmesser hervor schnellen ließ, auf das der pelzige Junge zu stürzte.

Und dann kam etwas ihnen allen zuvor. Es schoss aus dem Boden, Schnee stäubte. Das Messer wurde in einem Halbkreis abgelenkt und hinterließ eine rote Spur auf der Stirn des Fremden. Sein Wutschrei erstickte, als sich das, was sich zwischen sie geschoben hatte, im wahrsten Sinne des Wortes entfaltete. Quendolin sah Blätter und eine blaue Blüte, die sich in feine Fäden auflöst. Etwas wie eine Frucht schwoll darunter an. Ein Gewirr von Ranken mit messerscharfen Dornen schoss auf allen Seiten aus der Erde. Die Frucht formte sich zum Gesicht eines Mädchens.

Die Roten Tiger wichen zurück und rannten, wie sie vielleicht noch nie zuvor in ihrem Leben gerannt waren. Mit all ihrer Kraft, die sie zu gerne für anderes vergeudet hätten.

Tja.

„Blue?“, flüsterte Spikes neben ihr.

Der Stiel unter dem körperlosen Pflanzenkopf verdickte sich in rasender Schnelle. Plötzlich stand da eine junge Frau mit blauen Haaren.

„Blue!“ riefen die Freaks in ihrem Mülltonnennest und kletterten eilends aus der Spinnenseide.

„Blue!“ Allerlei sonderbare Arme streckten sich aus. Es dauerte eine ganze Weile, bis die geballte Wiedersehensfreude verebbte zu einem Moment der Stille, in dem sie es endlich bemerkten. Es war dunkel, die letzte Straßenlaterne hatte ihr Licht eingebüßt und selbst der Widerschein der Stadt am dunstigen Himmel erschien ihr schwächer. Aber das war es nicht. Es war das Geräusch, das eines von ihnen schließlich wahrnahm.

„Horcht!“ Es klang wie – ein entfernter, anschwellender Lärm.

„Das kommt vom Einkaufszentrum,“ behauptete ein Mädchen mit dunklen Locken und einer gräßlich deformierten Nase. Ihre Arme waren endlos lang und dünn, als hätte jemand sie einfach so in die Länge gezogen.

„Vielleicht ist das Sicherheits-System ja ausgefallen?“ überlegte der Vernarbte.

„Na dann – worauf warten wir?“, fragte Blue.

 

 

 

Die Andere - Amber

 

„Was willst denn du hier?“ Trotzki sah nicht sehr erfreut aus.

Hinter Amber jauchzte Clarissa „Es hat geklappt, es wirklich geklappt!“ Um sie herum tobte die Plünderung. Niemand hatte das Grüpplein bemerkt, das einfach so aus dem Schatten getreten war und Trotzki bemerkte zum Glück nur Jack, der unversehens vor ihm stand. Der oberste Aufrührer wirkte etwas zerzaust, ganz und gar nicht wie ein erfolgreicher Hacker und etwas mehr als leicht konsterniert.

„Was ich will?“, fragte Jack. „Na – günstig einkaufen! Wie hast du das nur hingekriegt?!“ Er wedelte begeistert mit den Armen, seine feuerroten Haare wuschelten unter dem Rand der Mütze nach allen Richtungen.

„Hingekriegt?“ Jetzt sag Trotzki auch noch etwas verwirrt aus. Doch dann glättete sich seine Miene. Jegliche Irritation wurde gleichsam ins Innere gesaugt und durch einen überheblichen Blick übertüncht. Er zog eine VVBrille aus seiner Jackentasche und hielt sie konzentriert vor sich hin. „Ach übrigens – Ernesto, weißt du noch?“

„Was denn?“

„Wir kennen uns nicht.“ Trotzki hob die VV in Augenhöhe, wie alle VVs hatte auch sie eine Kamera integriert.

„Schon kapiert!“, tönte Jack.

 

Derweil musste Amber feststellen, daß es praktisch unmöglich ist, ein anderes Ziel zu haben als eine zielgerichtet voran stürmende Masse. Es gab genau genommen zwei Richtungen: hinein und hinaus, die Leute stürmten den Eingang hinein und aus dem Ausgang wieder hinaus. Das war aber die einzige Ordnung, die von den Regeln des Supermarktes übrig geblieben war. Einkaufswägen gab es inzwischen nicht mehr, davon wurden gerade die letzten turmhoch bepackt aus dem Ausgang heraus geschoben. Alle Lichter des Supermarkts waren ausgefallen, genau wie seine Sichherheitssysteme. Aber die Plünderer hatten ihre eigenen Lichter dabei, viele trugen Stirnlampen und die Lichtstrahlen wirbelten und zuckten durch die brodelnde Menge. Der Lärm war unbeschreiblich. Dummerweise waren sie in der Nähe des Eingangs gelandet. Es war ihnen gelungen, ein paar Minuten vor der Aufnahme anzukommen, aber wenn sie es nicht bald zum Ausgang schafften, half der Vorsprung nicht mehr. Sie hielten sich dicht bei einander, während der Sturm an raffgierigen Ameisen sie aufsog und mit sich riss. Kurz vor dem Eingang gelang es ihnen, seitwärts auszuscheren. Der Weg zum Ausgang war frei und da kamen sie auch schon, die seltsamen Kids mit ihrer Beute. Aber Amber war es um das einzige Kind in der Meute zu tun, das nicht seltsam aussah, wenn man einmal von der Schuluniform absah, die den Kindern der Eliteschule im ersten Bezirk vorbehalten war. Dieses Gesicht, das nur einmal kurz aufgeblitzt war im Hintergrund der Aufnahme, mit der Trotzki das stadteigene System gehackt hatte. Es war verändert, und doch hatte sie es erkannt. Clarissa verstand sie, sie war dabei gewesen, aber den anderen hatte sie kaum erklären können, warum sie dieses kleine Mädchen unbedingt sehen wollte. Nur dieses merkwürdige Gefühl der Dringlichkeit, das sie selbst nicht wirklich verstand, das hatten sie begriffen. Und so kämpften sie sich nun gemeinsam durch den Sturm der ersten Plünderung in New Eden und als sie endlich am Ausgang anlangten, waren die seltsamen Kids in der Dunkelheit verschwunden.

„Ich weiß, wohin sie laufen!“, rief Clarissa an ihrem Ohr. „Ich habe diese Freaks schon einmal gesehen!“

Und damit schloss sich ein Kreis.

 

 

Im weiten Umkreis um den Supermarkt waren die Straßenlaternen ausgefallen. Auch die Lichter in den Häusern brannten nicht mehr. Es wurde schnell still auf dem Weg, auf dem sie liefen. Nur ihr eigener keuchender Atem war zu hören und die seltsam unregelmäßigen Schritte der Gruppe vor ihnen. Hörten sie sie kommen? Hielten sie sie für andere Plünderer oder glaubten sie sich verfolgt?

Das Gefühl der Dringlichkeit wuchs. Amber war froh, nicht allein zu sein. Noch nie zuvor hatte sie die Anwesenheit der Anderen so stark gespürt. Clarissa in ihrer Kampfmontur unter dem unauffälligen Mantel, dünner Hightec-Panzer und Waffengürtel, die Amazone, die auflebte, wenn sie Gefahr spürte. Sie lief dicht neben ihr, auf ihrer anderen Seite spürte sie Kirans Wärme, in der sich ihr inneres Leuchten spiegelte, dieses Leuchten, das sie ihr ganzes Leben lang unsichtbar getragen hatte. Jack, der die Nachhut bildete und der niemals seine Freunde im Stich ließ.

Dunkel und kalt war es um sie, nur der Widerschein des Lichtdunstes über der Stadt ließ schwach die Straßen erkennen. Sie fühlten sich leerer an, je weiter sie kamen, als brenne in den Häusern, die sie säumten, auch zu anderen Zeiten kein Licht. Der Asphalt unter ihren Füßen wurde bröckelig, sie stolperten beim Laufen. Die unregelmäßigen, vielfüßigen Schritte vor ihnen wurden schneller, sie wähnten sich wohl von ihnen verfolgt, aber Amber fühlte, daß es da noch etwas anders zu fürchten galt. Die eisige Luft hinterließ einen schmerzenden metallischen Geschmack in ihrem Rachen.

 

Als es geschah, bekam sie es im ersten Moment gar nicht mit. Sie hörte ein hohes Geräusch und dann flog ein heller Körper zur Seite, im selben Moment, in dem sie Kirans Bewegung spürte, plötzlich duckte er sich weg, schnellte hoch, oh, auch er hatte in den Bat-Teams trainiert, und dann geschah das selbe rechts von ihr, ein heller Körper wurde zur Seite geschleudert, Sie sah, wie Clarissa vor sie sprang, mit erhobenem Arm. Ihr Flutlicht leuchtete auf und erhellte die mit Schutt übersäte Straße inmitten der zerfallenden Backsteinfassaden. Vor ihnen stand die dicht an einander gedrängte Gruppe, die Augen schreckensgeweitet in den menschenähnlichen Gesichtern.

„Amber!“, rief sie und das Mädchen in der Schuluniform inmitten der Gruppe wandte sich ihr zu und im selben Moment sprang er aus den Schatten. Ein großer weißer Wolf mit grauweiß gezeichneter Maske im grausam schönen Gesicht und blitzenden eisblauen Augen, in Sekundenbruchteilen sprang ein weiterer, noch einer und noch einer und noch einer, von allen Seiten stürmten sie heran. Clarissa hob beide Arme und es war Clarissas Kraft, die sich mit der ihren verband und mit der sie nach all denen griff, die zu ihr gehörten, zu ihr und der grünen Kraft, die aus dem träumenden Herzen der Stadt quoll.

Es war, als flögen sie auf dem Schrei des Mädchens dahin und als der Schreckensschrei verklang, waren sie angekommen im Gold des Gartens.

