Jeder kennt doch so einen Menschen. Nach außen hin stark, nach innen verletzlich. Menschen, die eine schwere Vergangenheit besitzen und nicht mit anderen darüber reden wollen. Die andere mit ihren Problemen nicht belasten wollen. Die lieber alles für sich behalten und drohen, daran kaputt zu gehen.
Vielleicht gibt es ja so einen Menschen in deinem Freundeskreis oder in deiner Umgebung und du merkst gar nicht, wie schlecht es ihm oder ihr geht. Sie wirken nach außen stark, selbstbewusst und zielsicher, aber nach innen sind sie schwach, wissen nicht, wie sie sich gegen Menschen stellen sollen, die versuchen sie zu verletzten und versuchen vergeblich, ihrer Vergangenheit oder ihrem Problem zu entkommen. Menschen, die bis zu einem bestimmten Moment ihr Leben geliebt haben. Einen Schicksalsschlag nach den anderen abbekommen haben oder einfach nicht mit anderen Menschen zurechtkommen. Menschen, die aus für andere kleine Probleme, riesig große machen und sich so lange hineinsteigern, bis sie einfach nicht mehr können. Menschen, die zu große Verantwortung tragen müssen und unter der Last zusammenzubrechen drohen. Und Menschen, die sich die Schuld für etwas, wie zum Beispiel an einem Unfall oder sogar dem Tod einer geliebten Person, geben.
Sie verstecken alles. Hinter einer Mauer, die bei dem kleinsten Sturm zusammenbricht.
Jede Nacht läuft derselbe Traum auf Kimmys innerem Augenlied ab.
Wie sie mit ihrem Zwillingsbruder Lennard lachend nebeneinander auf dem Fahrradweg herfährt. Wie er sie frech ärgert, weil sie die Jüngere ist. Wie sie ihn lachend als ‚Depp‘ beleidigt und wie sie nebeneinander zur Straße fahren, um diese zu überqueren. Die Hauptstraße, die als Bundesstraße 36 aus ihrem Wohnort herausführt. Wie sie, Kimmy, vor Lennard losfährt. Wie sie das Auto angerast kommen sieht, aufschreit und mitsamt dem Fahrrad in den Grünstreifen neben der Straße fällt. Wie sie Lennards erschrockenes, angsterfülltes Gesicht sieht. Sekunden, bevor das Auto ihn erfasst und durch die Luft schleudert. Wie alles schwarz um sie wird. Und dann die Worte ‚Er hat es nicht geschafft.‘, in ihrem Kopf immer wieder widerhallten.
Dann schreckt sie hoch. Ihr Körper schweißnass, die dunkeln Haare an ihrer nassen Haut klebend, die Augen verquollen. Schwer atmend setzt sie sich auf. Einige Sekunden braucht sie jede Nacht wieder, um ihre Gedanken zu ordnen, zu warten, bis ihr Herzschlag sich normalisiert und um sich einzureden, dass alles nur ein Traum war und sie aufstehen kann, in Lennards Zimmer gehen kann und zu ihm unter seine Decke kriechen kann, wie sie es früher getan hatte, wenn es draußen gewittert hatte. Doch sie kann nicht… Sofort steigt die Trauer wegen des Verlustes ihres geliebten Bruders zu ihrem Herz.
Um Kimmy herum ist alles dunkel. Nur ein dünner Stahl Mondlicht fällt durch den Spalt des Vorhangs. Er trifft auf ihren Spiegel und wird auf ihren Nachttisch reflektiert. Auf das Bild, dass nun schon seit fast fünf Jahren dort steht. Mit einer Hand tastet Kimmy nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe, den sie mit einem leisen ‚Klick‘ umlegt. Die Decke um ihren Körper gewickelt, setzt sie sich nun ganz auf und nimmt das Bild in die Hand. Es zeigt sie und Lennard. Nur wenige Tage vor seinem Tod. In Gedanken versunken streicht Kimmy über das gerahmte Foto. Eine Träne bahnt sich den Weg auf ihrem Augenwinkel und fällt auf das Glas, dass das Foto schützt. Damals waren sie und Lennard gerade einmal 11 Jahre alt… Viel zu früh, um zu sterben.
Wie eigentlich jede Nacht nach ihrem Albtraum, der leider Wirklichkeit ist, beginnt Kimmy sich unzählige Fragen zu stellen, auf die wohl keiner, außer der Macher des Schicksals, eine Antwort hat. Warum ausgerechnet er? Warum musste er sterben? Warum ist er hinter ihr gefahren und nicht anders herum? Langsam legte Kimmy den Kopf in den Nacken. Aus ihren Augenwinkeln rollen die Tränen. Wie jede Nacht. Sie gibt sich keine Mühe die Tränen zu verbergen. Wer solle sie schon weinen sehen? Lennard? Ganz tief im Herzen weiß Kimmy, dass er sie sieht. Sie weiß, dass er nicht will, dass sie wegen ihm leidet. Immer wieder redet sie sich ein, dass sie nicht leidet. Sie trauert nur. Sie trauert um den Menschen der ihr nähergestanden ist als jeder andere auf dieser Welt. Einfach, weil er die Person war, mit der sie schon den Bauch ihrer Mutter geteilt hat. Und ihre Eltern? Nein. Sie würden sie nicht sehen, geschweigendem hören. Seit fünf Jahren wacht sie jede Nacht auf und weint und noch nie haben ihre Eltern sie gehört. Warum auch? Langsam lässt Kimmy das Bild auf ihre Brust sinken. Sie drückt es an sich und rutscht wieder tiefer in ihr Kissen. Das kühle Glas ist angenehm auf ihrer heißen Haut.
Den Rest der Nacht starrt Kimmy an die Decke, das Bild an die Brust gepresst.
***
Man sieht Kimmy nicht an, dass sie jede Nacht weint. Nach außen hin wirkt sie sogar glücklich. Um sechs Uhr morgens ist Kimmy aufgestanden. Sie hatte ihre Augen so geschickt geschminkt, dass man nicht sieht, wie rot sie noch immer sind.
Nun schiebt sie sich mit ihrem natürlich aussehenden, aufgesetzten Lächeln durch die Stuhl- und Tischreihen. Betty, ihre eigentlich einzige richtig richtige Freundin, die sie schon seit klein auf kennt, sitzt schon auf dem Stuhl neben ihrem. Natürlich hat Kimmy auch noch andere Freunde. Romy zum Beispiel, ist eins der besten Mädchen, die sie kennt. Trotzdem ist die Freundschaft zu Betty eine besondere. Sie ist die Einzige, mit der sie über fast alles reden kann. Außer über Lennard und Bettys Eltern.
„Alles klar?“, begrüßt Betty sie.
„Alles klar!“ Aufatmend lässt Kimmy sich auf ihren Stuhl fallen und lässt die Tasche auf den Boden plumpsen. Wieder einmal hat sie es gerade noch rechtzeitig von dem Lehrer in das Klassenzimmer der 11c geschafft. Sanft stupst Betty ihr in die Seite und hält ihr ihr Handgelenk hin. Daran hängt ein dünnes Armbändchen.
„Hat Max mir geschenkt.“ Ein seliges Lächeln liegt auf ihren Lippen. Max ist Bettys Freund. Die beiden sind schon recht lange zusammen und eins der typischen ‚aus Kinderfreundschaft wurde Liebe‘-Paar. Anfangs haben sie immer abgestritten, dass sie etwas füreinander empfinden, aber am allermeisten haben sie sich damit selbst belogen. Vorsichtig nimmt Kimmy Bettys Hand und streich sanft über das Armband. Es sieht wirklich wunderschön aus.
„Wow. Er hat Geschmack!“ Ein neckender Unterton liegt in ihrer Stimme. Leise lachend zieht Betty ihre Hand weg und schubst Kimmy leicht, bevor sich die Mädchen nach vorne drehen. Der Lehrer, der wohl netteste an der Schule, betritt gerade das Klassenzimmer, gefolgt von einem Jungen und stellt seine Tasche auf das Lehrerpult. Er dreht sich um und wechselt mit dem Jungen einige Worte.
Betty scannt den Jungen mit ihrem Blick einmal durch, bevor sie sich zu ihrer Freundin dreht und grinsend mit den Augenbrauchen wackelt. Kimmy grinst nur. Aber um ehrlich zu sein, muss sie schon zugeben, dass der Junge nicht schlecht aussieht. Das, was wohl jedem – Kimmy nicht ausgenommen – auffällt, sind seine strahlend grünen Augen. Sie glänzen offen im hereinfallenden Sonnenlicht. Umrandet werden sie von schwarzen, lang geschwungenen Wimpern. Ein offenes und gleichzeitig schüchternes Lächeln liegt auf den Lippen des Jungen, was beinahe schon wieder süß aussieht.
„So Leute!“ Herr Renner unterbricht Kimmys Gedanken. Die meisten von Kimmys Klassenkammeraden unterbrechen ihre Gespräche und wenden sich dem jungen Lehrer zu. Betty lächelt und zwinkert Kimmy zu. Herr Renner nickt dem Jungen zu. „Stell dich doch kurz vor.“ Ein gequälter Ausdruck wandert über das Gesicht des Jungens, als er eine Hand hebt und sich durchs Haar fährt.
„Ich heiße Jez, ich bin 17 Jahre und ich komme aus Köln.“ Kimmy legt den Kopf schief und mustert Jez noch einmal. Sie kann nicht sagen, ob er so aussieht, wie so manch einer einen Stadtmensch definiert. Seine Haare sind – wie es momentan eben gerade in ist – an den Seiten und hinten kurz und oben gleichmäßig gestylt. Und vom Klamottenstil würde Kimmy auch nicht sagen, dass er sich groß von den Jungs hier unterscheidet.
„Fußballverein?“ Tom, einer der Jungen aus der Klasse, dessen gesamtes Leben sich eigentlich am Wochenende, wenn die Bundesliga läuft, abspielt, lehnt sich abwartend auf seinem Stuhl zurück. Kimmy kippt leicht mit ihrem Stuhl nach hinten und lässt den Blick durch die Reihen schweifen. Sofort fällt auf, dass Jez sich ein wenig entspannt, als sein Blick von Max trifft.
„Sag mal, kennen Max und Jez sich?“, fragt sie Betty mit gedämpfter Stimme. Sie zuckt die Achseln.
„Keine Ahnung.“
„Ich spiel Handball.“ Jez grinst nur schief. Dass Jungs, die Handball spielen kein Interesse an der Fußballbundesliga haben, ist zwar nicht vorbestimmt, aber soweit Kimmy es einschätzen kann, interessieren sich viele handballspielenden Jungen und auch Mädchen nicht allzu oft für Fußball.
„Dann haben wir für das Handballturnier ja schon mal zwei Kandidaten aus der Klasse.“ Jez grinst nur.
„Klar, die kennen sich bestimmt von irgendeinem Handballturnier“, flüstert Betty plötzlich in Kimmys Richtung. Gut möglich ist es, dass die beiden sich daher kennen. Schließlich spiel Max ebenfalls Handball. Kimmy hört Betty aber schon nicht mehr zu. Sie streicht sanft über die Narbe an ihrer Hand. Dass sie beim Thema Handball immer wieder ungewollt an Lennard erinnert wird, liegt daran, dass er früher, zusammen mit Max, Handball gespielt hat.
***
„Maaax!“ Kimmy verzieht das Gesicht. Wie kann aus so einem kleinen Menschen wie Betty so ein hoher Geräuschpegel kommen? Max steht nur zehn Meter von Betty und ihr auf dem Schulhof entfernt und Betty schreit, als wäre er am anderen Ende der Welt! Mit Jez im Schlepptau kommt er auf die beiden zu. Er gibt Betty einen Kuss auf die Stirn und lehnt sich dann nach vorne, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Was Betty zu Max sagt, bekommt Kimmy nicht mit. Sie kickt lieber vorsichtig mit ihrem Schuh gegen einen Stein. Ihre Gedanken wandern wieder zur letzten Nacht. An den Traum, der sie schon seit fast fünf Jahren verfolgte. Schon oft hat sie überlegt, wie sie ihn loswerden könnte und früher, als sie noch jünger war, hat sie ihren Eltern auch davon erzählt. Einmal ist Kimmy Mutter mit ihr zu einer Psychologin gegangen, doch Kimmy hat von Anfang an gemerkt, dass die Frau sich nicht wirklich in sie hineinversetzten konnte, weshalb sie begonnen hat, ein wenig zu lügen, sodass sie schnell aus der Behandlung wieder entlassen wurde. „Kimmy?!“ Erschrocken zuckt Kimmy zusammen.
„Was?“, fragt sie verwirrt.
„Du sollst angeblich gesagt haben, dass du gar nicht gewusst hast, was für einen guten Geschmack ich habe.“ Max hat die Arme von hinten um Betty gelegt und lächelt frech.
„Achso. Ja.“ Kimmy lächelt und hofft, dass man ihr nicht ansieht, dass sie gerade nur Betty zuliebe lächelt.
„Woher kenn ihr euch eigentlich?“ Unbemerkt atmet Kimmy erleichtert auf, als Betty das Thema wohl unbewusst wechselt und ihrer Freundin damit zeigt, dass ihre Unsicherheit unbemerkt bleibt.
„Wir waren beide Einlaufkinder beim Final Four 2009.“ Max lacht auf. Auch Jez grinst und hebt beide Arme, sodass er ungefähr die Trikotgröße darstellen kann, die die Einlauftrikots der Einlaufkinder besessen haben. Betty wirkt amüsiert. Anscheinend ist ihr aber doch aufgefallen, wie Kimmy zusammengezuckt ist, als Jez das Jahr 2009 erwähnt hatte. Natürlich weiß Betty, wie sehr sie das Final Four 2009 an Lennard erinnert. Er hätte eigentlich auch eines er Einlaufkinder sein sollen. Aber er ist 10 Tage, bevor er seinen größten Traum leben durfte, gestorben!
***
„Kommst du noch kurz mit zur Halle?“ Betty lächelt Kimmy an. Sie schüttelt den Kopf. Kimmy will Betty nicht sagen, dass sie heute ‚schon wieder‘ auf den Friedhof geht. „Okay.“ Schnell verabschiedet Betty sich von ihrer Freundin mit einem ‚Ciao‘, bevor sie sich umdreht.
„Kommt Kimmy nicht mit?“ Max sieht Betty an. Sie schüttelt langsam den Kopf.
„Ich tippe mal Lennard.“ Max‘ Gesichtszüge werden weicher. Er hat Lennard gut gekannt und hat mit ihm früher, als sie klein waren, extrem viel Zeit verbracht. Die beiden waren früher die besten Freunde. Für ihn war es ein genau so großer Schock wie für Kimmy, als Lennard plötzlich tot war. Jez sieht beide fragend an. Betty schüttelt sanft den Kopf.
„Ist nicht so wichtig.“
***
Mit beiden Händen drückt Kimmy das Tor zum Friedhof auf. Es quietscht laut. Langsam geht Kimmy zwischen den Gräbern hindurch. 1926 geboren, 2011 gestorben. 1940 geboren, 2013 gestorben. Diese Menschen konnten ihr Leben leben. Und genießen. 85 Jahre, 73 Jahre. Und dazwischen ein Grab, 1997 geboren, 2009 gestorben. 12 Jahre. Eigentlich war Lennard erst 11 Jahre alt, als er starb. Die beiden haben im September Geburtstag. Vor Lennards Grab lässt Kimmy sich nieder. Sie zieht ein Bein an. Mit einer Hand streicht sie über die Köpfchen der bunten Primeln, die auf Lennards Grab blühen. Weiß, blau und rot. Hier fühlt sich Kimmy geborgen. Sicher. Ihr Blick wanderte über die sauber angeordneten Primeln bis hin zu dem Grabstein.
Lennard Beck
5. September 1997 – 21. Mai 2009
Heute ist der 20. April 2014. Morgen in einem Monat ist es 5 Jahre her. Langsam senkt Kimmy den Kopf und schließt die Lider. Eine Träne kullert aus ihrem linken Augenwinkel. Sie fällt auf eine der weißen Primeln. Die Träne rollt über den weißen Blütenkopf und tropft auf die feuchte Erde. Einen kurzen Moment bleibt sie auf dem Erdboden, dann verschwindet sie darin. Warum musste eigentlich Lennard sterben? Er war derjenige von beiden, der weniger Dreck am Stecken hatte. Der sich um andere kümmern konnte, egal wie groß deren Kummer war. Er war der, der es verdient hatte zu leben! Nicht sie. Lennard. Er hätte nicht das 11-Jähirge Kind sein sollen, das starb. Sie, Kimmy, hätte das 11-Jährige Kind sein müssen, dass hätte sterben sollen. Überall hieß es, es wäre ein tragischer Unfall gewesen. Hätte sie Lennard jedoch nicht dazu gedrängt, mit ihr zusammen zu der Ziegenweide zu fahren, wäre der Unfall niemals passiert. Dann wäre Lennard jetzt noch am Leben, sie müsste jetzt nicht hier sitzen und sie müsste nicht trauern. Die Tränen bahnen sich den Weg über Kimmys Wangen und fallen, eine nach der anderen, auf den feuchten Erdboden. Lennard. Ihr großer Bruder. Er war für jeden da, auch wenn er damals erst 11 Jahre alt war. Er konnte jeden zum Lachen bringen, egal wie. Er hätte eines von den Einlaufkindern vom Final Four in Köln 2009 sein dürfen, sein müssen. Aber 10 Tage vor dem Tag, an dem sein wohl größter Wunsch in Erfüllung gehen sollte, musste er sein Leben lassen. Ihretwegen!
„Es tut mir leid.“ Kimmy wiederholt ihre Gedanken leise. Dann steht sie auf, streicht sich ein letztes Mal über die Augen und füllt das Wasser in der Grabvase nach. „Ich liebe dich, großer Bruder.“
***
Immer wieder kreist dieser Name durch Jez Gedanken. Dieser Name – Lennard. Er kennt Betty und Kimmy erst seit einem Tag, aber er weiß, dass der Name für beide, genauso wie für Max, eine besondere Bedeutung hat. Nachdenklich sitzt Jez in seinem Zimmer und wirft immer wieder seinen gelbroten Handball von Hummel gegen die Wand. Er kennt den Namen. Von irgendwo… Warum hatte Kimmy so komisch reagiert, als er das Final Four erwähnt hatte? Und was hatte Max mit ‚dem Unfall‘ gemeint? In einer der Pausen haben Max und er das erste Mal, seitdem sie sich beim Final Four das erste und letzte Mal gesehen haben, ‚wieder‘ richtig miteinander gesprochen. Über das, was am ersten Tag auf einer neuen Schule eben das Wichtigste ist. Max hat ihn auch über das ein oder andere Mädchen informiert, wobei ihm – wie es auf Jez gewirkt hat – herausgerutscht ist, dass Kimmy sich nach irgendeinem Unfall verändert hat.
„Jez!“ Erschrocken zuckt Jez zusammen und hält inne. Seine Mutter steht in der Tür und sieht ihn streng an. Alleine an ihrem Blick kann Jez deuten, was sich von ihm verlangt. Brav legt er den Ball neben sein Bett auf den Fußboden. Er will jetzt keinen Stress mit seiner Mutter haben. Diese nickt zufrieden und will das Zimmer verlassen, hält dann aber inne, geht zu Jez und setzt sich auf die Bettkante. „Ich weiß, dass du nicht viel von dem Umzug gehalten hast, aber…“
„Nein Mama, ist schon okay“, unterbricht Jez seine Mutter. Sie sieht ihn fragend an. „Ich kenne einen aus meiner Klasse vom Final Four. Wenn ich nicht gewollt hätte, wäre ich nicht mit hierhergekommen.“ Ein Lächeln huscht über die Lippen seiner Mutter. Sie hebt eine Hand und streicht Jez übers Haar. Eigentlich eine Geste, die wohl kein 17-jähriger wirklich noch mag, doch Jez lässt sie gewähren.
„Du weißt, dass du keine Schuld an der Trennung hast, oder?“ Mechanisch nickt Jez. Er weiß wirklich, dass er nichts mit der Trennung seine Eltern zu tun hat, aber es tut trotzdem weh, daran zu denken. Sanft nimmt er die Hand seine Mutter.
„Ich weiß.“ Seine Stimme ist leise, besitzt aber einen bestimmten Unterton. „Ich geh morgen mit Max mal zum Handballtraining, okay?“ Seiner Mutter fällt der schnelle Themawechsel zwar auf, aber sie macht nichts dagegen.
„Ist okay.“ Langsam steht sie auf und verlässt das Zimmer. Aus dem Augenwinkel scheint sie aber zu sehen, wie Jez den Handball mit einer Hand unter seinem Bett hervor angelt, denn sie dreht sich noch einmal um. „Wehe, ich höre noch einen Wurf von dir!“ Wenn es eine Drohung sein sollte, dann klang sie nicht so. Ein sanftes Lächeln hängt auf Jez Lippen, als er den Ball auf seine Trainingstasche wirft. Seine Mutter dreht sich um und verlässt das Zimmer. Beinahe augenblicklich huscht das Lächeln wieder aus Jez Gesicht. Genauso schnell, wie das Lächeln von seinem Gesicht verschwunden ist, wandern seine Gedanken wieder dorthin zurück, wo sie noch vor wenigen Minuten waren.
Warum hatte Kimmy so abwesend gewirkt? Hatte Max das mit ‚Sie ist ein bisschen anders als manche anderen Mädchen hier.‘ gemeint? Jez steht auf und nimmt den Handball wieder in die Hand. Auf einem der gelben Sechsecke ist eine mattschwarze Unterschrift zu sehen. Im letzten Jahr war er zusammen mit seinem Vater und seinem kleinen Bruder in Köln, in der Lanxess Arena, beim Final Four. Uwe Gensheimer, einen Spieler von den Rhein-Neckar-Löwen, hatte er damals um eine Unterschrift gebeten. Vorsichtig streicht Jez mit den Fingern über die Unterschrift. Mit zwei Schritten geht er wieder nach hinten und setzt sich auf die Bettkante. Mit seinem Vater. Diese Worte lösen ein unbeschreibliches Gefühl in ihm aus. Ein negatives Gefühl. Er hat seine Mutter betrogen! Er hat behauptet, es sei normal, einmal fremd zu gehen. Das schlimmste daran war nicht einmal mehr diese Aussagen. Sondern die Tatsache, dass die seine Affäre die Mutter von Jez bestem Freund war. Dieser hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, er solle sich nicht so anstellen. Diese Worte haben Jez beinahe genauso sehr verletzt wie die Affäre von seinem Vater selbst. Mit einer schnellen Handbewegung verscheucht Jez die Gedanken.
Warum macht er sich eigentlich solche Gedanken? Er sollte sich eher Gedanken darübermachen, wie es Jeremy geht! Jeremy, sein kleiner 11-jährigen Bruder, der bei seinem Vater in Köln geblieben ist. Er und Jeremy hatten in den letzten Wochen, in denen sie noch zusammenlebten, nur noch gestritten. Er sollte mit hierherkommen. Langsam dreht Jez den Ball zwischen den Fingern und seufzt. Jeremy alleine bei seinem Vater. Dieser Gedanke verbreitet ein ungutes Gefühl in ihm. Nicht, dass sein Vater in irgendeiner Art gewalttätig ist, aber Jez hätte seinen kleinen Bruder lieber bei sich. Vor der Trennung seiner Eltern hatten sie sich eigentlich total gut verstanden. Er hatte lange auf Jeremy eingeredet und versucht ihm zu erklären, dass die Trennung nicht an ihrer Mutter liegt. Dass sich ihre Eltern trennten, weil ihr Vater ihre Mutter betrogen hatte. Nicht anders herum. Aber Jeremy wollte das nicht einsehen. Er wollte in Köln bleiben. Jez wäre auch lieber in Köln geblieben. An seinem letzten Gedanken bleibt Jez hängen. Ja, ich wäre wirklich lieber in Köln geblieben. Bei seinen Freunden, bei seinem Handballverein, in seiner Stadt. Aber er wollte nicht bei seinem Vater bleiben. Hier, Fautenbach. Ein kleines Kaff, in dem seine Mutter ihre Kindheit verbracht hatte. Sie hatte gesagt, ihm würde es hier gefallen. Aber was sollte er schon dazu sagen. Er war schließlich erst einen Tag, gut, zwei Tage hier.
Heute ist der einundzwanzigste. Mit diesen Worten im Hinterkopf betritt Kimmy das Klassenzimmer.
Betty sitzt auf dem Tisch von Max. Sie lacht und auch auf Max Lippen liegt ein Lächeln. Kimmy schiebt sich zwischen den Tischreihen hindurch, bis sie an ihrem Platz angekommen ist und die Tasche auf den Boden plumpsen lassen kann. In dem Moment, in dem die Tasche den Boden berührt, dreht sich Betty erschrocken um. Mit hochgezogenen Augenbrauen mustert sie Kimmy.
„Alles okay?“ Betty runzelt die Stirn und legt den Kopf schief.
„Warum soll nicht alles in Ordnung sein?“ Anscheinend klingt die Antwort ziemlich zickig, denn Betty zieht den Kopf ein. Augenblicklich kriecht in Kimmy ein Schuldgefühl hoch. Sie hat Stimme nicht absichtlich den sarkastischen Unterton beigemischt. Max legt eine Hand auf Bettys rechtes Bein.
„Es war ja nicht böse gemeint!“ Kimmy will gerade ein wenig beschämt den Blick abwenden, da betritt Jez, mit einem dunklen Motorradhelm in der Hand und einer ebenso dunklen Motorradjacke das Klassenzimmer und kommt auf die drei zu. Leise pustet Kimmy die Luft aus und zieht die Beine an. Als Jez und Max sich begrüßen, stupst Betty Kimmy mit dem Ellbogen in die Seite. „Hey, Kimmy. Es tut mir leid. Ich …“
„Ist okay, war nicht so gemeint“, unterbricht Kimmy sie und wendet dann das Gesicht ab. Betty sollte nicht sehen, dass sie in Gedanken nicht im Hier und Jetzt ist. Nicht, weil es ihr peinlich ist, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie sie mit ihren Problemen nicht belasten will. Lennard ist einfach ein Thema, dass sie in ihrem Herzen verschließt und an das niemand herankommen soll. Zwei, drei Mal blinzelt sie, dann dreht sie den Kopf wieder zu den anderen und nickt Jez zur Begrüßung kurz zu. Er sieht sie länger als nötig an. Verunsichert wendet Kimmy den Blick wieder ab und rutscht ein wenig näher an das Fenster. Die ersten Sonnenstrahlen tanzen auf ihrem Gesicht und necken sie so lange, bis sie nach draußen sieht. Der Himmel scheint fast wolkenlos und in oranges Licht getaucht. Für einen Moment versinkt Kimmy in dem Anblick. Als etwas ihr Bein steift, zuckt sie jedoch zusammen. Jez sieht sie entschuldigend an. Sein Blick verunsichert Kimmy schon wieder. Doch anstatt ihn anzusehen – ihm dabei zuzusehen, wie er sich durch die kleine Lücke zwischen seinem und Max Tisch und dem Fensterbrett quetscht - sieht sie zur Tür und stellt fest, dass Herr Renner gerade die Tür hinter sich zudrückt und es höchste Zeit wird, von Max und Jez Tisch zu verschwinden. Mit leisen, weichen Bewegungen lässt sie sich vom Tisch gleiten und setzt sich auf ihren Stuhl.
Als Herr Renner beginnt, irgendwelche Matheformeln an die Tafel zu schreiben, ist Kimmy schon wieder weit weg, in ihrer Gedankenwelt. Sie stützt den Kopf auf die Hand, sodass sie das Gesicht immer zu Tafel gedreht hält, doch an ihren Augen kann man erkennen, dass es wichtiger Dinge als Matheformeln gibt. Vier Jahre und elf Monate. Eintausendsiebenhundertneununddreißig Tage. Und wer weiß wie viele Minuten. Langsam malt Kimmy kleine Kreise auf ihren Block. Ihr allnächtlicher Traum beschäftigt sie. Eigentlich kennt sie ihn in und auswendig. Aber diese Nacht ist ihr wieder ein Teil mehr, wie manchmal schon vorgekommen ist, ins Gedächtnis zurückgekommen und es hat sich so real angefühlt, dass Kimmy sich, als sie aufgewacht ist, erstmal selbst ermahnen musste, bevor sie in ihre Kissen zurückgesunken ist und ihr wieder einmal schmerzlich bewusst wurde, dass es sich so real angefühlt hat, weil sie es wirklich so erlebt hat.
„Kimmy?! Könnest du bitte wiederholen, was ich gesagt habe?“ Erschrocken zuckt Kimmy zusammen und hebt den Kopf von ihrer Hand. Zögerlich setzt sie sich gerade hin, während sie innerlich zu fluchen beginnt.
„Ähm…“ Schnell versucht sie die Formeln an der Tafel zu entwirren, um wenigstens zu wissen, um was es geht. Keine einzige der Formeln kommt ihr bekannt vor. „Nein.“ Eigentlich ist Kimmy eine Schülerin, die lieber den Mund hält, bis der Lehrer wieder beginnt, einen Vortag zu halten, dass der Unterricht dafür gedacht ist, dass sie – die Schüler – etwas lernen und dass es respektlos ist, nicht aufzupassen. Umso überraschter sind wohl so ziemlich alle, als sie mit fester Stimme widerspricht. Herr Renner hebt die Augenbrauen und kommt auf Kimmy zu. Vor ihrem Tisch bleibt er stehen.
„Dann pass aber jetzt auf. Noch einmal erkläre ich es nicht für dich.“ Widerwillig nickt Kimmy. Da ist man einmal nicht hundertprozentig dabei… In diesem Moment erwischt sie sich selbst, dass sie sich schon wieder mehr mit ihren Gedanken beschäftigt, als mit den Matheformeln an der Tafel. Selbstbewusst hebt sie den Kopf und versucht nun, auch wenn sie sich immer noch nicht konzentrieren kann, ihre Aufmerksamkeit zu den Matheformeln zu lenken.
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Schweigend steht Kimmy neben Betty und hört zu, wie sie sich mit Max und Jez unterhält. Was sollte sie schon groß zum Thema Handball beitragen? Ja, Lennard hat früher Handball gespielt… Langsam senkt sie den Blick. Er war ein Teil der D-Jugend im Jahr 2008/2009 im SuS Achern. In der nächstgrößeren Stadt von Fautenbach aus, zu der das Dorf strenggenommen sogar gehört. Die Mannschaft ist in diesem Jahr Meister geworden. Zusammen mit Lennard…
Kimmy schließt kurz die Augen und atmet ein paar Mal ein. Sie hat gar nicht bemerkt, wie ihr Herz begonnen hat, bis zum Hals schlagen. Normalerweise schafft sie es immer ohne große Anstrengungen in der Anwesenheit von anderen Menschen ihre Emotionen hinter einer Fassade zu verstecken. Deshalb stellt sie im nächsten Moment noch eine Spur geschockter fest, dass sie ihre Mauer fast vollkommen fallenlassen hat. Als sie die Augen wieder öffnet und den Blick hebt, sieht sie geradewegs in Jez grünen Augen. Sofort weiß Kimmy, wie sie das Funkeln in seinen Augen zu deuten hat. Besorgnis spiegelt sich in ihnen. Und vielleicht auch ein bisschen Neugier. Instinktiv wartet Kimmy darauf, dass Jez irgendwas tut. Oder sagt. Doch Jez tut nichts. Er steht einfach nur da und sieht ihr in die Augen. Kimmy versucht seinem Blick standzuhalten, bricht den Blickkontakt aber ab. Als sie dann trotzdem noch einmal zögerlich aufsieht, ruht Jez grüne Augen immer noch auf ihr. Irgendwie verunsichert Jez Verhalten sie noch mehr. Dass selbst er, als eigentlich Fremder, der sie nicht kennt, merkt, dass in ihr irgendetwas Negatives vorgeht. Immer wieder nimmt sie Anlauf den Blick zu heben, tut es aber dann doch nicht. Sie musst Jez nicht ansehen, um seinen Blick auf sich zu spüren. Verzweifelt sucht sie einen Weg, um aus dieser Situation zu entwischen.
„Ich hol mir was zu trinken.“ Erleichtert, dass ihr dieser Gedanke gekommen ist, dreht Kimmy sich um und läuft schnell in Richtung Bäcker. Hat Jez gemerkt, dass ihr gerade Lennard wieder durch den Kopf ging? Obwohl… Jez kennt Lennard gar nicht. Außer… Hat Max ihm vielleicht was davon erzählt? Von dem Unfall? Von Lennard?
***
Kimmy sitzt über ihren Physikhausaufgaben. Physik!? Wer braucht schon Physik? Genervt schlägt sie das Buch zu. Warum ewig darüber brüten und es am Schluss trotzdem nicht verstehen? Sie steht auf, nimmt die Kopfhörer und ihr Handy in die Hand und setzt sich aufs Bett. Es ist schon kurz vor halb 11. In ungefähr einer halben Stunde wird sie so tun, als würde sie ins Bett gehen. Um die halbe Stunde zu überbrücken, setzt sich Kimmy die Kopfhörer auf und schließt die Augen bei der Musik. Wohl niemand würde bei dieser Art von Musik die Augen schließen. Die Toten Hosen und Kraftklub. Nur bei dieser Musik kann Kimmy sich entspannen. Die Musik ist zu rockig – jedenfalls die schnellen, lauten Titel -, um irgendwie nachdenken zu können.
Immer wieder sieht Kimmy auf die Uhr. Zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig. Entschlossen zieht sie sich die Kopfhörer aus den Ohren, legt sie auf den Schreibtisch und macht sich auf den Weg nach unten, so wie jeden Abend.
„Ich geh jetzt schlafen.“
„Ist okay, Schatz.“ Ihre Mutter gibt Kimmy einen Kuss auf die Stirn und sieht ihrer Tochter noch zu, wie sie ein Glas Wasser einschenkt, es in die Hand nimmt und damit nach oben in ihr Zimmer verschwindet.
In ihrem Zimmer angekommen, stellt sie das Glas Wasser, ohne einen Schluck zu sich genommen zu haben, auf den Schreibtisch. Mit leisen, schnellen Schritten, sucht sie graues Sweatshirt mit Kapuze aus ihrem Schrank, zieht es über den Kopf und schlüpft in die Turnschuhe, die sie gleich nach der Schule mit in ihr Zimmer genommen hat. Dann wirft sie einen Blick auf ihren Schreibtisch. Soll sie ihr Handy mitnehmen? In einem Bruchteil einer Sekunde entscheidet Kimmy sich dagegen. Sonst ist sie auch immer so aufgewacht.
Schnell und leise legt Kimmy sich auf den Bauch und robbt ein Stückchen unter ihr Bett. Mit einer Hand zieht die das große Kissen heraus und stopft es unter ihre Bettdecke. Ihre Eltern würden zwar eigentlich nicht in ihr Zimmer kommen, doch sicher ist sicher. Falls ihre Mutter doch nochmal ein Blick in ihr Zimmer wirft wird sie denken, dass Kimmy sich die Decke bis über die Ohren gezogen hat. Dann geht Kimmy zum Fenster. Flink öffnet sie es und klettert auf die etwa zwanzig Zentimeter breite Außenfensterbank. Kurz hält sie inne, bis sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hat, dann greift sie nach den Gardienen und zieht sie mit beiden Händen zu. Kimmy dreht sich auf der Stelle um und setzt einen Fuß vorsichtig, aber zielsicher auf eine Strebe des Vordaches, das die Haustür schützt. Mit beiden Händen stützt Kimmy sich auf der Fensterbank ab, als sie auch den anderen Fuß auf das Dach setzt und in die Hocke geht, um das Gleichgewicht jetzt nicht zu verlieren. Langsam löst sie die Umklammerung und bewegt sich leise bis zur Dachrinne. Von hier oben kann Kimmy den Kies, der den gesamten Hof bedeckt, in der Dunkelheit nur noch spärlich erkennen. Eine Hand legt sie auf die Kante der Dachrinne, als sie sich umdreht, auch die andere Hand ebenfalls auf die Dachrinne legt und sich vom Dach abdrückt. Auf beiden Füßen landet sie auf dem Kies und geht die Bewegung bis in die Hocke herein mit, um das Geräusch, das sie durch die Landung verursacht hat, abzudämpfen. Einige Sekunden verharrt sie in dieser Position, dann erhebt sie sich, sieht sich ein letztes Mal um und läuft dann zielstrebig schnell in Richtung Friedhof.