 

 

Die Andere - Amber

 

Aber sie kam nicht dort an, wo sie es erwartet hatte. Sie flog diesem Mädchen entgegen, das nicht das Mädchen war, das sie gesucht hatte. Und doch kannte sie sie. Sie war das geheime Zentrum der Gruppe, diese junge Frau mit dem nachtblauen Haar, so schillernd wie Pfauengefieder, selbst ihre Augen changierten im goldgesäumten Grünblau einer Pfauenfeder. Amber fing sich in diesen Augen. Sie war so schön, daß es schmerzte, eine blauhaarige Tinkerbell.

Hier waren nur sie beide, schwebend im Gold der anderen Welt.

„Wer bist du?“, flüsterte es. Die andere hatte es gesagt, nicht sie.

Amber wusste nicht, was sie hätte antworten können, doch in der Tiefe dieser schimmernden Augen entdeckte sie ihr eigenes Geheimnis. Es war das Leuchten, das sie immer in sich getragen hatte und sie hatte es geöffnet in dem Moment, indem sie den Mut gehabt hatte, es zu erkennen. Und damit hatte sie es zu einem Raum werden lassen, einem wachsenden Raum aus dem Leuchten, das unerkannt im Innersten aller Menschen schlummerte.

Statt einer Antwort fasste sie die Hände der jungen Frau. Kalt waren sie, schmal und sehr menschlich. Doch die Kälte schwand in dem Leuchten, das aus ihr heraus flutete und dann sank Amber in das, was sie vor sich erspürte. Sie sank in grüne Ranken, die durch das Innere der Stadt drangen, nach ihren Träumen tasteten und aus ihren Träumen wuchsen. Ihr Kern war die Seele dieser jungen Frau und dies war weit mehr als die Verschmelzung einer mutierten Pflanze mit einem Wilden Talent. Jetzt, da sie sich berührten, wurden sie zu einem neuen Raum des Möglichen.

Plötzlicher Neid erfüllte sie, vor der Tiefe dieser Verschmelzung, all dieses grüne, wachsende Sein, in das die andere sich hatte fallen lassen. Absolut. Bedingungslos.

War die Andere denn jetzt nicht gefangen in dieser Pflanze? War sie denn überhaupt noch ein Mensch?

Aber sie fand nur Geborgenheit in der dunklen Tiefe zwischen den Welten und eine vertraute Sehnsucht, die sich wandelte in all dem werdenden Sein. Sie glich ihrer eigenen Sehnsucht im Netz der Ängste. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, zu wem der Schmerz gehörte, der sie hielt, dann spürte sie die schmalen Hände des Mädchens an beiden Seiten ihres Gesichts. Die schillernden Augen berührten sie. Die Süße ihrer Lippen schmeckte nach jungem Grün. Da wusste sie, daß sie verloren war und gefunden.

 

 

Die Heldin – Clarissa

 

Inzwischen war ihr der Moment vertraut, in dem sich die Kraft Ambers öffnete und sie hinüber nahm in die Geborgenheit der anderen Welt. Nur daß ihr diesmal der Ort, an dem sie sich wiederfanden, nicht vertraut war. Im ersten Augenblick war sie sich gar nicht so sicher, ob sie wirklich dort angekommen waren. Gewiss, sie hatten die Angreifer hinter sich gelassen – den Angreifer. Es war nur ein Wolf gewesen, wie sie jetzt erkannte, ein Wolf, der wieder und wieder angriff, ein Zeitläufer. Nun umgab sie wieder das vertraute goldene Licht und sie erkannte das dunstige Blau des Himmels über sich. Aber die Topografie ihrer Umgebung war noch genau die gleiche, es waren die selben kantigen Formen der zerfallenden Häuser des vierten Bezirks, die selbe Straße, die selbe freie Fläche, auf der sie standen. Nur mit dem Unterschied, daß alles vollkommen von einer Kletterpflanzen überwuchert war. Die Gebäude zumindest. Es war kein Fleckchen Backstein mehr zu sehen, nur verschlungene silbrig bepelzte Ranken mit großen, sattgrünen und golddurchglühten Blättern. Hier und da glaubte sie gar, Knospen zu entdecken. Nur auf dem Boden gab es freie Flächen. Dort war allerdings auch kein Straßenbelag zu entdecken, nicht einmal bröckelnder, sondern nur weiteres – grünes Zeug.

Es war befremdlich. Der vierte Bezirk, der Inbegriff des Niedergangs, erobert von der Invasion einer grünen Monströsität. Ein unfassbares Knäuel bepelzter Würgeschlangen. Und diese tellergroßen Blätter. All das bildete den nur allzu passenden Rahmen um das Grüppchen, das Amber diesmal mit ins Refugium verfrachtet hatte.

Meine Güte, das waren ja die Freaks, die sie neulich aufgestöbert hatte. Clarissa sah behaarte, geschuppte und fleckige Gesichter mit geschlitzten Pupillen, entdeckte verkrüppelte Hände und verzerrte Gliedmaßen. Beinahe wünschte sie sich zurück in den Kampf mit dem Gestaltwandler. Aber auch der hatte dieses unbehaglich Vertraute gehabt.

Moment – ein Gestaltwandler? Wieso denn Gestaltwandler?

Nunja, diese Augen ...

Fast, als würde ihr eigener Schrecken laut, gellte in diesem Moment ein weiterer Schrei auf. Eine Gestalt in der Gruppe sackte vornüber, die Hände vor das Gesicht geschlagen. Es war die am gewöhnlichsten wirkende Person, dieses kleine Mädchen in der selben Schuluniform, wie sie Clarissa selbst einmal getragen hatte. In dieser Umgebung wirkte die umso deplazierter. Auch dieses Kind kannte sie und kannte es doch nicht.

„Es ist meine Schuld!“, schluchzte das Mädchen. „Es ist alles nur wegen mir!“ Das Rudel verzerrter Gestalten scharte sich blitzschnell um sie. Groteske Köpfe wurden herangeschoben. Eines der Geschöpfe strich mit unnatürlich langgezogenen Armen unbeholfen über den Rücken der Hingekauerten.

Das waren ja Kinder, erkannte Clarissa plötzlich, verstümmelte, mißbrauchte Kinder, die nach Geborgenheit suchten.

„Du bist jetzt in Sicherheit.“ versicherte die Größte in der Gruppe, die mit dem schillernddunklen Haar. Jetzt erkannte sie auch diese Person. Das war doch Blue! Blue, der Freak aus dem vierten Bezirk. Sicher es gab immer mal wieder Talente aus dem vierten Bezirk, man sollte es nicht glauben, da gab es schließlich keine öffentlichen Schulen, die die Talentester aufsuchen konnten. Aber diese Blue mit ihren tintenblauen Schillerhaaren war doch zu schräg gewesen. Fast hatte sie aufgeatmet, als klar wurde, daß es keine „Heldengabe“ war, die sie auszeichnete. Falls sie überhaupt eine nennenswerte Fähigkeit besaß. Hätte sie ihr Schulgeld dann nicht mit bürgerlicher Arbeit abzahlen müssen?

Was hätte sie selbst eigentlich gemacht, wenn ihre Kräfte als ungenügend eingestuft worden wären, fragte sich Clarissa und eine plötzliche beißende Scham schoss in ihr empor.

„Amber hat uns in Sicherheit gebracht! In unser eigenes Land!“, rief jetzt Blue. Richtig, die stand neben ihr, ihre Amber stand jetzt neben Freak-Blue.

„Siehst du,“ zwitscherte das Wesen mit den grotesken Gliedmaßen, „Du bist schuld an etwas Gutem!“ War das eine Nase, was es da im Gesicht hatte – oder das Fehlen einer Nase?

„Aber das war der Wolpertinger – der Dr. Wolpertinger!“ klagte das Mädchen. „Ich weiß genau, daß er das war! Ich kenn´ doch seine Augen, das waren seine Augen! Und jetzt weiß ich es endlich – er ist ein Wolf! Ein böser Wolf!“

Ihre Worte fielen in eine plötzliche atemlose Stille, die gleich darauf in eine aufbrandende Woge von tierischen Lauten mündete. „Was hat er denn mit dir gemacht?“ quietschte eine Stimme, als das Knurren, Fiepen und Jaulen abebbte.

Das Mädchen von der Bat-Akademie barg erneut ihr Gesicht in ihren Händen. Amber kniete sich hinab zu ihr. „Er wollte, daß ich mit ihm in die Vergangenheit schaue. Und dann musste ich auf jemanden schießen!“, schrie das Kind.

„Auf wen denn?“, fragte jetzt eine andere Stimme, ein dunkle, sanfte Männerstimme.

„Auf diesen netten Mann! In dem komischen kleinen Häuschen, das wie ein Pilz aussieht!!“

„ Den Pavillion am Paradise Port?“, fragte Amber.

„Alles nur wegen mir!“, schrie die qualerfüllte Kinderstimme.

„Aber das war doch ich!“, rief die Männerstimme und jetzt sah sie, wie Kiran vortrat. „Ich war das!“

Das Mädchen hob ein tränenverschmiertes Gesicht. „Du bist nicht tot?“

„Nein,“ versicherte der, der gar kein arroganter Batman war, sondern ein goldener Mann mit warmen Augen. „Ich hatte einen Hightec-Panzer unter meinem Mantel an!“ Jetzt waren die Freaksgesichter allesamt ihm zugeneigt. Er kniete sich hin. „Der Schlag hat mich befreit. Schau doch - jetzt bin ich endlich wieder ich selbst!“ Er breitete die Arme aus. Vor ihm öffnete sich eine Gasse im Knäuel und das Mädchen stürzte sich mit einem schluchzenden Laut an seine Brust. Amber umfing sie von der anderen Seite und gemeinsam wiegten sie das weinende Kind wie ein endlich vereintes Elternpaar. Richtig – das Kind war Amber ja wie aus dem Gesicht geschnitten! Das groteske Knäuel schloss sich um sie.

Clarissa wurde schlecht. Da wandte sich eines der Gesichter ihr zu, meine Güte, dieser zerknautschte rosa Embryo, den sie hinter dem Feuerschein gesehen hatte, im Sonnenlicht sah das Ding noch viel grausiger aus. Irgendwie noch immer undeutlich. Vielleicht trauten ihre Augen aber auch nur ihrer Wahrnehmung nicht mehr. Ehe sie zurückzucken konnte, hatte es schon ein Ärmchen ausgestreckt wie einen plötzlich ausfahrenden Molluskententakel, aus dem sich Stummelfinger stülpten, die ihren Arm berührten, ihre nackte Haut, genau da, wo sie aus ihrem Ärmel hervorragte.

Eine Woge von Zärtlichkeit überflutete sie und New Edens Whamm-Girl sank schluchzend in das bepelzte, befiederte Knäuel.

 

 

Das Kind – Quendolin

 

Alles war gut.

Wenn man mal davon absah, daß draußen noch immer der Wolpertinger auf sie lauerte und sie nicht zurück konnte zur Schule und zu ihren Freundinnen. Was die jetzt wohl dachten?

Aber halt, das war ja noch gar nicht. Dies war die Zeit der Unruhen und Quendolin Findel besuchte gerade die Unterstufe der Bat-Akademie, unbehelligt von Ahnungen und Alpträumen.

Gruselig.

Aber sonst war alles wundervoll. Im wörtlichen Sinne: Wunder-voll.

Sie saß an einem weiß gedeckten Tisch genau zwischen dem nettesten Mann und – dieser Frau. Und der Mann war der Batman gewesen und kein bißchen tot sondern sehr lebendig und sie durfte Kiran zu ihm sagen, geradeso, als sei er ihr älterer Bruder. Also war sie keine Mörderin und alle waren nicht nur in Sicherheit sondern auch an diesem tollen Ort, wo das magische Mädchen Blue einen ganzen Tisch aus dem Boden wachsen lassen konnte – und Sitze dazu! In einer Stadt aus Blättern! In einem grünem Dschungel aus Blättern – aber eben in Form einer Stadt und das war – wow. Die Kids hatten den Tisch gedeckt und Sylvie hatte sogar einen Pullover für sie mitgehen lassen, aber den brauchte sie jetzt nicht mehr, denn hier war es warm. Sylvie war das wahre Bat-Girl und wenn man sie richtig ansah, dann erkannte man, wie schön sie in Wirklichkeit aussah und daß ihre Nase ein eleganter Kringel war in einem lieben Gesicht. Die Kinder hier waren noch seltsamer als sie. In ihrer alten Schule hätte man sie nicht nur mit bösen Worten beworfen. Allein deswegen war sie entschlossen, sie zu mögen. Außerdem passten sie hier anscheinend viel mehr aufeinander auf als selbst in ihrer neuen Schule. Deshalb würde sie schon gerne zu ihnen gehören. Aber ob sie dazu überhaupt seltsam genug war?

Hier saßen sie nun und aßen lauter leckere Sachen, alles aus dem Supermarkt geklaut. Und sie war dabei gewesen, beim Beginn der Unruhen.

„Dr. Wolpertinger,“ sagte jetzt – diese Frau neben ihr, „das klingt wie ein schlechter Witz.“

Genau, lustig war der nämlich nicht, dieser Wolpertinger.

„Aber warum denn?“. fragte zum Glück das Whamm-Girl. Jawohl, sie saß jetzt mit New Edens Whamm-Girl an einem Tisch. Und dem Batman. Dem gewesenen und nichtmehrseinwollenden Batman.

„Ein Wolpertinger ist so eine Art Sagen- oder Witzgeschöpf. Es ist etwas, das man sich aus den Teilen verschiedener Tiere zusammenbaut,“ erklärte die Frau. Blue hatte sie „Amber“ genannt.

Schlagartig hörten alle auf zu kauen. Außer Quendolin, die dann aber hastig schluckte.

„So etwas wie ein Mantikor?“ Das war Blue, die da das Schweigen brach. Die Frau aus der Pflanze. Wenn sie daran dachte, wurde ihr ganz schwindlig.

Amber nickte.

Kiran legte den Hähnchenschlegel, von dem er abgebissen hatte, wieder auf das Folienknäuel, das ihm als Teller diente. Sein Kinn sah ganz eckig aus, so fest presste er die Lippen aufeinander.

„Was ist?“, fragte Amber.

„Jetzt verstehe ich das endlich!“, erklärte Kiran. „Das Mantikor-Projekt!“ Sein Blick glitt über die Gesichter, der um den Tisch Versammelten. „Wie konntet ihr entkommen?“

Seltsamerweise blickten alle auf den vernarbten Jungen. „Es gab – Hilfen,“ erklärte der vage und schaute Sylvie an. Sylvie lächelte.

„Entschuldigt mich für einen Moment.“ Kiran stand vom Tisch auf und verschwand zwischen den Schlingpflanzen.

„Was hat er denn?“, fragte Quen. Ihr war schwindlig. Mantikor? Sie wusste nicht, was ein „Mantikor“ war.

„Er muss ein wenig drüber nachdenken, was seine Spießgesellen alles angerichtet haben,“ kam eine Antwort aus einer unvermuteten Ecke.

„Jack!,“ sagte das Whamm-Girl zu dem rothaarigen Kerl. „Er ist genausowenig wie ich dazu angetreten, unschuldige Kinder zu quälen!“

„Dann solltest Du vielleicht mal überlegen, ob Du Dich weiterhin mit denen gemein machen willst, die davor nicht zurückschrecken!“ blaffte der Rothaarige.

Das Whamm-Girl starrte ihn zornig an. „Da fass dich mal besser an deine eigene Nase!“, fauchte sie. „Groß genug ist sie ja dazu!“

Jack wurde fast so rot wie seine Haare. Und die leuchteten!

„Du hast tolle Haare!“, sagte Quendolin zu Jack.

Der schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Da siehst du, manche wissen meinen Charme durchaus zu schätzen!“, bemerkte er zu dem Whamm-Girl an seiner Seite. Hatte sie doch gewusst, daß der lustig war - mit einer solchen Kasperle-Nase … Aber dann verstand sie das alles. Mantikor. Wolpertinger. Projekt. Man würde keine Stücke von Tieren zusammensetzen – aber Gene schon. Sie war gut in Bio. Und wer könnte wohl so etwas machen? Wo gab es denn Genetiker und Ärzte und so … Also war nicht nur dem Dr. Wolpertinger nicht zu trauen!

„Meinst Du denn, daß ich auch nicht mehr auf die Bat-Akademie gehen sollte?“, fragte sie diesen Jack.

Der schaute sie verdutzt an. „Naja – es ist immer gut zu wissen, was der Feind so drauf hat,“ erklärte er dann.

Der Feind?!

Jetzt mochte sie auch nichts mehr von den leckeren Sachen. Jetzt wusste sie nicht mehr weiter. Da spürte sie plötzlich wie eine warme Hand ihren Arm berührte.

„Komm,“ flüsterte diese Frau ihr zu, „wir reden ein bißchen.“

Quen war so verwirrt, daß sie einfach mitging.

 

Sie mussten nicht weit gehen, bis es still wurde. Ein bißchen hatte Quendolin den Verdacht, daß die Blätterstadt sich veränderte, wenn man ihr den Rücken zukehrte. Es machte sie noch geheimnisvoller. Sie fühlte sich bereits wohler. In dem warmen goldenen Licht war es schwierig, unglücklich zu sein. Sie setzten sich in eine Blätterlaube auf eine Bank aus verflochtenen Ranken.

Quen schaute die Frau erwartungsvoll an. Bernsteingoldene Augen hatte sie, mit winzigen grünen Punkten darin. Wie passend. Sie merkte, wie ihr Herz, das sich vor Schreck ganz zusammen geknäuelt hatte, sich wieder ausstrecken wollte nach der Wärme, die Ambers Augen ausstrahlten. Auch die Wärme der Hand, die die ihre hielt, versprach Hoffnung. Gleichzeitig wurde ihr ganz seltsam. Etwas an der Frau war seltsam. Und dann ihr Name, der war nicht gerade häufig in New Eden. Quendolin hatte genau genommen noch niemanden getroffen, der so hieß. Niemand anderen. Amber lächelte sie an.

„Weißt du, Jack sieht die Dinge ein bißchen sehr schwarz-weiß.“

Quendolin ahnte einen Ausweg, auch wenn sie nicht verstand, worauf die Frau hinaus wollte. In ihr begann es wieder zu strudeln, als habe ihr Aufatmen alles wieder vom Grund aufgewirbelt, während darüber ihre Gedanken angefangen hatten, glatt und ruhig zu werden in der sonnengoldenen Wärme. Vielleicht waren gar nicht alle von den Bat-Garden böse? Vielleicht war es nur der Wolpertinger? Aber er konnte das alles doch nicht allein gemacht haben!

„Jack teilt gerne alle Menschen in Gut und Böse auf,“ erklärte die Frau.

„Kann man das denn nicht?“ Dieses „Mantikor-Projekt“ - was hatten die denn da nur mit den Kindern gemacht? Ein Genetic-Forming mit Tiergenen? Man konnte Menschen doch nicht wie Puppen behandeln, bei denen man die Arme und Beine und Köpfe abschraubte und umsetzte!

„Was ist denn böse?“, fragte die Frau.