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Wäre Kimmy den Anblick des im Dunkeln liegenden Friedhofs nicht schon gewöhnt, dann würde sie auch zu den Menschen zählen, die Angst bekommen würden. Aber schließlich ist hier Lennards altes neues zu Hause. Die Grablichter flackern ein wenig und tauchen das Gras, die Steinplatten und die Erde in einem Radius von zehn Zentimetern in ein schaurig flackerndes Licht.
Kimmy steht vor dem großen eiserenen Tor. Höchstwahrscheinlich ist es immer noch nicht geölt. Statt es zu testen, zieht sie die Ärmel ihres Sweatshirts über die Hände und legt diese auf das Tor. Mit einem kleinen Sprung und ein wenig Kraftaufwand in den Armen, zieht sie sich an dem Tor hoch und landet auf der anderen Seite auf beiden Füßen. Flink huscht sie zwischen den Gräben hindurch. Die Kapuze verdeckt ihr braunes Haar und die Hände verbirgt sie in den Taschen des Sweatshirts. Hier, auf dem Fautenbacher Friedhof, kreisen ihre Gedanken immer und unaufhörlich um eine Person. Um Lennard. Mittlerweile hat Kimmy das Grab ihres großen Bruders erreicht. Sie sieht nicht zum Grabstein, sie streicht nicht über die Primeln, so wie sie es tagsüber für gewöhnlich macht. Sie setzt sich einfach nur neben den Grabstein, lehnt sich ein wenig dagegen und schließt die Augen. Sofort erscheint Lennards Bild vor ihren Augen. Diesmal aber wie in ihren Träumen. Diesmal lächelt er. Er kommt als Sechzehnjähriger auf sie zu, setzt sich neben sie, neben sein eigenes Grab, nimmt Kimmy in den Arm und sieht ihr zu, wie sie einschläft. Dieses Bild bleibt auf Kimmys inneres Augenlied gebrannt.
Die Sonnenstrahlen und das beginnende Vogelgezwitscher weckt sie. Ein wenig verschlafen blinzelt Kimmy ein paar Mal und nimmt die Helligkeit, die Feuchtigkeit des Morgentaus und die Naturgeräusche wahr. Sie saugt die kühle Morgenluft ein und setzt sich auf.
Die Köpfchen der Primeln auf Lennards Grab biegen sich unter der Last der Tautropfen. Mit beiden Händen reibt sich Kimmy über die Augen und scheucht die Müdigkeit weg. Langsam erhebt sie sich und streicht den Blumen über die Köpfchen, sodass die Tautropfen auf den feuchten Boden fallen. Einige Sekunden bleiben die Tropfen auf der Erdoberfläche, dann verschwinden sie darin. Kimmy sieht wieder zum Grabstein auf. Lennard Beck… An dieser Stelle könnte genauso gut ihr Name stehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wäre nicht Lennard gestorben, sondern sie… Wahrscheinlich sogar. Sofort beginnt ihr Herz zu klopfen und der ihr so bekannte Druck auf den Brustkorb kriecht aus seinem Versteck, genauso, wie ihre Finger damals geschmerzt hatten, als sie sie sich auf der Herdplatte verbrannt hat. Damals. 2007. Als alles noch gut war… Lennard war zu ihr gerannt kommen und hatte sie nur angeguckt. Ein paar Augenblicke. Dann hatte er sie an die unverletzte Hand genommen und zum Waschbecken gezogen. Langsam bahnen sich die aufsteigenden Tränen in Kimmys Augen den Weg über ihr Gesicht und versickern in dem Stoff ihres Sweatshirts.
Still und alleine sitzt sie vor Lennards Grab und weint, ohne einen Ton von sich zu geben. Immer mehr Tränen fließen über Kimmys Wangen und tropfen auf das Sweatshirt. Nach einer ganzen Weile versucht sie den Tränen ein Ende zu setzen und einmal tief ein- und auszuatmen, doch ein Schluchzen bahnt sich den Weg aus ihrem Inneren, sodass sie den Tränen wieder freien Lauf lässt. Warum versuche ich überhaupt die Tränen zurückzuhalten? Hier auf dem Friedhof wird sie doch sowieso von niemanden gesehen.
***
Jez zieht gerade das T-Shirt, in dem er bis eben noch schlaflos im Bett gelegen hat, über den Kopf und sieht dabei aus dem Fenster. Dafür, dass es erst Ende April und kurz nach sechs Uhr morgens ist, ist es schon ziemlich hell. Eine Person, nicht größer als 1,70m läuft in dunklen Klamotten bekleidet die Straße entlang und bleibt vor dem Haus schräg gegenüber stehen. Mit der rechten Hand greift Jez, ohne hinzusehen, ein T-Shirt aus seinem Schrank und fährt mit den Armen schon hinein, als er inne hält und die Person draußen interessiert beobachtet. Sie sieht sich einmal um und nimmt dann Anlauf, springt in dem Hof, dessen Untergrund aus Kies besteht, ab, bekommt mit den Händen die Dachrinne des Vordachs des Hauses zu fassen und zieht sich gekonnt und ziemlich flink daran hoch. Sie bewegt sich in der Hocke bis zu einem Fenster fort, den Rücken zu Jez gekehrt und klettert dann auf die Fensterbank. Einige Sekunden hantiert sie etwas herum, dann verschwindet sie durch das Fenster. Verwirrt macht Jez zwei Schritte auf sein Zimmerfenster zu, kann aber nichts mehr erkennen. Was war das den gerade? Verwirrt schüttelt er den Kopf. Anstatt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, streift er das Shirt über den Kopf, zieht eine Hose aus dem Schrank und schlüpft hinein. Dann stopft er die Schulsachen in eine Tasche und verschwindet im Bad.
Während er die Zähne putzt, schafft es Jez nicht, diese merkwürde Person aus seinem Kopf zu verbannen. Wer war die Person? Warum klettert sie morgens kurz nach sechs Uhr morgens durch ein Fenster in das Haus und nimmt nicht wie jeder normale andere Mensch die Haustür? Jez ist sich sicher, dass es sich schon aufgrund der Figur um keinen Junge handeln kann.
Als Jez keine Antwort auf seine Fragen findet, zwingt er sich dazu, an etwas anderes zu denken. Die Jungs gestern im Training waren schon cool drauf. …Warum hat Kimmy in der Pause so hilfesuchend gewirkt? Warum hat sie plötzlich so einen aufgeregten, ertappten Eindruck gemacht? Warum haben Betty und Max nichts davon bemerkt? Warum hat ausgerechnet er es bemerkt? Oder hat er es sich einfach nur eingebildet? Alle Gedanken kreisen durcheinander durch Jez Kopf. Doch der letzte Gedanke will ihn nicht wirklich loslassen. Kimberly Beck. Ihr Name kommt ihm schon von dem ersten Moment, in dem er ihr erfahren hat, bekannt vor. Nur warum weiß er nicht…
Während all diese Gedanken in seinem Kopf umher gekreist sind, ist Jez die Treppe hinuntergegangen und hat sich schweigsam an den Frühstückstisch gesetzt.
„Alles okay, Jez?“ Ertappt zuckt Jez zusammen. Als hätte er an irgendetwas verbotenes gedacht.
„Was?“ Seine Mutter hat gemerkt, wie sehr ihr Sohn gerade in Gedanken versunken war, denn sieht sie ihm in seine grünen Augen, die er von ihr geerbt hatte.
„Alles okay?“ Jez beißt in seinen Toast und nickt. Nicht ganz überzeugt sieht seine Mutter ihn an. „Wirklich?“ Jez seufzte und nickt.
„Wirklich. Ich habe nur nicht sonderlich gut geschlafen.“ Er putzt mit einer Hand die Krümel von seinem Shirt und steht dann auf, um sich ein Glas Saft zu machen.
„Gibt es irgendeinen Grund dafür?“ Genervt stöhn Jez leise auf.
„Es ist alles in Ordnung, Mama, okay?“ Ohne es zu wollen, lässt Jez das Stöhnen ein wenig zu genervt klingen, denn in den Augen seiner Mutter blitzt für den Bruchteil einer Sekunde die traurige Trübe hervor. Ein weiteres Mal seufzte Jez. Er hasst es, jemandem zu verletzten. „Tut mir leid, Mama. Aber…“, er unterbricht sich selbst einen Moment, „…ich muss mich hier erst mal an alles gewöhnen.“ Jez legt seiner Mutter die Hände auf die Schultern.
„Ist schon in Ordnung, Jez.“ Jez weiß, dass es eine Lüge ist. Nichts in diesem Haus, nichts in den letzten Monaten war in Ordnung. Jedes einzelne Familienmitglied hat sich irgendwo von dem anderen entfernt. Einzig die Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter wurde nicht wie ein Seil Stückchen für Stückchen zerschnitten.
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Immer wieder mustert Kimmy Jez, der ihr gegenüber in der Aula sitzt und gedankenverloren ins Leere starrt. Sie haben eine Hohlstunde. Latein fällt aus. Allerdings nur sie, Jez und einige der Mädchen, mit denen sie zusammen Hockey spielt, die aber alle in die anderen Klassen gehen und die Stunden nach dem Lateinunterricht frei haben, weshalb sie sich alle von ihr verabschiedet haben und nach Hause gegangen sind. Betty und Max haben Französisch gewählt und quälen sich gerade wohl mit irgendwelchen Vokabeln.
Kimmy hat die Füße auf einen Stuhl gelegt und lehnt sich ein wenig vor, sodass sie um die Ecke lugen und sichergehen kann, dass kein Lehrer in der Nähe ist. Im Einsteinschulzentrum nehmen die Lehrer das Handyverbot leider zu ernst und konfiszieren jedes Handy, das während der Schulzeit gefühlt nur in die Nähe des Schulgeländes kommt. ‚Die Unterstufenschüler sollen von den älteren nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass ein Smartphone ein lebenswichtiges Gerät ist.‘ Die Begründung ist in dieser Generation so lächerlich, dass Kimmy sich, wenn sich darüber nachdenkt, darüber wundert, dass der Rektor bei der Veröffentlichung dieser Begründung nicht selbst schmunzeln musste. Kimmy zieht ihr Handy aus der Hosentasche und scrollt durch die neuen Nachrichten, die sie erhalten hat. Ein paar Mal hebt Kimmy den Blick und erschrickt fast, als sie Jez Blick bemerkt. Tonlos formt er ein Wort mit den Lippen. Und Kimmy versteht nicht. Anstatt etwas zu sagen, lehnt sich Jez nach vorne, greift schnell nach dem Handy in Kimmys Händen und lässt es in seinen Sweatshirtjackenärmel verschwinden.
„Was soll das?“ Jez Mimik verändert sich nicht, bleibt einfach nur ernst. In Kimmys Augen provozierend ernst. Ihre Gesichtszüge werden hart. Blitzschnell steht sie auf und greift nach Jez linken Jackenärmel, in dem noch immer ihr Handy verborgen ist.
„Fummeln im Schulgebäude verboten!“ Dröhnt es plötzlich an Kimmys Ohr. Sie lässt Jez los und dreht sich um. Einer der Ich-bin-einer-von-den-möchte-gern-coolen-Lehrern steht vor ihr und grinst sie nur an.
„Okay!“ Jetzt ist Kimmy baff. Sie dreht sich wieder zu Jez um und sieht ihn vorwurfsvoll an. Ihre Augen funkeln aggressiv. Ist das gerade Jez Ernst? Er sieht sie einfach nur aus seinen grünen Augen an. Gerade will Kimmy sich wieder zu dem Möchte-gern-Lehrer umdrehen, doch dieser verlässt in diesem Moment das Schulhaus.
„Was soll das?!“ Sauer greift Kimmy wieder nach Jez Arm und zieht ihr Handy aus seinem Jackenärmel.
„Reg dich ab. Hättest du es besser gefunden, wenn dein Handy jetzt bei dem wäre?“ Gut gekontert, dass muss Kimmy zugeben. Weil Kimmy darauf keine gute Antwort einfällt, lässt sie sich wieder auf den Stuhl fallen, auf dem sie bis gerade eben noch saß, verstaut das Handy in der Hosentasche und verschränkt sauer die Arme vor der Brust. Mit Ignoranz versucht Kimmy Jez zu bestraften, doch das scheint ihn nicht weiter zu stören. Noch schlimmer!
***
Mit dem Skateboard rollt Jez langsam die Feldwege bis hin zu der kleinen Skateranlage - die aus nur zwei kleinen Schanzen besteht – und lässt seine Gedanken langsam wandern. Zu seiner Linken liegt die große Bundesstraße, nur durch einen Grünstreifen getrennt. Fand Kimmy die Aktion mit ihrem Handy wirklich so schlimm? Oder seine Antwort, die im Nachhinein betrachtet schon ziemlich unbedacht war? Und warum ist sie so anders? Wie schafft sie es, dass nur er das Gefühl hat, zu sehen wie sie sich gerade fühlt? Tief in Gedanken rollt Jez auf die kleine Einfahrt von der Bundesstraße auf die Feldwege zu. Mit einem Fuß bremst er langsam ab. Er hatte ihr doch nur helfen wollen. Fand Kimmy die Aktion wirklich so schlimm? Und hat sie gemerkt, dass er ihm schon etwas ausmachte, als sie ihn einfach ignoriert hat? Vor Jez rollt ein Auto langsam in die Feldwegeinfahrt. Er bremst ab und wartet, bis das Auto den Feldweg hineingefahren ist, dann springt er wieder auf das Skateboard.
Gerade, als er wieder in seine Gedanken zurückkehren will, taucht die winzige Skateranlage vor ihm auf. Nichts im Vergleich zu den Anlagen in Köln. Er war regelmäßig mit einem seiner Freunde die Schanzen herunter geheizt und sie hatten sich gebattelt. Wer die besseren Sprünge oder Tricks beherrscht. Hier ist es etwas anderes. Auf der Kante der größeren Schanze steht ein BMX-Fahrer mit seinem Bike. Tja, jetzt muss sich Jez eben mit der kleinen Schanze zufriedengeben. Gekonnt klettert er rauf und stellt sich mit seinem Skateboard auf die Kante.
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Kimmy lässt die langen Grashalme durch ihre Finger gleiten. Sie sitzt nahe am Ufer des kleinen Sees. Seit mehr als einer Stunde schon. Davor hatte sie an dem Unfallort vorbeigeschaut. An dem Ort, der ihr gesamtes Leben durcheinandergewirbelt hat. An dem kleinen Kreuz mit Lennards Namen und den Blumen, die sie den Winter über in kleinen Töpfen in ihrem Zimmer stehen hat und im Sommer an das kleine Kreuz stellt. Kimmy kneift die Augen ein wenig zusammen und sieht bis ans andere Ufer.
Damals, an dem gegenüberliegenden Ufer haben sie und Lennard immer zusammen die kleinen Seemuscheln gesammelt, haben Sandburgen gebaut und Schiffbrüchige gespielt. Einmal ist Kimmy zu weit raus geschwommen und hat nicht mehr genug Kraft gehabt, um bis zum Ufer zurückzuschwimmen. Lennard hat sie aus dem Wasser gezogen und beide haben sich geschworen, niemals ihren Eltern davon zu erzählen. Das war im letzten Sommer vor Lennards Tod. Traurig starrte Kimmy – wie andere es deuten würden - gedankenlos in die Luft. Nicht lange, vielleicht zehn Sekunden, dann reißt sich los. Los, von dem Anblick des anderen Ufers. Los, von den Gedanken an die noch heile Welt vor Lennards Tod. Leise steht Kimmy auf und geht langsam durch das oberschenkelhohe Gras. Die trockenen Halme kitzeln an ihren nackten Beinen. Bei diesem Wetter – auch wenn erst Mitte April ist – trägt Kimmy eine helle Hotpants mit vielen kleinen, blauen Blumen und einem weißen Top. Mit einer Hand streicht sich Kimmy die braunen Haare nach hinten und drückt dann die Grashalme vorsichtig zur Seite. Keine zwanzig Meter vor ihr liegen die Bäume, die der Skateranlage Schatten spenden.
Sie hält ihren Blick auf den Boden gerichtet, drückt mit beiden Händen sanft die langen Grashalme zur Seite und läuft langsam durch das hohe Gras. Eine ihrer braunen, gewellten Strähnen wird von dem leichten Wind erfasst und weht ihr vor die Augen. Mit einer Hand streicht sie diese energisch hinter das rechte Ohr.
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Jez ist gerade auf die Kante der größeren Rampe geklettert, als er sie so sieht. Kimmys Anblick verzaubert ihn auf eine merkwürdige Art und Weise. Vielleicht, weil sie ihr sonst so gezwungenes Lächeln abgelegt hat und ihr Gesicht entspannt wirkt. Oder, weil er sie einfach so, außerhalb der Schule sieht. In diesem Moment hebt Kimmy den Kopf.
Sie sieht einen dunkelhaarigen Jungen auf der Kante einer Rampe stehen. Erst, als sie noch einige Schritte weiter auf die Skateranlage zukommt, erkennt sie Jez. Ohne, dass Kimmy weiß warum, wird ihr auf einmal ganz warm im Bauch. Sie kennt Jez erst zwei Tage und dann das? Schnell senkt Kimmy den Blick wieder und hebt ihn erst wieder, als das Geräusch von rollenden Skateboardrädern in ihren Ohren klingt. Gerade als Kimmy mit ihren hellblauen Vans den Asphalt berührt, bremst Jez auf der Anlage ab. Er wirft einen Blick in Kimmys Richtung. Und sieht ihr für einen winzigen Moment direkt in ihre Augen. Zögerlich lächelt Kimmy. Sie ist Jez Blick zwar ausgewichen, aber irgendwie zwingen sie seine leuchtenden Augen, ihn anzusehen. Vorsichtig hebt sie wieder den Blick und sieht in seine grünen, funkelnden Augen. Dann erwidert er ihr Lächeln zögernd. Weil ihr Kopf ihr sagt, dass sie nicht einfach stehenbleiben kann, geht Kimmy langsam auf Jez zu. Er springt von seinem Skatebord und schnippt es mit dem Fuß gekonnt hoch, sodass mit einer Hand danach greifen kann.
„Hey.“ Das anfangs zögerliche Lächeln hat sich in Jez süßes Standartlächeln, welches Kimmy trotzdem als sympathisch und niemals als arrogant wahrnimmt.
„Hey.“ Innerlich zwingt Kimmy sich dazu, nicht weiter über die Wärme in ihrem Bauch nachzudenken. Die Frage, was plötzlich in ihr vorgeht, würde sie selbst gerne beantwortet wissen. Eine unangenehme Stille entsteht. Jez räuspert sich.
„Warst du am See?“ Glücklich, dass nicht sie die Stille brechen muss, nickt Kimmy. „Arschkalt?“ Kimmy lacht leise und zuckt die Achseln.
„Ich war dieses Jahr noch nicht drin. Ist doch noch ein bisschen früh dieses Jahr.“ Jez lächelt immer noch. Als er plötzlich einen Schritt auf sie zukommt, zuckt Kimmy fast unmerklich zusammen.
„Du hast da was.“ Jez hebt er seine Hand und zieht ihr vorsichtig etwas aus ihrem Haar. Ein leises ‚Auuu‘ bahnt sich trotzdem den Weg aus Kimmys Mund in die Freiheit. Jez schnipst ein Blatt oder so etwas in der Art mit zwei Fingern weg. Für einen kurzen Moment sieht Kimmy nach oben, zu Jez. Er ist circa einen halben Kopf größer als sie. Ein Lächeln spielt um seine Lippen. Kimmy erwidert es, senkt aber sofort den Kopf, als ihr bewusst wird, das ihre Wangen eine Nuance röter werden. Jez geht einen Schritt nach hinten und zieht einen Mundwinkel hoch. „Übrigens noch… Sorry wegen heute Morgen.“ Erstaunt hebt Kimmy den Kopf.
„Oh… ähm… naja…“, stammelt sie. „Vielleicht habe ich auch ein bisschen überreagiert.“ Jez wirkt erleichtert. „Du hast es ja nur gut gemeint.“
„Kann sein.“ Kimmy nickt.
„Ähm…ich muss jetzt los… nach Hause.“ Warum lügt sie eigentlich? Warum versucht sie aus dieser Situation herauszukommen? Warum ist in ihrem Kopf plötzlich alles so durcheinander geschmissen?
„Soll ich dich heimbringen?“ Kimmy ist total überrascht. Damit hat sie nicht gerechnet. Nicht jetzt, nicht in drei Monaten, nicht vor einem Jahr. Niemals. Noch nie hat es Junge sie nach Hause bringen wollen. Bis auf Max, aber der zählt nicht.
„Warum nicht?“ Mechanisch setzt sie sich in Bewegung. Ist es normal für Großstadtkinder, dass sie sich gegenseitig nach Hause bringen, wenn sie sich zufällig treffen? Oder versucht Jez einfach nur nett zu ihr zu sein? Jez folgt ihr.
Langsam rollt er auf seinem Skateboard auf dem Feldweg neben Kimmy.
„Warum bist du eigentlich mitten im Schuljahr hierhergezogen?“ Fragend sieht Kimmy Jez an. Irgendwer muss ja ein Gespräch anfangen, denn Kimmy hat keine Lust den ganzen Weg mit diesem bedrückenden Schweigen zurückzulegen.
„Meine Eltern haben sich getrennt und ich wollte nicht bei meinem Vater in Köln bleiben.“ Jez starrt lange einfach nur auf den Grünsteifen, der langsam an ihnen vorbeiwandert.
„Ist es nicht schwer, wenn die Eltern getrennt sind?“ Jez zuckt die Achseln.
„Es ist halt plötzlich alles anders und man muss sich an alles neu gewöhnen. Aber eigentlich war es schwerer, meinen kleinen Bruder einfach in Köln zu lassen.“ Er wirkt in Gedanken. Bruder. Bei diesem Wort durchzuckt ein kleiner Schmerz Kimmy Herz. Keine zehn Meter vor ihnen liegt die Feldwegeinfahrt, bei der der Unfall, vor fast fünf Jahren, ihren Bruder aus ihrem Leben gerissen hat. Dass ihr Leben genau das gemacht hat, was Jez gerade gesagt hat. Es war plötzlich alles anders… Kimmy schweigt. Sie schafft es nicht, ihre Gedanken von Lennard loszubekommen. Jez schweigt ebenfalls. Anscheinend ist er immer noch in Gedanken versunken. Sehr auf Kimmy zukommend. Sie redet nicht gerne, hier, an dem Unfallort. An dem Ort, an dem sie ihren Bruder verloren hat. Unauffällig wirft sie einen Blick auf das kleine, hölzerne Kreuz, auf dem Lennards Name und sein Geburts- und Todesjahr steht.
„Hast du Geschwister?“ Die Frage war anscheinend nur so in die Luft geworfen, doch Kimmy zögert mit der Antwort. Soll sie mit „Ja“ antworten und Jez dann alles erzählen? Oder sollte sie Lennard und seinen Tod geheim halten, sodass er kein Mitleid mit ihr haben musste. Kimmy entscheidet sich für Letzteres.
„Nein.“ Tief in ihrem Inneren wehrt sich alles gegen diese Aussage. Der Schmerz, ihren geliebten Bruder zu verleugnen, brennt wie Feuer auf ihrer Seele. Mit ihrer nächsten Frage versucht sie, diesen Schmerz zu verdrängen.
„Warum wollte er nicht mit hierher?“ Jez seufzt.
„Er wollte nicht einsehen, dass unser Vater an der Trennung schuld ist, nicht unsere Mutter.“ Mit einem ganz leichten Nicken bestätigt Kimmy, dass sie Jez verstanden hat.
„Und davor? Hast du dich gut mit ihm verstanden?“ Jez nickt.
„Ja. Obwohl er erst elf ist.“ Elf Jahre. Kimmy zuckt wieder zusammen. Ein, zwei Mal atmet sie tief ein. „Alles okay?“ Jez sieht sie von der Seite prüfend an.
„Jaja. Alles klar.“ Anscheinend kauft Jez ihr das nicht ganz ab, denn sein Blick bleibt noch eine ganze Weile auf ihr haften.
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Der Lärmschutzwall liegt vor den beiden. Schweigend läuft Kimmy neben Jez her. Kimmy biegt nach rechts ab. Jez folgt ihr. An der nächsten Kreuzung biegt Kimmy nach links ab, womit Jez aber nicht rechnen konnte. Da er links neben ihr hergefahren ist, läuft Kimmy ihm unabsichtlich genau in den Weg. Erschrocken springt Jez vom Skateboard und erwischt mit einem Fuß Kimmy Bein. Sie stolpert und verliert das Gleichgewicht. Gerade noch rechtzeitig greift Jez nach ihrem Oberarm und zieht sie wieder nach oben. Eine Hand legt er auf ihre Hüfte, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Für einen kurzen Moment sehen die beiden sich an, dann wir ihnen bewusst, wie eng umschlungen sie dastehen. Blitzschnell lässt Jez Kimmy los.
„Sorry.“ Er streicht sich verlegen durch sein Haar.
„Ich müsste mich eher entschuldigen!“, gibt Kimmy zu. Jez hebt sein Skateboard auf. Er wirft Kimmy einen Blick zu, die sich dann wieder in Bewegung setzt. Zwei Häuser weiter bleibt sie stehen. „Danke fürs heimbringen. Und sorry, nochmal. War keine Absicht.“ Jez lässt sich nicht anmerken, was ihm gerade im Kopf herum spukt.
„Schon vergessen.“ Er zwinkert Kimmy ein letztes Mal zu. „Ciao.“
„Ciao.“ Jez dreht sich um und setzt sich in Bewegung. Die Person, die er heute Morgen gesehen hatte. Kimmy?! Ernsthaft?
***
Ja! Ernsthaft! Aber warum? Warum Kimmy? Warum? Immer wieder geistert Jez diese Frage durch den Kopf, egal wie sehr er sie zu verdrängen versucht. Warum klettert Kimmy morgens durch ein Fenster zurück in ihr Zimmer? Warum verschwindet sie nachts? Und vor allem: Was macht sie dann?
„Achtung, Jez!“ Erschrocken duckt Jez sich und wehrt in letzter Sekunde den Ball ab, der auf ihn zugeflogen kommt. Max kommt auf ihn zugelaufen. „Alles okay?“ Besorgt sieht er Jez in die Augen.
„Jaja, alles in Ordnung.“ Max gibt Jez einen Klaps gegen den Hinterkopf.
„Und jetzt reiß dich mal von dem Gedanken namens Kimmy los.“
„Was? Woher…?“ Jez zieht erschrocken, fragend die Arme hoch.
„Haha, selbst verraten, du Depp!“ Lachend wackelt Max mit den Augenbrauen, bevor er sich umdreht und dem wegrollenden Ball hinterherläuft. Woher weiß Max…? Halbwegs gekonnt schiebt Jez diese Frage und die anderen Gedanken zur Seite. Max hat recht! Er sollte sich lieber auf das Training konzentrieren!
***
Kimmy sitzt, an den Stamm des großen Kirschbaums im Garten gelehnt und lässt ihren Blick durch die weiße Kirschblütenpracht über ihr schweifen. Im Kopf listet sie sich währenddessen alle Fakten über Jez auf, die ihr seit den vergangenen Stunden nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Er heißt Jez. Er ist siebzehn Jahre alt. Er hat bis vor kurzem in Köln gelebt. Seine Eltern haben sich getrennt, wobei Jez Vater, soweit er gesagt hat, Schuld an der Trennung hat. Er wollte nicht bei seinem Vater bleiben. Er hat einen kleinen elfjährigen Bruder mit dem Namen…Tja. Mit dem Namen? Angestrengt versucht sich Kimmy den Namen ins Gedächtnis zu rufen, doch er will ihr partout nicht einfallen. Hat Jez den Namen seines kleinen Bruders überhaupt erwähnt? Schnell schiebt sie den Gedanken beiseite, dass sie, wenn sie mit ihrer imaginären Liste fertig ist, nicht schon wieder vergessen hat, was in der ersten Zeile steht. Jez fährt Skateboard und spielt Handball. Er trainiert seit kurzem mit Max zusammen hier, in der Nähe. In der nächst größeren Stadt, Achern. Wie gut er spielt. Bisher hat sie noch nicht die Möglichkeit gehabt, ihn spielen zu sehen. Er hat sich bis zu der Trennung ziemlich gut mit seinem kleinen Bruder verstanden.
Eine Kirschblühte wird von dem Wind vom Baum geweht und segelt still und langsam zu Kimmy. Diese hebt den Arm und fängt die Blüte mit der flachen Hand auf. Die kleinen weißen Blätter, die nach innen hin die Farbe rosa annehmen und mit den gelblichen Staubblättern enden, verbinden sie immer mit Lennards Bild. Anders als sonst spürt sie jedoch nicht den stechenden Schmerz in der Brust. Eher ein Gefühl, dass man mit Geborgenheit vergleichen kann. Geborgenheit… In Zusammenhang mit Lennard? Das ist eines der ersten Male, an dem Kimmy an ihren großen Bruder denken kann, ohne sofort wieder diese Tränen, Schulgefühle und diesen erdrückenden Schmerz in sich zu spüren. Wie er zusammen immer mit ihr Verstecken im Haus gespielt hat. Wie er sich immer hinter dem Aquarium versteckt hat und wie er sauer wurde und schrie: ‚Das ist unfair! Du schummelst! Mit dir spiel ich nie wieder Verstecken!‘, wenn sie ihn fand. Genau diese Bilder laufen vor Kimmys Augen nun ab. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen, das sofort wieder verschwindet. Aber warum? Warum kann Kimmy plötzlich ohne diese schwere Last an ihren Bruder denken? Warum? Wegen was? Wegen wem? Wegen Jez?! Sofort wischt Kimmy diesen Einfall bei Seite. Niemals! Warum auch?! Jez könnte Lennard sowieso nicht ersetzten! Es kann nicht und er wird auch nicht.
Unauffällig wirft Kimmy Jez einen Blick zu. Er wirft immer wieder mit einer Hand einen der Handbälle in die Luft und fängt ihn mit beiden Händen auf. Herr Renner erläutert der Klasse gerade die wichtigsten Handballregeln noch einmal, doch diese kennt Kimmy und so sieht sie sich nicht verpflichtet, den Worten des Lehrers zu lauschen. Viel lieber verfolgt sie die geschmeidigen Bewegungen von Jez.
„In das zweite Team bitte Max, Solena, Erik, Daniel, Tom, Jan und Kimberly.“ Erschrocken zuckt Kimmy zusammen. Manchmal ist es doch wenigstens ein bisschen sinnvoll, zuzuhören.
„Gehst du auf rechts außen?“ Wieder zuckt Kimmy zusammen. Sie hat gar nicht gemerkt, dass Max auf sie zugekommen war und sie angesprochen hat.
„Was?“ Kimmy sieht Max verwirrt an.
„Rechts außen?“
„Äh, klar.“ Max sieht sie amüsiert an, doch als sie zielsicher auf die Position ‚Rechts Außen‘ zusteuert, nickt er ihr anerkennend zu.
Herr Renner verteilt an die vier Mannschaften verschiedenfarbige Leibchen. Kimmy zieht sich das blaue Leibchen über den Kopf und stellt erst dann fest, dass sie es natürlich falsch herum angezogen hat. Hecktisch schlüpft sie wieder heraus, und quält sich in das nach Schweiß stinkende Leibchen.
„Team Blau hat Anwurf!“ Max und Solena gehen in die Mitte, an den Kreis, Kimmy und die anderen verteilen sich um sie. Mit einem kurzen Blick versucht Kimmy auszumachen, wer ihr Gegenspieler ist, doch sie kann nicht erkennen, wer auf welcher Position steht.
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„Letzter Angriff von Team Rot, dann ist Wechsel!“ Kimmy läuft rückwärts, bis zum eigenen Kreis und hebt die Arme. Ausgerechnet Jez ist ihr Gegenspieler! Es ist ja nicht so, dass sie schon mit einem Handballlaien als Gegenspieler überfordert wäre. Im letzten Angriff hat sie es dennoch geschafft, sich einfach unter Jez Arm durchgeschlängelt, was er, als Handballer, natürlich nicht auf sich sitzen lässt. Jez setzt gerade zum Sprungwurf an. Kimmy greift mit beiden Händen nach seinem T-Shirt und versucht ein Hindernis für ihn zu sein. Stattdessen zieht Jez Kimmy aber einfach mit in den Kreis. Sie stolpert über ihren eigenen Fuß und krallt sich tiefer in Jez Leibchen, um nicht mit voller Wucht auf den Rücken zu krachen. Jez lässt genau in diesem Moment den Ball los – der keine Sekunde später im Tor einschlägt – und fällt dann. Mit beiden Händen fängt er sich hektisch ab, als ihm bewusst wird, dass er Kimmy unter sich begrabe würde. Trotz allem spürt Kimmy das Gewicht von Jez auf ihrem Bauch und ihrem Brustkorb, seine Körperwärme und seinen Atem in ihrem Gesicht. Für den Bruchteil eines Bruchteiles einer Sekunde sieht Kimmy in Jez funkelnde Augen. Aber eben nur für einen Bruchteil eines Bruchteiles einer Sekunde. Im nächsten Moment drückt Jez sich nach oben, springt auf beide Füße und hält Kimmy beide Hände hin, als sie sich aufsetzt. Sie greift danach und lässt sich von Jez hochziehen. Aus einem für sie unerklärlichen Grund fühlen sich Kimmy Beinen so an, als wäre sie gerade aus irgendeiner Achterbahn gestiegen, weshalb sie sich an Jez festhält.
„Alles okay?“ Jez Stimme ist so leise, dass nur Kimmy ihn hören kann.
„Die hast du, Jez!“ Sofort lässt Jez von Kimmy ab und dreht sich um. Einer von den Jungs, der in einem der Teams ist, das auf der Bank sitzt, grinst. Reflexartig senkt Kimmy den Kopf, sodass man ihre Schamesröte nicht sieht und streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihren Haarspangen gelöst hat.
„Okay, Team Rot hat gewonnen! Gelb gegen Grün bitte!“ Kimmy läuft, mit immer noch mit gesenktem Kopf zur Bank. Sie lässt sich darauf fallen und sieht aus dem Augenwinkel, wie Herr Renner einige Worte mit Jez wechselt, beide grinsten und Jez sich dann zu ihr wendet und auf die Bank zu kommt.
***
Mit dem Fuß kickt Kimmy einen unsichtbaren Stein weg. Sie vermeidet es, Max, Betty oder geschweige dem Jez in die Augen zu sehen. Irgendwie kommt sie sich dumm vor. In der Klassenstufe gehen so oft Gerüchte herum, welcher Junge gerade etwas mit welchem Mädchen Laufen hat, obwohl es in den meisten Fällen gar nicht stimmt. Wieso fühlen sich die drei Worte ‚Die hast du!‘ aber so wahr und real an?