Als ob das nicht klar wäre! „Naja, wenn man anderen weh tut.“

„Gut, nehmen wir das als Definition. Damit wir wissen, daß wir beide das selbe meinen. Das ist nämlich gar nicht immer sicher. Du sagst: Wenn man anderen weht tut. Das ist dann das, was die Person tut. Aber trotzdem kann man nicht in sie hinein schauen und wissen, warum sie es tut. Wenn hier im Gras ein Käfer sitzt und du trittst auf ihn drauf, dann bist du für die Käfer das Böse.“

Quendolin nickte. „Man kann nicht immer wissen, ob man jemandem weh tut. Man kann jemanden umrennen und dann fällt die andere hin und das Knie tut weh und der Lieblingsfarbstift ist zerbrochen.“

„Habt ihr denn echte Farbstifte an eurer Bat-Akademie?“, staunte die Frau.

„Nein. Das ist es ja eben! Okey, man kann nicht immer wissen, ob man jemandem weh tut. Aber man kann es wissen wollen!“

„Was hast du dann gemacht, nachdem du die andere umgerannt hattest?“

„Ich habe ihr einen Gefallen versprochen – und jetzt ist sie meine beste Freundin!“

„Das hast du getan, weil du wusstest, was du tun musst, um es wieder gut zu machen. Aber was wäre, wenn an dieser Schule immer alle mies zu dir gewesen wäre und dieses Mädchen ganz besonders?“

„Blöde Kuh, geschieht ihr recht!“

„Siehst du! Für manche Menschen gibt es von Anfang an nur Schläge, oder zumindest so viele, daß sie der Ansicht sind, es gibt entweder Schläger oder Geschlagene und wenn sie keine Geschlagenen sein wollen ...“

Ohja, das kannte sie. Und sie wusste auch, wie sich das anfühlte. Nur das sie nie ein Schläger hätte sein wollen. „Die leben dann in einer Welt voller Feinde. Oder Fremder.“ Aber zuschlagen hätte sie schon manchmal wollen, oh ja.

„Oder weniger Vertrauter innerhalb einer Bedrohung. Oder, oder – oder ...“ Die Frau deutete weitere Möglichkeiten an, aber Quen ging ganz etwas anderes durch den Kopf. „Aber was mache ich, wenn jemand auf mich losgeht, wie der Dr. Wolpertinger?“

„Dann musst du dich wehren.“

„Und wenn ich den Wolpertinger tot schieße?“

„Wenn er dich angreift und du hast eine Schußwaffe und drückst ab und er fällt um – naja, das war denn Notwehr. Aber traurig ist es trotzdem.“

„Bin ich dann böse?“

„Nein.“

„Aber du sagst, es ist traurig?“

„Ja, daß es soweit kommen muss. Und es ist traurig für den Wolpertinger, daß er es soweit gebracht hat.“

„Und wenn ich weiß, daß er etwas vorhat, das ganz viele Menschen unglücklich machen wird?“

„Glaubst du, daß es keine anderen Möglichkeiten gibt, ihn aufzuhalten, als ihn zu töten? Sollte das nicht immer das letzte Mittel sein? Du weißt ja nicht, warum er das alles tut.Vielleicht hält er sich ja für den Guten?“

„Und wenn es keine andere Möglichkeiten gibt?“

„Weißt du, es gibt nicht immer die perfekte Antwort. Du kannst nur das tun, was du im Moment für richtig hältst. Im Nachhinein kann es sich herausstellen, daß es bessere Möglichkeiten gegeben hätte. Oder auch nicht. Das Leben ist immer einzig, jeden Moment.“

Merkwürdig, sich vorzustellen, daß der Wolpertinger ein Mensch war wie sie. Ob er auch manchmal Angst hatte?„Dann kann man also gar nicht sagen, ob jemand wirklich böse ist?“

„Ich glaube gar nicht an Gut und Böse. Ich glaube, daß Menschen im Innersten alle das selbe wollen, nur manche wissen nicht mehr, wie sie es erreichen können.“

„Was wollen denn alle in ihrem Innersten?“

„Sicherheit, Geborgenheit, genug zu essen, lieben und geliebt sein.“

„Glücklich sein!“

„Glücklich sein.“

„Was würdest du denn sagen, was das ist, glücklich sein?“, fragte Quen vorsichtshalber, schließlich hatte Amber gesagt, daß man aufpassen muss, ob man immer auch dasselbe meint!

„Hm – wenn das Herz weit wird und die Seele Flügel bekommt.“

Quendolin hielt einen Moment inne. Ja, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen lachte – dann war ihr Herz ganz weit. Und nicht nur das, dann tanzte es. Und vor ein paar Tagen, als sie morgens das Fenster aufgemacht hatte und der Himmel war doch tatsächlich voller dahinsausender Wolken gewesen, da hatte sie fliegen können, innen drin. Ja, das ging, aber dazu brauchte es doch gar nicht viel. Und ehe sie es sich versah, hatte sie das auch gesagt. „Aber geht das nicht auch einfach so?“

Amber nickte. „Ja, wenn man es zulässt.“

Wie meinte sie denn das jetzt wieder? Egal, sie konnte es ja ausprobieren, hier, auf der Stelle, in diesem anschmiegsamen, schwingenden Sitz aus lebenden Ranken. „Liebes Herz, du darfst jetzt weit werden,“ erklärte Quendolin feierlich. „Liebe Seele, du darfst jetzt deine Flügel ausbreiten.“ Sie wartete. Die Blätter um sie schimmerten goldgrün, der Pelz an ihren Stielen silbrig und Amber schaute unverändert freundlich. Auch sonst blieb alles gleich. „Hm, ich weiß nicht … Bist du sicher, daß das so funktioniert?“

„Vielleicht musst Du das anders machen, mit der Erlaubnis. Mehr innen. Fühl´ mal in dich rein.“

„In mein Herz?“

„In dein Herz.“

„Oh, die Sonne scheint und die Blätter halten ihre grünen Hände über uns, und wir sitzen hier und es ist ganz friedlich und du bist so klug ... ohhhh.“ Boah, das war – sie rutschte ja in ihr Herz hinein, wenn sie innerlich da hin fühlte und da drin – war es viel größer, als es von außen schien. Ganz weit. Dabei fühlte sich ihr Herz manchmal von außen an wie ein ganz zusammengeschrumpfter kalter Klumpen. „Aber geht das auch, wenn man traurig ist?“ Als wäre ihre Frage ein Stein, der in der Tiefe versank und etwas berührte, tauchte die Antwort auf. „Oh, ja! Das ist dann anders, aber wenn man das Traurige, als ob es ein kleines Baby wär, ganz innen in den Arm nimmt – ja.“

Amber strahlte. Sie hatte Sommersprossen. „Siehst du. Du bist auch klug.“

Jetzt schaute Quendolin sie ganz genau an. Und da wurde ihr wieder so seltsam. Furchtsam und sehnsüchtig und traurig und froh, alles gleichzeitig und alles durcheinander. Ihr war, als müsse sie sich an etwas erinnern, aber sie wusste nicht, an was. Sie hatte schreckliche Angst, herauszufinden, was es war und wollte es doch mehr als irgendetwas.

Sie holte tief Luft. „Wer bist du?“

 

Erkenntnisse

Das Kind

 

Amber lauschte angestrengt.

Es war alles still. Seit Stunden herrschte Stille. Noch.

Sie konnte nicht hinaus. Ihr Vater hatte die Schlüssel mitgenommen. Sogar die Fenster hielt das E-System geschlossen.

Wie gerne wäre sie jetzt in der Schule gewesen. „Blindy, Blindy, Vierer-Kindy, armes Aa-.“ Wie gerne hätte sie selbst diesen Singsang gehört. Alles war besser als diese Stille, diese dröhnende Stille, die selbst ihren Namen verschlang.

Wie gerne wäre sie jetzt an ihrem Platz in der Schulmensa gesessen, diesem Platz, an dem sie stets ganz allein saß. Unbehelligt, so lange die anderen noch zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt waren um nach dem Objekt zu sehen, an dem sie ihren wie auch immer gearteten Frust ablassen konnte.

Die seien unglücklich, hatte ihre Mutter gesagt, deshalb seien sie so. Amber hatte aber nicht den Eindruck, daß die anderen unglücklich waren.

„Armes Aaa-“

Wenigstens vertrieb die Erinnerung an diesen ewigen Singsang die Stille aus ihrem Kopf. Amber, das Aa-, die einzige, die einfach so am Checkpoint vorbei ging. Weil sie nämlich nichts abzugeben hatte. Die einzige, die mit nackten Augen wieder hinaus spazierte, während die anderen grinsend durch ihre VVs in ihre Abenteuerwelten lugten.

Amber hatte keine Ahnung, wie die Welt durch eine Vision View aussah. Das, was für alle anderen selbstverständlich war, blieb für sie unerreichbar. Für die anderen war sie die Andere, so gut oder besser so schlecht wie eine aus dem vierten Bezirk, diesem Bezirk, in den ihr Vater all sein sauer verdientes Geld trug, um sich den illegalen Fusel zu besorgen. Alkohol gab es für die Bürger des dritten Bezirks nur auf Lizenz – zu besonderen Anlässen.

Der vierte Bezirk, in dem sie über kurz oder lang landen würde. Bei den Outlaws, in der Wildnis, in den Ruinen aller Hoffnungen.

Vielleicht schon heute. Vielleicht wäre der Schlüssel, den sie irgendwann hören würde, gar nicht der ihres Vaters sondern der des Räumungskommandos der Eden Gesellschaft. Die Frau im Treppenhaus hatte das gesagt. „Was, die Wohnung im siebten habt ihr? Kann dein Vater das denn auch bezahlen? Nicht daß das Räumungskommando der Eden Gesellschaft kommen muss!“ Und wie die sie angekuckt hatte. Blos weil sie keine VV-Brille auf hatte. Amber versuchte sich das Räumungskommando vorzustellen. Ob die auch Gesichtsschilde hatte wie die Stadt-Garden? Ob sie die Wohnung „stürmen“ würden? Was wäre dann mit ihren Sachen?

Immerhin hatte sie dann schon alle möglichen Kleider übereinander gezogen. Amber kauerte in ihrem Bett, sie hatte auch noch ihre Decke um sich herum gewickelt, aber warm wurde ihr trotzdem nicht. Es war eiskalt hier. Strom und Heizung waren heute Morgen schon abgestellt gewesen. Zum Glück lief das Wasser noch, da konnte sie wenigstens etwas trinken. Und auf die Toilette gehen. Sie hatte sogar noch ein paar Kekse gehabt, in ihrem Versteck. Mrs. Jones hatte ihr die mal zugesteckt, Komisch, wo die doch so ein Drache war. Sie hatten schon etwas muffig geschmeckt, aber immerhin.

Selbst das blöde Algen-Zeug in der Schulmensa hätte sie jetzt zu gerne gehabt. Aber – es waren Weihnachtsferien. Niemand würde sie vermissen. Die anderen bräuchten gerade niemanden, um ihren Frust abzulassen, die wären zu sehr beschäftigt mit Geschenke aussuchen und die Lehrer würden ihre abschätzigen und ihre wohlwollenden Blicke in ihren Aktentaschen verstauen bis zum neuen Jahr. Und das System hielt seine elektronischen Augen geschlossen und würde erst dann wieder mit Schülerzählen anfangen.

Draußen glitzerten die Adventslichterketten, während hier drinnen die Dunkelheit tiefer wurde.

Weihnachten war es auch gewesen. als ihre Mutter gestorben war.

Vielleicht waren die anderen doch frustriert. Daß sie nicht so schön waren wie die Kinder in den VisionWalks, diese Kinder aus dem ersten Bezirk, die ihr erstes Genetic Forming schon vor der Geburt bekamen. Und daß sie immer noch auf dieser Schule waren, nicht auf einer der Hochbegabten oder Sonderbegabten. Die Sonderbegabten mit ihren unheimlichen Fähigkeiten, deren Formel die Genetiker noch immer nicht entschlüsselt hatten.

 

Mit einem Mal zerbarst die Stille.

Da war es, das Geräusch, vor dem sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte.

Die Wohnungstür wurde geöffnet, jemand polterte herein. Das erste, was sie hörte, war ein gemurmelter Fluch. Und dann, nach einem winzigen Moment der Stille, brach das Brüllen los.

Amber sprang aus dem Bett. Das wenige Licht, das durch ihr Fenster fiel, ließ sie gerade noch die Türklinke erkennen, unter die sie die Lehne ihres Stuhles geschoben hatte.

Das Brüllen und Poltern toste durch die Wohnung. Amber begann schon zu hoffen, vielleicht - vielleicht würde er ja toben und umfallen und einschlafen, bevor er an ihre Tür gekommen war. Es war schon vorgekommen, gewiss doch.

Sie hätte es nicht wagen sollen, diese winzige Flamme einer irrwitzigen Hoffnung zu nähren. Genau in diesem Moment hörte sie den Namen, bei dem sie ihr Vater immer rief.

„Trine! Du dumme Trine! Wo steckst du?“

Amber wich langsam vor der Tür mit dem Stuhl unter der Klinke zurück.

„Du dumme blöde Trine! Wo hast du dich verkrochen? Komm raus, du dämliches Miststück!“ Das Brüllen wurde unausweichlich lauter.

Amber wich zurück, während der Hass ihres Vaters immer mißtönender durch die Tür dröhnte, sie wich zurück, bis sie die kalte Wand in ihrem Rücken spürte. Die Kante des Fensterbrettes.

Und dann geschah das, wovor sie sich gefürchtet hatte. Die Klinke ihrer Tür prallte auf die Stuhllehne. Sein Brüllen schüttelte ihre Knochen wie Stäbchen in einem alten Sack. Die Klinke rüttelte. Er hatte den Schlüssel, er hatte alle Schlüssel. Und doch widerstand ihm ihre Tür. Zum ersten Mal.

Aber wie lange noch?

Sie wusste, sie hätte das nicht tun dürfen. Es war schlechschlechtschlecht. Aber er durfte nicht herein kommen.

Der Stuhl wackelte, die Tür wackelte. Wackelte sie wirklich?

Wenn er jetzt herein kam, dann war es soweit. Dann geschah es auch mit ihr.

Amber drehte sich um und packte den Fenstergriff. Das Fenster schwang auf, natürlich, er hatte ja das System entriegelt, jetzt gingen die Fenster auch wieder auf. Sie sprang hinaus. Mit beiden Beinen landete sie auf dem Fenstersims, es ging so schnell, daß sie es selbst fast nicht begriff. Ringsum leuchtete Licht aus dem einen oder anderen Fenster. Dies war der Innenhof des Wohnblocks.

Sie kannte kaum jemanden hier, sie waren erst wenige Wochen in diesem Haus, dieser riesigen Mietskaserne, in der so viele Menschen wohnten. Die hellen Fenster waren fremd. Ihre Knie zitterten. Sie tastete nach der Wand, presste sich gegen die Klinker neben ihrem Fenster. Ihr Herz klopfte so laut, daß sie das Brüllen einen Moment lang nicht mehr hören konnte.

Und dann umso lauter, als der Stuhl polternd umfiel und das Brüllen plötzlich ganz nah war. Und verstummte. Und sich veränderte.

„Ambrosine, dumme Trine,“ hörte sie die Stimme ihres Vaters. „Wo steckst du denn, mein Schätzchen? Papa ist da!“ Der Hohn in seiner Stimme drang tiefer ein als die Wut seines Brüllens.

„Ambrosine, dumme Trine.“

Amber versuchte, ihre Finger in die Ritzen zwischen den Backsteinen zu krallen. Gleich, gleich würde er merken, daß sie nicht im Zimmer war. Daß das Fenster offen stand. Er musste nur noch heraus langen.

Wenn sie nur weg laufen könnte, weit weit weg, so weit weg, daß er sie nie mehr finden konnte. Ringsum leuchteten die Fenster hell, doch der Schacht in der Mitte war so dunkel und tief wie ein Brunnen. Sie hielt sich fest und rannte und rannte und hielt sich doch fest und ihre Finger wurden starr. Ihre Knie zitterten immer stärker.

Und dann kam er ans Fenster.

Amber fiel.

 

 

 

Das Kind 1

 

Über ihr breitete ein Baum seine gefiederten Astarme aus. Er war ihr vertraut, dieser Baum – und doch nicht. Ihr schien, daß sie ihn noch nie so gesehen hatte, so zart, so grün, so wunderschön mit seinen flamingoroten Puschelblüten.

Puschelblüten, Kuschelblüten.

Sie war weitweitweit gelaufen. Wie durch einen endlos langen Tunnel. Weit weit weg von – sie wusste es nicht mehr. Es war dunkel dort. Und jetzt war es hell. Hell und warm. Und es war grün. Nicht nur über ihr, sondern auch um sie herum. Sie stand auf kurzem Gras, richtigem Gras, wie in den Anlagen im zweiten Bezirk. In einer Steinschale plätscherte Wasser. Blüten schwammen darin.

Aus einer bunt gestrichenen Tür trat eine Frau in einem blauen Kleid.

„Hallo Kleine,“ sagte sie, „Wie kommst du denn hierher?“

Das musste die Besitzerin von diesem Ort hier sein, aber ihre Stimme klang so freundlich. Gar nicht als wollte sie sie ausschelten. Aber sie konnte ihr nicht antworten.

„Wie heißt du denn?“ Blaue Augen hatte sie, so blau wie der Himmel in den alten Filmen der Vision Walls, und ganz weiße Haare.

Das wusste sie auch nicht. Sie konnte nur da sitzen und die Frau anstarren. Reglos, wie die Figur, die die Steinschale hielt. Etwas war weg und das war traurig – und etwas war weg und das war gut so. Die Frau hob die Hand und sie zuckte ein winziges Stück zurück. Aber die Frau berührte nur ihre Wange, ganz zart, wie ihre Mutter es vor langer Zeit getan hatte. Das wusste sie, nur das. Sie konnte sich immer noch nicht wirklich bewegen, nur die Tränen, die kullerten aus ihren Augen ohne daß sie sie aufhalten konnte. Nun streichelte die Frau ihre Wange, über ihr Haar und sie fühlte, wie das Schluchzen in ihr aufstieg. Da nahm die Frau sie in die Arme und das Weinen schüttelte sie.

„Nun denn,“ sagte die Frau, „komm mit ins Haus.“

 

 

 

Das Kind 2

 

Sie war noch da.

Alles tat weh. Jemand hatte sie aufgefangen. Jemand mit vielen starken Armen.

Der Baum.

Der Baum hatte sie aufgefangen. Richtig, es gab da diesen Baum in der Tiefe. Sie war gerannt und gerannt, durch einen endlosen Tunnel, weit fort und hatte sich doch festgehalten und war doch gestürzt.

Etwas war weg und doch war sie da. In den Astarmen.

 

Und dann fing sie noch jemand auf. Jemand mit warmen weichen Armen und plötzlich kehrte das Verlorene zurück, für lange Augenblicke, schmolz ihre Gedanken. So warm, so geborgen. Endlich. Ganz. So war das. So war das richtig. Sie sank in sich hinein.

Einen Moment lang sah sie Lichter und weiße Betten. Das war gut so. Zufrieden entglitt sie in die weiche Wärme.

 

 

„Kleines?“

Sie trieb aufwärts durch die warme Dunkelheit eines diffusen Schmerzes.

„Kleines – kannst du mich hören?“ Jetzt konnte sie ihre Augen spüren, als ihre Augenlider sich ihr widersetzten. Doch dann konnte sie verschwommen ein Gesicht über sich erkennen.