Betty versucht wieder und wieder Blickkontakt mit ihrer besten Freundin aufzunehmen. Nach nicht einmal fünf Minuten zieht sie Kimmy unsanft am Ärmel ihrer hellbraunen Lederjacke einige Meter von der Handballclique – Jez und Max mit inbegriffen – weg.
„Jetzt sag schon! Was läuft da zwischen Jez und dir?“ Nur ungern sieht Kimmy Betty in die Augen. Kimmy weiß, dass sie in solch einer Situation nicht gut lügen kann.
„Nichts?!“ Sie ist sich selbst nicht ganz sicher ob es eine Antwort auf Bettys Frage oder eine Gegenfrage ist. Betty verschränkt die Arme vor der Brust. Sie ist zwar ein ganzes Stück kleiner als Kimmy, aber trotzdem um eignes taffer.
„Ernsthaft jetzt, Kimmy!“ Kimmy zieht die Schultern hoch.
„Was meinst du mit: Was läuft da?“ Auf Bettys Gesicht breitet sich ein zufriedenes Lächeln aus.
„Habt ihr euch schon geküsst?“ Kimmy verschluckt sich und beginnt zu husten. Betty steht nur lachend neben ihr. „Das kam jetzt so, wie in denen klischeehaften Schnulzen.“
„Nein! Also…doch…kann sein…aber…“ Stottert Kimmy und bemerkt erst dann, dass Betty die vielen Antworten auch ganz anders auffassen kann.
„Ich wusste es!“ Quietscht das Mädchen nur und springt zweimal auf und ab.
„Nein! Nein Betty, wir haben uns nicht geküsst! Wann und vor allem warum auch?“ Sofort verzieht Betty das Gesicht.
„Keine Ahnung?! Vielleicht habt ihr euch ja mal getroffen oder so?“ Kimmy kennt Betty gut genug, dass sie weiß, dass Betty nie etwas unversucht lässt. Kimmy zögert. Treffen? Zählt das zufällige Aufeinandertreffen vor ein paar Tagen? Betty deutet Kimmys zögern. „Also ja?!“ Kimmy nickt und könnte sich Sekunden später dafür ohrfeigen. „Und?“ Betty hängt förmlich an ihren Lippen.
„Naja…“ Sie sieht Betty an und muss lachen. „Guck mich nicht so an!“ Betty verschränkt die Arme vor der Brust und zieht die Augenbrauen hoch. „Ich war vor ein paar Tagen am See und als ich wieder nach Hause wollte, bin ich an der Skateranlage vorbeigekommen und habe Jez gesehen.“
„Und? Weiter?“ Betty sieht sie abwartend an.
„Nichts weiter. Wir haben kurz geredet und als ich gesagt habe, dass ich nach Hause gehe hat er…“ Wie kommt man aus so einer Zwickmühle wieder heraus?
„Was hat er? Komm schon, Kimmy?“ Betty bettelt regelrecht. Kimmy gibt sich geschlagen. Betty würde es sowieso irgendwie herausfinden.
„Naja… er hat mich eben noch nach Hause gebracht.“ Bettys Augen werden immer größer.
„Ja und was habt ihr gemacht? Über was habt ihr geredet? Hat er irgendwie gesagt, dass er dich mag? Okay, er mag dich aber…“ Kimmy hebt abwehrend die Hände, sodass Betty mitten im Satz abbricht. Anscheinend wartet sie auf die Antworten ihrer Fragen. Gerade, als Kimmy Luft holt, um die Fragen doch zu beantworten, ertönt der für sie erlösende Gong. Übereilig dreht sie sich um und steuert auf die Tür zu. Nur schwer kann Betty mit ihr Schritt halten. „Kimmy, warte! Ich…“ Den Rest des Satzes kann Kimmy nicht verstehen, da sie schon im Schülerstrom eingetaucht und so dem Antwortengeben auf Bettys Fragen entkommen ist.
Vor dem Klassenzimmer greift Kimmy nach ihrer Tasche und schiebt sich, zusammen mit ihren Klassenkameraden, in das Klassenzimmer. Erleichtert seufzt sie. Ein Glück konnte sie der ganzen Frage- Antwortspiel von Betty entkommen. Im nächsten Moment zuckt sie jedoch zusammen, als sich Betty auf den Platz neben ihr fallen lässt.
„Du hast meine Fragen immer noch nicht beantwortet!“ Empört sieht sie Kimmy an. Gerade, als Kimmy nach kurzem Zögern antworten will, legt ihr jemand ihren Gesamtordner vor die Nase.
„Hast du vergessen.“ Kimmy sieht auf und blickt Jez direkt in die Augen. Er zwinkert ihr zu, dreht sich um und setzt sich.
„Danke“, murmelt Kimmy. Betty stupst Kimmy in die Seite und zieht belustigt die Augenbrauen hoch.
„Ahaaa!“ Ganz leise gibt sie diesen lang gezogenen Laut von sich, aber trotzdem laut genug, dass Jez sich noch einmal zu den beiden umdreht und Betty fragend ansieht. Betty grinst nur frech und verschränkt zufrieden die Arme vor der Brust. Im Stillen ermahnt Kimmy sich selbst, nicht auf Betty zu hören.
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Das heiße Wasser rinnt über Kimmys nackten Körper. Es tropft von ihren Haaren, perlt von ihrer Haut ab und tropft hinunter, zu ihren Füßen. Mit den Fingern streicht sie sich durch ihr dunkles, dickes Haar und summt leise dass ruhige Lied, dass an ihrem Handy läuft mit.
„How I wish, how I wish you were here. We’re just two lost souls, swimming in a fish bowl year after year…” Ganz leise, kaum hörbar singt sie den Text des Liedes ‘Wish you were here’ von Pink Floyd mit. Das Lied ist eigentlich viel zu ruhig. Ein Lied zum Nachdenken. Aber trotzdem liebt Kimmy die Musik von Pink Floyd über alles. Als sie die Lippen wieder schließt, lässt sie die Wörter noch einmal im Kopf widerhallen. How I wish, how I wish you were here. Wie wünsche ich, wie wünsche ich mir doch, du wärst hier. Oh ja. Wie sehr wünscht sie sich doch, dass Lennard noch bei ihr wäre. Ihr Lennard, ihr großer Bruder Lennard. Energisch dreht Kimmy das Wasser noch ein wenig heißer, sodass sie zwischen Tränen und Leitungswasser nicht mehr unterscheiden kann. Sie will nicht weinen! Nicht, weil sie sich selbst bemitleidet. Nicht, weil sie jemand hören könnte. Eher, weil ihr großer Bruder wegen ihr sein Leben lassen musste! Aus Wut, weil das Schicksal Lennards Tod gefordert hatte und nicht ihren. Ein Schluchzen bahnt sich seinen Weg, tief aus ihr heraus und lässt ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Ein erneutes Aufschluchzen lässt Kimmys Körper erzittern. Sie lehnt den Kopf mit der Stirn gegen wie geflieste Wand der Dusche.
„Ich wünschte du wärst hier, großer Bruder!“ Mehr als ein Flüstern bringt Kimmy nicht über die Lippen. Die kühle Wand hilft ihr, sich ein wenig zu beruhigen. Zwar fließen noch immer die Tränen über Kimmys Wangen, doch diese versiegen bald. Langsam steigt Kimmy aus der Dusche, schlingt ihren Körper in ein großes Handtuch und trocknet sich mit einem kleinen Handtuch das Gesicht und die Haare. Sie wischt ihre nasse Hand an einem der Handtücher trocken, nimmt ihr Handy und tippt einige Male auf die ‚Weitertaste‘ des Mediaplayers, bis ein Lied, mit dem Namen ‚Creep‘ von Radiohead ertönt. Lächelnd entspannt Kimmy die Schultern und singt den Refrain leise mit. Zwar auch kein Punkrocksong, bei dem Kimmy voll und ganz abschalten kann, aber wenigstens heitert es sie ein wenig auf.
***
Die Beine angewinkelt und seinen Handball in den Händen, sitzt Jez, angelehnt an das kleine Mäuerchen im Garten und hypnotisiert die Grashalme vor sich. Wie es Jeremy wohl geht? Was er wohl gerade macht? Freitags müsste er eigentlich zu Hause sein. Entschlossen richtet Jez sich ein wenig auf, sodass er sein Handy aus der Hosentasche ziehen kann. Mit flinken Fingern gibt er den Pin ein und sucht dann in seinen Kontakten nach der Handynummer seines kleinen Bruders. Während es tutet und Jez das Handy an sein Ohr hält, dreht er den Handball auf den Fingerspitzen der anderen Hand. Als die Mailbox rangeht, legt Jez auf und wirft sein Handy enttäuscht ins Gras. Schon am Vortag ist Bruder nicht an sein Handy gegangen, als er angerufen hat und war seit mehreren Tagen auf WhatsApp nicht mehr online. In diesem Moment klingelt Jez Handy. Blitzartig greift er danach und sieht auf das Display. Er erkennt die Festnetznummer, auf die er bis vor kurzem auch noch erreichbar war.
„Ja?“, meldet er sich. Am anderen Ende ist es totenstill. „Hallo?“, fragt er noch einmal.
„Jez?“ Sofort erkennt Jez sie leise Stimme seines kleinen Bruders.
„Jeremy, alles okay? Warum gehst du nicht an dein Handy?“ Jez setzt sich ein wenig aufrechter hin und lässt den Handball neben sich ins Gras sinken. Am anderen Ende der Leitung seufzte Jeremy.
„Papa hat es mir weggenommen.“ Jez hebt die Augenbrauen. Klar kann Jeremy es nicht sehen, wie auch über eine Entfernung von mehr als dreihundert Kilometern, aber er weiß, dass Jez die Augenbrauen hebt. Immer wenn Jeremy etwas verbockt hat und nicht gleich mit der Sprache rausrücken wollte hat Jez ihn so angesehen, als er noch in Köln gewohnt hat.
„Warum?“ Jeremy seufzt wieder und druckst ein wenig herum. Anscheinend weiß er nicht, ob er Jez beichten soll, warum sein Vater ihm das Handy abgenommen hat. „Komm schon Jeremy, ich kann dir den Kopf eh nicht abreißen.“
„Ja, okay“, zögerlich beginnt Jeremy, seinem großen Bruder zu beichten, was passiert ist und warum ihr Vater sein Handy einkassiert hat.
„Naja… als ich mein Fahrrad wegräumen wollte, bin ich gestolpert und…“
„…und du hast dein Fahrrad gegen Papas Motorrad fallen lassen. Das ist umgekippt und hat jetzt übelste Kratzer.“
„Ich habe gesagt, dass du bist sauer auf mich bist!“ Jeremys Stimme klingt, als würde er sich die Tränen unterdrücken.
„Jeremy, nein…“ Was soll man in so einer Situation sagen? Jeremy hat ja recht. Wie lange hatte er ihm eingetrichtert, das heilige Motorrad ihres Vaters nicht anzurühren…? „Ich bin nicht sauer, Jeremy. Ich weiß nur genau, wie sauer Papa ist.“ Jez hört, wie Jeremy leise schnieft.
„Ich wollte es aber doch nicht. Es war ein Versehen!“
„Ich weiß Jeremy. Bitte hör auf zu weinen.“ Jez weiß genau, was gerade in Jeremy vor sich geht. Als er ungefähr so alt war, wie Jeremy jetzt ist, ist ihm fast dasselbe passiert. Nur mit Unterschied, dass Jez es geschafft hatte, das Motorrad gerade noch so vor dem umkippen zu bewahren. Aber dabei hat er sich damals drei Finger gebrochen. Seinem Vater hatte er danach gesagt, er wäre mit dem Fahrrad gefallen.
„Ich vermiss dich, Jez.“ Jez schweigt. Er hebt nur leicht den Kopf und sieht zum Horizont.
„Ich dich auch, Jeremy.“ Eine Weile herrscht eine Stille zwischen beiden, bis Jeremy das Schweigen bricht.
„Jez?“ Jez lehnt den Kopf an die Mauer hinter sich.
„Hmm?“
„Ich glaube, Papa ist sauer auf dich, weil er denkt, dass du willst, dass ich zu dir und Mama komme.“ Mit den Fingern fährt Jez eines der Sechsecke auf seinem Handball nach.
„Dann kann er solange sauer sein, wie er will. Du weißt, dass ich dich nicht alleine bei ihm lassen wollte, aber du…“
„Ich weiß, dass ich nicht mit euch mitgehen wollte“, unterbricht Jeremy Jez. „Aber jetzt bereue ich meine Entscheidung“, fügt er nach einer ganzen Weile hinzu. Jez seufzt. „Ich meine… bis zu den Sommerferien dauert es noch so lange und die Osterferien sind schon um.“ Jez schweigt einen Moment.
„Wenn du willst und Papa nichts dagegen hat, kann ich in den Pfingstferien ein paar Tage nach Köln kommen. Aber nur wegen dir, okay!“ Jeremy zögert.
„Wenn du mir jetzt noch sagst, was und wann Pfingstferien sind, dann ja.“ Jez lacht leise. Alleine an der Stimmlage seines Bruders erkennt man, dass er ein kleines bisschen fröhlicher wird.
„In diesem Jahr, glaube ich vom 9. Juni 2 Wochen lang. Aber ich weiß es nicht so genau.“ Irgendwie ist das ja schon unfair. Hier in Baden-Württemberg hat Jez einfach zwei Wochen frei und sein Jeremy hat in Köln Schule.
„Warum hast du Ferien und ich nicht?“ Jeremys Tonfall klingt so entgeistert, dass Jez sich nicht mehr halten kann und zu lachen beginnt.
„Weil kleine, böse Jungs kein Schulfrei bekommen.“ Jeremy gibt einen Ton von sich, den Jez nur zu gut von ihm kennt. ‚Pff‘, oder so ähnlich.
„Und, was läuft bei dir so?“ Jez überrascht der plötzlichen Themawechsel von Seiten seines kleinen Bruders, aber um ehrlich zu sein hat er selbst auch keine Lust, länger über seinen Vater nachzudenken. Außerdem kann Jez sich denken, warum Jeremy das Thema gewechselt hat. Ihm fällt kein guter Konter mehr ein und die Blöße so ein Duell gegen seinen großen Bruder zu verlieren, will er sich nicht geben.
„Eigentlich nichts Wichtiges.“ Max, Betty, ihre Mutter, die er nachts weinen hört und Kimmy. Das soll nichts sein? Aber was soll er Jeremy schon erzählen. Maximal darüber, dass er zusammen mit Max beim SuS Achern trainiert. Über Kimmy ganz sicher nicht! Er weiß ja selbst nicht, was er über sie denken soll und was er für sie empfindet…
„Und Unwichtiges?“ Jeremy klingt interessiert.
„Was soll ich dir Wichtiges oder Unwichtiges erzählen? Ich trainier zusammen mit Max beim SuS Achern und die Jungs dort sind ziemlich chillig. Mehr aber auch nicht.“ Jeremy scheint kurz zu überlegen und fragt dann mit seinem neckischen Unterton in der Stimme:
„Nichts mit irgendwelchen Mädchen am Laufen? Auf deiner neuen Schule müssen doch bestimmt genug Mädchen rumlaufen.“ Jetzt muss Jez doch über Jeremys Ausdrucksweise grinsen. So etwas aus dem Mund eines Elfjährigen… „Haha, erwischt!“ Jetzt muss Jez lachen.
„So kleine Jungs, wie dich, sollte das noch gar nicht interessieren!“ Jeremy lacht auch, bricht aber plötzlich ab. Jez lauscht und hört, wie Jeremy mit jemanden spricht.
„Ich muss auflegen, Jez. Papa muss mit noch irgendjemand Wichtigem telefonieren.“ Jez seufzt.
„Okay. Ich habe dich lieb, kleiner Bruder.“
„Ich dich auch, Jez. Ciao.“
„Bye.“ Wenige Sekunden später tutet Jez Handy nur noch, doch er legt nicht gleich auf. Erst nach einigen Sekunden tippt er auf das Display und beendet den Anruf. Jez lässt sein Handy durch die Finger rutschen, sodass es ins Gras fällt. Kratzer am Motorrad seines Vaters. Das ist also der Grund, warum Jeremy nie an sein Handy geht… Jez lässt seinen Handball über die Hände rollen. Er hat gesagt, er bereut seine Entscheidung, in Köln geblieben zu sein. Jeremy bereut seine Entscheidung…
Wieder einmal träumt Kimmy. Wie sie mit Lennard lachend auf den Kinderfahrrädern nebeneinander auf dem Feldweg fährt. Wie er sie ärgert, weil sie die exakt elf Minuten Jüngere ist. Wie sie ihm lachend die Worte „Du Depp!“ an den Kopf wirft. Wie sie an der Bundesstraße anhalten, ein Auto durchlassen und wie sie, Kimmy, losfährt, dicht gefolgt von ihrem Bruder. Wie plötzlich, wie aus dem Nichts das Auto angerast kommt. Wie sie aufschreit, ihrem Bruder „Beeil dich!“ zuruft und im nächsten Moment in den Grünsteifen neben der Straße fährt und dann fällt. Und dann, wie Lennard von dem Auto erfasst und durch die Luft geschleudert wird. Wie er auf die Straße aufprallt und regungslos in einer immer größer werdenden Blutlache liegen bleibt. Wie das Auto in einem Affenzahn davonrast und wie sie zu ihrem Bruder, seinen Namen rufend, rennt bis plötzlich alles schwarz um sie wird. Und dann - wie jedes Mal in diesem Traum - das grelle, weiße Licht und die monotone, gefühlslose Stimme. „Er hat es nicht geschafft!“
Kimmy fährt hoch. Ihr kompletter Körper ist nassgeschwitzt, ihre Augen rot und über ihre Wangen laufen die Tränen. Schwer atmend lässt sie sich zurück in ihre Kissen fallen. Es war alles nur der allnächtliche Traum. Es war nur der Traum… Kimmy setzt sich wieder auf. Sie knipst das Licht an und streicht sich die an der Haut klebenden Haare aus dem Gesicht. Nein. Es war nicht nur der Traum… Müde und erschöpft fährt Kimmy sich durch das nassgeschwitzte Haar. Es war mehr, als der allnächtige Traum… Ein wenig ungeschickt schält sie sich aus ihrer Decke und steht auf. Mit einer Hand greift sie nach dem Handtuch, das über der Schreibtischstuhllehne hängt, mit der anderen nach dem Kinderbild von Lennard und ihr. Einige Sekunden blickt sie auf das Bild, dann stellt sie es beiseite und reibt sich mit dem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht. Kimmy legt das Handtuch zur Seite und dreht sich um. Als sie ihr Spiegelbild im schwachen Licht erkennt, zuckt sie zusammen. Ihre Haare sind zerzaust, Augen und Wangen gerötet und ihr Top ist völlig durchnässt. Kimmy holt ein frisches Top aus dem Kleiderschrank, schlüpft hinein und bindet die Haare zu einem undefinierbaren Knoten zusammen. Auf Zehenspitzen verlässt sie das Zimmer und schleicht ins Bad. Leise zieht Kimmy die Tür hinter sich zu, geht zum Waschbecken und lässt sich das kühle Wasser in die Hände laufen. Sie beugt sich herunter und spritzt es sich ins Gesicht.
„Er ist zwei Uhr morgens, warum bist du wach?“ Erschrocken fährt Kimmy hoch. Ihr Vater steht vor ihr und hält ihr ein Handtuch hin. Statt eine Antwort zu geben, greift Kimmy schnell nach dem Handtuch und vergräbt ihr Gesicht darin. Sie lässt das Handtuch wieder sinken und will aus dem Bad verschwinden, wird jedoch zurückgehalten. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet!“ Was soll sie jetzt sagen? Kimmys Kopf ist wie leergefegt. Sonst hat sie immer eine Ausrede parat…
„Schlecht geträumt“, murmelt sie, dann kommt ihr aber doch noch eine Frage in den Sinn. „Warum bist du eigentlich wach?“ Ihr Vater seufzt.
„Ich habe doch oft genug gesagt, dass ich heute auf Geschäftsreise gehe.“ Kimmy unterdrückt sich ein ‚Oh‘. Stattdessen geht sie zwei Schritte auf ihren Vater zu, gibt ihm einen Kuss auf die Wange und wünscht ihm leise viel Spaß. Dann dreht sie sich um und huscht zurück in ihr Zimmer.
***
Erschrocken fährt Jez auf. Er blinzelt ein, zwei Mal, bis ihm bewusst wird, dass er es nur geträumt hat. Er hat einen Unfall gesehen. Aber nicht aus der Sicht eines normalen Menschen. Es war, als säße er irgendwo auf einem Baum, unsichtbar für alle, aber er konnte alles sehen. Wie zwei Kinder, vielleicht zehn oder elf Jahre alt – ein Junge und ein Mädchen – mit ihren Fahrrädern an der Bundesstraße, hier in Fautenbach, eine der Auffahren herausfuhren. Und wie der Junge plötzlich von einem heranrasenden Auto erfasst und durch die Luft geschleudert wurde. Wie der Junge blutüberströmt am Boden liegen blieb. Aber nicht dieses Bild vor seinem inneren Auge bleibt ihm, sondern das Bild von dem silbernen Auto, das in einem Affenzahn weg raste. Mit einer Hand stützt Jez sich ab, mit der anderen fährt er durch sein zerzaustes Haar. Er knipst das Licht an und richtet sich auf. Sein Hals ist staubtrocken und kribbelt wie verrückt. Mit den Händen schiebt Jez die Decke beiseite und berührt mit den Füßen den Boden. Vorsichtig erhebt er sich, tapst zur Tür öffnet sie und geht zwei Türen weiter ins Bad.
Das kühle Wasser rinnt seinen Hals hinunter und erfrischt unnatürlich stark. Warum träume ich so etwas?, geht es Jez durch den Kopf. Seufzend schiebt er es auf die ganzen Dinge, die in den letzten Monaten passiert sind. Irgendwann muss der Kopf schließlich auch mal abschalten, dann spielt ihm sein Gedächtnis eben einen Streich. Er wischt die die Wassertropfen mit dem Arm aus dem Gesicht, knipst das Badlicht aus und zieht die Tür hinter sich zu. Gerade, als er sich seiner Zimmertür zuwendet, hält er inne. Zwar nur ganz leise, aber dennoch nimmt Jez das leise Geräusch aus dem Zimmer seiner Mutter wahr. Er lässt ihm eine Gänsehaut über die Arme laufen. Entschlossen dreht er sich um, geht zu der Zimmertür seine Mutter und öffnet sie einen Spalt. Schwaches Licht dringt zu ihm hinaus. Jez sieht seine Mutter mit angezogenen Beinen und einem Bild in den Händen auf dem Bett sitzen und leise weinen.
„Mama?“ Langsam schiebt Jez sich durch die Tür. Seine Mutter hebt den Kopf.
„Jez!“ Schnell legt sie das Bild aus den Händen und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Alles in Ordnung? Warum bist du wach?“ Jez drückt mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und setzt sich auf die Bettkante des Bettes seiner Mutter.
„Schlecht geträumt“, murmelt er und hebt den Blick. Er sieht seiner Mutter tief in die Augen und erkennt sofort, wie sehr sie mit den Tränen kämpft. „Was ist los?“ Seine Stimme hat seinen immersanften Klang, den sie automatisch annimmt, wenn jemand, den er liebt, in seiner nächsten Nähe leidet. Jez Mutter schüttelt den Kopf und wischt sich schnell die Tränen von den Wangen.
„Nichts.“ Jez seufzt und greift nach den Händen seiner Mutter.
„Lüg mich nicht an!“ Seine Mutter seufzt und weicht Jez Blick aus. „Mama!“ Nun hebt Jez Mutter doch den Blick und sieht Jez an. Jez Stimme bleibt ruhig und sanft, allerdings drückt er auf eine Antwort. „Papa?“, fragt er ganz leise. Mit einem zögerlichen Kopfnickten bestätigt Jez Mutter seine Vermutung. Er beißt sich auf die Unterlippe. Als er sieht, wie die Tränen über die Wangen seiner Mutter rinnen, nimmt Jez sie in den Arm. Sie lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter und weint leise. Jez starrt an die Wand. Ihm tut es weh, seine Mutter so fertig zu sehen. Die sonst so starke Frau, die so viel in ihrem Leben geschafft hat, die ihre Familie, ihre Kinder, leidenschaftlicher liebt als jede andere, obwohl das Leben ihr immer wieder Steine in den Weg gelegt hat. Ihre Schwangerschaft mit ihm, als sie gerade einmal siebzehn Jahre alt war. Dazu von einem Mann, der mehr als dreihundert Kilometer entfernt lebt. Immer wieder Absagen, als sie versucht hat, ihr Abitur nachzuholen und eine Ausbildung zu beginnen. Der plötzliche Tod von ihrem Vater, Jez Opa. Und dazu noch einen untreuen Ehemann. Nach einer Weile löst sich seine Mutter von ihm.
„Du musst mich für ganz dumm halten, oder?“ Jez sieht seine Mutter fragend an. „Weil ich deinem Vater nachtrauere, obwohl er sich schon längst für einer andere entschieden hat.“ Jez zuckt die Schultern.
„Denkst du, ich war noch nicht in ein Mädchen verliebt, das vergeben war?“ Über die Lippen seiner Mutter huscht ein Lächeln. Die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen ihr und Jez ist etwas Besonderes. Nur wenige Siebzehnjährige würden so offen mit ihren Müttern über ihre Gefühle zu bestimmten Mädchen sprechen. Sie nimmt Jez in den Arm.
„Ich bin so froh, dass du mit mir hierhergekommen bist, Jez!“ Jez nickt fast unmerklich. Seine Mutter lässt ihn los und wirft einen Blick auf ihren Wecker. „Halb drei? Du solltest dich wieder hinlegen.“ Jez seufzt und kann sich das Lächeln nicht unterdrücken. Da kommt die Mutter wieder heraus. Nicht mehr die Frau, die seine Mutter ist und weint, weil sie seinen Vater liebt, dieser sich aber für eine andere entschieden hat. Vorsichtig haucht Jez seiner Mutter einen sanften Kuss auf die Wange, dann steht er auf, öffnet die Tür und dreht sich noch einmal um.
„Gute Nacht, Mama.“ Dann zieht er leise die Tür hinter sich zu und verschwindet in sein Zimmer.
Obwohl die Müdigkeit, die auf Jez liegt, unerträglich ist, schafft er es einfach nicht, die Lider länger als drei Sekunden zu schließen. Genervt dreht er sich auf die Seite und starrt auf seinen Schreibtischstuhl, den man unter den Kleidungsbergen nur noch erahnen kann. Ich war auch schon einmal in ein Mädchen verliebt, das vergeben war. Dieser Satz entspricht sogar der Realität. Wie fühlt sich echte Liebe eigentlich an? Jez seufzt. Ja, er hat schon Mädchen geliebt. Manda. Sie waren mehr als zwei Jahre zusammen gewesen und dann hat sie hat Schluss gemacht, weil sie umgezogen ist und keine Fernbeziehung wollte. Jez dreht sich auf die andere Seite. Manda war seine erste große Liebe. Obwohl… Gibt es die große Liebe nicht nur einmal? Wenn ja, dann war Manda es wohl doch nicht. Einige Zeit hat ihn die Tatsache, dass sie nun in Frankreich, bessergesagt in Calais am Meer lebt, ziemlich fertig gemacht. Aber jetzt? Er kann an sie denken, ohne irgendeinen Schmerz zu spüren. Eher Dankbarkeit. Dankbarkeit für die schönen zwei Jahre, die sie zusammen mit ihm verbracht hat. Vor einigen Wochen hatte sie ihn wieder über Facebook angeschrieben. Gefragt, wie es ihm so geht und ob er wieder vergeben ist. Der übliche Small-Talk, der zwischen einem getrennten Pärchen aufkommt, wenn sie nicht gerade im Streit auseinandergegangen sind. Vergeben nicht aber verliebt? Jez dreht sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Kimmy? Irgendein undefinierbares Gefühl löst ihr Name in ihm aus. Irgendein Gefühl…
Jez bemerkt gar nicht, wie seine Augenlider immer schwerer werden. Als er sie schließt, taucht nicht, wie sonst immer, das Bild aus seinem letzten Traum auf. Stattdessen sieht er, wie Kimmy durch das hohe Gras läuft, sich die Haare aus dem Gesicht streicht und dann den Kopf hebt. Ihren entspannten Gesichtsausdruck, ohne dieses aufgesetzte Lächeln. Wie an dem Tag, an dem er sie nach Hause begleitet hat…
***
Mit den Fingern steift Kimmy ihre Haare aus dem Gesicht. Sie zieht eine hellblaue, lange Jans und das weißes Oberteil, das raffiniert, weit geschnitten ist, aus dem Schrank. Langsam dreht Kimmy sich und sieht sich im Spiegel an, bevor zieht dann ihre Jeansjacke aus dem Kleiderschrank. Ihr Wecker klingelt. Normalerweise würde sie erst jetzt aufstehen, aber wie immer war sie schon vor ihrem Wecker wach. Mit dem Fuß bringt sie den Wecker zum Schweigen. Nur mit den Fingern entwirrt Kimmy ein wenig ihr Haar, dann kämmt sie es und flechtet es zu einem französischen Zopf, der auf der rechten Kopfseite an ihrem Scheitel beginnt, einmal um ihren gesamten Kopf reicht und über die linke Schulter hinab hängt.
Nach ihrem Albtraum und der Begegnung mit ihrem Vater im Bad ist sie wirklich noch einmal eingeschlafen. Und dieses Mal war der Traum um einiges angenehmer. Sie hat von Jez geträumt. Wie sie ihm die ganze Geschichte über Lennard erzählt, wie er sie kein einziges Mal unterbricht und wie er sie in den Arm nimmt und ihr immer wieder übers Haar streicht, als sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Schnell stopft Kimmy ihre Schulsachen in die Schultasche und geht dann nach unten. Lennard hatte früher immer gesagt: Die Person, die vor dem Einschlafen an dich gedacht hat, taucht auch in deinen Träumen auf. Dann müsste Lennard jede Nacht an sie denken… Aber wie, wenn er tot ist? Und was Jez betrifft… Kimmy verlangsamt das Tempo auf den letzten Treppenstufen. Wenn der Satz von Lennard wirklich wahr ist, dann... Schnell verscheucht Kimmy auch nur den Ansatz von ihrem Gedanken. Ja, Jez mag ganz süß sein und vielleicht schwärmt sie heimlich ein bisschen für ihn, aber dass es anderes herum genauso sein soll…? Ganz glauben kann es Kimmy nicht, ermahnt sich allerdings selbst. Warum so pessimistisch, Kimmy? Vielleicht hat er wirklich an dich gedacht? Vielleicht mag er dich ja? Vielleicht mag er dich ja sogar ein bisschen mehr?
„Du bist schon wach?“ Kimmy sieht erschrocken auf. Ihre Mutter steht vor ihr und strahlt sie an. „Hast du gut geschlafen, oder warum lächelst du so?“ Erst jetzt merkt Kimmy, dass sie wirklich, echt lächelt. Ein echtes Lächeln. Nicht aufgesetzt, wie sonst. Die Frage, ob es vielleicht doch etwas mit Jez zu tun haben kann, traut sie sich aber dennoch nicht, nicht einmal in Gedanken, zu stellen.
„Ja.“ Kimmy stellt ihre Tasche neben dem Küchentisch auf den Boden und schiebt zwei Toast in den Toaster. Ihre Mutter muss von der nächtlichen Begegnung mit ihrem Vater im Bad schließlich nichts wissen. Während die beiden Brotscheiben schön warm und knusprig werden, holt Kimmy sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, nimmt einen Apfel aus dem Obstkorb und verstaut es in ihrer Tasche. Sie schenkt sich ein Glas Orangensaft ein, holt das Nutellaglas aus dem Schrank und legt die beiden Toastbrot Scheiben auf das Holzbrettchen. Mit dem Messer verteilt Kimmy das Nutella großzügig auf dem Scheiben und wartet ein wenig, bis sie Schokoladencreme auf dem Brot verläuft. Genüsslich beißt sie hinein. Gute Laune zu haben macht irgendwie richtig Spaß!
„Hast du wirklich nur gut geschlafen, oder steckt irgendjemand hinter deiner guten Laune?“ Kimmy sieht auf, in das neugierige Gesicht ihrer Mutter. Mit den Fingern wischt sie sich die Krümel vom Mund und schüttelt den Kopf.
„Wirklich nur ausgeschlafen“, murmelt sie und nimmt einen Schluck Saft.
***
Kimmy senkt verlegen den Blick. Sie hat gar nicht bemerkt, wie sie Jez angestarrt hat. Erst als Betty ihr ihren Ellbogen in die Seite gerammt hat und belustigt geflüstert hat „Fang nicht an zu sabbern“, wurde es ihr bewusst. Betty zieht Kimmy langsam von Jez und Max, die am Rande der Hockeymädchen- und Jungsclique stehen, weg und stupst ihr neckend in die Seite. Auch Max macht einen Schritt zur Seite. Jez dreht sich zu ihm und sieht ihn fragend an.
„Jetzt mal ‘ne Frage…“ Max dreht sich zu Jez. „Läuft da was zwischen Kimmy und dir?“ Jez hebt die Augenbrauen.
„Warum? Sollte es?“ Max fällt nicht auf Jez Gegenfragerei hinein.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust und schmunzelt, während Jez sich mit der Hand durch seine Haare fährt und seufzt.
„Du klingst gerade total wie Betty.“ Max zuckt desinteressiert die Schultern.
„Also?“ Jez hebt die Hände und macht einen ahnungslosen Gesichtsausdruck.
„Keine Ahnung.“ Max gibt sich damit nicht zufrieden.
„Magst du sie? Findest du sie hübsch? Hast du ihre Nummer?“ Jez verdreht die Augen und hebt die Schultern.
„Mögen? Ja, schon, sie scheint echt lieb zu sein. Hübsch?, Jez macht eine kurze Pause, als wäre es sich unsicher, ob er wirklich zugeben soll, dass Kimmys Äußeres ihn schon irgendwie verzaubert , „Ja. Nummer? Nein.“ Max klopft Jez die Schulter.
„Sie scheint lieb zu sein“, wiederholt Max Jez Worte und grinst wieder nur. „Und wenn du ihre Nummer willst, ich kann sie dir geben.“ Jez setzt gerade dazu an, Max zu sagen, dass er Kimmy auch selbst nach ihrer Nummer fragen kann, schluckt diese Worte dann aber doch wieder runter. Vielleicht hat es auch etwas Gutes. Immerhin hat er kann Kimmys Nummer und macht keinen Rückzieher, wenn er sie fragen will.
***
Jez hat nichts mehr dazu gesagt, als Max ihm angeboten hat, ihre Nummer zu geben. Heißt das Ja oder Nein? Kimmy bewegt zwar ihren Füller über das Papier und schreibt den Aufsatz, den die Klasse zusammen mit dem Lehrer schreibt mit, versteht den Zusammenhang der Worte, die sie aufschreibt allerdings nicht. Sie versucht es erst gar nicht. Möchte Jez ihre Nummer nur haben oder nicht. Und wenn ja, was bedeutet das? Grübelnd dreht Kimmy den Füller zwischen den Fingern. Als sich ihre Hände blau von der Tinte färben, flucht sie innerlich auf. Sie wühlt ein Taschentuch aus ihrer Tasche, hält es an einer Ecke und schüttelt es, sodass es sich öffnet. Während Kimmy ihre Hände an dem Taschentuch abwischt, wandert sie wieder zurück zu ihren Gedanken. Zurück zu Jez. Was bedeutet es, die Nummer von jemand anderem haben zu wollen? Einfach nur so oder… Etwas landet krachend, nur wenige Zentimeter vor Kimmy auf dem Tisch. Sie fährt hoch und schnappt erschrocken nach Luft. Im nächsten Moment steht Herr Weiler schon vor ihr, pflückt seinen Schlüsselbund zufrieden von Kimmys Heft und grinst hämisch.