„Wie heißt du denn?“

Es war ein freundliches Gesicht, das zu ihr herab schaute. Sie schwieg, denn mit ihrer Sicht klärten sich auch ihre Gedanken.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Sicherheit.“ Doch sie hielt den kalten Schutzwall der Furcht um sich geschlossen. Nur nicht ihren Namen verraten ...

„Jetzt wird alles gut.“ Sie war versucht, der gütigen Stimme zu glauben, als sie erneut in der warmen Dunkelheit versank.

 

 

Das Kind 1

 

Die Frau hieß Brianna. Sie lebte in einem alten Haus am Rande des dritten Bezirks. Entgegen aller Vorschriften behielt sie ihren Findling einfach bei sich. Sie war schon alt, nicht so alt wie das Haus, aber alt genug um seltsam zu sein und allein, und sie liebte ihren Garten über alles. Und doch war in ihrem Herzen noch genug Platz für ein kleines verschrecktes Mädchen. Sie hatte so viel Liebe übrig, daß das Kind jeden Tag angefüllt mit Glück erwachte. Sie gab ihr keinen Namen, sie wartete darauf, daß das Mädchen sich erinnerte. So lange nannte sie sie „Schatz“ und „Liebling“, „Kleine“ und „Goldstück“ und manchmal sogar „Blümchen“.

„Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr,“ sagte sie immer öfter und was sie damit meinte, begriff das Mädchen ein Jahr später, als die Frau sie weg schickte. Aber sie ging nicht zu dieser Nichte, sie kehrte um. Sie kam zurück zu einem Schuttberg, unter dem die alte Frau begraben lag in ihrem Garten. Nur der Baum hatte wie durch ein Wunder überlebt.

Die Eden Gesellschaft hatte endlich die Geduld verloren. Man habe bei der Sprengung nicht erkannt, daß sich die Besitzerin der Zwangsräumung widersetzt hatte, hieß es später, als man schon die neuen Wohnblocks in den grauen Himmel New Edens wachsen ließ.

Woher sie käme, wer sie sei, wie sie heiße, fragte man das Mädchen bei der New Eden Waisenbetreuung. „Brianna,“ beantwortete sie einzig die letzte Frage, „Brianna Gardner.“

 

 

 

Das Kind 2

 

 

Lange Zeit schwebte sie. Mit jedem Atemzug drang Wohlbefinden in sie ein und vertrieb mehr und mehr den Schmerz. Und langsam, ganz langsam sickerte das Gefühl der Geborgenheit durch den eisigen Wall um ihr Inneres.

Als sie erneut auftauchte, diesmal ohne Schmerz, sah sie wieder das freundliche Gesicht über sich. Und wieder wurde sie nach ihrem Namen gefragt.

„Quendolin.“

Ja, das war es. Sie würde ab jetzt „Quendolin“ heißen. Wie es wohl wäre, eine Quendolin zu sein?

Eine Quendolin lebte auf der heiteren Seite der Welt. Sie würde niemals einen Stein umdrehen, um zu sehen, was darunter war. Igitt, da könnte ja ihr Kleid schmutzig werden. Eine Quendolin lebte oben auf der Zuckerkruste einer Cème brulée. Denn was das eigentlich war, eine Crème brûlée, das erfuhr sie nun als Quendolin.

 

Zunächst gab sie vor, sich an nichts zu erinnern. Tatsächlich wusste sie nicht so recht, wie sie hierher gekommen war, in dieses Krankenhaus im ersten Bezirk. Aber sie wusste noch ganz genau, woher sie gekommen war.

Am Anfang fühlte sie sich noch etwas seltsam. Als sei etwas verloren und doch nicht. Es war verwirrend. Und Angst hatte sie. Aber er tauchte niemals auf. Wie denn auch – im ersten Bezirk. Niemand schien nach ihr zu suchen. Und dann begriff sie, daß mit der Zeit etwas nicht stimmte. Es war eine andere Zeit.

Langsam verlor sie die Angst davor, ihrem Vater wieder zu begegnen.

Die Ärztin war sehr nett zu ihr. Man unterzog sie allerlei Untersuchungen und dann schickte man sie auf eine Schule für Sonderbegabte. Vielleicht würde sie eines Tages sogar Mitglied der Bat-Teams.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Jetzt war sie Quendolin. Und wenn sie ein bißchen ernsthafter sein wollte, konnte man sie ja „Quen“ nennen

 

 

 

Die Frau – Brianna

 

 

„Ich bin du,“ erwiderte Brianna, denn es war bereits zu spät, sie hatten einander längst schon erkannt. Wie kann das sein, wehrte sich ihr Verstand, sie konnten doch nicht zwei und eine sein, wie sollte das gehen. Aber sie erinnerte sich, sie erinnerte sich an ihr Leben als Amber, sie war es, die vom Fensterbrett gestürzt war. Sie war es, die sich im Garten von Brianna Westenra wiedergefunden hatte und sie war es auch, die sich nahezu ein halbes Jahrhundert danach aufgefangen hatte. Wie konnte es sein, daß aus einer zwei wurden, eine, die in die Vergangenheit floh und eine, die in der Gegenwart blieb? Und jetzt standen sie einander gegenüber als jeweils eine andere, mit anderen Erfahrungen, die eine hatte ihr Leben fast schon gelebt, die andere ihre ganze Zukunft noch vor sich.

Hatte sie wirklich schon das meiste ihres Lebens verbraucht, in Schmerz und Vergeblichkeit?

War das wirklich sie selbst?

Nein, sie wollte ihr all dies nicht zumuten, diesem kindlichen Selbst, diesen staunenden Augen, die sie so gut kannte. Wie wäre es für sie gewesen, wenn sie gewusst hätte was, auf sie zukam, damals, als sie ein Kind war, mit all diesen träumenden Möglichkeiten in ihr wie die Blütenblätter in einer Knospe?

Und doch erkannte sie in diesen Kinderaugen den Schmerz, der in diesen vereinten ersten Jahren ihres Lebens wurzelte und den Schrecken einer Erfahrung, die ihr fremd war. Dennoch, Quendolin sollte all dies nicht sehen.

Es war zu spät, sie waren längst verbunden und die Tiefe dieses Moments löschte alle Fragen.

 

 

Das Kind – Quendolin

 

All das, was verloren war, kehrte zurück.

All das, wovor sie sich gefürchtet hatte, strömte auf sie ein. All die Sehnsucht, die Einsamkeit und die Vergeblichkeit. Es zerschnitt ihr Herz mit scharfen Messern.

Warum, warum, wollte sie rufen, ich bin doch nicht böse, aber da spürte sie unter all dem Schmerz etwas wachsen. Etwas Großes. Etwas wie – Verstehen und die Kraft eines tief wurzelnden Seins, die sie weiter und weiter trug. Denn es war kein Blut, das aus ihrem Herzen strömte. Es war Licht.

Ihr Herz hielt unbeirrt diesen Traum, der nichts anderes war, als ein Gesicht des Wunders und so wuchs dieses Etwas, dieses Verstehen, das hinter die Dinge blickte, hinter jedem Schmerz war die Kostbarkeit des Seins und das Wissen um die Verbundenheit der Welt und ihres Zusammenspiels. Und hinter all dem war immerzu das, was leuchtete, bis es hervortrat.

Jetzt wusste sie es, dieses Leuchten war immer da, es würde sie niemals verlassen, denn dieses Leuchten war sie selbst.

 

 

Die Frau – Brianna

 

Hatte sie wirklich ihr Leben vergeudet, ohne es zu wollen, ohne etwas anderes zu fassen zu bekommen? War die meiste Zeit ihres Lebens wirklich vorüber?

Was war denn Leben?

Konnte man alle Moment des Glücks und der erfüllten Träume sammeln, bis man satt war?

Woran maß sich denn „Leben“?

War es wirklich das, was die Vorderseite ihres Lebens aufzeigte, diese gesellschaftlich anzuerkennende Bilanz? Beruf, Liebe, Kinder, Besitz, Familienfeste und Freizeiten?

Was war denn auf der Rückseite, auf der „unsichtbaren“ Bilanz? All diese Erfahrungen, all diese gelebten Momente.

Und vor allem: was füllte denn ihr Leben?

War es nicht einfach der Moment?

Sie lebte jetzt und jetzt und jetzt. Konnte denn nicht das Leuchten eines Moments ein ganzes Leben füllen?

Aber das war sie ja selbst, dieses Leuchten. Sie selbst war das Leuchten, das sich in all diesen Momenten spiegelte und jeder davon enthielt die Ewigkeit.

Wenn sie es nur zuließ.

 

 

 

Das Kind – Quendolin

 

Die Frau hatte sich verändert, während sie hier saßen. Vor ihren Augen. Jetzt endlich wusste sie es: das war sie gewesen, diese Frau, die sie gesehen hatte in der Rückschau auf New Eden. Jetzt verstand sie das alles.

„So sehe ich also aus, wenn ich alt bin,“ dachte Quendolin. Es war in Ordnung, denn die Frau vor ihr hatte ein so liebes Gesicht mit klugen Augen - Augen, in denen sie das Leuchten sehen konnte.

Aber vielleicht würde sie auch ganz anders aussehen, denn sie würde ein eigenes Leben haben. Eigentlich schien es ihr, als habe sie ein Leben dazu bekommen, oder sogar zwei, das von Brianna, auch wenn sie es nicht wirklich sehen konnte, sich nicht wirklich erinnern, nur fühlen konnte sie es und damit hatte sie ihr eigenes Leben dazu geschenkt bekommen, denn nun wusste sie, daß dieses Leuchten niemals verloren gehen konnte. Vergessen konnte man es - sich selbst! Aber wenn man davon wusste?

Nie mehr.

 

 

 

Die Frau – Brianna

 

Sie hielten sich in den Armen und weinten, denn schließlich konnte man auch vor Glück weinen.

„Du warst das, du hast mich aufgefangen,“ sagte Quendolin, „ und dann hast du mich ein Stück in die Vergangenheit gebracht, in dieses Krankenhaus.“

„Na, eigentlich hat dich der Baum aufgefangen. Und geholt hat dich Clarissa auf ihrem Gleiter.“ Quendolin grinste. Von einer Superheldin gerettet! Na wenn das kein Omen war ...

„Aber ins Krankenhaus gebracht habe ich dich.“ Quendolin nickte. Die goldgrünen Blätter um sie fächelten ihnen Luft zu. „Aber Du kannst das auch, in die Vergangenheit gehen,“ stellte Brianna fest.

Quendolins rundliches Kinn wurde etwas kantiger. „Ich bin abgehauen. Jetzt ist die Aufruhrzeit, nicht wahr?“

„Von wann kommst Du?“

„Vom nächsten Frühjahr. Vom 15. März. Stell Dir vor – jetzt gibt es uns dreimal, einmal du, einmal ich und einmal ich vor – naja.“

„Was ist geschehen?“

 

 

 

Das Kind – Quendolin

 

 

Es war alles so schön gewesen.

Bis er kam.

Sie hatten sie tatsächlich auf eine Schule für Sonderbegabte geschickt. Seither lebte sie in einem Schloss mit weißen Kletterrosen an den roten Backsteinmauern. Kastanienbäume beschirmten den Rasen und die Betten in den Mädchenzimmern besaßen seidene Vorhänge.

Quendolin hatte einen guten Start, indem sie alle damit amüsierte, daß sie jeden Tag eine neue Geschichte ihrer Herkunft zum Besten gab – denn natürlich wusste man, daß sie nicht wusste, woher sie kam. Alle mochten Quendolin und Quendolin mochte alle – naja, bis auf diesen Zitteral Joe, der es nicht lassen konnte, elektrische Schläge auszuteilen. Und sie hatte Freundinnen, echte Freundinnen.

 

 

Ihre vollen Kräfte würden sich erst mit der Zeit entfalten, hieß es. Bei manchen war das noch das Geheimnis der Talentscouts – bei anderen zeigte es sich bereits. Sara konnte Pflanzen wachsen lassen, naja, erstmal so ein bißchen. Wenn sie einen Samen auf ihre Handfläche legte, begann er zu keimen. Was sie damit eines Tages alles anstellen konnte! Okey, wohl weniger in einem Bat-Team, eher in den Gartenkomitees der Damen im ersten Bezirk, aber das fand Saras Mutter, die zu etlichen dieser Konitees gehörte, schon großartig genug.

Und Jennifer erst: Jennifer konnte mit Tieren sprechen! So hatte man sie auch gefunden – als Adoptivkind einer ausgebüxten Zirkusbärin.

Aber das wichtigste war, daß sie mit ihnen ganz viel lachen konnte. Alles war gut. Bis zu diesem Tag.

 

Es war im März, in den Parks zeigte sich schon das erste zaghafte Grün. Im Hausgarten von Saras Mutter kriegten die Sträucher schon dickere Knospen und Saras Mutter wurde langsam aufgeregt. Sie hatte sie ins grüne Kaufhaus am Paradise Place eingeladen. Sie war so stolz auf ihre sonderbegabte Tochter, daß sie auch ihre beiden Freundinnen, die Findelkinder, quasi mit adoptiert hatte. Sie saßen im Wintergarten der Schule unter den blühenden Fuchsienbäumen und vertrieben sich die Zeit mit ihrem Lieblingsspiel „Was wäre wenn“ - die anderen beiden fanden, daß Quendolin wirklich die aberwitzigsten Ideen hatte.

„Was wäre wenn – wir an dem Tag, an dem die Unruhen begannen, im zweiten Bezirk shoppen gegangen wären?“, schlug Quendolin, die die letzte Runde gewonnen hatte, gerade eine neue Runde des Spiels vor, als die beiden anderen plötzlich verstummten. Zuerst dachte sie, der Chauffeur, der sie abholen sollte, wäre schon eingetroffen, denn Sara und Jenny erhoben sich von ihren Stühlen. Aber dann sah sie den Mann, der plötzlich zwischen den alten Fuchsienbäumen stand, als wären diese der Rand einer exotischen Wildnis.

Die anderen beiden kannten ihn schon. Dies war einer der wichtigsten Männer New Edens. Für sie vielleicht sogar der wichtigste: der Chef der New Eden Sicherheit. Die New Eden Sicherheit umfasste die Garden und die Bat-Teams, die beide die Stadt beschützten. Und damit würde sie auch in gewisser Weise über ihre Zukunft entschieden, denn viele der Sonderbegabten in dieser Schule würden eines Tages für die Sicherheit arbeiten – vielleicht sogar als Superhelden, von allen geliebt und bewundert.

Er hatte so einen seltsamen deutschen Namen. „Deutschland“ - das war ein gruseliges Reich im alten Europa gewesen, voller Werwölfe und schnarrender Soldaten, die einem Dämon namens Hitler gedient hatten. Das ganze Volk hatte von Dämonen abgestammt, das wusste in den vereinigten Konsortien jedes Kind. Das Dämonenvolk war vom ruhmreichen damaligen US-Staat vernichtet worden, aber einige der Verseuchten waren entkommen. Hatte ihr Herz deshalb so geklopft? Bei diesem merkwürdigen Namen: „Dr. Wolpertinger.“

Eigentlich hatte sie da schon ein bißchen Angst vor ihm gehabt. Vielleicht weil er so mächtig war. Vielleicht aber eher wegen seiner Augen. Ganz hellblau und ein bißchen schräg waren die. „Wie ein Husky,“ hatte Jenny später gesagt und gekichert. Aber Quen hatte da schon gefunden, daß er sie eher an einen Wolf erinnerte.

Ihr Herz hämmerte, als habe es damals schon gewusst, was sie erst viel später begriff. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes gewesen. Diese wohlige Woge der Freude aus dem Bauch herauf, als er sich zu ihr wandte und sagte:

„Quendolin – du bist auserwählt.“

 

 

  • wozu?

 

Sie flogen in einem Gleiter, wohlgemerkt, einem Gleiter, nicht bloß so einem Windsurfbrett, wie die Superhelden es hatten, sondern in einem richtigen echten Gleiter, wie ihn sich nur die reichsten im ersten Bezirk leisten konnten. Natürlich war sie schon mit der Schwebebahn gefahren und im VV-Room der Akademie über die Stadt geflogen, aber das hier – hier merkte sie den Anschub, als er startete und den Wirbel, und wie ihr Magen sich hob, als er um die Türme und Kuppeln schoss und hoch hinauf glitt. Das war aufregend! Hier glitt man nicht über eine Magnetschiene wie die Schwebebahn, hier flog man richtig!

Genauer gesagt flog der Wolpertinger, der Doktor, dabei fand sie, daß er gar nicht wie ein Doktor aussah. Und sie saß neben ihm!

Ihr wurde ganz schön schwummrig und ihr Herz begann wieder zu hämmern und unter ihr - und manchmal auch neben ihr, wenn er in die Kurven ging - waren all die weißgoldenen und kupfergrünen Kuppeln und Türme des ersten Bezirks und über ihr die zartblaue Kuppel des Himmels, oh ja, heute schimmerte ein ganz helles Blau durch die Dunstschicht. Und es ging viel zu schnell, daß sie schon wieder hinab tauchten in die Stadt, wenn sie einen Gleiter hätte, würde sie endlos Loopings drehen und rauf und runter sausen bis in die Straßenschluchten des zweiten. Aber – zugegeben, wenn mehr Leute diese Dinger hätten und das machen würden, dann wäre der Himmel voller silberner Projektile und ab und zu würde es sicher krachen. Und dann wäre ganz schnell alles verboten. Vielleicht war es das ja auch längst.

Sie sausten hinab zu einer blasigen Ansammlung weißer Kuppeln wie ein Nest voller Eier von Riesenvögeln, die Seltsames ausbrüteten.

 

Zuerst war alles noch ganz aufregend gewesen. Quen hatte eine Cola bekommen und Süßigkeiten, man hatte ihr Blut abgezapft und sie an verschiedene Geräte angeschlossen. Dann bekam sie eine VV-Brille aufgesetzt und sollte verschiedene Aufgaben lösen.

Das eigentliche begann aber, als der Wolpertinger sie in diesen halbrunden Raum führte, fast wie ein Kuppelkino, in dem man mitten drin war im Film, nur eben halbrund. Und da hatte man ihnen beiden Kappen aufgesetzt mit vielen feinen Drähten, die sie in die Kopfhaut pieksten. Und da hatte sie ihn plötzlich ganz nah neben sich gespürt, er konnte sie anstupsen, ohne sie zu berühren. Er hatte mit ihr geübt, sich zu konzentrieren, bis sie ein Bild vor sich sehen konnte, ähnlich wie einen Film im Kuppelkino, nur eben ein Stück vor ihnen beiden. Das war dann zur Routine geworden, diese Übungen, immer die Konzentration auf dieses Bild, bis es deutlicher wurde.

Was das war?

Naja, irgendwelche Leute in New Eden eben. Auf der Straße oder in irgendwelchen Büros. Nichts Besonderes. Eigentlich war sie schon ein bißchen enttäuscht. Daß das alles war.

 

Bis eines Tages. Da war sie eigentlich schon fertig gewesen und auf dem Heimweg, da hatte er sie unten am Aufzug abgefangen. Da wäre noch etwas, etwas wichtiges, das sich gerade noch ergeben hätte. Ein Ernstfall. Der Ernstfall.

Dann hatte er sie wieder in den Raum gebracht. Ganz allein, ohne die Schwester, die sonst am Anfang dabei war. Da war so eine Apparatur gestanden.

Was für eine Apparatur?

Na so ein Ding eben, so ein Gestell. Mit viel Metall. Und dann sollte sie wieder schauen. Und schauen, bis sie diese Gestalt sah.