„Ist Madame jetzt wach?“ Unter dem Tisch ballt Kimmy eine Hand zur Faust und lässt das Taschentuch sauer fallen. Wie sie diesen Typen hasst! Ganz langsam nickt sie und ermahnt sich selbst, diesem grässlichen Typen nicht an die Gurgel zu gehen. Um sich abzuregen, nimmt Kimmy brav ihnen Füller in die Hand und schreibt die letzten Sätze auf. Ist es eigentlich erlaubt, Schlüsselbunde im Klassenzimmer herumzuwerfen? Ist es überhaupt erlaubt, Schüler so zur Aufmerksamkeit zu zwingen? Immer wenn Kimmy sauer ist, stellt sie sich solche Fragen. Fragen, mit denen man sich immer weiter in etwas hineinsteigern kann. Das nächste Mal knallt sie ihm einfach ihren Schlüssel vor die Nase! Mal sehen, wie lustig er das… Kimmy unterbricht ihren Gedanken selbst, da sie nicht riskieren will, noch einmal ermahnt werden zu müssen.
***
„Willst du jetzt ihre Nummer oder nicht?“ Max hat seine Stimme ein wenig gedämpft, sodass nicht jeder die Frage versteht. Jez nickt und zückt sein Handy. Die beiden stehen in einer Ecke vor dem Musiksaal und warten mit dem Rest der Klasse auf die Musiklehrerin. Jez erstellt einen neuen Kontakt, tippt Kimmys Namen ein und lässt sich dann von Max ihre Nummer diktieren.
„Du steht auf sie, gib es zu!“ Max schiebt gerade sein Handy wieder in seine Hosentasche und grinst Jez frech an. Jez will gerade zu einer Antwort ansetzten und sein Handy in einer Hosentasche verschwinden lassen, als Herr Weiler wie aus dem Nichts auftaucht und fordernd seine Hand nach Jez Handy ausstreckt.
„Handys sind hier verboten. Ich weiß ja nicht, wie das in Großstadtschulen gehandhabt wird, aber hier werden die Dinger nicht geduldet. Her damit!“ Jez will protestieren, doch Herr Weiler nimmt ihm sein Handy einfach aus der Hand.
„Deine Eltern können es bei mir abholen.“ Er dreht sich um und verschwindet. Jez starrt ihm verdattert mit offenem Mund nach. Das ging gerade alle ein wenig zu schnell für sein Gehirn.
„Stresst deine Mutter bei solchen Sachen rum?“ Max hat versucht, die Frage vorsichtig zu formulieren, was ihm jedoch ziemlich missglückt. Jez hat es geschafft, seinen Mund zu schließen und nickt langsam. „Scheiße…“, murmelt Max.
***
Mit den Augen liest Kimmy den Liedtext zwar mit, aber mit ihren Gedanken ist sie wie immer ganz weit weg. Bei Jez. Was in letzter Zeit öfter passiert. Er hat sein Handy abgenommen bekommen, als er ihre Nummer eingespeichert hat. Einerseits freut sich Kimmy, ganz geheim natürlich, aber andererseits weiß sie immer noch nicht, was sie davon halten soll. Natürlich freut sie sich nicht, weil Jez sein Handy abgenommen bekommen hat, sondern, weil er ihre Nummer haben wollte. Aber warum soll Jez denn auch ihre Nummer wollen? Ihre Nummer?! Er könnte doch auch die Nummer jedes x-beliebigen anderen Mädchens aus der Klasse von Max erfragen. Statt weiter nach dem warum zu suchen und es sowieso nicht zu finden, zwingt Kimmy sich, darüber zu grübeln, wie sie Jez helfen kann, sein Handy zurück zu bekommen, ohne, dass seine Mutter etwas davon mitbekommt. Er war schon bemitleidenswert, als er so dastand und Herrn Weile ungläubig nachgesehen hatte.
***
Jez dreht seinen Schlüssel einmal im Schlüsselloch und drückt die Haustür auf. Schon seit der Musikstunde hat er überlegt, wie er seiner Mutter am besten sagen könnte, dass sein Handy bei seinem Deutschlehrer ist. Und vor allem, wie er begründen soll, warum es überhaupt dorthin gekommen ist. Zwar ist es ihm in Köln auch schon einmal passiert, dass ein Lehrer sein Handy abgenommen hat – dort aber, weil er es im Unterricht in seinem Mäppchen liegen hatte und vergessen hat, die Vibration auszuschalten - , aber da hatte er noch so ein gutes Verhältnis zu seinem Vater, dass dieser sein Handy abgeholt hat. Allerdings konnte sich seine Mutter dann doch durchsetzten und Jez hat sein Handy zwei Wochen lang nicht mehr gesehen. Unsicher betritt er die Küche und stellt seine Tasche auf einen Stuhl. Sonst ist seine Mutter immer ziemlich locker drauf und eine richtige Bezugsperson für ihn, aber wenn es um die Schule geht, dann kann sie ganz schön ungemütlich werden.
„Kannst du bitte schnell noch Wasser holen, Jez.“ Seine Mutter sieht ihn nicht an, sie rührt in der Tomatensauce. Glücklich, dass er seiner Mutter nicht jetzt schon beichten muss, dass er sein Handy nicht mehr bei sich hat, verschwindet er und kommt kurz darauf mit zwei Wasserflaschen zurück in die Küche. Er stellt die Flasche auf die Arbeitsfläche.
„Du, Mama...“ Jez zögert. Seine Mutter sieht ihn kurz fragend an und rührt dann weiter in der Tomatensauce. „Ich muss dir was sagen.“ Jez Mutter zieht den Topf von der heißen Herdplatte, legt den Schneebesen weg und dreht sich zu ihrem Sohn.
„Was ist denn los?“ Jez zögert. „Ich…“ Die Türklingel unterbricht ihn. Seine Mutter sieht ihn entschuldigend an, dann eilt sie zur Tür. Jez zieht sich einen der Küchenstühle heran, lässt sich darauf plumpsen und fährt sich seufzend mit seinen Händen über das Haar und durchs Gesicht.
„Jez, für dich.“ Erschrocken hebt Jez den Kopf. Er hat gar nicht bemerkt, dass seine Mutter zurück in die Küche gekommen war. Fragend sieht er seine Mutter an, doch die deutet mit dem Kopf nur zur Tür. Jez steht auf, verlässt die Küche und zieht die Augenbrauen hoch, als er die Person im Türrahmen erkennt. Kimmy!
„Hey“, murmelt sie leise.
„Hey.“ Jez sieht sie aus seinen grünen Augen an. Was führt sie hier her? Ein kurzes Schweigen entsteht. Kimmy sieht ihnen zögerlich aus ihren warmen, braunen Augen an. Über ihren Schultern hängt ihre Schulrucksack. Zögernd setzt Kimmy zu einem Satz an.
„Ich habe gesehen, wie Herr Weiler dir vorhin dein Handy abgenommen hat und…“ Sie stockt. Jez sieht sie fragend an. „… naja… Betty hat mir gesagt, dass du es abgenommen bekommen hast, als du meine Nummer eingespeichert hast… und…“ Kimmy bricht ab und weicht Jez Blick aus. Sie öffnet mit einer Hand den vorderen Reisverschluss ihrer Tasche und zieht sein Handy heraus. „Wenn ich schon schuld bin, musste ich es dir doch auch zurückholen.“ Sie hält es Jez hin. Ungläubig starrt er erst das Handy in Kimmys Hand und dann sie an.
„Aber… wie…?“ Kimmy muss lächeln. Jez nimmt ihr sein Handy aus der Hand und sieht sie nun fordernd an.
„Bisschen geschleimt“, murmelt sie, lächelt aber immer noch. Jez sieht sie prüfend an. Normalerweise schafft es niemand, einfach ein fremdes Handy einem Lehrer abzuknöpfen.
„Wirklich?“ Kimmy zuckt die Achseln.
„Ich habe nur gesagt, dass wir zusammen ein Musikprojekt machen müssen und dass du alle Links und Dokumente, die wir bisher ausgearbeitet haben, auf dem Handy hättest.“ Sie hebt unschuldig grinsend die Schultern. Jez lächelt sanft. Er weiß nicht so recht, was er sagen soll. Von niemandem hätte er erwartet, dass die Person die Schuld auf sich nimmt und sein Handy zurückholt. Das Grinsen aus Kimmys Gesicht verschwindet langsam, aber ein Lächeln liegt trotzdem noch auf ihren Lippen.
„Danke.“ Jez fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Kimmy zupft an ihren langen, dunkeln Locken. Eine Stille entsteht, die beiden irgendwie peinlich vorkommt. Langsam geht Kimmy zwei Schritte nach hinten.
„Ich muss dann wieder…“ Sie dreht sich um, öffnet die große, weiße Haustür, tritt über die Türschwelle nach draußen und geht die zwei Stufen hinunter. Auf der unteren Stufe dreht sie sich noch einmal um. Jez steht im Türrahmen und lächelt sanft.
„Danke, nochmal.“ Kimmy erwidert sein Lächeln.
„Kein Ding. Ciao.“
„Ciao.“ Sie dreht sich um setzt sich langsam in Bewegung. Auch nach einigen Metern hat Kimmy noch das Gefühl, Jez Blick auf ihrem Rücken zu spüren, doch sie zwingt sich, nicht noch einmal nach hinten zu sehen. Wenn sie sich jetzt umdreht und er noch in der Tür steht… Sie schafft es, ihre eigene Ermahnung zu akzeptieren und zu befolgen.
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Kimmy lässt die Tasche auf ihren Stuhl fallen, schält sich aus der Jeansjacke, wirft diese auf ihre Tasche und lässt sich rückwärts auf ihr Bett plumpsen. Sie legt ihre Hände auf die Brust. Beinahe hat sie das Gefühl, ihren beschleunigten Herzschlag an den Fingerspitzen zu spüren. Jez hat sich gefreut wie ein kleiner Junge, der endlich den Spielzeugbagger bekommen hat, den er sich schon so lange gewünscht hat. Ein echtes Lächeln huscht über Kimmys Lippen. Sie schließt die Augen. Er hat sich gefreut… ihretwegen! Irgendwie löst dieser Gedanke irgendwo irgendwas da aus, wo die Gefühle produziert werden. Irgendwas namens Glück.
***
Jez nimmt das Wechselgeld und die Busfahrkarte entgegen, lässt beides achtlos in der Hosentasche seiner Jogginghose verschwinden, zieht den Reisverschluss zu und schiebt sich gleichzeitig den schmalen Gang im Linienbus hinter Max entlang. Max lässt sich auf den letzten freien Platz im ganzen Bus fallen und grinst Jez frech an. Dieser quetscht sich an Max vorbei, lässt seine Trainingstasche von der Schulter herunterrutschen und hält sich an einer der Stangen fest, als der Bus losfährt.
Während der Busfahrt zieht Max sein Handy aus der Tasche und scrollt durch seine neuen WhatsApp-Benachrichtigungen. Jez beugt sich über die Lehne von Max Sitz und wirft einen Blick auf sein Handy.
„497 Nachrichten?! Die sind doch verrückt!“ Max dreht seinen Kopf zu Jez.
„Da wird dein Handy überfordert sein, wenn du es wieder zurück hast.“ Ohne das Gesicht zu verziehen öffnet Jez mit einer Hand den Reisverschluss seiner rechten Hosentasche und zieht sein Handy heraus. Schnell tippt er den Pin ein, lehnt sich mit den Ellbogen wieder auf die Lehne von Max Sitz und öffnet WhatsApp. Die Zahl in dem grünen Kästchen hinter dem Gruppennamen „A-Jungs SuS“ verändert sich ununterbrochen. 513 Nachrichten. 515 Nachrichten.
„Also, noch ist mein Handy noch nicht überfordert.“ Max dreht den Kopf zu ihm um und sieht ihn verwirrt an. Erst dann entdeckt er das schwarze IPhone in Jez Hand.
„Wie…?!“ Verwirrt setzt Max sich auf und zieht die Augenbrauen hoch. Jez Grinsen, das er sich einfach nicht verkneifen kann, ist auch keine Erklärung. „Hat deine Mutter es einfach so wiedergeholt?“
„Ne, die weiß gar nichts davon.“ Max wirkt überfordert. Immer noch insidermäßig grinsend schiebt Jez sein Handy wieder in die Hosentasche und schultert seine Trainingstasche. Zwar sieht Max immer noch verwirrt drein, lässt fehlende Antwort von Jez dann aber außer Acht. Als der Busfahrer bremst, stolpert Jez zwei Schritte nach hinten und stößt gegen Max, der aufgestanden ist.
„Du als ewiger U-Bahn-Fahrer solltest eigentlich gerade stehen bleiben.“
„Die Kölner U-Bahn ist ganz anders.“ Obwohl Jez sich bemüht, glaubwürdig zu klingen, gelingt es ihm nicht ganz.
„Klar.“ Der Sarkasmus ist deutlich aus Max Stimme herauszuhören, unterstrichen von seinem frechen Grinsen. Jez beginnt zu lachen und setzt sich dann in Bewegung. Er springt die Stufe aus dem Bus auf die Straße heraus und dreht sich zu Max um.
„Siehst du. Bei der U-Bahn gibt’s keine Stufe!“ Max lacht und gibt Jez einen sanften Schlag auf den Hinterkopf. Er zieht seinen Kopf ein und schlägt dann den Weg zur Ortenauhalle ein.
Die Digitalanzeige auf Jez Handy zeigt 00:31 Uhr an. Er liegt in seine Decke gerollt auf der Seite. Sein Zimmer wird nur durch das Licht seines Handydisplays erhellt. Jez Handy vibriert in seinen Händen, als er eine neue WhatsApp-Nachricht von Max empfängt.
Max: Komm schon… sag endlich wie du dein Handy zurückbekommen hast!
Jez muss grinsen, als er die Nachricht liest. Er spannt Max schon seit einer halben Stunde auf die Folter, aber Max gibt auch nicht nach.
Max: Bitte!
Jez dreht sich auf den Rücken, wird von seinem Handyladekabel allerdings wieder auf die Seite gezwungen, da es nicht lang genug ist. Seufzend dreht er sich wieder zurück und stopft sich ein zweites Kissen unter den Kopf. Soll er Max schreiben, dass Kimmy ihm sein Handy wiedergebracht hat? Oder soll er irgendeine Geschichte erfinden? Krampfhaft überlegt Jez, welche der beiden Möglichkeiten er nutzen sollte.
Jez: Naja…
Jez entschließt sich, die erste der beiden Möglichkeiten zu nutzen. Er tippt die Wörter, nur um sie keine 10 Sekunde später wieder zu löschen.
Max: …?
Ein Grinsen kann sich Jez bei Max Bettelei nicht verkneifen.
Jez: Kimmy hat es eigentlich zurückgeholt… aber frag nicht wie, ich habe auch keine Ahnung…
Die Zeit, die Max zum Antworten braucht, kommt Jez wie eine halbe Ewigkeit vor.
Max: Ehrlich jetzt?!
Jez beißt sich auf die Unterlippe.
Jez: Nein… Ehrlich jetzt.
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er Max doch nicht gesagt hätte, dass Kimmy sein Handy zurückgeholt hat…
Max: Ich will es dir ja glauben aber ich glaub es dir nicht. Jeder könnte dein Handy zurückholen aber nicht Kimmy…
Jez setzt sich auf, stopft sich ein Kissen in den Rücken und seufzt leise.
Jez: Ich würde es irgendwie auch nicht glauben aber es ist wirklich so…
Jez ist beinahe erleichtert, dass Max ihm nicht so recht glauben will.
Max: Wenn du dein Handy schon wieder hast und Kimmy auch noch Schuld daran ist, kannst du sie doch auch anschreiben :D. Oder nicht?
Genervt verdreht Jez die Augen, weiß aber genau, dass Max sich jetzt gerade in diesem Moment dämlich einen abgrinst.
Jez: Halb eins Nachts… klar…
Ein wenig unsicher setzt er sich auf. Andererseits... eigentlich hatte er sich noch nicht wirklich bei Kimmy bedankt. Natürlich, er hat zweimal Danke gestammelt, als sie ihm sein Handy wiedergegeben hat, aber das zählt nicht. Unruhig lässt Jez seinen Blick durch sein dunkles Zimmer schweifen.
***
Immer noch seufzend liegt Kimmy im Bett und starrt an die Decke. Der allnächtliche Traum wieder… Sie dreht sich auf die Seite und rollt sich wie ein Igel zusammen. Das Licht, das von der Straßenlaterne durch die Jalousien in Kimmys Zimmer geworfen wird, reflektiert sich auf dem dunklen Display ihres Handys und blendet sie. Kimmy drückt ihr Gesicht in das Kissen, da das Licht zu grell für ihre Augen, die im Moment an die Dunkelheit gewöhnt sind, ist. Sie seufzt in das Kissen hinein und hebt den Kopf mit zusammengepressten Augen wieder. Mit der rechten Hand tastet sie blind nach ihrem Handy. Als sie die raue Hülle zwischen ihren Fingern spürt und das Smartphone zu vibrieren beginnt, lässt sie es vor Schreck fast fallen. Vorsichtig öffnet Kimmy die Augen, setzt sich auf und zieht die Hand mit dem Handy zu sich. Erschrocken hält sie inne, als das Ladekabel an dem Bild von Lennard und ihr hängen bleibt und es mit einem, für die Nacht, unerträglich lauten Ton umfällt. Mit hochgezogenen Schultern und halb offenen Augen lauscht Kimmy angestrengt. Als es still im Haus bleibt, atmet sie erleichtert aus und lehnt sich über die Bettkante, um das Bild wieder aufzuheben. Liebevoll streicht Kimmy über das Glas und seufzt leise. Sie legt das Bild auf ihren Schoß und greift nach ihrem Handy.
„O15158502550“, murmelt sie leise, als sie ihr Handy entsperrt, WhatsApp geöffnet und die Nachrichten von Betty gelesen hat. Außer Betty hat ihr nur noch diese Nummer geschrieben. Ohne groß darüber nachzudenken, öffnet sie den Chat.
O15158502550: Danke nochmal…wegen meinem Handy :)
Verwundet hebt Kimmy die Augenbrauen. Wegen meinem Handy? Einen Moment überlegt Kimmy. Könnte es vielleicht Jez sein? Als ihr Blick über ihren Hintergrund von WhatsApp - einem Bild von Betty und ihr, dass sie auf der letzten Klassenfahrt, am Stand von Frankreich zeigt – wandert und an dem Profilbild, dass klein oben links in der Ecke angezeigt wird, hängen bleibt, bestätigt sich ihre Vermutung. Kimmys Bauch beginnt für einen kurzen Moment zu kribbeln. Anstatt eine Antwort zu tippen, tippt sie das kleine Profilbild an, sodass es größer wird. Das Schwarz-Weißbild zeigt Jez und einen Junge, nicht älter als zwölf. Wahrscheinlich ist es Jeremy. Sie sitzen nebeneinander auf einer Betonmauer, sehen beide nicht in die Kamera, wirken aber amüsiert. Augenblicklich fällt Kimmy die Ähnlichkeit zwischen den beiden auf. Dunkle Haare, ein schmales, aber dennoch markantes Gesicht und beide – auch auf dem Bild – strahlende Augen, mit einem außergewöhnlichen Funkeln, umrandet von dunklen, langen Wimpern. Dann bleibt Kimmys Blick an Jez Gesicht hängen. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen und ein unkontrolliertes Seufzen bahnt sich den Weg über ihre Lippen. Kimmy schließt das Bild liest noch einmal Jez Nachricht durch.
015158502550: Danke nochmal…wegen meinem Handy :)
Als Kimmys Blick über das Display steift und die Digitaluhr im rechten, oberen Eck in den Blickwinkel aufnimmt, muss sie lächeln. 0:53 Uhr… Um diese Uhrzeit schreibt Jez sie noch an?
Kimmy: Kein Problem :)
Irgendwie kommt sie sich ein wenig dämlich vor, aber eine andere Antwort ist ihr nicht eingefallen. Abwartend sieht sie auf den Onlinestatus von Jez. Anscheinend weiß er nicht, was er antworten soll, da er online ist, aber nichts schreibt. Anstatt noch länger abzuwarten, fügt Kimmy Jez zu ihren Kontakten hinzu.
Jez: Süßes Profilbild :3...
Kimmys Augenbrauen fahren überrascht in die Höhe. Süß?! Sie beißt sich auf die Unterlippe, um sich dieses dämliche Grinsen zu verkneifen, das ihrer Meinung nach schrecklich aussieht und immer dann in ihrem Gesicht auftaucht, wenn jemand ihr ein Kompliment gemacht hat. Den Smiley, der mit geschlossenen Augen und roten Wangen lächelt und das Ende der Nachricht markiert, könnte man mit Kimmys dämlichen Grinsen vergleichen. Weil Kimmy nicht recht weiß, was sie antworten soll, bedankt sie sich einfach nur und setzt denselben Smiley, wie auch Jez gemacht hat, hinter ihre Nachricht.
Kimmy: Danke :3
Kimmys Bild zeig sie am See, wie sie mit den Füßen im Wasser steht und die Schultern vor Kälte hochzieht. Eigentlich mag Kimmy das Bild nicht wirklich, aber sie hat es auf Wunsch von Betty trotzdem als Profilbild genommen.
Kimmy: Ist das dein kleiner Bruder oder so auf deinem Profilbild? :3
Mit dem Daumen öffnet Kimmy das Bild von Jez und dem kleinen Jungen wieder und betrachtet es. Die beiden sehen sich schon verdammt ähnlich. Sie schließt das Bild wieder, als ihr Handy in ihrer Hand vibriert.
Jez: Schwer zu erraten :D
Kimmy lächelt, als sie merkt, wie langsam eine nicht mehr allzu verkrampfte Konversation aus dem Chat wird.
***
Als Jez kurz nach halb drei sein Handy auf den Nachttisch legt und die Decke bis über die Schultern zieht, liegt ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen. Er dreht sich auf die andere Seite, zieht die Beine wie ein kleines Kind an und schließt die Augen. Über alles Mögliche hatte er mit Kimmy geschrieben. Und sie will ihm auch jetzt nicht aus dem Kopf gehen… Seufzend öffnet er die Augen wieder, starrt gegen die kahl-weiße Wand vor seiner Nase und gibt sich seinen Gedanken geschlagen. Kimmy… Jez seufzt leise, als er ein warmes Kribbeln im Bauch spürt… Oder bildet er sich das nur ein? Jez denkt an den Montag vor zwei Wochen zurück, als er mit diesem unguten Gefühl zu seiner neuen Schule gegangen ist und auf dem Schulhof von Max wiedererkannt wurde, obwohl sie sich von fast fünf Jahren das erste und letzte Mal gesehen hatten. Jez Gedanken wandern weiter. Wie Kimmy ihn unauffällig gemustert hat. Wie sie in der Pause ihren Gedanken hinterher hing. Wie sie zusammengezuckt ist, als das Thema auf das Final Four 2009 gekommen ist. Bei diesem Gedanken bleibt Jez hängen. Grübelnd dreht er sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Warum ist sie so zusammengezuckt? Hatte das vielleicht irgendetwas mit dem Unfall und diesem Lennard zu tun? Jez ist sich ganz sicher, dass er ein Kind mit diesem Namen aus der Gegend hier kennt. Ein Kind, mit dem er früher hier gespielt hat, wenn er bei seinen Großeltern zu besucht war.
Jez schließt die Augen und versucht den Schlaf zu finden, den er eigentlich dringend benötigt, der aber einfach nicht kommen will.
***
„Kimberly! Jez! Ihr beiden bleibt nach dem Unterricht bitte noch kurz.“ Kimmy sieht von ihrer Tasche auf, in die sie gerade ihre Schulsachen packt, als ihr Name fällt. Betty mustert ihre Freundin einen Moment mit gerunzelter Stirn, doch Kimmy zuckt nur mit den Schultern. Anscheinend weiß Jez genauso wenig, was sie gemacht haben sollen, denn er dreht sich um und sieht Kimmy fragend an. Wieder zuckt sie mit den Schultern. Die anderen Schüler strömen schon aus dem Klassenzimmer als sie aufsteht.
„Soll ich warten?“ Kimmy beantwortet Bettys Frage mit einem Nicken und schiebt sich dann vor Jez durch die Tischreihen bis zum Lehrerpult. Von Kimmy und Jez unbemerkt war ihre Musiklehrerin, Frau Schäubele, in das Klassenzimmer gekommen und steht nun neben Herrn Weiler neben dem Pult und mustert die beiden kurz. Kimmy spürt Jez Körperwärme und ihr wird bewusst, wie dicht er hinter ihr steht. Schnell macht sie einen Schritt zur Seite, dass er sich neben sie stellen kann. Irgendwie bringt sie seine Nähe sonst ganz durcheinander.
„Ihr müsst ein Musikprojekt zusammen machen, jaja, Fräulein Beck.“ Herr Weiler mustert Kimmy, als wäre sie irgendein Insekt. „Eine Ausrede, die ich dir sogar abgekauft habe. Ihr Schüler werdet bei solchen Sachen immer kreativer, das muss man schon sagen.“ Er macht eine Pause und mustert nun Jez. „Dumm nur, dass ich die Werte Frau Schäubele nach eurem Musikprojekt gefragt habe und sie von keinem Projekt wusste.“ Dabei betont er das Wort ‚Musikprojekt‘ noch mehr, als er die anderen Worte sowieso schon betont. Frau Schäubele, die die ganze Zeit nur danebengestanden hat, als wäre sie nur versehentlich in dieses Gespräch hineingeraten, verschränkt nun die Arme vor der Brust. Herr Weiler lächelt Kimmy und Jez hämisch an. Automatisch macht Kimmy einen Schritt zurück und stößt mit der Schulter gegen Jez, der im Gegensatz zu ihr nicht zusammenzuckt. „Ich hoffe, ihr habt eine gute Erklärung dafür.“ Kimmy senkt den Blick auf den alten, grauen Linoleumboden und wünscht sich ganz weit weg. Auch Jez hinter ihr bleibt stumm, er erwidert im Gegensetz zu Kimmy aber Herrn Weiler Blick. „Nun…“ Herr Weilers hämisches Lächeln wird zu einem gehässigen Grinsen. „…ich würde euch beiden dafür ja Nachsitzen lassen, aber Frau Schäubele…“ Er wirft ihr ein aufgesetztes Lächeln zu. „..hatte eine bessere Idee.“ Jez unterdrück sich nur schwer ein ‚Oh Gott‘. Musik zählt zusammen mit Latein eindeutig zu einem seiner schlechtesten Fächer. Weil er aber noch untalentierter in Kunst ist, musste er wohl oder über diesen Kurs belegen.
„Ihr beiden werdet eine dreißigminütige Präsentation über die Mondscheinsonate von Beethoven halten.“ Kimmy zieht die Augenbrauen hoch und öffnet den Mund, nur um ihn keine drei Sekunden später wieder zu schließen. Sie geht einen Schritt nach vorne und dreht den Kopf zur Seite, zu Jez. Er wirkt genauso baff wie sie selbst.
„Eine halbe Stunde?“ Jez Stimme klingt, als hätte er nicht richtig verstanden, was Frau Schäubele gesagt hatte. Kimmy weiß, dass er hat verstanden was sie gesagt hat, es aber nicht verstehen will.
„Ja, eine halbe Stunde. Bis Mittwoch.“ Kimmy stöhnt leise auf. Elfte Klasse heißt nicht gleich, dass sie es schaffen würden, innerhalb von zwei Tagen zu zweit eine Präsentation - über eins der wohl langweiligsten Themen, die es überhaupt gibt – zu erstellen, bei der sie zusammen dreißig Minuten reden können.
„Bis Mittwoch?“, wiederholt Kimmy langsam, lässt es aber wie eine Frage klingen. Nun mischt sich Herr Weiler ein.
„Ja, bis Mittwoch! Das habt ihr euch alle beide selbst zuzuschreiben! Und…“ Er unterbricht sich selbst, nur um beide gehässig zu mustern und dann fortzufahren „… falls ihr es nicht zustande bringt, wird es eure mündlichen Noten in Deutsch und in Musik nicht gerade verbessern.“ Damit greift er nach seiner Tasche, die auf dem Pult steht und eilt aus dem Klassenzimmer. Mit dem Kopf deutet Frau Schäubele zur Tür und entlässt Jez und Kimmy, die beide immer noch einen nicht begeisterten Gesichtsausdruck besitzen. Jez dreht sich um und schiebt sich, gefolgt von Kimmy, durch die Tischreihen Richtung Tür. Gerade, als Kimmy durch den Türrahmen nach draußen gehen will, ruft Frau Schäubele sie noch einmal zurück. Kimmy dreht sich im Türrahmen um und auch Jez bleibt stehen, obwohl die Lehrerin nur Kimmys Namen gerufen hatte.
„Ich bin sehr enttäuscht von dir, Kimberly. Ich hätte nicht gedacht, dass du so etwas machst.“ Sie sieht Kimmy vom Pult aus in die Augen. Dann dreht Kimmy sich um und verlässt zusammen mit Jez das Schulhaus. Frau Schäubele tut so, als hätte sie jemanden umbracht…
Draußen atmet Kimmy die kühle Aprilluft tief ein und schließt für einen Moment die Augen. Sie hört, wie Jez zischend die Luft zwischen den Zähnen entweichen lässt und seufzt. Als Kimmy die Augen wieder öffnet, steht Jez vor ihr, hat den Kopf leicht schief gelegt und fährt sich mit einer Hand durch sein Haar. Kimmy mustert ihn unauffällig, als er an ihr vorbei guckt. Dann dreht sie sich um und sieht Betty und Max, die voll und ganz in einen Kuss versunken sind. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen, erlischt aber bei dem Wissen, dass ihre ganze Freizeit in den nächsten Tagen wegen der Schule draufgehen wird, genauso schnell, wie es gekommen ist. Sie dreht sich wieder zu Jez um, der ihr für einen Moment in die Augen sieht.
„Weil wir das Fach Musik ja so lieben...“ Jez lächelt gequält, als er das sagt. Mittlerweile haben Betty und Max ihre Küsse beendet und steuern auf die beiden zu. Betty hebt sofort fragen die Augenbrauen, als sie Jez und Kimmys geknickte Mienen sieht. Noch bevor Max oder Betty die Frage laut aussprechen kann, beantwortet Jez sie schon. Betty verzieht das Gesicht und auch Max sieht beide mitleidig an. Einen Moment schweigt Betty, dann will die den Grund dafür wissen.
„Und warum?“ Jez sieht zu Kimmy. Sie zögert erst mit der Antwort, da sie Betty nichts von der Handyaktion erzählt hat und da sie nicht weiß, ob Jez Max etwas gesagt hat. Als sie Bettys Frage beantwortet, sieht sie, dass Jez Max davon erzählt hat. Nur Betty verliert die Kontrolle über ihre Kinnlade.
„Du hast was?“ Beinahe muss Kimmy grinsen, als Bettys Frage bis in ihr Gehirn vordringt. Und um ehrlich zu sein, war Kimmy, als sie mit Jez Handy aus der Schule gekommen ist, mindesten genauso überrascht wie Betty, da sie sich die Abgekochtheit Herrn Weiler gegenüber selbst nicht zugetraut hätte.
***
Als Kimmy und Jez an der Bushaltestelle ‚Kirche‘ in Fautenbach aussteigen und nebeneinander durch den Ort laufen, beobachtet Jez Kimmy unauffällig. Er sieht, wie der Wind mit ihren Haaren spielt. Wie ihre hellbraunen Augen aufmerksam über die Straße blicken und wie an der hellbraunen Lederjacke die Regentropfen herunterrollen. Es nieselt ganz feine, kleine Tröpfchen, sodass man es schon fast als extrem dichter Nebel bezeichnen kann. Als sie in die Straße einbiegen, in der beide wohnen, räuspert sich Kimmy.
„Wegen der Präsentation: wir können zu mir, wenn du willst.“ Sie sieht Jez kurz in die Augen und beißt sich währenddessen auf der Innenseite ihrer Unterlippe herum. Jez nickt, zieht sein Handy aus der Jackentasche und sieht auf die Uhr. Mittlerweile ist es kurz nach zwei. Obwohl sie um eins aushatten, haben sie ihren eigentlichen Bus verpasst und mussten eine halbe Stunde auf den nächsten warten.
„Ich komm um drei, okay?“ Kimmy nickt.
„Bis nachher“, murmelt sie leise, als sie sich umdreht und durch den mit Kies bedeckten Hof zur Haustür geht.
„Ciao.“
***
Als es um kurz nach drei an der Tür klingelt, sprintet Kimmy die Treppe hinunter und öffnet, bevor ihre Mutter ihr zuvorkommen kann, die Tür. Jez steht mit einem Laptop unterm Arm vor der Tür und lächelt sanft, als Kimmy die Tür aufmacht. Sie lässt ihn herein. Noch während Jez aus seinen blauen Turnschuhen schlüpft, läuft Kimmy die ersten zwei Stufen der Treppe nach oben und bleibt dann stehen, bis Jez ihr folgt – nachdem er ihrer Mutter zur Begrüßung zugenickt hat. Als Jez hinter Kimmy das Zimmer betritt, sieht er sich kurz um.
Die Wand neben dem Bett ist komplett zugepinnt mit Bildern, Autogramm- und Eintrittskarten. Das Zimmer ist in einem hellen Cremeton gestrichen, nur eine Wand ist komplett lila – mit filigranen, von weitem kaum sichtbaren goldenen Mustern - tapeziert. Das Bett ist mit einer ebenfalls lilafarbigen Bettwäsche überzogen. Die Möbel haben alle dieselbe Farbe. Kein richtiges weiß, aber auch kein grau. Auf dem Bett liegen zwei aufgeschlagene Schulbücher – Mathe und Physik, wenn Jez es richtig erkennen kann – und auch die Gardienen sind lila und cremefarben. Auf dem Nachttisch steht ein Bild und das Handyladekabel steckt noch in der Streckdose, obwohl kein Handy daran angeschlossen ist. In der Ecke hinter dem Schreibtisch steht eine Trainingstasche, auf der quer ein heller Hockeyschläger liegt. Während Jez die Tür hinter sich zugedrückt hat, ist Kimmy schon zum Schreibtisch gegangen und fährt gerade den roten Laptop hoch. Er ist der einzige Gegenstand, der in ihrem Zimmer farblich total fehl am Platz wirkt.
Jez stellt seinen Laptop daneben und zieht sich den zweiten Stuhl heran. Kimmy nimmt ihr Handy in die Hand, tippt einige Male darauf herum und hält es Jez dann hin. Verwirrt verzieht er das Gesicht.
„Wlan-Passwort?“ Jez Miene erhellt sich und er nimmt das Handy entgegen.
---
Zwei Stunden später reibt Jez sich stöhnend die Schläfen. Etwas Schlimmeres als klassische Musik und Geschichten über irgendwelche Opern und Sonaten gibt es eindeutig nicht! Kimmy kommt mit zwei Gläsern, einer Flasche Cola und einer Tüte Chips zurück in ihr Zimmer. Sie wirft die Chipstüte Jez zu und stellt die Gläser und die Flasche auf den Schreibtisch. Jez öffnet die Chipstüte und schiebt sich ein paar in den Mund. Als er sie Kimmy reicht, berühren sich ihre Finger. Kimmys Finger zucken bei der Berührung und könnte sich im nächsten Moment dafür ohrfeigen. Einen Moment sieht sie Jez an und hofft irgendeine Reaktion in seinem Gesicht zu erkennen, aber entweder ist er ein guter Schauspieler oder er hat wirklich nichts gemerkt. Um sie abzulenken, greift Kimmy in die Tüte, schiebt sich ebenfalls einige Chips in den Mund und genießt den würzigen Geschmack.
„Ich glaub, Herr Weiler hat Frau Schäubele dazu genötigt, uns so ein beschissenes Thema zu geben.“ Kimmy nickt zustimmen.
„Die ist sonst eigentlich ganz nett…“ Sie zuckt mit den Schultern und setzt dann ihr Glas an die Lippen. „Und wie du sicherlich gemerkt hast ist Herr Weiler der dümmste Lehrer an unserer Schule.“
Im Klassenzimmer der 11c ist nur das Kratzen der Füller oder Kugelschreiber auf dem Papier zu vernehmen. Die Klasse schreibt einen unangekündigten Mathetest. Das leise Seufzen der Schüler bestätigt dem Lehrer, dass sie keinen leisesten Schimmer haben, wie man manche der Aufgaben löst.
Kimmy zählt zu den Schülern, die keine Ahnung haben. Eigentlich wollte sie gestern ja noch ein wenig Mathe lernen, aber nachdem sie zusammen mit Jez noch bis halb neun an ihrem ‚Zwangsprojekt‘ gesessen hat, hatte sie eindeutig keine Lust mehr zu lernen. Jetzt bereut sie es. Seufzend lässt sie ihren Kuli knapp über dem Papier schweben und liest sich die Aufgabe noch einmal durch.
2) Bestimme mit Hilfe des Newton-Verfahrens eine Nullstelle der Funktion f(x)=x5+2x2-13 auf 2 Nachkommastellen genau.
Startwert: x0 = 1,5
Kimmy seufzt noch einmal und sieht von ihrem Blatt auf. Max, der schräg vor ihr neben Jez sitzt, lugt über Jez Arm, der anscheinend keine Probleme mit den Aufgaben hat. Unauffällig sieht Kimmy zu Herr Renner vor, der sich gerade mit seinem Laptop beschäftigt. Mit dem Finger drückt sie auf eine Seite ihres Tip-Ex-Stift, sodass er nach vorne fliegt und gegen Max Rücken prallt. Dieser zuckt zusammen und dreht sich um. Mit der rechten Hand macht Kimmy ihm deutlich, dass er sich ein wenig drehen soll, sodass sie freie Sicht auf sein Blatt hat. Er nickt kaum merklich und lehnt sich dann nach unten, um Kimmys Tip-Ex aufzuheben.
In den nächsten fünf Minuten merkt Kimmy, dass Herr Renner sie beobachtet. Sie kritzelt einige Zahlen und Formeln auf das karierte Blatt, das vor ihr liegt, sodass der Lehrer schon bald mehr Interesse an den Spickversuchen anderer Schüler hat. Erleichtert atmet Kimmy auf und sieht dann über Max Schulter auf sein Blatt. Das Gekritzel aus Zahlen und Formelzeichen, das Kimmy entziffern kann, hilft ihr nicht wirklich weiter. Sie überträgt die Zahlen zwar auf ihr Blatt, aber die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie keine Fehler rein gebaut hat, würde sie bei Max unleserlicher Schrift nicht.
Kimmy gelingt es noch, die nächsten beiden Aufgaben abzuschreiben, dann muss die Klasse abgeben. Schon allein an den Gesichtsausdrücken der meisten ist zu erkennen, dass der Test nicht unbedingt gut ausfallen wird.
***
„Oh man…“, jammert Betty und sieht ihren Freund tadelnd an. „Warum hast du mich nicht abschreiben lassen? Ich habe es so verkackt!“ Max hebt schuldbewusst die Schultern und sieht Kimmy an. Betty folgt seinem Blick und verschränkt empört die Arme.
„Sie hat mich mit ihrem Tip-Ex-Stift abgeworfen!“, versucht sich Max zu verteidigen. Als Betty Kimmy einen bösen Blick zuwirft, zieht sie nur entschuldigend die Schultern hoch.
„Sorry, aber ich brauch wohl eher mal wieder mehr als nur fünf Punkte in Mathe.“ Damit hat sie recht. In den letzten beiden Mathearbeiten hat Kimmy je nur fünf Punkte geschrieben. Zu Kimmys Glück beruhigt sich Betty ein wenig. Diese richtet ihren Blick auf Jez, der bis gerade nur belustigt der Diskussion gefolgt war.
„Warum bist du so gut in Mathe?“ An ihrer Stimme kann man deutlich erkennen, dass sie gerade von allem und jedem genervt ist. Jez grinst schief.
„Hatten wir alles schon in Köln dran. Da hätte ich normalerweise im Juni schon Sommerferien.“ Bevor Betty etwas darauf antworten kann, schlingt Max seine Arme von hinten um ihren Körper und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Betty dreht sich zu Max um, stellt sich auf die Zehenspitzen – und auch so ist sie noch mehr als einen Kopf kleiner als Max – und drückt ihre Lippen auf seine. „So schnell kann man sie zum Schweigen bringen“, murmelt Jez leise, grinst und weicht Bettys Hand aus, mit der sie zu einer Faust geballt nach Jez ausgeschlagen hat, obwohl ihre Lippen immer noch auf denen von Max liegen.
***
Kimmy stöhnt genervt auf. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jez und sie ihr Zwangsprojekt morgen vorstellen können. Jez mustert sie von der Seite, als sie sich mit ihren Händen erst durch Gesicht fährt und sich dann die Haare rauft. Als Kimmy es bemerkt, lässt sie die Hände sinken und sieht Jez in die Augen.
„Was?“, fragt sie. Jez beginnt zu lächeln. Er erwidert ihren Blick.
„Nichts.“ Dann dreht er seinen Kopf wieder zu seinem Laptop und seufzt. Anscheinend kann er sich genauso wenig vorstellen, wie sie das alles bis morgen schaffen sollen. Die kleine Digitalanzeige im Eck des Laptopbildschirms zeigt schon einundzwanzig Uhr an. Jez lehnt sich wieder gegen die Lehne seines Stuhls und seufzt leise. Er dreht den Kopf zu Kimmy und grinst schelmisch. Kimmy hebt die Augenbrauen. Sie kennt diesen Blick. Von Lennard damals. Wenn er etwas machen wollte, mit dem sie nicht ganz einverstanden war. „Eigentlich haben wir doch den Großteil, oder?“, fragt Jez sie, immer noch schelmisch grinsend. Kimmy nickt vorsichtig und sieht in forschend an.
„Ja?“ Sie versteht nicht ganz, was diese Frage soll.
„Und ich denk mal, dass du hast genauso wenig Lust wie ich hast, noch zwei Stunden da dran zu sitzen.“ Zögerlich nickt Kimmy.
„Ja?“ Jez grinst immer noch, was Kimmy langsam unheimlich wird.
„Und ich denk mal, dass du genauso wenig weißt, wie wir noch genug Infos finden sollen, dass der Vortrag eine halbe Stunde lang ist.“ Anstatt jetzt noch weiter zu zögern nickt Kimmy wieder. Sie hebt fragend die Augenbrauen. Jez grinst immer noch. „Was hältst du davon, wenn wir unsere Präsentation genau jetzt fertig haben?“ Kimmy verzieht das Gesicht, da sich erst nicht versteht, was Jez damit sagen will, doch dann erhellt sich ihre Miene.
„Viel“, antwortet sie knapp und lächelt. Jez steht auf, nimmt seinen grauen Schulrucksack, der vor seinem Bett steht, und leert ihn kurzerhand darüber aus. Einige Bücher, sein Block, ein paar Stifte und ein USB-Stick fallen auf das Bett. Nach letzterem greift Jez, setzt sich wieder auf seinen Stuhl, steckt den Stick in den dafür vorgegebenen Anschluss an seinem Laptop und wartet auf den Ton, der zu verstehen gibt, dass der Laptop den Stick erkennt. Mit zwei Klicks kopiert er die Power Point Präsentation in einen neu erstellten Ordner auf dem Speicher des Sticks, schließt das Fenster wieder und öffnet einen anderen Ordner auf seinem Laptop, in dem der Text für den Vortrag von ihm und Kimmy gespeichert ist. Er öffnet sie und klickt auf das kleine Druckersymbol oben im Eck. Einige Sekunden passiert nichts, dann taucht - mit dem wohl jedem bekannten Fehlermeldungston - eine Fehlermeldung auf dem Bildschirm des Laptops auf. ‚Das von ihnen gewählte Gerät befindet sie nicht in Reichweite. Bitte überprüfen sie…‘ Bevor Kimmy weiterlesen kann, schließt Jez das Fenster.
„Verdammt“, murmelt er leise, anscheinend an sich selbst gerichtet. Er dreht den Kopf zu Kimmy. „Also bis nach Köln reicht das Signal nicht ganz.“ Kimmy muss ungewollt grinsen. Sie lehnt sich nach vorne, nimmt Jez die Maus aus der Hand und verschiebt die beiden Dateien in den Ordner auf Jez Stick. Er beobachtet ihr Handeln mit in Falten gelegter Stirn. Erst, als sie den Stick aus dem Laptop zieht und ihn in ihrer Hosentasche verschwinden lässt, versteht er. Kimmy lässt Jez Maus los und nimmt stattdessen die Maus, die zu ihrem Laptop gehört, in die Hand und fährt ihren Laptop runter. Sie klappt den Laptop zu und schiebt ihn in die blaue Adidastasche, die zu ihren Füßen liegt. Jez folgt mit den Augen ihren Bewegungen für einen Moment, dann steht er auf, sammelt die Bücher und Stifte von seinem Bett und wirft alles wieder in seinen Rucksack. Dann klappt er den Laptop, ohne ihn runter zu fahren, zu und schiebt ihn an seinen eigentlichen Platz auf dem Schreibtisch zurück. Kimmy ist immer noch mit dem Zusammenpacken ihrer Sachen beschäftigt, weshalb Jez sich auf sein Bett fallen lässt und mit dem Rücken gegen die Wand lehnt. Er greift nach seinem Handball, der immer noch neben dem Kopfkissen liegt, da er, bevor Kimmy gekommen war, einfach nur auf dem Bett gelegen und nachgedacht hat. Und das kann er eben am besten mit einem Handball in der Hand. Langsam dreht den Ball zwischen den Fingern, bis er das Sechseck mit der Unterschrift gefunden hat und betrachtet das Autogramm für einige Sekunden. Kimmy – die mittlerweile alle ihre Sachen zusammengepackt hat – beobachtet ihn kurz, bevor sie sich ein wenig unsicher neben Jez auf sein Bett setzt. Er hebt den Blick, als er die Bewegung neben sich wahrnimmt und lächelt sanft. Ein wenig hat Kimmy das Gefühl, dass Jez grüne Augen leuchten. Vorsichtig lehnt sich Kimmy neben Jez gegen die kahle, weiße Wand.
„Wie lang spielst du schon?“ Sie deutet mit dem Kopf auf den Ball in Jez Händen. Jez zuckt die Schultern.
„Ich glaub mit sechs oder so habe ich angefangen.“ Kimmy zählt im Kopf die Jahre, die Jez nun schon Handball spielt. Ungewollt schluckt Kimmy. Lennard hat ungefähr im selben Alter angefangen und hat seinen Handball und die Sportart an sich von Anfang an geliebt.
„Warum spielst du eigentlich nicht? Du bist echt gut.“ Kimmy hebt den Kopf und erkennt in Jez Augen, dass das Kompliment ehrlich gemeint war. Schulterzuckend spürt sie, wie ihre Wangen ein wenig wärmer werden. Sie schickt ein stilles Stoßgebet in den Himmel, dass Jez nicht merkt, wie sie rot geworden ist.
„Keine Ahnung“, murmelt sie leise. „Nicht so mein Ding.“ Sie hebt den Blick wieder und merkt, wie Jez Augen sie interessiert mustern. „Hockey ist mir lieber“, fügt sie noch schnell hinzu. Um vom ihr abzulenken, nimmt Kimmy Jez den Ball aus der Hand und dreht ihn solange, bis sie die mattschwarze Unterschrift entdeckt. Sie tippt mit dem Finger darauf.
„Von wem ist die?“ Jez nimmt ihr den Ball wieder ab.
„Uwe Gensheimer. Von den Rhein-Neckar-Löwen.“ Kimmy hebt ihren Blick von dem Ball und sieht Jez interessiert an.
„Warst du in Mannheim beim Handball?“ Jez schüttelt den Kopf.
„Final Four in Köln.“ Kimmy zieht die Stirne in Falten.
„Die Löwen waren doch noch nie beim Final Four dabei, oder?“ Jez überlegt einen Moment.
„Nein. Aber er war auf demselben Rang wie mein Bruder und ich.“ Kimmy hebt den Kopf ein wenig, so wie sie es immer tut, wenn jemand ihr etwas erklärt. „Du musst aber schon zugeben, dass du ein bisschen Ahnung vom Handball hast.“ Kimmy kann nicht einschätzen, ob Jez sie nur necken will oder ob er herausfinden will, warum sie wirklich ein bisschen mehr Ahnung von Handball hat.
„Betty hat mich nicht erst einmal mit zu einem Spiel von den Jungs gezwungen.“ Schulterzuckend versucht Kimmy den wahren Grund aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie kann Jez nicht von Lennard erzählen. Lange hat sie kein Spiel der Handballmannschaft von Lennard nach seinem Tod besucht. Erst, als Betty heimlich angefangen hat für Max zu schwärmen und sie sich geweigert hat, sich mit ihm zu treffen, weil sie Angst davor hatte, als er sie gefragt hat, hat Kimmy zum ersten Mal wieder ein Spiel der Mannschaft besucht, um Betty irgendwie in Max Nähe zu bringen, auch wenn das nicht dasselbe war, wie wenn sich die beiden alleine getroffen hätten. „Und meine Eltern gucken beide lieber Handball als Fußball.“
„Das wären doch schon zwei Gründe, um selbst zu spielen.“ Jetzt erkennt Kimmy, dass Jez sie wirklich nur necken will. Grinsend springt sie auf den Zug mit auf.
„Aber nur, wenn du dir ‘nen pinken Hockeyschläger kaufst und mit Hockey anfängst.“ Jez schüttelt den Kopf und knufft Kimmy dann grinsend in die Seite.
„Ist klar.“ Kimmys Grinsen verwandelt sie in ein Lächeln und sie wendet schnell den Blick von Jez ab. Mit dieser freundschaftlichen Berührung hat sie nicht gerechnet. Und umso mehr sie sich auf die Wärme in ihrem Bauch und das Gefühl dieser Berührung auf ihrer Haut konzentriert, umso mehr hofft sie, dass sie deshalb nicht rot wird.
„Wie oft warst du eigentlich schon beim Final Four?“ Kimmy stellt Jez die Frage nicht, weil sie die Antwort darauf unbedingt wissen muss. Sondern weil ihr die plötzliche Nähe zu Jez irgendwie Angst gemacht hat. Angst, weil sie sich gut angefühlt hat.
„Jedes Jahr seit es in Köln stattfindet.“
„Fünf Mal?“ Jez schüttelt den Kopf.
„Vier. Dieses Jahr war es noch nicht.“ Kimmy murmelt ein leises ‚Achso‘, bevor sie den Blick wieder hebt und Jez einen Moment ansieht.
„Sind die Karten nicht teuer?“ Jez bis eben noch entspanntes Lächeln wechselt in ein leichtes Grinsen.
„Bisschen.“ Kimmy hebt die Augenbrauen. „Hundertachtzig Euro eine Karte.“ Ungewollt reißt Kimmy die Augen auf. Jez lacht leise auf. „Guck nicht so. Das war jedes Jahr wieder ein Highlight.“ Kimmy sieht in misstrauisch an.
„Hundertachtzig Euro für vier läppische Handballspiele in zwei Tagen?“ Nun ist es Jez, der die Augenbrauen hebt.
„Das sind die Championsleague-Halbfinales und das Finale.“ Kimmy zieht den Kopf ein wenig ein, da Jez ein wenig beleidigt klingt. Dann zuckt sie die Schultern.
„Von dem Geld könnte man in Köln auch einfach Shoppen gehen.“ Jez schüttelt leise lachend den Kopf. Er stupst ihr sanft in die Seite.
„Warum denken Mädchen immer nur an shoppen.“ Kimmy zuckt ein weiteres Mal die Schultern. In ihrem Bauch kribbelt es schon wieder warm. Ein komplett ungewohntes und neues Gefühl. Ein Lächeln huscht auf ihre Lippen, als sie Jez Hand auf ihrem Arm spürt. Sie sieht in seine grünen, funkelnden Augen. Erst dann wird ihr bewusst, wie er sich langsam über die lehnt und ihrem Gesicht näherkommt. Bis eben noch hatte Kimmy immer ein wenig Angst vor diesem Moment. Aber Jez Augen nehmen ihr die Angst. Stattdessen fesselt sie sein Blick und ihr ganzer Körper beginnt warm zu kribbeln. Als sie Jez warmen Atem auf der Haut spürt, senkt sie die Lider ein wenig. Sie sieht nur noch, wie Jez seinen Kopf ein wenig schräg legt und spürt, wie er mit der rechten Hand durch ihre Haare streicht. Nur wenige Zentimeter trennen ihre Lippen noch voneinander. Kimmy hat das Gefühl, Jez weiche Lippen schon auf ihren zu spüren, als plötzlich ein lautes Geräusch ertönt, Jez erschrocken zurückfährt und seine Hand aus ihrem Haar zieht. Ein wenig verwirrt sieht er sich kurz in seinem Zimmer um, bis er realisiert, dass sein Handy klingelt. Er erhebt sich vom Bett, greift nach seinem Handy, wirft einen Blick auf das Display und nimmt den Anruf schnell an.
„Jeremy, alles in Ordnung?“ Da Jez ihr den Rücken zugewandt hat, sieht er nicht, wie Kimmy die Augen kurz schließt und die angehaltene Luft langsam ausatmet. Warum musste Jez beschissenes Handy ausgerechnet jetzt klingeln? Erst die nächsten Worte von Jez bringen sie wieder dazu, die Augen zu öffnen. Die Besorgnis, die bis eben noch in seiner Stimme lag, hat sie über sein ganzes Gesicht und sogar über das Funkeln seiner Augen ausgebreitet. Seine Stimme jedoch ist ruhig. „Hey, Jeremy. Beruhig dich erst mal. Bitte.“ Er sieht Kimmy kurz an und verlässt – immer noch mit dem Handy am Ohr - sein Zimmer. Seufzend rauft sie sich die Haare und lässt ihre Hände dann kurz in ihrem Gesicht verweilen. Jez hätte sie fast geküsst! Sie hat ihn fast geküsst! Kimmy hebt den Kopf und steht entschlossen auf. Sie nimmt ihr weißes Smartphone von Jez Schreibtisch, schlüpft in ihre braune Lederjacke und hängt sich die blaue Adidastasche über die Schulter. Leise verlässt sie Jez Zimmer.
Im Flur steht Jez, den Rücken ihr zugewandt, das Handy ans Ohr gedrückt und fährt sich mit der freien Hand seufzend durchs Haar. Leise räuspert sich Kimmy, sodass er auf sie aufmerksam wird und sich zu ihr umdreht. Im Jackenärmel verknotet sie nervös ihre Finger.
„Ich glaub, ich geh dann mal“, sagt sie leise und deutet mit der Hand Richtung Treppe. Jez nickt und folgt ihr die Treppe hinunter. Als Kimmy unten in ihre blauen Vans schlüpft, nimmt Jez sein Handy kurz vom Ohr und lächelt vorsichtig. Kimmy erwidert das Lächeln und öffnet dann die Haustür. Sie dreht sich noch einmal um. „Tschüss“, murmelt sie leise. Ungewollt weicht sie seinem Blick aus.
„Tschüss.“ Als Kimmy die zwei Stufen hinuntergeht und den Hof des Hauses verlässt, wartet sie nur darauf zu hören, wie die Haustür ins Schloss fällt. Als das erlösende Geräusch endlich ertönt, zieht Kimmy augenblicklich ihr Handy aus der Hosentasche und sucht die Handnummer ihrer besten Freundin in ihrer Kontaktliste. Es tutet keine zweimal, da hat Betty den Anruf schon angenommen.
„Betty, du musst mir unbedingt helfen“, sprudelt Kimmy los, bevor sich Betty melden konnte. „Jez hätte mich fast geküsst.“
„Er hat was? Warum nur fast?“ Anstatt Bettys Frage zu beantworten, seufzt sie.
Mittlerweile hat Kimmy die Straße überquer und war an den drei Häusern - die das Haus ihrer Eltern von dem Haus, im dem Jez mit seiner Mutter lebt, trennen – vorbeigelaufen. Etwas ungeschickt öffnet sie die Haustür. Sie schlüpft aus ihren Schuhen und läuft die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer angekommen stellt Kimmy ihr Handy auf Lautsprecher, schließt die Zimmertür ab, legt das Handy auf den Schreibtisch und schält sich aus ihrer Jacke. Sie nimmt das Handy wieder in die Hand und lässt sich aufs Bett fallen. „Kimmy?“ Kimmy stellt das Handy wieder auf die normale Lautstärke, hält es sich ans Ohr und starrt an die Decke. „Wieso nur fast?“, wiederholt Betty – nicht mehr ganz so aufgeregt – ihre Frage. Wieder seufzt Kimmy und dreht sich auf die Seite.
„Sein Handy hat geklingelt.“ Einen kurzen Moment ist es still.
„Sag mal…“, fängt Betty an. „…wenn es dir so viel ausmacht, dass er dich nicht geküsst hat…“ Sie beendet ihren Satz nicht. Kimmy weiß, was ihre Freundin sagen will. Wenn es dir so viel ausgemacht hat, dass er dich nicht geküsst hat… Kann es vielleicht sein, dass du ein bisschen für ihr schwärmst? Seufzend dreht sie sich auf die andere Seite.
„Vielleicht“, murmelt sie. „Wie war es bei dir, als du gemerkt hast, dass du Max mehr magst?“
„Ach…“, beginnt Betty zu schwärmen. „Irgendwie habe ich andauert an Max denken müssen und ich habe ihn die ganze Zeit beobachtet. Immer wenn er mich angesehen hat oder wenn er mit mir geredet hat, dann hat mein Körper so…“ Anscheinend weiß sie nicht genau, wie sie das Gefühl beschreiben soll. „Es war, als hätte nicht nur ich und mein Kopf mich immer wieder auf ihn gefreut, sondern auch mein Körper.“
„Aber…“ Kimmy zögert einen Moment. „Ich kenne Jez doch kaum. Ich kann mich doch in zwei Wochen, in denen ich ihn nur in der Schule gesehen habe, nicht in ihn verliebt haben…“
„Warum denn nicht? Ich meine Liebe auf den ersten Blick und so.“ Kimmy stöhnt leise auf.
„Bitte Betty, bleib mal realistisch!“ Betty seufzt leise.
„Jaja in Ordnung.“ Es raschelt ein wenig durch die Leitung. Wahrscheinlich hat Betty sich auf ihr Bett gesetzt. „Naja, egal. Erzähl mal. Wie kurz davor wart ihr?“ Kimmy zögert. Soll sie ihrer Freundin ehrlich davon erzählen?
„Naja…“, murmelt sie und entscheidet sich dann für die Erklärung. „Wir haben ja unser Projekt gemacht. Und als wir dann fertig waren, hab ich meine Sachen zusammengepackt… eigentlich ja unwichtig…“ Betty unterbricht sie.
„Nichts ist unwichtig! Bitte, erzähl mit jedem kleinen Detail.“ Betty klingt total aufgekratzt.
„Jez hat sich eben auf sein Bett gesetzt und… ich hab mich dann halt zu ihm gesetzt. Wir haben ein bisschen geredet. Über Handball. Preise für die Karten vom Final Four und warum ich nicht spiel‘ und so. Und… als er gesagt hat, wie viel die Karten kosten, habe ich gesagt, dass man dafür doch lieber shoppen gehen könnte. Und dann hat er ich halt über mich gelehnt und wollte mich küssen.“ Betty unterbricht sie.
„Ja, wie? Hattest du die Augen offen oder zu? Hat er irgendetwas gesagt? Hat er dich irgendwie berührt? Kimmy!!!“ Kimmy seufzt. Wieso hat sie Betty angerufen?
„Naja…“ Sie schließt die Augen und sieht wirklich das Bild vor sich, wie sie Jez in die Augen sieht, seine Hand in ihrem Haar liegt und wie sie dann die Lider senkt, als er seinen Kopf ein wenig schief legt. „Er hat mir die ganze Zeit in die Augen gesehen und er hat mir durchs Haar gestrichen und dann habe ich meine Augen zu gemacht und ich hab seinen Atem schon gespürt… und dann hat sein Handy plötzlich geklingelt und er hat mich losgelassen.“ Betty seufzt am anderen Ende der Leitung.
„Och nee“, murmelt sie leise. Kimmy starrt an die mit Bildern und Autogrammkarten zugepinnte Wand vor sich und setzt sich auf. Mit einer Hand zieht sie einen der Reisnägel, der eins der Bilder an der Wand fixiert, aus der Wand und lässt das Bild in ihre Hand fallen. Vorsichtig legt sie den Reisnagel auf den Nachttisch und betrachtet das Bild. Es zeigt Lennard, Max, Betty und sie. Als sie und Lennard zehn Jahre alt waren. Betty war selbst da schon mit Abstand die kleinste, obwohl Kimmy und Lennard mehr als ein halbes Jahr jünger waren wie sie. Sie und Betty sitzen nebeneinander, in Sommerkleidern. Neben Betty sitzt Max, der seinen Arm um Betty gelegt hat. Schon früh, als sie maximal zwei Jahre alt waren, haben die beiden sich kennengelernt und sie waren dreizehn Jahre lang befreundet und haben sich dann erst ineinander verliebt. Kimmy betrachtet das Bild noch einen Moment lang. Neben Kimmy sitzt ihr Bruder. Er hatte zwar dieselben braunen, aufmerksamen Augen, dieselben vollen Lippen und dieselben langen Wimpern, aber im Gegensatz zu ihr hatte er die blonden Haare ihrer Mutter geerbt. Als Kimmy den Blick von Lennard und ihr auf Betty und Max wandern lässt, lächelt sie. Die beiden sahen früher schon total süß zusammen aus. „Und dann? Weißt du wer angerufen hat? Habt ihr danach noch mal geredet? Hat er danach irgendwie ‚Ich liebe dich‘ oder so gesagt?“ Mit diesen Worten reißt Betty ihre beste Freundin aus ihren Gedanken. Kimmy seufzt.
„Ich glaube es war sein kleiner Bruder. Und nein, bis auf ‚Tschüs‘ haben wir nichts mehr zueinander gesagt.“ Kimmy macht eine kurze Pause. „Und irgendwie kann ich mir sowieso nicht vorstellen, dass ihm irgendwas an mir liegen sollte. Warum auch?“ Innerlich versetzten ihre eigenen Worte Kimmy einen Stich. Noch nie hat ihr Körper so kribbelig auf einen Jungen reagiert.
„Ach was?! Wetten, er mag dich! Sonst hätte er dich nicht versucht zu küssen!“, protestiert Betty. Eigentlich hat Betty ja schon recht. Aber die Angst, irgendwie von einem Jungen geliebt zu werden, lässt Kimmy zweifeln.
„Aber was, wenn ich am Schluss nur eine von vielen bin, die er rumgekriegt hat?“ Kimmy hört, wie ihre Freundin aufstöhnt. Während sich Kimmy wieder auf die andere Seite dreht und versucht durch das Fenster auf die dunkle Straße zu sehen – was ihr allerdings nicht gelingt, da sie nur ihr eigenes Spiegelbild sieht – beißt sie sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Ja, es ist nicht fair Jez als Playboy darzustellen, aber sie weiß genauso wenig wie Betty, wie viele Freundinnen er schon hatte und wie er in Köln mit Mädchen umgegangen war.
„Mensch Kimmy! Mach dir doch nicht so einen Kopf. Und außerdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jez einer von der Sorte ist. Dann hätte er sich schon längst eine andere gesucht!“ Da hat Betty auch wieder recht… „Es gibt genug Mädels auf der Schule, die ihn einfach süß finden, weil er ein Großstadtjunge ist, der in ein Kaff wie Fautenbach zieht. Und die ein so niedriges Niveau haben, dass sie mit jedem ins Bett gehen würden“, fügt sie noch hinzu. Daran hat Kimmy noch gar nicht gedacht! Was, wenn er einfach nur der erste sein will, der sie, Kimmy, rumgekriegt hat?! Als hätte Betty ihre Gedanken gelesen, beantwortet sie ihre Fragen. „So viel, wie ich von Max erfahren habe, hatte er bis jetzt nur eine feste Freundin. Aber dafür ziemlich lange. Fast zwei Jahre oder so. Und anscheinend hat sie Schluss gemacht und nicht er. Und er hat zu Max gesagt, dass er dich nett findet.“ Beim letzten Satz hat Betty Stimme einen triumphierenden Unterton besessen.
„Nett ist eine Umschreibung von Scheiße, Betty“, murmelt Kimmy leise. Sie weiß selbst nicht, warum sie sich plötzlich so schlecht fühlt. Vielleicht, weil Jez sich einfach nur als Ersatz für seine Exfreundin sehen kann? Weil sie vielleicht äußerliche Ähnlichkeit mit seiner Exfreundin hat?
„Kimmy, machst du jetzt bitte Schluss? Es ist schon halb zwölf und morgen ist Schule!“ Erschrocken fährt Kimmy hoch, sodass sie aufrecht im Bett sitzt. Die Stimme ihrer Mutter dringt durch die geschlossene Tür. Kimmy steht auf und schließt sie auf.
„Ja, gleich.“ Kimmys Herz rast vor Schreck. Was, wenn ihre Mutter schon länger vor der Tür steht und gelauscht hat? Kimmys Mutter kommt auf sie zu, setzt sich neben ihrer Tochter auf die Bettkante und streicht ihr ein Haar aus dem Gesicht.
„Kimmy?!“ Als Bettys Stimme ein wenig gedämpft aus Kimmys Handy schallt, hebt diese das Handy schnell ans Ohr.
„Wir reden morgen weiter, okay?“ Ihre Stimme duldet keine Widerrede. Murrend bestätigt Betty ihr, dass sie sie verstanden hat und verabschiedet sich von ihrer Freundin. Kimmy lehnt sich - nachdem auch sie aufgelegt hat - ein wenig nach hinten und legt ihr Handy auf den Nachttisch. Als sie sich wieder aufrecht hinsetzt, sieht sie in die braunen Augen ihrer Mutter. Sie lächelt ihre Tochter sanft an.
„Wer war der Junge, der gestern hier war?“ Kimmy sieht sie irritiert an. Hat ihre Mutter wirklich gelauscht, dass sie ausgerechnet jetzt mit ihr über Jez reden möchte?
„Ähm… das war Jez. Er wohnt erst seit zwei Wochen hier.“ Inständig hoffend, dass ihrer Mutter diese Antwort genügt, senkt Kimmy den Blick.
„Warum war er hier?“ Kimmy spürt den prüfenden, mütterlichen Blick auf sich.
„Wir mussten ein Musikprojekt zusammen machen, bei dem Frau Schäubele die Gruppen eingeteilt hat.“ Irgendwo kann man das als eine gute Ausrede ansehen, aber schließlich ist es ja nicht mal mehr ganz gelogen, lobt sie sich stumm selber.
„Lüg‘ mich nicht an, Kimmy.“ Ertappt hebt Kimmy den Kopf. „Herr Weiler hat angerufen und von deiner Ich-hol-einfach-mal-das-Handy-von-einem-Jungen-aus-meiner-Klasse-zurück-Aktion mithilfe einer billigen Ausrede erzählt.“ Sofort senkt Kimmy den Kopf. Sie will den tadelnden Blick ihrer Mutter nicht sehen.
„Die ‚billige Ausrede‘ hat er mir ja abgekauft. Dann kann sie gar nicht so billig gewesen sein“, murmelt sie leise. Erleichtert merkt Kimmy, wie ihre Mutter sich neben ihr ein wenig entspannt und hebt unsicher den Kopf. Ihre Mutter lächelt sie sanft an.
„Das hast du eindeutig nicht von mir.“ Sie streicht ihrer Tochter durchs Haar. Müde lehnt Kimmy sich gegen die Schulter ihrer Mutter. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass du das für jeden Jungen tun würdest.“ Da ist es. Das Thema, über das wohl keiner gerne mit seinen Eltern spricht. Kimmy setzt sich wieder aufrecht hin und sieht ihrer Mutter tief in die Augen - fest entschlossen, diesmal den Blickkontakt nicht zuerst zu beenden – und antwortet darauf nicht. Unbeeindruckt zieht ihre Mutter die Augenbrauen hoch. Krampfhaft versucht Kimmy, den Blickkontakt nicht abzubrechen, doch es gelingt ihr nicht. Sie senkt den Blick und schweigt noch immer. „Komm schon, Kimmy. Du kannst mit mir über alles reden“, versucht ihre Mutter sie zu erweichen. Kimmy hebt den Blick.
„Aber man redet nicht mit der eigenen Mutter darüber, welcher Junge süß oder nicht süß ist.“ Selbstbewusst, dass sie ein gutes Argument gefunden hat lächelt sie, dass sofort wieder verschwindet. „Und… und außerdem… ich steh nicht auf Jez!“, fügt sie schnell hinzu und steht auf, um noch ganz schnell einige Ordner – die sie am nächsten Tag eigentlich gar nicht braucht – in ihren Schulrucksack zu stopfen und um das Gesicht von ihrer Mutter abwenden zu können.
„Ach. Wirklich nicht? Und warum hast du dann sein Handy zurückgeholt, wo du doch gar ‚nicht auf ihn stehst‘ und ihn erst ‚seit zwei Wochen kennst‘?“ Jetzt hat Kimmy keine Ausredenidee mehr. Deshalb versucht sie sich selbst zum Nachdenken zu zwingen, doch es nutzt nichts. Mit ihrem Englisch- und Physikordner in den Händen dreht sie sich zu ihrer Mutter um, die immer noch auf der Bettkante ihres Bettes sitzt.
„Das … das geht dich nichts an.“ Damit legt sie die Ordner ziemlich unsanft auf ihren Schreibtisch, greift nach der Shorts und dem Schlafshirt und verlässt ihr Zimmer.
***
„Jetzt mach dir doch nicht so einen Kopf, Jez.“ Jez hebt den Kopf und sieht seine Mutter, die sich zu seinen Füßen auf das Sofa setzt, ausdruckslos an. Seit Jeremy vor mehr als zwei Stunden angerufen hat, ist er unruhig im Haus herum getigert, bis seine Mutter von ihrer Schicht im Krankenhaus gekommen ist und ihn dazu gebracht hat, kurze Zeit still zu sitzen. „Er hat sich bestimmt nur darauf versteift, hierher kommen zu wollen und jetzt sieht er in allem einen Grund dazu.“ Jez richtet sich – noch während seine Mutter spricht – auf und winkelt die Beine an. Seine Augen funkeln säuerlich im dämmerigen Licht.
„Dann hätte er aber nicht so geweint!“ Verzweifelt, dass seine Mutter nicht denselben Drang hat, Jeremy sofort hierher zu holen, kneift Jez die Augen zu und stützt den Kopf in die Hände. Seufzend rückt seine Mutter näher zu ihrem Sohn und streicht ihm sanft über den Arm. Mechanisch hebt Jez den Kopf. Die Augen seiner Mutter schimmern müde und traurig. Langsam schließt sie beide Arme um Jez, der sich für einen Moment wieder wie ein kleines Kind fühlt, dass sich verletzt hat, oder dass bei einem Spiel verloren hat.
„Glaub mir, es wäre mir auch lieber, wenn Jeremy hier wäre. Aber er hat sich für Köln entschieden und da bleibt er jetzt erst einmal.“ Ein wenig unsanft drückt Jez seine Mutter weg und sieht sie wütend an.
„ER. WILL. NICHT. IN. KÖLN. BLEIBEN!“, faucht Jez und springt auf. Erschrocken zuckt seine Mutter zurück. Ohne noch ein Wort zu sagen verlässt Jez das Wohnzimmer in Richtung Küche. Schnaubend lässt er sich auf einen der Küchentischstühle fallen, stützt seine Ellbogen auf die Tischplatte und vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Seine Wangen glühen und seine Augen brennen. Immer wieder schluckt er und versucht den Drang, einfach zu weinen, zu unterdrücken. Die leisen Schritte hinter sich vernimmt er nicht. Erst, als seine Mutter ihm die Hand auf den Rücken legt, fährt er hoch. Auch im Dunkeln sieht Jez, wie Tränen in ihren Augen glitzern. Sanft nimmt sie ihn in den Arm, bevor er mehrmals blinzelt, bis es spürt, wie warme Tränen über seine Wangen rollen. Langsam lässt seine Mutter ihn los und wischt mit einem Finger die Tränen von Jez Wangen.
„Glaub mir, ich vermisse Jeremy genauso sehr wie du.“ Sie sieht zu Jez hoch, der ein halben Kopf größer ist als sie, und lächelt zaghaft. Jez senkt die Augenlider und unterdrückt die erneut aufkommenden Tränen. Seine Mutter streicht ihm durchs Haar, zieht ihn an sich gibt ihn einen Kuss auf die Wange. Vorsichtig lächelt sie ihrem Sohn aufmunternd zu. „Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt schlafen gehst. Morgen ist Schule.“ Jez nickt ohne zu widersprechen, verlässt die Küche, geht die Treppe hoch und verschwindet im Bad.
***
Hellwach starrt Kimmy an die Decke. Schon seit zwei Stunden liegt sie seit ihrem allnächtlichen Traum wach und denkt nach. Denkt nach über Jez. Ob sie mit ihrer Vermutung vielleicht doch nicht so falsch liegt. Ob Jez einfach nur der erste sein will, der sagen kann: „Ich habe Kimberly Beck flachgelegt!“. Unruhig dreht sich Kimmy auf die Seite. Aber andererseits: wie kann er so süß sein und sie gleichzeitig verarschen? Seufzend dreht sie sich auf den Bauch und stützt sich mit den Ellbogen ein wenig ab, um den Oberkörper zu heben und das kleine Möwenkuscheltier von ihrem Bettpfosten zu nehmen. Das Tierchen ist eine Kuscheltiernachbildung des Maskottchens von der SG Flensburg-Handewitt. Von dem Handballverein, den Lennard verehrt hat. Das rote Trikot der weiß-grauen Möwe ist schon ziemlich ausgeblichen, aber sonst ist das Tier nicht sehr ramponiert. Sanft drückt Kimmy das Kuscheltier an ihre Brust. Ja, mit sechzehn ist man eigentlich zu alt dafür, doch das Kuscheltier hat Lennard gehört. Es hat jede Nacht mit ihm in seinem Bett schlafen dürfen. Genauso wie das Tier, dass eins zu eins so aussah, wie die Möwe, die Kimmy in den Armen hält. Mit dem Unterschied, dass es eine Unterschrift eines ehemaligen Flensburgspielers besessen hat und dadurch einen winzigen Pluspunkt bei Lennard hatte. Traurig schließt Kimmy die Augen und streicht der Möwe über den Schnabel. Lennards anderes, geliebtes Kuscheltier haben ihre Eltern auf ihren Wunsch hin in seine Arme gelegt und ihn so zu Grabe gelassen. Heiße Tränen brennen in Kimmys Augen. Sie sieht das Bild des kleinen, dunklen Kindersarges vor sich, in dem Lennard lag. In dem er in die Erde gelassen wurde. In den er so friedlich aussah, dass man denken konnte, er würde nur schlafen. Mit seiner Möwe.
Bevor die ersten Tränen aus Kimmys Augenwinkel quillen können, vergräbt sie ihr Gesicht in dem weichen Bauch der kleinen Möwe in saugt den staubigen Geruch auf. Als hätte sie die Hoffnung, nach fast fünf Jahren noch einmal den Geruch ihres Bruders riechen zu könne.
Kimmy zieht die Haustür hinter sich zu und springt die beiden Stufen hinunter. Sie ist schon ziemlich spät dran und muss sich beeilen, um den Bus nicht zu verpassen. Gerade, als sie vor dem Haus den Gehweg betritt, bleibt sie stehen. Sie hat vergessen, die Zettel für Jez und ihr Zwangsprojekt auszudrucken! Fluchend dreht sie um, schließt die Tür so schnell es geht auf und rennt – immer 2 Stufen auf einmal – die Treppe hoch. In ihrem Zimmer greift sie nach der Jeans, die sie am vorherigen Tag getragen hat – die sie zum Glück aus Faulheit noch nicht in die Wäsche geschmissen hat - und durchsucht solange die Hosentaschen, bis sie Jez USB-Stick gefunden hat. Eilig klappt sie ihren Laptop auf und drückt hektisch auf den Startknopf. Mit zwei Handgriffen kontrolliert sie, ob noch genug Papier im Drucker ist und lässt ihren Blick dann wieder auf den Bildschirm wandern.
„Das kann doch jetzt nicht wahr sein!“, flucht Kimmy. Warum muss ihr Laptop ausgerechnet jetzt ein Update machen?! Genervt lässt sie sich auf ihren Stuhl fallen und seufzt. Den Bus hat sie schon mal verpasst!
Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor, bis der Laptop mit seinen Updates abschließt und Kimmy die Texte ausdrucken kann. Eilig schiebt sie die Blätter in den Ordner in ihrem Rucksack und lässt den Stick in der Hosentasche verschwinden.
***
Da Jez schon relativ spät dran ist, schlüpft er hektisch in seine Motorradjacke, greift nach seinem Helm mit den Handschuhen, zieht den Rucksack auf die Schultern und greift nach dem Schlüssel. Mit Schwung zieht er die Tür hinter sich zu und läuft eilig zum Gargentor, das er mit einer Hand öffnet. Vorsichtig – um keine Kratzer in das Motorrad zu machen, da es ziemlich dicht an der Wand steht - schiebt er seine gelb-schwarz-weiße Yamaha aus der Garage und stellt sie im Hof auf den Seitenständer. Eilig schließt er das Garagentor wieder, zieht sich den Helm über den Kopf und schlüpft in seine Handschuhe. Mit beiden Händen zieht er das Motorrad von seinem Ständer, schwingt sich darauf und startet es. Bevor er langsam aus dem Hof rollt, sieht Jez sich um und überprüft so, ob ein Auto kommt. Während er aus dem Hof fährt, klappt er noch das Visier seines Helms runter, dann gibt er Gas.
Als Jez die Parkplätze vor dem Einsteingymnasium erreicht, sein Motorrad auf einen Stellplatz gestellt und den Schlüssel aus dem Zündschloss gezogen hat, ist es zehn vor acht. Jez zieht sein Handy aus der Tasche, stellt es auf stumm und läuft eilig in Richtung Schulgebäude. Da es schon zum ersten Mal gegongt hat, sind die ganzen ‚Kleinen‘ schon in den Klassenzimmern verschwunden. Die Älteren stehen zum Großteil noch in ihren Grüppchen zusammen, von denen sich nach und nach die meisten auflösen und sich im ganzen Schulhaus verteilen. Zielstrebig läuft Jez die Treppe hinauf und zwängt sich durch die Klassen, die noch vor den Zimmern auf die Lehrer warten.
Die Tür des Musiksaals steht weit offen. Die meisten aus der Klasse sitzen schon auf ihren Plätzen oder auf den Bänken und tippen – bevor Frau Schäubele in die Klasse kommt – auf ihren Handys herum oder unterhalten sich. Mit den Augen sucht Jez die Reihen nach Kimmy ab, während er sich zu seinem Platz schiebt und seinen Motorradhelm auf den Tisch legt. Max und Betty sitzen mit einigen Jungs und Mädchen zusammen auf den Tischen an den Fenstern. Jez schlüpft aus seiner Motorradjacke und zieht die Stirn in Falten.
„Jez, weiß du, wo Kimmy ist?“ Jez würde Bettys Frage ja gerne beantworten, nur leider hat er genau dieselbe Frage gerade stellen wollen. Er schüttelt den Kopf und dreht sich zur Tür. Vielleicht in der Hoffnung, dass Kimmy genau in diesem Moment das Klassenzimmer betritt. Doch statt Kimmy erscheint Frau Schäubele in der Tür und geht dann zum Pult. Mit einem Kopfnicken dirigiert sie Jez nach vorne. Er streicht sich durchs Haar und schiebt sich dann durch das Chaos an Tischen und Stühlen. Mit den Augen sucht Frau Schäubele die Tischreihen nach Kimmy ab und verzieht das zierliche Gesicht, als sie sie nicht entdeckt. Missbilligend wirft sie erst einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann zur Tür. Jez, der mittlerweile vorne angekommen ist, schiebt seine Hände in seine Hosentasche. So wie er es immer tut, wenn er nervös ist und nicht will, dass es jemand bemerkt.
„Wo ist Kimberly?“ Frau Schäubele sieht ihn ernst an und wartet auf eine zufriedenstellende Antwort. Unbeholfen zuckt Jez die Achseln.
„Keine Ahnung.“ Unauffällig sieht er auf die Uhr neben der Tafel. Acht Uhr. Vor fünf Minuten hat der Unterricht eigentlich schon begonnen.
„Dann musst du das Referat wohl alleine halten.“ Sie sieht Jez emotionslos an. Jez öffnet den Mund.
„Ich… hab den USB-Stick aber nicht.“ Frau Schäubele hat sich bereits zum Pult umgedreht und kramt in ihrer Tasche herum.
„Tja. Das nennt man dann wohl schlechte Vorbereitung.“ Sie sieht kurz auf und schaut Jez ernst an. Hilfesuchend dreht sich Jez zur Klasse um. Die meisten sitzen auf ihren Plätzen. Betty fängt Jez hilfesuchenden Blick auf und zieht ihr Handy aus der Hosentasche. Unter dem Tisch öffnet sie WhatsApp und tippt auf Kimmys Chat. Frau Schäubele ist - zu Jez Glück - immer noch mit ihrer Tasche beschäftigt. Angespannt schließt er in seiner Hosentasche die Finger um sein Handy und unterdrückt die Nervosität, die sich vor jedem Referat bei ihm einstellt. Er sieht wieder zu Betty, die anscheinend auf eine Antwort von Kimmy wartet. „Du kannst jetzt anfangen.“ Frau Schäubele greift nach ihrem Collegeblock und einem Kuli und setzt sich auf einen der freien Plätze in der dritten Reihe. „Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben…“, wendet sie sich an die Klasse, „Jez und Kimberly sollen ein Referat über die Mondscheinsonate von Beethoven halten. Aber da Kimberly anscheinend krank ist, wird Jez das Referat alleine halten.“ Sie wirft Jez einen aufmunternden Blick zu. Er sieht verzweifelt zu Betty, die sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt hat und ihn mitleidig ansieht. Sie zuckt die Schultern, als Antwort auf die Frage, die Jez ihr mit seinem verzweifelten Blick gestellt hat. Nein, sie hat auch keine Ahnung, wo Kimmy ist. Jez fühlt sich so hilflos. Mit der rechten Hand streicht Jez sich wieder durchs Haar und seufzt. Dann muss er eben das, was er noch weiß so gut wie möglich erklären….
„Ähm…“ Jez wird von dem Klopfen an der Tür unterbrochen. Als die Tür aufgeht und Kimmy mit roten Wangen das Klassenzimmer betritt, fällt die meiste Nervosität von ihm ab.
„‘Tschuldig. Verschlafen“, murmelt Kimmy leise in Frau Schäubeles Richtung, stellt ihre Tasche auf den leeren Stuhl neben Betty, zieht die Zettel - wegen denen sie zu spät gekommen ist - aus der Tasche und schiebt durch die Tischreihen zu Jez nach vorne. Dort drückt sie ihm den Stick und seinen Text in die Hand. Einen Moment sieht Kimmy Jez in die Augen. „Sorry“, murmelt sie so leise, dass nur Jez es hören Kann. Er nickt kurz als Zeichen, dass er die Entschuldigung annimmt und dreht sich dann um, um den Stick in den Anschluss des Computers zu stecken und den Desktop an das Whiteboard beamt. Mit zwei Mausklicks öffnet er die PowerPoint-Präsentation und dreht sich dann wieder zu Kimmy um. Sie nickt ihm zu und sieht dann auf den Zettel in ihrer Hand.
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Mit einer Kopfbewegung dirigiert Frau Schäubele – wie gefühlt jeder Lehrer es an dieser Schule macht - Jez und Kimmy nach der Stunde nach vorne zum Lehrerpult. Jez schultert seinen Rucksack und greift nach seinem Motorradhelm, bevor er hinter Kimmy nach vorne zu Frau Schäubele geht. Sie mustert die beiden, bevor sie leise seufzt.
„Hundert Prozentig das, was ich erwartet habe, habt ihr nicht abgeliefert…“ Sie sieht erst Jez kurz an und blickt Kimmy dann tief in die Augen. „Wenn ich Herr Weiler wäre, dann hättet ihr nicht gerade das beste Blatt auf der Hand.“ Sie hebt ihren Blick nun zu Jez. „Ich werde euch keinen Notenabzug machen und dafür sorgen, dass sich nichts davon auf eure Deutschnoten auswiegt. Das ist meiner Meinung nach eine zu harte Bestrafung. Allerdings hoffe ich,…“, sie sieht wieder zu Kimmy und verleiht ihrer Stimme damit einen klaren Druck, „…dass diese Aktion einmalig bleibt.“ Kimmy senkt den Blick und sieht starr auf das hellgrüne Klassenbuch, das auf der Kante des Pults liegt. Einerseits weiß sie, dass die Aktion nicht spitzenmäßig war, andererseits tun ihre Lehrer aber auch so, als hätte sie wer weiß was getan und nicht nur Herr Weiler das Handy von Jez abgeknöpft. Vorsichtig hebt Kimmy den Kopf und nimmt den abwartenden Blick von Frau Schäubele war.
„Wird nicht mehr vorkommen“, murmelt Kimmy leise. Mit einem Nicken bestätigt Frau Schäubele, dass sie Kimmys Aussage wahrgenommen hat.
„Ihr könnt jetzt in die Pause gehen.“ Sie dreht sich um und greift nach ihrer Tasche. „Ach, Kimberly… Es wäre besser, wenn du nicht gerade an Tagen, an denen du irgendwelche Vorträge halten sollst, verschläfst.“
„‘Tschuldigung“, murmelt Kimmy und folgt Jez dann eilig aus dem Musiksaal.
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„Kimmy!“ Betty, die zusammen mit Max vor dem Musiksaal auf sie und Jez wartet, greift sofort nach ihrem Handgelenk und zieht sie eilig hinter sich durch die Gänge, bis sie an dem Klassenzimmer ankommen, in dem sie in der nächsten Stunde Unterricht haben. Sie stellen ihre Tasche vor der Tür ab. „Was fällt dir ein, ausgerechnet heute zu spät zu kommen?!“ Vorwurfsvoll sieht Betty Kimmy an. Noch während Kimmy endschuldigend die Schultern hebt, wird sie von Betty nach draußen auf den Schulhof dirigiert. „Erstens, wie kannst du es Jez antun, ausgerechnet heute zu verschlafen? Und zweitens, wie kannst du es mir antun, ausgerechnet heute zu verschlafen?!“ Verwirrt zieht Kimmy die Stirn in Falten.
„Warum dir?“ Theatralisch stöhnt Betty auf.
„Du hast gestern einfach mittendrin aufgelegt! Du hast mir einfach nicht zu Ende erzählt!“ Betty sieht wie ein kleines, bockiges Kind, das keine Schokolade mehr bekommt, aus. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und wartet anscheinend darauf, dass Kimmy mit dem fortfährt, was sie gestern so abrupt beendet hat.
„Was soll ich denn jetzt sagen?“ Kimmy sieht Betty nun fordernd an und zieht angespannt die Augenbrauen hoch. Empört schüttelt Betty den Kopf.
„Bist du so doof oder tust du nur so?“ Anscheinend meint sie die Frage wirklich ernst.
„Nein, aber warum sagst du mir nicht einfach, was du wissen willst?!“ Es kommt nicht häufig vor, dass Kimmy und Betty sich mal ankeifen, da beide es nicht sonderlich mögen, aber wenn Betty Kimmy ankeift, dann kann sie ja genauso gut zurückkeifen.
„Mein Gott! Habt ihr gestern oder heute noch einmal miteinander geredet? Über den Kuss?“
„Nein!“ Kimmy merkt gar nicht, wie sie Betty anfaucht. Sie kann es einfach nicht leiden, wenn jemand sie zu etwas in so einer Tonlage auffordert.
„Hey, beruhigt euch mal!“ Max kommt auf die beiden Mädchen zu. „Um was geht’s überhaupt?“ Sauer verschränkt Kimmy, genau wie Betty es getan hat, die Arme vor der Brust.
„Das geht dich gar nichts an!“, zischt Kimmy. Max hebt die Hände.
„Ganz ruhig!“ Betty löst die Umklammerung ihrer Arme um den eigenen Körper und sieht Max an.
„Tschuldigung, Mädchengespräche.“ Ihre Stimme klingt deutlich entspannter als vor wenigen Sekunden und auch ihr Gesichtsausdruck ist viel freundlicher. Ob das nun daran liegt, dass sie mit ihrem Freund spricht, oder daran, dass sie sich wirklich ein wenig beruhigt hat, weiß Kimmy nicht. Max versteht, was Betty von ihm will. Er dreht sich um und trottet zu der Clique Jungs, die es sich auf der Steinmauer am Rand des riesigen Schulhofes des Schuldzentrums - zu dem auch das Albert-Einstein-Gymnasium zählt - bequem gemacht haben. Betty sieht Kimmy entschuldigend an.
„Sorry, Kimmy. Aber ich will trotzdem wissen, ob ihr nochmal miteinander geredet habt. Oder so etwas in der Art.“ Ihre Stimme ist viel leiser und vorsichtiger als vorher. Leise seufzt Kimmy und streicht sich durch das offene Haar.
„Nein, haben wir nicht. Außer vorhin. Aber da haben wir nicht über den…“, sie zögert, „-Kuss? geredet.“ Sie sieht zu den Spitzen ihrer Schuhe hinunter. Die weißen Flächen ihrer Chucks sind total vollgemalt. Romy, ein Mädchen aus ihrem Hockeyteam, das in eine der Parallelklassen geht, hat sie aus Langeweile in einer der ewig langen Naturwissenschaftskursstunden mit Herzchen, Unendlichzeichen und wer weiß was anderem verschönert. Betty sieht Kimmy vorsichtig von unten hinauf an. Sie hat - während Kimmy geredet hat - die Jungenclique beobachtet, besonders aber Jez, der zwar zwischen den anderen Jungen sitzt, den Gesprächen der anderen aber nicht wirklich folgt.
„Er sieht schon irgendwie fertig aus, oder?“ Kimmy dreht sich um und mustert Jez kurz. Das Betty das Thema einfach gewechselt hat, fällt ihr gar nicht auf. Aber sie hat Recht. Er sieht wirklich nicht so gut aus wie sonst. Langsam dreht sie sich wieder um und sieht Betty an. Sie weiß sofort, was ihre beste Freundin gerade denkt und schüttelt übereilig den Kopf.
„Nein, Kimmy, denk nicht mal dran. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er wegen dir so mies aussieht! Du hast doch gesagt sein kleiner Bruder hat angerufen, oder?“ Kimmy nickt und sieht ihre Freundin verständnislos an. „Na, ich denk mal, dass die beiden schon irgendwie unter der Trennung ihrer Eltern zu leiden haben“, hilft sie Kimmy auf die Sprünge.
„Das kann wirklich sein“, überlegt Kimmy unbewusst laut.
„Na siehst du!“ Betty lächelt ihr sanft zu. Ob es jetzt gut ist, ihrer Freundin von dem Gespräch, dass sie vor zwei mit Jez auf dem Heimweg vom See geführt hat, zu erzählten, ist Kimmy gerade egal.
„Jez hat gesagt, dass er und sein kleiner Bruder in den letzten Wochen nur noch Stress miteinander hatten.“ Betty schweigt und sieht zu Boden.
„Sag mal Kimmy…“, fängt sie leise an und sieht ihrer Freundin dann in die Augen „…wie ist es eigentlich zu wissen, wie sich andere Geschwisterpaare hassen und sich wünschen, der andere wäre nicht mehr da…?“ Sie bricht ab, weiß aber, dass Kimmy genau versteht, was sie sagen will. Kimmy sieht zu Boden.
„Beschissen“, murmelt sie nur und starrt immer noch auf das graue Pflaster zu ihren Füßen. Betty macht einen Schritt auf ihre Freundin zu und berührt mit den Fingern den Stoff von Kimmys Jackenärmel. „Nein, ist schon okay.“ Langsam hebt Kimmy den Blick und sieht Betty an. Innerlich betet sie nur, dass Betty nicht merkt, dass sie den verletzlichsten Punkt von Kimmy getroffen hat. Sie lächelt Betty sanft zu. Zwar nur aufgesetzt, aber besser als gar keins. Anscheinend erleichtert Betty dieses Lächeln unendlich.
„Du…?“ Kimmy sieht zu Betty hinunter und wartet darauf, dass sie ihre Frage stellt. Zwar hängt Kimmy immer noch ein wenig bei Bettys letzter Frage, versucht aber trotzdem, ihrer nächsten Frage zu lauschen.
***
Kimmy sitzt auf dem roten Boden des Hockeyfeldes hinter der Ortenauhalle und zieht die Schnürsenkel ihrer blauen Sportschuhe fester. Rings um sie herum stehen die Mädchen aus ihrer Mannschaft und hören der Trainerin, Lydia, die erst vor einem Jahr das Training der jetzigen B-Mädchen übernommen hat, zu.
„…im nächsten Spiel dürft ihr nicht mehr so viele Bälle wegen – ‘tschuldigung, dass ich das jetzt so hart sagen muss – verkackten Annahmen verlieren. Wenn das einmal passiert, sagt niemand etwas, aber letzte Woche war es wirklich katastrophal!“ Kimmy steht auf und greift nach ihrem Hockeyschläger, bevor sie sich voll aufrichtet und nun voll und ganz den Worten der Trainerin lauscht. Sie kann ihr nur zustimmen, im letzten Spiel hat die Mannschaft zusammen wirklich nicht harmoniert. Lydia dreht sich um, zeigt auf die Hütchen, die über die Breite des Platzes verteilt sind und beginnt die Übung zu erklären.
Da Kimmy Betty am Vortag versprochen hat, zusammen mit ihr zum Heimspiel der A-Jungs der SuS Achern zu gehen, sitzt sie nun neben ihrer Freundin auf der Tribüne in der Ortenauhalle und beobachtet die Jungs beim Aufwärmen. Ohne es richtig zu realisieren, folgt Kimmy jeder einzelnen Bewegung von Jez. Er wirft den Handball, den er in der Hand hält, auf das Ballnetz und dreht sich dann dem Tisch an der Seitenlinie zu, an dem ein Mädchen, nicht älter als Kimmy und Betty und ein Mann, der vielleicht Mitte fünfzig ist, sitzen und einige Worte mit Jez wechseln. Das Mädchen trägt etwas handschriftlich in eine Liste vor sich ein und nimmt etwas, was Jez bis eben in der Hand gehalten hat, entgegen. Anscheinend sein Spielerpass, denn sie sieht nur kurz darauf und gibt ihn an den Mann neben sich weiter, der auch noch einmal einen prüfenden Blick darauf wirft und dann auf einen Stapel – zu den Spielerpässen der anderen SuS-Jungs - legt. Kimmy legt den Kopf schief und verfolgt Jez mit ihrem Blick, bis er – wie ausnahmslos jeder andere, der seiner und der gegnerischen Mannschaft angehört – in der Umkleidekabine verschwindet und aus ihrem Blickfeld ist. Betty sieht Kimmy an und grinst.
„Also so wie du Jez gerade beobachtet hast, stehst du wirklich auf ihn.“ Gegen Kimmys Willen wandert ein Lächeln auf ihre Lippen. „Oder findest ihn wenigstens süß!“ Langsam hat Betty ihr schon oft genug gesagt, dass sie denkt, dass sie auf Jez steht. Sie dreht den Kopf Richtung Spielfeld, als sie aus dem Augenwinkel wahrnimmt, dass die Mannschaften das Spielfeld betreten. Kimmy lässt den Blick über die Jungen in den blauen Trikots wandern, die sich auf einer Spielfeldhälfte verteilen. Max steht mit dem Rücken zu ihr und Betty. Auf seinem Rücken prangt groß die Nummer vierzehn, die schon seit der F-Jugend quasi sein Eigentum ist. Jez kommt auf Max zugelaufen, klatscht ihn ab und dreht sich dann, genau wie Max, mit dem Rücken zu Kimmy und Betty. Das Lächeln aus Kimmys Gesicht verschwindet, als sie die Nummer neun auf Jez Rücken entdeckt. Sie blinzelt und vergewissert sich noch einmal, dass sie sich wirklich nicht täuscht.
„Ich geh schnell aufs Klo“, murmelt sie, schiebt sich an Betty vorbei und versucht, ihr Gesicht so gut wie möglich zu verbergen.
Wie sie den Weg bis auf die Toiletten zurückgelegt hat, weiß Kimmy nicht mehr, als sie eine der Kabinentüren hinter sich abschließt, den Klodeckel herunterklappt und sich daraufsetzt. Sie zwingt sich dazu, ruhig zu atmen und die Tränen, die heiß hinter ihren Augenlidern brennen, zu unterdrücken. Das kann doch nicht wahr sein! Jez kann doch nicht einfach Lennards Nummer bekommen! Fast fünf Jahre hat die Mannschaft darauf geachtet, dass niemand in ihrer Mannschaft die Nummer neun – Lennards Nummer – auf dem Rücken trägt und jetzt… Mit fahrigen Fingern fährt sich Kimmy durch die Haare und das Gesicht. Warum? Warum ausgerechnet Jez? Warum hat nicht einmal mehr Max etwas davon oder dazu gesagt? Hörbar atmet Kimmy mehrmals aus. Das erdrückend schwere Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, lassen die Tränen aus ihren Augen rollen. Anfangs kämpft sie dagegen an, wischt sie vorsichtig weg und versucht sich zu beruhigen, doch die Einsicht, dass Lennard für seine Mannschaft ersetzbar ist, trifft sie so hart, dass sie die Kontrolle über ihre Gefühle verliert.
„Solche Arschlöcher…“, murmelt sie leise, schließt die Augen und atmet leise aus. Wie kann man so verlogen sein? Ihr, ihrer Familie, allen vorzugaukeln, dass Lennard ihnen immer in Erinnerung bleibt und dann das…
Nachdem die letzten Tränen über Kimmys Wangen gerollt sind, wartet sie noch eine Weile und lauscht, ob wirklich niemand sonst auf dem Klo ist, bevor sie die Tür aufschließt, zu den Waschbecken nach vorne geht. Die Fassungslosigkeit ist mittlerweile in Wut umgeschlagen. Um sich irgendwie abzulenken, sieht sie ihr Spiegelbild prüfend in einem mit von Putzmittel überzogenen Streifen an. Zu ihrer eigenen Verwunderung sind weder Kajal noch Wimperntusche verwischt. Allein die leichte Rötung ihrer Augen spricht noch dafür, dass sie gerade geweint hat. Kimmy dreht entschlossen den Wasserhahn auf, leider genauso, wie sie es in der Schule auch immer macht. Das Wasser spritzt ihr entgegen und hinterlässt nasse Spuren auf ihrem Oberteil. Fluchend dreht sie den Wasserhahn wieder zu, sieht in den Spiegel und seufzt. Wenigstens hat sie jetzt eine Beschäftigung, bis ihre Augen nicht mehr so rot sind… Mit beiden Händen zieht sie das Top ein wenig von ihrem Körper weg und hält es unter den Handfön. Seufzend betrachtet sie die Wasserflecke. Auch wenn sie nicht will, die Wut in ihr lässt sie weiter grübeln, warum die Jungs Lennard und mehr oder weniger sich selbst so in den Rücken fallen können. Sie versteht die Jungs einfach nicht. Nach Lennards Tod haben sie beschlossen, dass sie an keinen ‚Neuen‘ mehr die Nummer neun vergeben werden. Als Zeichen, dass Lennard immer zu der Mannschaft zählen wird. Dass sie in jedem neuen Trikotsatz die Nummer neun mit bedrucken lassen haben, hat sie nur einmal am Rand mitbekommen… aber dass sie Jungs ihr eigenes Versprechen brechen…
„Ja, da kann ich ja lange warten!“ Kimmy zuckt zusammen als die Stimme plötzlich hinter ihr ertönt. Sofort dreht sie sich um und sieht in Bettys helle Augen. Sie steht in der halboffenen Tür und stemmt eine Hand in die Hüfte, während sie mit der anderen die Türe offen hält. Kimmy lässt ihr Top los, streicht einmal darüber und stellt fest, dass die Wasserflecke vollkommen verschwunden sind.
„‘Tschuldigung… mein Talent hat wieder zugeschlagen.“ Mit beiden Händen steckt sie das weiße Top in die hellblaue Jeans und folgt Betty aus der Damentoilette heraus, zurück auf die Tribüne.
Sofort folgt Kimmy, eher weniger als mehr aufmerksam dem Spiel, allein aus dem Grund, weil sie Angst hat, Betty könnte sie fragen, warum sie so lange auf dem Klo gebraucht hat. Die Jungs des SuS Achern sind gerade mit Verteidigen an der Reihe. Bei einem nicht ganz hundertprozentig guten Pass fischt sich Max den Ball zwischen zwei der Gegenspieler heraus und wirft ihn Jez genau in den Lauf, der sofort, als Max den Ball gewonnen hat, zum Kontern in Richtung des gegnerischen Tors loselaufen ist. Im Lauf fängt Jez den Ball, gerät aber ins Taumeln, da sein Gegenspieler mindestens genauso schnell reagiert wie er und ihn am Trikot festhält. Gerade noch so hebt er den Ball über den Torwart, bevor er das Gleichgewicht verliert und über den Hallenboden rutscht. Betty zieht zischend die Luft ein.
„Autsch…“, murmelt sie leise. Kimmy sieht ihre Freundin von der Seite an, bevor sie den Blick wieder Richtung Spielfeld dreht. Jez hat sich wieder aufgesetzt, hält sich aber das linke Schlüsselbein mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sein Gegenspieler kommt auf ihn zugelaufen und hält ihm die Hand hin. Jez lässt sich von ihm hochziehen, hält sich aber immer noch das Schlüsselbein. Einer der beiden Schiedsrichter läuft auf beide zu und wechselt einige Worte mit Jez und dem anderen Jungen. Als er sich seine Pfeife wieder zwischen die Lippen klemmt, dreht Jez sich um und geht zur Auswechselbank.
Während Jez sich auf die Bank fallen lässt, steht einer der Jungs, der bis eben noch auf der Bank gesessen hat, auf, sagt irgendetwas zu Jez und nimmt dann seinen Platz auf dem Feld ein.
Im Gegensatz zu Betty, die dem Spiel angespannt folgt (eigentlich hat sie nur Augen für Max), beobachtet Kimmy unbewusst Jez, der gerade von einem der beiden Trainer ein Eisbeutel entgegennimmt und sich auf das linke Schlüsselbein drückt. Er wechselt einige Worte mit dem Trainer, nimmt den Eisbeutel wieder von der Schulter und versucht den Arm zu heben. Auf nicht mal mehr der Hälfte zuckt er zusammen und senkt den Arm schnell wieder. Allein am Gesicht des Trainers kann Kimmy ablesen, dass es das ist, was er erwartet hat. Er sagt wieder etwas zu Jez, der den Kopf hängen lässt, aufsteht und um das Feld herum zu den Umkleidekabinen trottet. Kimmy folgt Jez mit den Augen, bis er durch die Tür tritt und aus ihrem Blickfeld verschwindet.
***
Das Umziehen gestaltet sich schwieriger, als Jez gedacht hat. Als er versucht, sich das T-Shirt über den Kopf zu ziehen und dazu den Arm hebt, schießt wieder dieser stechende Schmerz durch sein linkes Schlüsselbein. Er verzieht das Gesicht und zieht das T-Shirt dann trotzdem über den Kopf. Mit der rechten Hand sammelt er seine Klamotten ein und schmeißt sie in seine Trainingstasche. Bevor er die Reißverschlüsse seine Trainingstasche zuzieht, schiebt er sein Handy und den Geldbeutel in die Hosentaschen seiner Jeans. Er hängt sich die Tasche über die rechte Schulter und verlässt dann die Umkleidekabine.
Neben der Ersatzbank des SuS lässt Jez seine Tasche auf den Boden rutschen. Timo, einer der beiden Trainer der A-Jugend, erhebt sich von der Ersatzbank und verlässt zusammen mit ihm die Halle.
„Hoffen wir mal, dass es kein Bruch ist.“ Jez seufzt und lässt den Kopf hängen. Zusammen mit Timo überquert er die Straße und betritt das Ortenauklinikum, das direkt gegenüber der Ortenauhalle liegt. Er folgt Timo, bis sie im Wartebereich der Ambulanz ankommen. Dort klopft er Jez auf die rechte Schulter und dreht sich dann um, um wieder in die Halle zurückzukehren. Jez seufzt noch einmal und geht dann zum Empfang.
Die Dame an dem Empfang nimmt seine Krankenkassenkarte entgegen und schickt ihn dann ins fast leere Wartezimmer. Langsam lässt Jez sich auf einen der hellgrünen Stühle fallen und schließt für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnet, betritt seine Mutter, mit einem Zettel in der Hand, den Wartebereich. Sie überfliegt gerade das, was auf ihrem Zettel steht und hebt dann den Kopf.
„Jez!“ Sie sieht ihren Sohn ein wenig erschrocken an und kommt auf ihn zugelaufen. Als sie ihm eine Hand auf die Schulter legt, verzieht Jez das Gesicht. Mit hochgezogenen Augenbrauen nimmt sie ihre Hand wieder von seiner Schulter.
„Doof hingelegt…“, murmelt Jez und sieht zu seiner Mutter auf, die immer noch vor ihm steht. Sie seufzt nur und bedeutet ihm mit einer Kopfbewegung ihr zu folgen. Ihr älterer Sohn hat sich – gerade beim Handball – nicht erst eine Blessur zugezogen. Und geduldig in Sachen Warten, bis alles verheilt ist, ist er auch nicht wirklich. Jez erhebt sich und folgt ihr in eins der Behandlungszimmer.
***
Als Jez die Ortenauhalle wieder betritt, laufen gerade die letzten Minuten des Spiels. Am Spielfeldrand steuert er auf die Ersatzbank des SuS zu, auf der nun auch Max sitzt und sich mit seinem Trikot den Schweiß vom Gesicht wischt. Als dieser Jez entdeckt, runzelt er die Stirn und wartet, bis Jez die Bank erreicht hat.
„Das erste Spiel hier und du verletzt dich gleich richtig… Machst du das immer so?“ Er deutet auf die Schiene, die sich durch Jez T-Shirt hindurch zeichnet.
„Eigentlich nicht.“ Leise seufzt Jez und lässt sich dann auf der äußeren Kante der Bank nieder. Max klopft ihm auf die unverletzte Schulter und wendet den Kopf wieder dem Spielfeld zu. Einen Moment sieht Jez ebenfalls auf das Spielfeld, dann wandert sein Blick auf die Anzeigetafel über einem der beiden Tore. Wenigstens gewinnt die Mannschaft das Spiel sicher. Timo, der gerade noch einmal quer über das Spielfeld gebrüllt hat, dass seine Jungs jetzt nicht nur noch auf Abwehr spielen sollen, lässt sich neben ihn auf die Bank fallen. Leise seufzt er – was wahrscheinlich mit dem Spiel seiner Mannschaft zu tun hat – und sieht Jez dann von der Seite an, bevor er das Gesicht verzieht.
„Wie lange?“
„4 Wochen mindestens.“ Leise seufzt er wieder und schubst Jez sanft gegen die unverletzte Schulter.
„Komm schon. Das wird schon wieder!“
***
Okay, Kimmy wollte zwar schon, dass Jez das Trikot mit Lennards Nummer so schnell wie möglich wieder auszieht und es auch nicht mehr anziehen wird, aber dass er sich verletzt, wollte sie natürlich nicht. Mitleidig sieht sie zu ihm, als er sich neben Max auf die Bank des SuS fallen lässt. Durch sein T-Shirt zeichnet sich die Schiene, die sein Schlüsselbein stützt, deutlich ab. Betty ist ihrem Blick gefolgt und verzieht genauso mitleidig das Gesicht.
„Aua…“, murmelt sie leise. Kimmy wendet ihren Blick von Jez ab und sieht auf ihre Hände. Mit zwei Fingern streicht sie über die kleine Narbe an ihrer rechten Hand. Warum ausgerechnet Jez? In den letzten Monaten sind doch so viele Jungs neu in die Mannschaft gekommen. Entweder welche, die aus der B-Jugend in die Jugend nach oben gesprungen sind, oder eben wie Jez, die komplett neu in den Verein gewechselt sind. Aber warum muss ausgerechnet er Lennards Nummer bekommen? Erst als Betty ihr unsanft gegen die Schulter boxt, hebt Kimmy den Blick wieder.
„Kommst du?“ Der Unterton, der in Bettys Stimme liegt, lässt Kimmy wissen, dass Betty sie nicht das erste Mal aufgefordert hat, ihr zu folgen. Kimmy steht auf und folgt ihrer Freundin von der Tribüne herunter zu den Jungs des SuS Achern, die gerade noch als Traube um ihre Ersatzbank herum standen, sich jetzt langsam auflösen und die ersten Richtung Umkleide über das Spielfeld laufen. Betty geht auf Max zu, stellt sich auf die Zehenspitzen und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. „Ihh, du klebst ja“, stellt Betty mit quitschiger Stimme fest und verzieht das Gesicht. Max zieht sie neckisch enger an sich.
„Ich habe im Gegensatz zu dir auch Sport gemacht!“ Betty versucht sich lachend aus den Armen ihres Freundes zu winden.
„Du hast Bankwärmer gespielt!“ Betty hat es immer noch nicht geschafft, sich aus Max Umklammerung zu befreien. Er lässt sie los und sieht sie mit einem aufgesetzten, traurigen Gesichtsausdruck an.
„Ich habe fast durchgespielt!“ Lachend streicht Betty Max die schweißgetränkten Haare von der Stirn. Nur mit halben Ohr hat Kimmy ihrer Freundin und deren Freund zugehört. Stattdessen ist ihr Blick an Jez hängen geblieben, der von den Jungs, die in Richtung Umkleidekabine gehen, je einen aufmunternden Schulterklopfer bekommt. In dem Moment, als Jez sich zu Max, Betty und ihr umdreht, beginnt Kimmys Handy zu klingen. Schnell nimmt sie den Anruf an, als sie Romys Name auf dem Handydisplay erkennt.
„Hey, Kimmy. Pass auf… das Spiel, das verlegt wurde - du weißt schon welches - das ist heute. In ‘ner Stunde ist Treffpunkt an der Halle. Okay“, rattert Romy los, bevor sich Kimmy überhaupt melden kann.
„Ähm… was? Wie heute?“ Mindestens genauso schnell, wie Romy ihren Text herunter gerattert hat, rattert es jetzt auch in Kimmys Hirn. Sie weiß um ehrlich zu sein nicht, von welchem Spiel Romy spricht.
„Komm einfach!“ Bevor Kimmy noch fragen kann, welches Spiel Romy meint, hat diese schon mit einem ‚Bis gleich‘ aufgelegt. Kimmy nimmt das Handy vom Ohr und starrt es einige Sekunden perplex an.
„Alles klar…“, murmelt Kimmy an sich selbst gerichtet. „Betty, ich muss gehen. Ich habe grade gesagt bekommen, dass ich in ‘ner Stunde ein Spiel habe!“ Max hat sich in der Zwischenzeit von Betty verabschiedet und ist in der Umkleide verschwunden.
„Ernsthaft, Kimmy?“ Betty sieht ihre Freundin erst ausdruckslos an, sodass Kimmy Angst bekommt, dass sie Betty irgendwie gerade sauer gemacht hat, doch ihre Freundin beginnt zu lachen. „Ich würde ja nicht auf ‚gerade gesagt bekommen‘ tippen, sondern auf ‚vergessen und gerade daran erinnert worden‘.“ Betty grinst ihre Freundin einen Moment an, bevor sie sich bei ihr einhakt und zusammen mit ihr die Halle verlässt.
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Als Kimmy nach dem Spiel Zuhause ankommt, ist es schon fast dunkel. Sie geht gleich in den Keller, wo die Waschmaschine steht, sammelt ihr verschwitztes Trikot und das Handtuch aus ihrer Tasche und wirft es zusammen in die Waschmaschine. Mit einer Hand füllt sie das Waschpulver in das dafür vorgesehene Fach, während sie mit den Augen die verschiedenen Knöpfe auf der Waschmaschine absucht, bis sie das richtige Waschprogramm gefunden hat.
Nachdem Kimmy ihre Tasche in ihre Zimmer gebracht hat, geht sie nach unten in die Küche und nimmt sich einen Apfel aus dem Obstkorb. Ihre Mutter wischt gerade die Arbeitsflächen ab und dreht sich zu ihrer Tochter, als diese den Raum betritt.
„Hallo Kimmy.“ Kimmys Mutter legt den Lappen beiseite und beobachtet ihre Tochter dabei, wie sie in dem Apfel beißt und den frischen Saft genüsslich über die Zunge laufen lässt. „Sag mal, wie ist Jez eigentlich gefallen, dass er sich das Schlüsselbein gebrochen hat?“ Fast ein wenig erschrocken hebt Kimmy den Blick. Der Apfel, in den sie gerade ein zweites Mal hineinbeißen wollte, schwebt keine drei Zentimeter vor ihrem Mund.
„Woher…?“, stammelt Kimmy und schafft es, mehr oder weniger bewusst, die Hand mit dem Apfel zu senken. Ihre Mutter schmunzelt, als sie Kimmys Gesichtsausdruck deutet. Sie dreht sich um und beginnt wieder, mit dem Lappen die Arbeitsfläche zu reinigen.
„Ach… ich bin ja nur behandelnde Ärztin im Ambulanzbereich…“ Sie poliert die Arbeitsfläche weiter, obwohl Kimmy der Meinung ist, dass es da nicht mehr zu polieren gibt.
„Ähm… er ist…“ Kimmy weiß nicht, warum ihre Mutter sie das überhaupt fragt. „Woher soll ich das denn wissen?“ Kimmy Mutter unterdrückt ein Auflachen. Nicht sarkastisch oder böse gemeint, nur so, dass Kimmy weiß, dass sie ihre Mutter nicht einfach übers Ohr hauen kann.
„Ich weiß doch, dass du mit Betty in die Halle gegangen bist. Also wirst du das Spiel wohl gesehen haben. Wo Max und Jez doch zusammen in einer Mannschaft spielen.“ Sie lächelt ihrer Tochter zu und geht zu Spüle, um den Lappen auszuwaschen.
„Er ist einfach doof gefallen“, murmelt Kimmy etwas kleinlaut, bevor sie sich ganz schnell in ihre Zimmer verdrückt.
In ihrem Zimmer legt sie den abgebissenen Apfel auf den Schreibtisch und lässt sich rücklinks aufs Bett fallen. Kimmy greift nach einem der vielen, kleinen Kissen und drückt es gegen ihre Brust. Sie schließt die Augen und zieht die Beine komplett auf ihr Bett. Durch ihr eigenes Spiel hat sie für wenigstens drei Stunden vergessen, dass die Jungs der Handballmannschaft einfach Lennards Nummer wieder ausgegeben haben. Und jetzt musste ihre Mutter sie wieder daran erinnern! Leise seufzt Kimmy. Wie können die Jungs die Nummer neun – Lennards Nummer neun – einfach an Jez vergeben? Wie können sie so herzlos sein und ihren ehemaligen Teamkollegen einfach vergessen? Wie? Und vor allem warum? Diese unbeantworteten Fragen geistern ihr im Kopf herum, sobald sie die Augen schließt. Seufzend dreht sich Kimmy auf die Seite und sieht an die mit Bildern zugepinnte Wand. Ihr Blick fällt auf das Mannschaftsfoto der ehemaligen D-Jugend. Die zehn- und elfjährigen Jungen tragen alle rote Trikots und stehen stolz vor dem Tor des SuS. Kimmy setzt sich auf, nimmt das Bild von der Wand und mustert die kleinen Jungen. Einem nach dem andern. Erst an dem kleinen, blondhaarigen Jungen mit der Nummer neun, die klein auf die rechte Seite, oberhalb der Brust, gedruckt war, bleibt Kimmy hängen. Lennard. Mit dem Finger streicht sie über das Bild und seufzt. Sie lässt sich wieder rückwärts in die Kissen sinken. Ihr Lennard. Ihr Bruder! Vorsichtig lässt sie die Hand mit dem Foto sinken und seufzt noch einmal leise. Warum nimmt sich der liebe Gott immer die Besten zuerst? Kimmy hat die Frage noch nicht einmal zu Ende gedacht, da schiebt sie sie schon beiseite. Warum stellt sie sich denn solche Fragen? Erstens: Ihrer Meinung nach gibt es den Gott, so wie ihn manche Religionen sehen, nicht! Und zweitens: Warum stellt sie sich diese Frage? Es wird doch sowieso niemals jemand beantworten! Es ist Schicksal, wer wann stirbt. Kimmy setzt sich auf und angelt sich den abgebissenen Apfel vom Schreibtisch. Sie knabbert ein wenig an der Schale. „Ihr wart einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Es tut mir leid, Kimmy. Wir müssen lernen, ohne Lennard zu leben.“ Kimmy erinnert sich noch haargenau an diese Worte ihres Vaters. Er hat ihr diese Worte mit Tränen in den Augen, nur wenige Tage nach Lennards Tod gesagt. Hat versucht, sie abends damit zu beruhigen, als sie im Bett lag und von einen der vielen Weinanfälle geschüttelt wurde.
„Vielleicht muss ich es lernen. Bis jetzt habe ich’s trotzdem noch nicht gelernt.“ Ganz leise, kaum hörbar, murmelt Kimmy die Wörter. Sie schließt die Augen und zieht die Knie an. „Ich werde es trotzdem nie lernen…“
Mit halb geschlossenen Augen sieht Jez auf die Uhr seines Handys. 5:30 Uhr. In einer halben Stunde kann er endlich aufstehen! Seit Stunden wälzt er sich nun schon im Bett. Sowohl der Rucksackverband, der sein linkes Schlüsselbein schient, als auch der durchgehende Schmerz, der von dem Bruch ausgeht, lässt ihn einfach keinen Schlaf finden. Immer wenn er den Schlaf fast gefunden hat, ist er aus irgendeinem Grund wieder aufgewacht.
Um zehn vor sechs hält es Jez einfach nicht mehr im Bett aus. Er schält sich aus seiner Decke und steht auf. Da er sowieso noch viel zu viel Zeit hat, bis er zum Schulbus muss, zieht er sich aus und stellt sich unter die Dusche. Das heiße Wasser entspannt ein wenig seine verspannten Muskeln im Schulter- und Nackenbereich. Die Nacht hat er sich damit um die Ohren geschlagen, darüber nachzudenken, wie es Jeremy wohl wirklich geht. Ob seine Mutter vielleicht doch recht hat und Jeremy steigert sich nur in die Sache, von Köln wegzukommen, hinein? Jez schlüpft in seine Jeans und legt den Rucksackverband wieder an. Als er sein T-Shirt über den Kopf ziehen will, pocht sein Schlüsselbein vor Schmerzen. Seufzend lässt er die Hand mit dem T-Shirt darin sinken und sieht sich im Spiegel an. Unter seinen Augen sind dunkle Augenringe zu sehen. Klar, er hat die ganze Nacht ja auch nicht geschlafen… Jez fährt sich mit der Hand durch die noch feuchten Haare und seufzt noch einmal. Dann verlässt er das Bad.
Gerade, als Jez die Badezimmertür öffnet, verlässt seine Mutter ihr Schlafzimmer. Als sie Jez mit dem T-Shirt in der Hand sieht, lächelt sie.
„Hilfst du mir?“ Immer noch lächelnd nimmt seine Mutter das T-Shirt entgegen und zieht es ihrem Sohn über den Kopf.
„Ich habe dir gestern doch gesagt, dass du dich in den nächsten drei Tagen nicht alleine anziehen kannst.“ Jez verdreht die Augen. Seine Mutter hat ja Recht! Aber zugeben würde er das nicht. Statt seinen Gedanken laut auszusprechen, verschwindet er in seinem Zimmer und packt die Order und Bücher, die er für den Schultag benötigt, in seinen Rucksack. Als er den Rucksack auf den Boden stellt, sieht er sich in seinem Zimmer um. Irgendwo muss auch noch sein Collegeblock liegen. Seufzend beginnt Jez die Klamotten, die auf seinem Schreibtischstuhl liegen, zu einem großen Haufen zu stapeln, bevor er sie alle in den Wäschekorb wirft, der schon seit einigen Tagen in seinem Zimmer steht und darauf wartet, endlich mit dreckiger Wäsche gefüttert zu werden. Als er die Blätter, Bücher und Ordner, die auf dem Schreibtisch Kreuz und Quer herumlagen, eingesammelt hat, entdeckt Jez seinen Block.
***
Nach Jez Wahrnehmung vergeht der Schultag schleppend. Die dritte Stunde hat gerade erst begonnen und er hat jetzt schon das Gefühl, nicht mehr schreiben zu können. Der Rucksackverband schränkt ihn beim Schreiben mehr ein, als er gedacht hat. Seufzend lässt er den Kuli auf seinen Block fallen, als der Lateinlehrer beginnt, mit der Gruppe aus den elften Klassen einen Aufsatz zu schreiben. Kimmy, die rechts neben ihm sitzt, sieht ihn mitleidig an und zieht seinen Block zu sich. Flink überträgt sie die Sätze, die bereits auf ihrem Block stehen, auf sein Blatt und lächelt dann.
„Wäre halt besser, wenn du Rechtshänder wärst!“ Jez grinst, verschränkt die Arme vor der Brust und kippt mit seinem Stuhl ein wenig nach hinten.
„Klar!“ In seiner Stimme schwingt ein wenig Sarkasmus mit, doch er ist dankbar, dass Kimmy den Aufsatz für ihn mitschreibt. Sie lächelt ihm sanft zu und lehnt sich dann wieder über die beiden Blöcke, um die nächsten Sätze zu übertragen. Jez fragt sich, wie Kimmy die Sätze so schnell übertragen kann. Lateinische Sätze, die man erstens nie braucht wird und zweitens ein Buch mit sieben Siegeln für ihn sind.
Als Kimmy die letzten Sätze auf das dritte Blatt von Jez Bock geschrieben hat, wirft sie ihren Füller in ihr Mäppchen und schüttelt ihre rechte Hand.
„Jetzt kann ich auch nicht mehr schreiben“, murmelt sie mehr zu sich selbst als zu Jez.
„Schade. Ich wollte dich schon als Schreibermädchen einstellen.“ Kimmy verschränkt die Arme vor der Brust.
„Sehr lustig!“ Sie schiebt den Block zu Jez, der ihn in seinem Rucksack verstaut und grinst. Kimmy tut es ihm gleich und packt ihre Sachen in die Tasche, während sie Jez Grinsen erwidert. Zusammen mit Jez verlässt sie das Klassenzimmer.
Jez folgt Kimmy durch das Schulhaus, durch den Übergang, der zwei der sechs Gebäude verbindet, die Treppe hinunter und quer durch die Aula bis zur Tür des Chemieraums. Vor dem Klassenzimmer lässt Kimmy ihre Tasche auf den Boden rutschen. Jez tut es ihr gleich und folgt Kimmy dann nach draußen auf den Schulhof. Sie steuert auf Betty und Max zu, die mit einem Teil der Jungsclique und einigen Mädchen eine der wenigen Bänke auf dem Schulhof belagern. Unbewusst mustert Jez Kimmy von hinten. Ihre braunen, offenen Haare wehen ein wenig im Wind. Zum ersten Mal fällt Jez auf, dass sie doch nicht so groß ist. Nur neben Betty sieht sie so aus. Die Jeansjacke liegt eng an ihrem Körper und bildet einen Kontrast zu den sonst ziemlich hellen Klamotten, die sie trägt. Jez merkt gar nicht, dass sie die Clique schon erreicht haben. Erst als Kimmy auf eine Frage, anscheinend von Betty, antwortet, löst Jez seinen Blick von Betty.
„Verloren. Nicht so toll.“ Ein blondes Mädchen, mit dem Namen Romy oder so ähnlich, ist aufgestanden und steht jetzt neben Kimmy.
„Das zwei zu eins ging auf mich. Hab voll gepennt bei dem Angriff.“ Jez dreht sich den Jungs zu, hört dem Gespräch der Mädchen aber trotzdem noch zu. Er hofft, herauszufinden, über was genau die Mädchen reden. Wahrscheinlich über das letzte Hockeyspiel von Kimmys Mannschaft. Diese schüttelt den Kopf.
„Ach war. Wir haben alle zusammen gepennt und das Ding war nicht haltbar!“ Sie gibt Romy mit dem Ellbogen einen sanften Stoß in die Seite, die den Kopf schieflegt und Kimmy mit sarkastischem Blick ansieht.
„Ja, klar!“ Kimmy dreht sich zu ihr, verschränkt die Arme vor der Brust und grinst.
„Du bist schrecklich Romy…“ Man kann heraushören, dass sie Romy nicht als negativ schrecklich, sondern eher als positiv schrecklich beleidigt hat.
***
Kimmy steht vor ihrem Kleiderschrank und sucht einige Klamotten heraus. Sie braucht ein Outfit für den nächsten Abend. Morgen findet die ‚größte‘ Party des Jahres in Fautenbach statt. Jedes Jahr am dreißigsten April veranstalten einige Jungs, die jetzt in der zwölften Klasse sind, diese Party. Die komplette elfte und zwölfte Klassenstufe ist eingeladen.
Kimmy hat sich zwar mit Betty für den morgigen Nachmittag verabredet, sodass sie sich ein Outfit aussuchen kann, aber sie hat überhaupt keine Ahnung, was sie überhaupt für partyfähige Outfits hat. Nachdenklich zieht Kimmy einen schwarzen, kurzen Rock aus dem Schrank. Sie mustert das Kleidungsstück und verzieht das Gesicht. Zu Betty oder Romy beispielsweise würde der Rock hundert prozentig passen, aber zu ihr… Kopfschüttelnd wirft sie den Rock zu einigen anderen Klamotten, die auf keinen Fall zur Debatte stehen. Sie ist einfach kein Kleider- oder Rockmensch. Als nächstens zieht sie ein Top aus dem Schrank. Schwarz, hochgeschnitten und dafür mit und tiefen Ausschnitten an der Seite. Nachdenklich mustert Kimmy das Kleidungsstück und legt es auf ihr Bett. Wenn sie jetzt noch eine gute Hose findet, dann hat sie ein Outfit. Mit den Augen durchsucht sie den Stapel Hotpants und bleibt an einer der Hosen hängen. Eine hallblaue, ausgeblichene Jeanshotpants, die ein wenig ausgefranst ist, aber nicht aussieht, als wäre sie unter den Rasenmäher geraten. Kimmy zieht sie aus dem Stapel und hebt sie in die Höhe. Sie nimmt das Top vom Bett, hält es sich, zusammen mit der Hose an den Körper und betrachtet sich im Spiegel. Kimmy wirft beide wieder auf ihr Bett und beginnt die herumliegenden Klamotten einzusammeln.
Als sie alle Klamotten, bis auf das Top und die Hose wieder in den Schrank geräumt hat, geht Kimmy nach unten und öffnet den Schuhschrank. Anders, als so manches andere Mädchen, hat sie nicht vor, hohe Schuhe anzuziehen. Erstens, weil sie keine zwei Minuten auf den Schuhen stehen oder geschweigenden laufen könnte und zweitens, weil sie nicht vorhat, den ganzen Abend zu sitzen, weil sie eben nicht auf den Schuhen laufen kann. Kimmy versteht einfach nicht, wie man sich zum Spaß haben in solche unbequemen Teile zwängen kann. Selbst für den Abiball am Endes des nächsten Schuljahres hat Kimmy schon ein bodenlanges Abendkleid und darunter einfach nur Turnschuhe in Erwägung gezogen.
Sie zieht die schwarzen Vans aus dem Schrank und nimmt sie mit nach oben in ihr Zimmer. In ihrem Zimmer legt sie die Schuhe zu den Klamotten auf ihr Bett und lässt sich dann auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Sie muss noch Chemiehausaufgaben machen.
Seufzend holt Kimmy das Chemiebuch und ihren Ordner aus ihrer Tasche und liest die Aufgabe im Buch. Sie versteht nur Bahnhof. Wie immer, wenn sie die Hausaufgaben nicht versteht, angelt sie sich ihr Handy vom Nachttisch und öffnet WhatsApp. Anscheinend ist sie nicht die einzige, die Chemie nicht versteht, denn in der Klassengruppe geht es zur Abwechslung wirklich mal um Hausaufgaben. Kimmy scrollt ein wenig hoch, sodass sie auch die älteren Nachrichten sehen kann. Zu ihrer Verwunderung hat jemand die Lösungen der Hausaufgaben in die Gruppe geschrieben. Sonst geizen gerade die, die Physik, Chemie oder Mathe verstehen damit herum und sagen, dass man die Hausaufgaben selber machen soll. Natürlich, der Meinung ist sie zum großen Teil auch. Aber anderen ab und an ein bisschen unter die Arme greifen ist schließlich auch nicht verboten. Kimmy überträgt die Lösungen auf ein Blatt und klappt zufrieden ihren Ordner zu.
Da es schon fast halb elf ist, nimmt sie ihre Schlafklamotten und ihr Handy und verschwindet im Bad. Sie öffnet den Media Player an ihrem Handy und tippt auf das Lied „Leave out all the rest“ von Linkin Park. Als das Lied startet, schlüpft Kimmy aus ihren Klamotten und stellt sich unter die Dusche. Müde schließt sie die Augen, als das Wasser über ihren Körper fließt. Mit einer Hand öffnet sie die Duschgelflasche und lässt ein wenig davon auf ihre Hand tropfen. Ein sanfter Geruch von Kokos umgibt sie. Kimmy schließt die Augen wieder. Sie freut sich auf den nächsten Abend. Im letzten Jahr war sie zwar erst fünfzehn und in der zehnten Klasse, aber da Betty, Max und all die anderen schon sechzehn waren, hat sich keiner um ihr Alter gekümmert. Es hat Spaß gemacht, einfach mal ein bisschen, ohne einen wirklichen Grund, zu feiern. Kimmys Gedanken wandern weiter. Weiter zu Jez… Er und Max wollen sie und Betty morgen abholen. Kimmy stellt das Wasser ab und schlingt ein weiches Handtuch um ihren Körper. Sie versenkt ihre Nase darin. Ob Jez die Partys hier gefallen? Es ist schließlich ein Unterschied zwischen den Großstadtpartys und den ‚Landpartys‘, oder? Während Kimmy darüber nachdenkt, schlüpft sie in ihre Schlafklamotten und bindet ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Sie lehnt sich über das Waschbecken und beginnt ihr Gesicht mit der Gesichtscreme einzucremen. Als sie damit fertig ist, nimmt Kimmy ihre Zahnbürste und putzt ihre Zähne. Währenddessen nimmt sie ihr Handy und öffnet WhatsApp.
Betty: Du ziehst morgen aber hohe Schuhe an, oder? :O
Kimmy verdreht die Augen.
Kimmy: Nein! Ich kann auf den Dingern doch nicht laufen… -_-
Betty liebt hohe Schuhe. Und da sie relativ klein ist, überragt sie auch mit zehn Zentimeter-Absätzen keinen einzigen Jungen. Schon seit Tagen bearbeitet sie Kimmy, dass auch sie hohe Schuhe anzieht.
Betty: Bitte, bitte *_*
Bestimmt schüttelt Kimmy den Kopf. Da kann Betty so viel betteln wie sie will! Kimmy zieht keine hohen Schuhe an.
Kimmy: Nein!
Kimmy legt ihr Handy weg und spült ihren Mund aus. Sie hat keine Lust, jetzt mit Betty darüber zu diskutieren, was für Schuhe sie zu der Party anziehen wird. Kimmy sammelt ihre Klamotten ein, wirft sie in den Korb für die dreckige Wäsche, nimmt ihr Handy und geht in ihr Zimmer.
In ihrem Zimmer angelt Kimmy ihren Tangle Teezer aus der Schultasche und beginnt sich damit das Haar zu kämmen. Da sie ein wenig feucht sind, fallen sie nicht in den sanften Locken über ihre Schultern, sondern kringeln sich. Kimmy stellt sich vor den Spiegel an ihrem Kleiderschrank und mustert ihr Haar eine ganze Weile. Sie überlegt, ob sie es morgen einfach offen lassen oder irgendwie wegstecken soll. Mit den Fingern fährt sie einige Male hindurch und legt sie über die rechte Schulter. Langsam und ohne einen wirklichen Plan, dreht sie die Haare mit einem Finger ein wenig ein, sodass sie hinten nicht herausrutschen. Dann dreht sich um, nimmt ein Haargummi und einen Bobbypin. Mit dem Tangle Teezer kämmt Kimmy ihre Haare noch einmal durch und macht dann einen seitlichen, tiefen Pferdeschwanz. Den Bobbypin schiebt sie in das Haargummi, bevor sie eine dünne Haarsträhne nimmt, um das Haargummi wickelt, in die Haarnadel einfädelt und dann durch das Haargummi zieht. Mit der rechten Hand legt Kimmy die Haarnadel auf den Schreibtisch und zieht die Strähne vorsichtig ein bisschen auseinander, sodass sie das Haargummi vollkommen verdeckt. Als Kimmy die Hände sinken lässt, betrachtet sie sich im Spiegel. Sie zupft einige Haare vorne aus dem Zopf und lächelt dann zufrieden. Dann zieht sie die Strähne sanft aus dem Haargummi, zieht das Haargummi komplett aus ihren Haaren und bindet sich damit dann einen Dutt zusammen.
***
Jez sitzt mit seinem Block auf dem Schoß auf seinem Bett und versucht den Text, den Kimmy in Latein heute für ihn mitgeschrieben hat, zu übersetzten. „Servitus est cum MDCCCLXV abolendae erant in Iunctus Civitas occaecat publice volllen deminutus est, sed adhuc discriminantur. Multi alba sahren Niger ...“ Seufzend lässt Jez sich nach hinten in seine Kissen sinken. Er versteht nichts! Er versteht die Wörter nicht! Er versteht die Sätze nicht! Er versteht den Zusammenhang nicht! Er weiß nicht einmal mehr, von was der Text eigentlich handelt. Genervt wirft Jez den Block auf seinen Schreibtisch und dreht sich auf die Seite. Sein Handy, das neben seinem Kopf auf der Matratze liegt, beginnt zu vibrieren. Jez greift danach, wirft einen Blick auf das Display und öffnet dann WhatsApp, sodass er die Nachricht von Niklas komplett lesen kann.
Als Jez herausgefunden hat, dass sein Vater seiner Mutter fremdgegangen war und dass seine Mutter von Köln wegziehen will, war Niklas eine seiner größten Stützen. Die beiden haben denselben Freundeskreis in Köln, haben aber nie wirklich viel zusammen gemacht, da Jez sich eher mit den Jungs aus seiner Handballmannschaft und einigen Mädchen getroffen hat. Erst, als Niklas mitbekommen hat, dass es Jez gerade so geht, wie es ihm ging, bevor er nach Köln gezogen war, ist er auf ihn zugekommen und so hat sich eine richtige Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Während Jez die Nachricht liest, beginnt er zu grinsen. Er tippt einige Mal ungeduldig auf das Display seines IPhones, bis die Tastatur auf dem Display erscheint und Jez Niklas antworten kann. Dann steht er auf und holt seinen Laptop vom Schreibtisch. Während der Laptop hochfährt, trommelt Jez mit den Fingern auf den schwarzen Kunststoff. Mit flinken Fingern tippt Jez sein Passwort ein. Er wartet einen Moment, bis der Laptop das Wlan erkennt und Skype automatisch aufgeht. Keine zwei Sekunden später zeigt es auf Jez Bildschirm auch schon an, das Niklas ihn über Skype anruft. Er nimmt den Anruf an und begrüßt Niklas. Anstatt einem „Hey“ oder sowas ähnlichem begrüßt Niklas Jez mit:
„Was hast du schon wieder gemacht?!“ Jez versteht nicht sofort, was Niklas meint, bis er über die Kamera hinweg auf den Rucksackverband, der sich durch das T-Shirt abzeichnet, deutet.
„Achso. Schlüsselbein beim Handball gebrochen.“ Jez seufzt und rutscht sein wenig weiter in sein Kissen hinein. Es ist schon relativ spät und eigentlich müsste er den Schlaf, den er in der letzten Nacht nicht bekommen hat, nachholen.
„Was kannst du eigentlich?“ Man sieht Niklas an, dass er sich darüber amüsiert.
„Ey, komm schon. Es ist einfach…“, beschwert Jez sich, muss sich ein Grinsen aber auch unterdrücken und beendet den Satz nicht, weil Niklas sowieso weiß, was er denkt. Eigentlich findet er es ja nicht lustig, aber Niklas bringt ihn irgendwie immer zum Lachen.
Die beiden Jungen reden eine ganze Weile über alles Mögliche. Einerseits über Jeremy und Jez Sorgen um ihn, andererseits aber auch über das, was gerade alles in Jez ehemaliger Klasse und in seinem Freundeskreis in Köln vor sich geht.
„Marvin und Amelie sind übrigens jetzt zusammen.“ Niklas sieht nicht in die Kamera, er macht nebenher noch Hausaufgaben, doch als er kurz den Kopf hebt und Jez ungläubigen Blick sieht, muss er lachen. „Ich weiß, ich habe dasselbe gedacht, aber wenn er sich auf sie einlässt…“ Marvin ist einer der eher ruhigeren aus der Clique. Im Gegensatz zu Amelie. Sie ist eines der Mädchen, die eigentlich nur einen Freund hat, dass sie sagen kann, sie ist vergeben. Deshalb halten ihre Beziehungen auch nie länger als drei Monate. Warum und wie sie es geschafft hat, innerhalb von zwei Wochen einen neuen Typen zu finden ist Jez bis heute ein Rätsel. „Aber sag mal… gibt’s eigentlich in deinem Kaff ein paar nette Mädchen?“ Niklas ist mit seinen Hausaufgaben fertig und sieht Jez halb fragend, halb amüsiert an. Jez zögert einen Moment und dreht sein Handy zwischen den Fingern.
„Möglicherweise…“ Niklas beginnt zu grinsen.
„Heißt das ja?“ Er grinst und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Jez seufzt.
„Naja…es gibt da schon so eine, aber ich weiß nicht so richtig…“ Er unterbricht sich selbst. „Sie heißt Kimberly… Sie ist halt irgendwie anders als die meisten anderen Mädchen.“ Niklas nickt langsam und sieht Jez fordernd an.
„Hast du ein Bild von ihr?“ Jez nickt und schickt Niklas einen Screenshot von Kimmys WhatsApp Profilbild über WhatsApp. Niklas sieht auf sein Handy und grinst. Er sagt nichts, legt nur den Kopf schief und mustert erst Jez einen Moment durch die Kamera, dann das Bild von Kimmy. „Weißt du irgendwas über sie?“ Jez dreht sein Handy zwischen den Fingern.
„Sie heißt Kimberly, sie ist sechzehn, sie geht in meine Klasse, sie spielt Hockey…“
„Kein Handball?“ Jez weiß, dass Niklas die Frage nur gestellt hat, um ihn zu necken, deshalb ignoriert er sie einfach.„Was meinst du eigentlich mit ‚Sie ist anders als die meisten anderen‘?“ Niklas lässt nicht locker. Jez zieht unsicher seine unverletzte Schulter hoch.
„Sie ist viel ruhiger und so… Sie bemüht sich nicht, irgendwie aufzufallen. Eher umgekehrt.Es gibt genug hier, die schon nervig sein können, weil sie unbedingt im Mittelpunkt stehen wollen.“ Niklas tippt auf sein Handy und fragt, ein wenig zu gespielt desinteressiert:
„Hast du sie schon geküsst?“ Jez zögert, was Niklas sofort deutet. „Also ja?“ Er kippt mit seinem Stuhl ein wenig nach hinten und lächelt zufrieden.
„Nein. Aber ich wollte.“ Niklas sieht Jez fragend an.
„Du wolltest?“
„Ja, ich wollte… Aber dann hat mein Handy geklingelt und… eben doch nicht.“ Niklas grinst und schüttelt langsam den Kopf.
„Weißt du eigentlich, dass du ein verstecktes Talent hast, dass solche Situationen zerstört werden?“ Jez drückt seine Handyhülle wieder an sein Handy und sieht dann zu Niklas auf.
„Jetzt weiß ich es“, murmelt er. Er sieht Kimmy wieder vor sich. Wie sie ganz still dasitzt, als er sich zu ihr lehnt. Wie ihre Augen für einen Moment ängstlich aufblitzen und wie sie sie dann doch schließt.
„Wie kurz davor wart ihr?“ Jez seufzt.
„Sehr kurz?“ Woher soll er wissen, wie kurz davor sie waren? Er wollte den Moment genießen… Um ehrlich zu sein, hat er gar nicht groß darüber nachgedacht, was er macht. Etwas in seinem Inneren hat sich so sehr nach Kimmys Nähe gesehnt… Niklas stöhnt genervt auf.
„Weißt du, dass ich deine Antworten hasse?“ Jez grinst.
„‘Tschuldigung… ist auch so ein Talent von mir.“
Am Abend sitzt Betty in Kimmys Zimmer auf dem Bett und mustert das Outfit ihrer besten Freundin. Sie ist mit den Sachen, die sich Kimmy am Vortag ausgesucht hat, nicht hundert prozentig zufrieden, weshalb sie aufsteht und im Kleiderschrank ihrer Freundin nach dem sucht, was ihrer Meinung nach noch fehlt. Nach einiger Zeit zieht sie eine schwarze Nylonstrumpfhose heraus und wirft sie Kimmy zu.
„Zieh die mal an.“ Kimmy befolgt der Anweisung ihrer Freundin und zieht die Strumpfhose unter die Hotpants. Sie schlüpft in die schwarzen Vans und betrachtet sich dann im Spiegel. Es sieht wirklich besser aus. Und für den Fall, dass es doch noch kühler wird, als es sowieso schon ist, wird sie auf dem Heimweg nicht frieren.
„Sag mal…“ Kimmy hebt die Arme, sodass die tiefen Ausschnitte an der Seite des Oberteiles besser sichtbar sind. „Ist das nicht ein bisschen zu viel?“ Ihr BH ist deutlich zu sehen. Betty zieht das Oberteil ein Stück nach vorne, sodass sie sehen kann, was für einen BH Kimmy trägt. Sie grinst schelmisch und geht wieder zum Kleiderschrank ihrer Freundin. Nach zwei Versuchen findet sie die Schublade mit Kimmys Unterwäsche. Sie durchsucht die BHs und zieht einen schwarzen heraus. Er ist an den Körbchen türkis und mit schwarzer Spitze überzogen. Betty wirft ihn ihrer Freundin zu.
„Der ist nicht so auffällig. Außer du ziehst dich für jemanden aus!“ Sie grinst und hält schützend die Hände vor das Gesicht um sich vor dem BH zu schützen, den Kimmy wieder zu ihr zurückwirft.
„Habe ich nicht vor!“ Betty lacht auf wirft den BH wieder zurück zu Kimmy. Während diese sich den anderen BH anzieht, sitzt ihre Freundin immer noch vor Kimmys Unterwäschefach und durchsucht den Inhalt, bis sie das gefunden hat, was sie gesucht hat. Kimmy zieht sich gerade das Oberteil wieder über den Kopf, als der einzige Tanga, den sie besitzt und nie anzieht, weil er einfach total unbequem ist, auf sie zugeflogen kommt.
„Ist der vielleicht für Jez?“ Betty grinst immer noch und springt auf, als ihre Freundin auf sie zukommt.
„Bist du doof!“, beschwert sie sich bei Betty und zieht die Mundwinkel nach unten. Betty lacht immer noch, wird dann aber ernst.
„Nein, im Ernst jetzt. Für wen ist der? Wirklich für Jez?“ Der neckische Unterton ihr ihrer Stimme ist deutlich zu hören. Kimmy knüllt den Tanga zusammen und wirft damit nach Betty.
„Betty!“ Kimmy klingt aufgebracht, grinst aber. Betty zuckt die Achseln und grinst. „Ich will nicht wissen, was du manchmal für Max anziehst!“ Betty lacht auf.
„Ohoh, das geht zu weit, Fräulein Beck!“ Kimmy grinst, wirft die Unterwäsche wieder in die Schublade und schiebt die Schublade mit einem Fuß zu. Ihre Freundin grinst immer noch und setzt sich dann auf den Boden vor Kimmys Spiegel. Ohne, dass Betty was sagen muss, weiß Kimmy, was diese will. Sie kniet sich neben ihre und beginnt ihr die Haare, die einmal ihr Pony waren, französisch an den Kopf zu flechten. Mit einem kleinen, durchsichtigen Haargummi hält Kimmy die drei Haarsträhnen zusammen, bevor sie sie mit Haarnadeln noch ein wenig fixiert. Zufrieden steht Betty auf und beginnt nach Kimmys Eyeliner zu suchen.
Kimmy kämmt gerade ihre Haare und befestigt sie mit einem Haargummi zu dem seitlichen Zopf, den sie am Vortag ausprobiert hat. Natürlich beschäftigt sie es schon ein bisschen, dass Betty sie so mit Jez neckt. Ja, er hat versucht sie zu küssen, aber hätte er sie nicht noch einmal darauf angesprochen, wenn es ihm etwas bedeutet hätte? Zum Glück unterbricht Betty die Gedanken ihrer Freundin, sodass sie sich die gute Laune nicht mit miesen Gedanken kaputt machen kann. „Mann Kimmy! Wo ist dein Eyeliner?“ Kimmy zieht gerade die Strähne durch das Haargummi, als sie zu Betty herübersieht. Manchmal kann man das kleine, zierliche Mädchen mit einem kleinen, quengelnden Kind vergleichen. Und nicht nur Kimmy hatte schon mal diesen Vergleich als Gedanke, sondern auch Max. Nur, dass er es offen und ehrlich zu seiner Freundin gesagt und dann erstmal für eine halbe Stunde nur noch böse Blicke von ihr abbekommen hat.
„Genau da drin.“ Betty nimmt die Box, die Kimmys gesamtes Kosmetika beinhaltet, aus dem Schrank und legt es vor ihre Freundin auf eines der Regalbretter. Mit dem Finger tippt Kimmy auf den Eyeliner.
„Ups.“ Betty greift danach und dreht ihn auf. Kimmy gibt den Spiegel frei und beginnt sich auch zu schminken. Betty sieht ihr mit offenem Mund zu, als sie den dünnen Liedstrich zieht und den Wing erst nur ganz leicht aufmalt und dann noch einmal nachzieht, sodass er wirklich schwarz wird. „Wie bekommst du das hin?“ Der Lidstrich auf ihren Augenlidern ist nicht halb so fein wie bei Kimmy. Sie greift nach einem Abschminktuch und entfernt vorsichtig die schwarze Farbe von ihren Augenlidern. Nachdem Kimmy auch am zweiten Auge den Lidstrich gezogen hat, dreht sie sich zu Betty und zieht ihr vorsichtig den Lidstrich. „Nein, aber jetzt ehrlich…“ Mit sanftem Druck auf Bettys Wange bringt sie Betty für einen kurzen Moment zum Schweigen, sodass sie sich auch nicht bewegt. Als sie von dem einen Auge absetzt und ihr Werk für einen Moment mustert, sieht Betty ihre Chance wieder. „Ich könnte mir trotzdem vorstellen, dass ihm das gefällt!“ Kimmy verschränkt die Arme vor der Brust.
„Themawechsel!“ Betty lacht auf.
„Warum?“ Sie sieht ihre Freundin fragend ernst an.
„Weil ich nicht das geringste mit Jez in dieser Beziehung zu tun habe und in nächster Zeit auch nicht zu tun haben werde!“ Betty hebt die Augenbrauen und sieht ihre Freundin ernst an. Anscheinend hat sie mit ihrer Neckerei jetzt einen Punkt erreicht, den Kimmy nicht mehr lustig findet.
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Kimmy schlüpft in die schwarze Lederjacke, die Betty ihr gegeben hat und verlässt zusammen mit ihrer Freundin das Haus. Es ist schon fast zweiundzwanzig Uhr und die Party ist bestimmt schon im vollen Gange. Die beiden Mädchen haben sich mit Max und Jez hier verabredet. Und zu Kimmys Verwunderung sind die beiden Jungs, die es eigentlich – wie Kimmy es in den letzten Tagen auch bei Jez gemerkt hat – nicht so mit der Pünktlichkeit haben, schon da. Jez mustert Kimmy langsam. Die schwarze Lederjacke, die helle Hotpants und das dunkle Oberteil, das sie trägt, passen perfekt zusammen. Sie sieht neben Betty gar nicht mehr so groß aus. Erst, als Jez Blick auf Kimmys Schuhe fällt, weiß er auch warum. Im Gegensatz zu Betty trägt Kimmy keine High Heels. Ihre Haare liegen über ihrer rechten Schulter. Max und Betty haben sich mit einem Kuss begrüßt, sodass sie los können zum ‚Big Blöpp‘, wie die Zwölftklässler die Party nennen. Sie müssen einmal quer durch das Dorf hindurch.
Jez schiebt die Hände in die Hosentasche und wartet darauf, dass auch Kimmy aufgeschlossen hat. Schweigend laufen sie nebeneinander her. Kimmy versucht Jez vorsichtig von der Seite zu mustern, doch immer, wenn sie zu ihm herübersieht, fängt er ihren Blick auf und lächelt ihr sanft zu. Die Strähnen, die Kimmy auf der linken Seite aus ihrem Zopf gezogen hat, fallen ihr ins Gesicht. Energisch streicht sie sie aus dem Gesicht.
Schon von Weitem kann man die laute Musik hören. Als Jez und Kimmy hinter Betty und Max die riesige Scheune betreten, in der die Party veranstaltet wird, kommt einer der Jungs aus der zwölften Klasse auf sie zu.
„11c, habe ich recht?“ Max nickt und nimmt die vier Bändchen entgegen. Seitdem vor drei Jahren die Party aus den Rudern gelaufen ist, haben die Jungs und Mädels, die die Party veranstalten, die Sache mit den Bändchen eingeführt. Wobei man sagen muss, dass sie es mittlerweile schon nicht mehr so ernst nehmen, was man daran erkennt, dass Kimmy im letzten Jahr mit fünfzehn Jahren schon ohne Probleme reingekommen ist. Max gibt jedem ein Bändchen. Nachdem Kimmy es entgegengenommen hat, legt sie es um ihr Handgelenk und drückt den Verschluss zu. Als Jez und Max etwas zum Trinken holen, gibt Betty Kimmy einen Stoß in die Seite.
„Du gefällst ihm. Das war gerade nicht zu übersehen!“ Kimmy dreht sich zu ihrer Freundin.
„Wem?“ Betty zieht die Augenbrauen hoch und grinst ihre Freundin an.
„Na dem Typen da.“ Sie deutet mit dem Kopf auf den Jungen, der ihnen die Bändchen gegeben hat. „Und Jez auch. So, wie er sich vorhin angesehen hat.“ Bevor Kimmy etwas antworten kann, kommen Jez und Max zurück. Jez drückt ihr einen Becher in die Hand. Eigentlich haben ihre Eltern ihr früher immer eingetrichtert, dass sie auf solchen Partys nichts trinken soll, aber mittlerweile hat sie das Gefühl, einschätzen zu können, was sie trinken kann und was nicht. Das Einzige, was sie ein kleines bisschen beunruhigt, ist, dass sie nicht weiß, was Jez ihr gebracht hat. Erst, als Jez, Max und Betty ihr zuprosten, hebt Kimmy zögerlich das Glas an die Lippen und lässt die Flüssigkeit vorsichtig über ihre Lippen ihre Kehle hinunterlaufen. Zu ihrer Erleichterung ist es nur Sekt. Mit dem Kopf deutet Betty in Richtung der vielen tanzenden Teenagern. Als sich Max in Bewegung setzt, folgen ihm Betty und Jez, weshalb auch Kimmy den drei folgt.
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Während sie tanzt, merkt Kimmy gar nicht, wie viele Gläser Sekt und Flaschen Radler sie leer, wie oft sie mit Jez tanzt und wie schnell die Zeit vergeht. Als sie das Gefühl hat, dass die Menschen um sie herum sich noch mehr bewegen, als sie eigentlich tun, hört sie auf zu tanzen, blinzelt einige Male in der Hoffnung, dass dieses Schwindelgefühl verschwindet und versucht sich an jemanden fest zu halten.
„Alles okay?“ Jez hat gemerkt, dass bei Kimmy irgendetwas nicht stimmt, denn er greift nach ihrem Oberarm. Kimmy blinzelt noch einmal und stolpert dann nach vorne, sodass sie gegen Jez stößt. Er legt sanft einen Arm um sie und dreht den Kopf von ihr weg zu Max. Kimmy bekommt nicht mit, was die beiden Jungen sagen. Die Musik dröhnt laut in ihren Ohren. Das Gefühl, jemanden bei sich zu haben, der auf sie aufpasst, entspannt sie. Sie lehnt den Kopf gegen Jez Schultern. Erst, als er sich langsam in Bewegung setzt und Kimmy sanft vor sich her durch die Menge schiebt, nimmt Kimmy die Bewegungen um sich herum wieder war.
Die kühle Luft, die ihr draußen entgegenschlägt, lässt eine Gänsehaut über ihren Körper wandern.
„Wie viel hast du getrunken?“ Jez hält sie immer noch am Oberarm und versucht Blickkontakt zu ihr aufzubauen. Kimmy zuckt die Schultern, legt den Kopf schrägt und sieht zu ihm hinauf. Jez seufzt, lässt ihren Arm los und löst den Knoten ihrer Lederjacke an ihrem Bauch. Geschickt hilft er ihr in die Jacke, setzt sich dann in Bewegung und schiebt Kimmy vor sich her. Kimmy jedoch stolpert, versucht sich irgendwo festzuhalten, greift aber ins Leere. Der warme Arm, der sich um ihren Körper schlingt und sie wieder nach oben zieht, prickelt, selbst durch ihre Kleidung hindurch, auf ihrer Haut. Als Jez sich wieder in Bewegung setzt, nimmt er den Arm nicht mehr von Kimmy. Sie schmiegt sich an ihn, ohne wirklich zu realisieren, war sie gerade tut. „Du hast eindeutig zu viel getrunken“, murmelt Jez mehr als Info an sich selbst als dass er es Kimmy sagt. Kimmy will wieder stehen bleiben, wird von Jez aber dazu gezwungen, weiter zu laufen.
„Ich habe fast gar nichts getrunken.“ Ihre Stimme klingt selber in ihren eigenen Ohren nicht mehr so fest, wie sie es sich wünscht.
„Überhaupt nichts!“ Den Sarkasmus in Jez Stimme kann Kimmy selbst mit dem erhöhten Alkoholpegel noch heraushören. Sie stemmt die Füße in den Boden, sodass Jez sie nicht mehr weiterschieben kann. Jez bleibt stehen und sieht Kimmy fragend an.
„Machst du dich lustig über mich?“ Sie sieht ihn ernst aus glänzenden Augen an. Jez lächelt und streicht ihr die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht gefallen sind, hinters Ohr. Ganz sanft schüttelt er den Kopf.
„Ich habe dir nur nicht zugetraut, dass du so viel trinkst.“ Kimmy wendet den Blick auf den Boden ab und wartet darauf, dass Jez sie weiterschiebt. Er zieht sie wieder enger an sich und setzt sich dann in Bewegung. Beschämt schließt Kimmy die Augen und lässt sich von Jez durch den Ort führen. Erst, als er stehen bleibt, öffnet sie die Augen wieder und dreht sich zu ihm um. Jez hält sie mit einem Arm immer noch fest und öffnet mit der anderen Hand den Reisverschluss von Kimmy Jackentasche. Er zieht ihren Schlüssel heraus.
„Ich will nicht heim!“ Jez hält inne und sieht Kimmy in die Augen. Im Licht der Straßenlaterne glitzern ihre Augen.
„Warum nicht?“ Sie legt den Kopf wieder schräg und lehnt ihn dann gegen Jez Schulter.
„Weil ich Ärger bekomme, wenn ich betrunken heim komme…“ Jez bleibt ganz still stehen und streicht Kimmy mit einer Hand übers Haar.
„Wo willst du sonst hin?“ Kimmy zuckt die Schultern und hebt dann den Kopf von seiner Schulter.
„Zu dir?“ Jez sieht ihr kurz in die Augen und seufzt dann. „Oder wolltest du nochmal weg?“ Er schüttelt den Kopf und schiebt Kimmy dann vor sich her über die Straße. Vor der Haustür bleibt er stehen und nimmt einen Arm von Kimmy, sodass er seinen Schlüssel aus der Hosentasche holen und die Tür aufschließen kann. Kimmy stolpert über die kleine Türschwelle und wäre, wenn Jez sie nicht noch immer festhalten würde, zum dritten Mal in kürzester Zeit hingefallen. Mit dem Fuß gibt er der Tür einen Stoß, sodass sie langsam von selbst zugeht. Er setzt Kimmy sanft auf die untere Stufe der Treppe und drückt dann auf den Lichtschalter. Kimmy hält sich schützend die Hände vor die Augen, da sie das Licht durch den Alkoholgehalt in ihrem Blut noch mehr blendet. Jez schlüpft aus seinen Schuhen und zieht Kimmy dann an den Oberarmen wieder hoch. Sie hält die Augen immer noch geschlossen und blinzelt dann vorsichtig. Jez sieht ihr in die Augen und seufzt. Kimmys Augen glänzen glasig. Vorsichtig sieht sie ihn an. „Was?“ Sanft beginnt Jez zu lächeln.
„Nichts…“ Kimmy dreht sich langsam in seinen Armen um und lässt sich dann von Jez die Treppe hinauf in sein Zimmer führen. Dort setzt Jez Kimmy auf sein Bett und verlässt dann das Zimmer. Kimmy legt den Kopf ein wenig schräg und sieht zur Tür, durch die Jez gerade verschwunden ist. Langsam erhebt sie sich, schlüpft aus ihrer Jacke und wirft sie in Richtung von Jez Schreibtischstuhl. Mit einer Hand hält sich an den Möbeln um sich herum fest, bis sie die Tür erreicht hat und beinahe gegen Jez stößt, der sein Zimmer gerade wieder betreten will. Er lächelt, greift wieder nach ihrem Arm und schüttelt sanft den Kopf.
„Habe ich vergessen zu sagen, dass du sitzen bleiben sollst?“ Kimmy sieht zu ihm hinauf und nickt. Jez streicht Kimmy übers Haar und will sie wieder zu seinem Bett führen und auf die Bettkante setzten. Kimmy hat aber andere Pläne. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, legt beide Hände um Jez Gesicht und drückt ihre Lippen auf die von Jez.
Als Jez Kimmys weiche Lippen auf seinen spürt, erstarrt er. Seine Arme liegen noch immer um ihren Körper. Auch noch, als Kimmy beide Hände langsam von seinen Wangen um seinen Nacken wandern lässt und ihre Lippen von seinen löst.
„Was ist?“ Ihre Stimme klingt ganz ruhig und sanft. Anders, als gerade noch. Jez Starre löst sich langsam und er lockert seine Arme um Kimmy.
„Ich…“ Für einen Moment sieht Jez ihr in die Augen. „…glaube, das ist keine gute Idee.“ Er will die Arme von Kimmys Körper nehmen, doch diese schüttelt ganz sanft den Kopf und streicht mit ihren Fingern durch Jez dunkles Haar.
„Warum?“ Sie sieht ihn aus ihren braunen, glasigen Augen an. Jez seufzt, schiebt Kimmy quer durch sein Zimmer und drückt die auf die Bettkante seines Bettes.
„Du bist betrunken. Du weißt nicht, was du tust!“ Kimmy sieht mit traurigen Augen zu ihm empor.
„Ich weiß aber was ich will.“ Sie steht auf und hält sich mit einer Hand an Jez Arm fest. „Ich will dich küssen dürfen!“ Jez drückt sie wieder auf die Bettkante zurück.
„Du weißt auch nicht, was du willst!“ Er seufzt leise. „Vielleicht ist es besser, wenn du ein bisschen schläfst.“ Kimmy legt den Kopf schräg und schlüpft aus ihren Schuhen.
„Nur, wenn du dich zu mir legst.“ Jez rauft sich das Haar und seufzt dann.
„Okay.“ Er setzt sich neben Kimmy auf die Bettkante und rutscht dann auf die Wandseite seines Bettes. Kimmy dreht sich zu ihm und bettet ihren Kopf auf seinem Kissen, nur, um ihn sofort wieder zu heben und sich an seine Brust zu kuscheln. Nur schwer kann Jez sich ein Seufzen unterdrücken. Alles in ihm – außer seinem Verstand – sagt ihm, dass er sich einfach, so dicht an Kimmy, entspannen und wohlfühlen soll. Aber er kann nicht. Weil er Jungs, die Mädchen ausnutzen, wenn sie betrunken sind, nicht ausstehen kann. Und er wäre kein Stück besser wie sie, wenn er Kimmys Nähe jetzt genießen könnte.
Nur wenige Sekunden liegt Kimmy still und mit geschlossenen Augen da, dann öffnet sie die Augen wieder und rutscht noch näher an Jez heran. Sie hebt eine Hand und fährt mit dem Finger vorsichtig Jez Wangenknochen nach. „Warum darf ich dich nicht küssen?“ Langsam hebt Jez die linke Hand und greift damit sanft nach Kimmys, die immer noch vorsichtig durch sein Gesicht streicht. Lautlos legt er sie, mit Kimmys Hand darin, auf der Matratze ab und sieht ihr dann in die Augen.
„Habe ich dir doch schon gesagt…“ Tief in seinem Inneren verspürt Jez dieselbe Lust, die Kimmy wohl verspürt, dass sich ihre Lippen noch einmal berühren. Im Stillen ermahnt er sich aber selbst: Denk nicht so etwas! Du küsst kein Mädchen, das betrunken ist und nicht weiß was sie will oder tut! Kimmy rutscht noch enger an Jez, bis ihre Nasenspitze die von Jez berührt.
„Ich will dich aber küssen…“, murmelt sie leise, schließt die Augen und drückt ihre Lippen dann noch einmal sanft auf Jez Lippen. Ein warmes Kribbeln durchfährt Jez Körper, als er Kimmys Lippen wieder auf seinen spürt. Ein so angenehmes, schönes Kribbeln, dass er sein Vorhaben, nicht nachzugeben, über Bord wirft. Er erwidert die sanfte Lippenbewegung von Kimmy und schließt die Augen. Einen Moment noch spielt Kimmy mit Jez Lippen, dann löst sie sich von ihm und sieht ihm einen Moment tief in die Augen, bevor sie sich aufsetzt. Jez sieht sie fragend an und stützt sich dann mit den Ellbogen ab, sodass er ein wenig aufrechter sitzt. Noch immer kribbeln seine Lippen feurig heiß. Kimmy kriecht noch enger an Jez heran, setzt sich dann, ein Bein rechts, eins links von einem Becken auf seinen Schoß, lehnt sich nach vorne und legt ihre Lippen wieder auf die von Jez. Sie vergräbt ihre Finger in Jez Haaren und spürt, wie er seine rechte Hand sanft auf ihre Taille legt. Er setzt sich auf, legt nur den rechten Arm um Kimmys Mitte und zieht sie enger an sich. Kimmy löst ihre Lippen wieder von Jez und sieht in ihm Dämmerlicht an, bevor sie ihm einen sanften Kuss auf die Wange gibt und in dieser Position verharrt. „Wieso haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“, murmelt sie leise und streicht durch Jez Haar, bevor er sich zu ihr lehnt und ihr einen sanften, langen Kuss auf die Lippen drückt. Wieso nicht? Weil er in einem Moment die falsche Entscheidung getroffen hat und – auch wenn er wollte – einfach nicht mehr genug Mut aufbringen konnte, um Kimmy auf den verpatzen Kuss anzusprechen! Als er seine Lippen wieder von Kimmys löst, streicht er ihr durch ihr zusammengebundenes Haar. Mit zwei Fingern zieht er das Haargummi aus Kimmys Haar, streicht einmal darüber und vergräbt sein Gesicht in Kimmys dickem Haar. Er gibt ihr einen sanften Kuss in die Halsbeuge und sieht ihr wieder in die Augen.
„Keine Ahnung…“, murmelt er leise, bevor er seine Stirn an Kimmys lehnt und die Augen schließt. Auch wenn jede Körperstelle, an der Kimmy ihn in den letzten drei Minuten berührt hat, feurig brennend kribbelt, beschleicht ihn doch wieder das klamme Gefühl, gerade die nächste falsche Entscheidung getroffen zu haben. Sanft legt Kimmy ihre Hände auf Jez Wangen und wartet, bis er die Augen öffnet. Ihre Augen glänzen immer noch glasig, aber das angenehme Braun, in dem man nur von ganz Nahem den dunklen, fast schwarzen Rand der Iris und den Übergang ins Grüne an der Pupille, erkennen kann, verfälscht es trotzdem nicht. Einen Moment sieht Kimmy Jez einfach nur in die Augen, bevor sie ihm sanft mit einer Hand durch das dunkle Haar streicht.
„Wovor hast du Angst?“ Leise seufzt Jez und senkt den Blick einen Moment. Dann sieht er Kimmy wieder in die Augen.
„Dich zu verlieren…“ Kurz schließt er die Augen. Sein Herz hämmert wie verrückt, aber jetzt muss er es Kimmy sowieso sagen. „Ich weiß, dass wir uns kaum kennen und dass es vielleicht so auch gar nicht möglich ist, aber trotzdem: Ich habe mich in dich verliebt.“ Einen Moment sieht Kimmy ihm einfach nur in die Augen, dann streicht sie ihm mit einem Finger sanft über die Lippen.
„Ich habe mich – wenn das möglich ist – noch viel mehr in dich verliebt, Jez.“ Ihre Augen glänzen immer noch glasig, doch in ihrer Stimme liegt ein fester, ernster Unterton. Einen Moment sieht sie Jez noch in die Augen, dann schließt Kimmy ihre Arme um seinen Nacken und legt ihre Lippen auf Jez. Kurz – das merkt Kimmy deutlich – zögert Jez, dann erwidert er ihre Lippenbewegung. Sanft und ungestüm gleichzeitig. Sachte streicht Kimmy Jez durchs Haar, über die Schultern und seine Hüfte entlang, bis sie am unteren Ende seines T-Shirts angekommen ist und mit einer Hand vorsichtig darunter fährt. Als Kimmys warme Hand die Haut von Jez Rücken berührt, breitet sich eine angenehme Gänsehaut über seinen gesamten Körper aus. Kaum spürbar malt sie mit einem Finger kleine Kreise auf seinen Rücken. Noch nie hat Jez eine so heiße Welle des Verlangens durchfahren wie jetzt. Und Kimmy trägt auch nicht wirklich dazu bei, dass sie abebbt, als sie mit ihren Händen weiter unter Jez T-Shirt fährt und ihm sanft über den Rücken streicht. Ihre Hände hinterlassen heiße und gleichzeitig sanfte kribbelnde Spuren. Jez löst seine Lippen von Kimmys und sieht ihr kurz in die Augen, bevor er ihr einen Kuss auf die Wange gibt und dann langsam und zärtlich zu ihren Hals herunter wandert. Kimmy zieht eine Hand unter Jez Shirt hervor und streicht ihm sanft durch Haar. Sein Atem prickelt warm auf ihrer Haut und seine Lippen hinterlassen einen kribbeligen Schauer. Lächelt löst Jez seine Lippen von Kimmys Hals und streicht mit einem Finger über ihre Wange. Kimmy erwidert das Lächeln sanft und zieht ihre Hände unter Jez T-Shirt heraus. Dann greift sie entschlossen nach dem unteren Ende des T-Shirts und zieht es Jez über den Kopf. Achtlos lässt Kimmy es vom Bett fallen und streicht mit zwei Fingern über einen Teil des Rucksackverbandes, der Jez Schlüsselbein schient. Jez fährt mit der rechten Hand ganz langsam unter Kimmys Oberteil. Ihre Haut ist angenehm warm. Kimmy schlingt ihre Arme um Jez Hals und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Sie lässt sich bereitwillig das Top von Jez über den Kopf ziehen. Angespannt hält sie den Atem an, als Jez Augen über ihren Oberkörper wandern. Auch wenn sie betrunken ist, ihr schießt Bettys eher neckend gemeinter Einwand wieder in den Kopf. ‚Der BH ist nicht so auffällig. Außer du ziehst dich für jemanden aus!‘… Im nächsten Moment wird dieser Gedanke jedoch verdrängt, als Jez mit zwei Fingern ganz langsam über ihre Rippen herunter über ihren Bauch bis zum Bund ihrer Hotpants fährt. Die Zeigefinger hakt er in je eine der Gürtelschlaufen ein und zieht sie daran sanft näher zu sich.
„Wow…“, murmelt er, streicht mit einer Hand über ihr Haar und drückt ihr Kinn dann sanft hoch, sodass er mit seinen Lippen ihre liebkosten kann. Kimmy erwidert die Küsse und öffnet die Lippen augenblicklich, als sie Jez Zungenspitze auf ihre Unterlippe spürt. Noch nie hat sie einen Jungen so geküsst. Oder überhaupt geküsst… Mit den Fingern fährt Jez ganz leicht über Kimmys nackte Haut. Sie löst ihre Lippen von seinen und windet sich leise lachend aus seinen Armen.
„Nicht! Ich bin kitzelig!“ Jez legt seine Arme um Kimmys Körper und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
„‘Tschuldigung.“ Kimmy lächelt, streicht mit den Fingern langsam über Jez Bauch, bis sie an dem Gürtel seiner Hose ankommt. Sie beginnt zu grinsen, bevor sie sich weiter zu Jez lehnt und ihm einen Kuss auf die Wange gibt. Dieser folgt ihren Händen mit den Augen und lächelt, als Kimmy ihm einen weiteren Kuss auf die Wange gibt und dann langsam seinen Hals herunter wandert. Jeder einzelne Quadratmillimeter seiner Haut, den Kimmy mit ihren Lippen berührt, beginnt feurig-heiß zu kribbeln. Jez lehnt den Kopf nach vorne und schließt die Augen. Auch wenn sein Verstand wie ein kleines Kind in seinem Kopf brüllt, dass er gerade einen Riesenfehler macht, er kann nicht anders, er muss ihn ignorieren. Dafür fühlt sich Kimmys Nähe einfach viel zu gut, viel zu echt an. Deutlich spürt Jez, wie Kimmy seinen Gürtel, den Knopf an seiner Jeans und den Reißverschluss öffnet. Sanft fährt sie mit beiden Händen noch einmal über seinen Rücken und dann ganz vorsichtig unter den Bund der Hose. Ihre Hände prickeln förmlich auf Jez Haut, als sie ihre Lippen von seinem Hals löst, ihm für einen Moment in die Augen sieht und im nächsten Moment ihre Lippen auf seine drückt. Jez erwidert Kimmys Lippenbewegung direkt, schließt die Arme um ihren Körper und dreht sie ganz sanft auf den Rücken. Kimmy löst ihre Lippen für einen Moment von Jez. Als er sich über sie lehnt und ihr in die Augen sieht, beißt Kimmy sich auf die Unterlippe, bevor sie ihre Arme um Jez Hals schlingt und ihn so noch enger auf sich zieht. Keine Sekunde später berühren sich ihre Lippen wieder. Prickelnd, ruhig und stürmisch zugleich. Und irgendwie atemberaubend. Jez entzieht sich Kimmys Kuss, lehnt seine Stirn gegen ihre und atmet einmal tief durch. Erst, als Kimmy einen amüsierten Laut von sich gibt, öffnet Jez die Augen wieder.
„Bin ich so atemberaubend?“ Jez kann in Kimmys Stimme einen beinahe neckenden Unterton heraushören. Ganz sanft und nur für einen Bruchteil einer Sekunde berühren sich Jez und Kimmys Lippen wieder.
„Atemberaubender als jedes andere Mädchen auf dieser Welt.“ Jez schließt die Augen, als seine Lippen bei jedem einzelnen Wort Kimmys Lippen ganz sanft streifen. Und er öffnet sie auch nicht, als Kimmy mit ihrer Zungenspitze ganz langsam über seiner Unterlippe fährt und ihn gleichzeitig seiner Hose entledigt.
Auch wenn Jez wöllte, er kann jetzt nicht mehr an der plärrenden Stimme in seinem Kopf festhalten. Er muss Kimmys Nähe einfach nur genießen. Ihre Lippen, die mit seinen spielen, auch, als sie sich aufsetzten und Kimmy Jez dann auf die Matratze drückt. Ihre warme, nackte Haut, die seine heiß und kribblig berührt. Ihre Augen, die beinahe funkeln, wenn er seine öffnet und sie ansieht. Kimmy vergräbt ihre Hände in Jez Haaren, als er sich aufsetzt, mit beiden Händen über ihre Taille fährt und dann ihre Hotpants öffnet. Mit beiden Händen streicht er Kimmy noch einmal über den Rücken, bevor er ihr die Hose geschickt auszieht und mit beiden Händen sanft über ihren Po fährt. Kimmy löst ihre Lippen einen Moment von seinen und lehnt ihre Stirn gegen seine, als Jez Hände auf ihrem Po verweilen. Dann berühren sich ihre Lippen ein weiteres Mal kribbelig, feurig-heiß. Sie verschränkt die Arme wieder in Jez Nacken und streicht mit einer Hand durch sein dunkles Haar. Langsam löst sie ihre Lippen dann abermals von Jez, beginnt seinen Hals zu küssen und greift mit einer Hand nach seiner. Sie führt sie zu ihrem Rücken, zum Verschluss ihres BHs. Jez legt die Finger darum. Als der erste der beiden Häkchen aufspringt, meldet sich jedoch das schlechte Gewissen bei ihm. Er zieht seine Hand weg und drückt Kimmy von seinem Hals. Verwirrt und auch ein wenig verletzt sieht sie ihm in die Augen.
„Du bist betrunken, Kimmy. Ich kann das nicht! Ich kann dich jetzt nicht anfasst! Und ich kann jetzt nicht mit dir schlafen! Wir sind sowieso schon viel zu weit gegangen!“ Jez Augen schimmern ernst im Dämmerlicht. Einen Moment sieht Kimmy ihm mit demselben halb verwirrt, hab verletzten Ausdruck an.
„Okay.“ Sie rutscht von seinem Schoß herunter, bettet ihren Kopf auf dem Kissen und schließt die Augen. Jez ist überrascht, dass Kimmy einfach nachgibt. Bevor er auf die Küsse von ihr eingegangen ist, wollte sie schließlich nicht einsehen, dass sie betrunken ist. Jez sieht Kimmy einen Moment lang an, dann lehnt er sich zum Fußende seines Bettes, zieht an der Decke und deckt Kimmy zu, bevor er neben sie unter die Decke kriecht. Sie öffnet noch einmal die Augen, greift nach seinem rechten Arm und legt ihn von hinten um sich, bevor sie die Augen wieder schließt. Leise seufzt Jez und lehnt dann die Stirn an Kimmys Hinterkopf. Wie konnte er nur die Kontrolle über sich selber so verlieren, dass er kurz davor war, mit Kimmy zu schlafen?
***
Anders als sonst, schreckt Kimmy nicht hoch, als sie aufwacht. Nicht der allnächtliche Traum hat sie geweckt. Sondern der dröhnende Schmerz in ihrem Kopf. Kimmy blinzelt ein paar Mal, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hat.
Als sie sich im Zimmer umsieht, stellt sie fest, dass es nicht ihr Zimmer ist. Und auch nicht Bettys! Eine knabbernde Angst – dass sie betrunken mit irgendeinem Jungen mitgegangen ist – beschleicht sie. Schnell setzt sich auf und stöhnt leise. Der Schmerz in ihrem Kopf hämmert bei jeder Bewegung gegen ihre Schläfe. Sie hebt den Blick und zuckt zusammen, als sie die Person neben sich im Bett entdeckt. Jez! Einen Moment verharrt ihr Blick auf ihm. Er liegt auf der Seite, ihr zugewendet, mit nacktem Oberkörper und ist nur noch halb zugedeckt. Krampfhaft versucht sich Kimmy zu erinnern, was am vergangenen Abend passiert ist. Leise und so vorsichtig wie möglich erhebt sie sich auf Jez Bett und sieht dann an sich herunter.
„Scheiße…“, murmelt sie leise. In ihrem Kopf spielen sich gerade tausende Filme ab, was in der letzten Nacht passiert ist und vor allem, warum sie nur noch Unterwäsche trägt. Vor ihren Füßen entdeckt sie sowohl ihr Top