 

 

 

Quen schaute auf die verschwommene Silhouette. Sie blinzelte.

„Kannst du ihn sehen?“, fragte die Stimme ihres Lehrers.

„Naja,“ murmelte sie.

„Konzentrier dich – es ist wichtig! Unser Schicksal hängt davon ab!“

Der Umriss wurde schärfer. Sie sah einen Mantel und einen Hut drüber. Ein Mann.

„Das ist er, das ist der böse Mann, der New Eden in den Untergang treiben wird. Nur du kannst uns retten, Quen!“

Sie fühlte, wie etwas in ihre Hand gedrückt wurde. Etwas Kaltes.

„Schieß, Quen, rette uns!“ Die Stimme ihres Lehrers drängte

Tatsächlich. Das war so etwas wie ein Abzug unter ihren Fingern. Ein breiter kalter Haken.

„Nun mach schon Quen, schnell, rette uns alle! Drück ab!“

Aber sie konnte doch nicht, ihr Herz klopfte.

„Drück ab!“ Jetzt klang die Stimme in ihrem Kopf sehr, sehr zornig.

Erschrocken krümmte sie die Finger.

Es gab einen furchtbaren Knall.

 

 

 

Sie konnte kaum schlafen in dieser Nacht. Immer wieder hörte sie diesen Knall. Am anderen Tag empfing er sie so wie immer. Sie waren nur am ersten Tag geflogen. Danach wurde sie abgeholt mit einem Gleit-Taxi. Er tat so, als sei nichts Besonderes geschehen. Als käme das Besondere erst. Heute, erklärte er, heute würden sie eine ganz wichtige Sache angehen. Eine von großer Bedeutung für das Schicksal New Edens. Sie würden eine wichtige Person in einem wichtigen Moment aufspüren.

Das Bild war auch ganz schnell ganz deutlich sichtbar geworden.

Es war eine Zeit, in der der Batman noch da war. Quen konnte nämlich das Bat-Symbol über der Stadt leuchten sehen. Und es war Winter. Dicke weiße Flocken taumelten aus dem dämmrigen Himmel.

 

 

Die Frau – Brianna

 

 

Ein eisiges Gefühl kribbelte ihr über den Rücken hinunter. „Er ist gesprungen,“ sagte sie.

Quen schaute sie mit runden Augen an.

„Er ist an den Vortag zurück gesprungen und hat dich schießen lassen,“ erklärte Brianna.

„Wieso konnte er das auf einmal? Dann hätte er mich doch gar nicht gebraucht!“

„Vielleicht hat er eine Möglichkeit gefunden, diese Gabe – zu kopieren?“

„So ist er hergekommen!“ Quen schlug die Hände vors Gesicht.

„Keine Angst – hier kommt er nicht herein! Das ist unsere Zuflucht!Außerdem braucht er einen Zielpunkt – er muss wissen wohin er springen muss, er muss wissen wo du bist.“

„Und wie hat er mich gefunden?“

„Vermutlich so wie ich – du warst auf einem Video von der Plünderung zu sehen. Wahrscheinlich hat er sich in der Menge versteckt und ist uns gefolgt.“

Eine Weile schwiegen sie eng aneinander geschmiegt.

„Das ist komisch,“ murmelte Quendolin nach einer Weile, „Er ist in den Vortag gesprungen ist, weil ich nicht schießen wollte – aber ich wollte nicht schießen, weil er im Vortag war. Das – geht doch irgendwie gar nicht.“

„Ich glaube, es gibt da so etwas wie einen Ort, an dem alles schon geschehen ist oder geschieht oder noch geschieht.“

Seltsamerweise wirkte Quendolin nicht überrascht. Sie holte tief Luft.. „Dann ist alles gut - dann wird alles richtig.“ Alle Angst zerstob. Brianna konnte fühlen, wie sie ausdünnte und verflog. Quendolin entspannte sich. Wenn sie nur auch so viel selbstverständliches Vertrauen aufbringen könnte.

„Weißt du,“ erklärte ihr nun Quen, „du hast recht. Da ist nicht nur unsere Welt. Ich denke es gibt da eine Welt, die ist nicht wie unsere, irgendwo über unserer, oder innen drin, da sind du und ich immer noch Amber.“

„Und in einer anderen sind du und ich und Clarissa und Blue und Adeline ein Wesen.“

„Jetzt wird mir schwindlig.“

„Mir auch. - Quendolin?“

„Ja?“

„Lass uns zurück gehen.“

Und das taten sie dann auch.

 

An ihrem neuen Lagerplatz empfing sie kreischendes Gelächter: Kiran ließ die Mantikor-Kinder fliegen. Eines trug er gerade huckepack – waren das Tentakel, die sich da um ihn schlangen? - eines hielt er im Arm. Er sauste auf und ab durch den Stadtdschungel während alle anderen: „Ich auch! Ich auch!“, riefen. Außer denen, die sich von Jacks Jonglierkünsten faszinieren ließen. Clarissa und Blue saßen gemeinsam in einer Pflanzenschlinge und schaukelten mit beglückten Gesichtern.

 

Amber gelangte zu der Ansicht, daß diejenigen, die es anging, alles zur rechten Zeit erfahren würden. Quen hatte sich nicht allzusehr gewundert, als aus Brianna wieder Amber wurde. Aber vielleicht sollte sie eines ihrer Geheimnisse wohl doch einer ganz bestimmten Person offenbaren. Denn genau davor fürchtete sie sich.

Eine neue Welt

Der Held

 

Sie blieb sein goldenes Mädchen.

Jetzt wunderte er sich, daß er sie nicht schon lange erkannt hatte. Es war das selbe Leuchten, das selbe Verstehen, das ihn anblickte, auch wenn sich Fältchen um diese goldgrünen Augen bildeten. Es waren die selben Augen. Und es war die selbe Sehnsucht, die er in ihr spürte.

Sie blieb sein goldenes Mädchen, auch wenn diese Augen ihn aus dem Gesicht einer älteren Frau anblickten und seine ganze Welt ins Schwanken geriet. Sie blieb sein goldenes Mädchen, auch wenn Angst und Schmerz und das Gefühl von Verlust und Vergeblichkeit aufsteigen wollten.

 

Diese Welt hatte ihm sein wahres Selbst zurückgegeben. Das war es, wozu er geboren worden war – Kindern das Fliegen bei zu bringen. Und sie brachten es gleichzeitig ihm bei – mit dem Herzen zu fliegen. Endlich hatte er zu seinen Wurzeln zurück gefunden.

Diese Welt hatte auch ihr ihr Selbst zurückgebracht. Ihre verlorene Jugend. Er wollte sie in den Armen halten und mit in sein neues Leben nehmen. Ein gutes Leben, wie es seine Eltern gehabt hatten, trotz aller Not. Mit ihrer Liebe und der Fürsorge für ihre Kinder.

Diese Freude, ein eigenes Kind in den Armen zu halten! Eine Freude, die alle anderen Kinder dieser Welt mit umfasste.

Sie würden einen Weg finden. Alles würde gut werden.

Ganz bestimmt.

 

 

 

Das Kind – Quendolin

 

Als sie bei den anderen ankamen, war aus dem Platz schon ein richtiges Zuhause geworden. In der Mitte lagen die Reste des gemeinsamen Festmahls auf dem Schlingpflanzentisch, an der überwucherten Fassade gegenüber wob Spinnenkind Seide in neugebildeten Nischen aus Ranken und Blättern, das Whamm-Girl schaukelte zusammen mit Magic-Girl Blue, der lustige Kerl jonglierte mit allerlei buntem Zeug – klar doch, daß der das konnte! - und der Einstmals-und-Nichtmehr-Batman flog mit zweien der Kinder durch die Luft.

Und alle lachten.

Alle waren in Sicherheit. Und es war warm. Und es gab genug zu essen.

Ja so war das richtig. Plötzlich war alles voller Sonnenlicht. Jetzt entdeckte sie auch die Blüten im Grün, weißrosa Blüten mit blaulila Adern, die sich da und dort öffneten - da waren ja ganz viele Knospen in den Ranken versteckt!

Und dort – waren das etwa Früchte, die da golden durchs Blattwerk schimmerten?

Plötzlich entdeckte sie eine Bewegung, es war Baby, das kleine rosa Wesen, das an den Ranken empor robbte. Wie es das nur machte? Und dann griff es eine dieser runden goldenen Kugeln mit seinen kleinen rosa Fingern, die es ein- und ausstülpen konnte, roch daran und biß hinein. Es schien ihm zu schmecken.

So eine Frucht hatte sie noch nie gesehen. Ein bißchen unheimlich war ihr das ja schon. War es nicht so, daß man im Feenland bleiben musste, wenn man dort aß und trank?

Um sie herum sprudelte weiter das Gelächter. Quen setzte sich auf die federnde Bank aus Ranken, die den Tisch umgab. Sie hatte ja auch hier gegessen und getrunken. Aber das war das Essen aus dem Supermarkt gewesen. Das war von draußen. Das galt nicht.

Sie griff nach der Dose, aus der sie getrunken hatte. Es war noch viel mehr drin, als sie gedacht hatte. Hm, Cola-Orange. Die schmeckte genau so, wie sie es gewohnt war.

Was war das hier?

Eine Welt neben der wirklichen, so eine Art Tasche im Dazwischen, die aus den Träumen der Menschen wuchs.

Ja, so war das.

So ungefähr.

Woher sie das wusste?

Das wusste sie. Die Dinge sprachen, wenn man hin fühlte.

Die sprachen ja!

Und in der Mitte war das Leuchten.

Der Nichtmehr-Batman landete und nahm ein neues Kind mit und alle juchzten.

Alles war gut. Wenn nur der Wolpertinger nicht den Weg hierher fand.

Impressum

Texte: Elvira Stecher
Bildmaterialien: Thomas Lubinski
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /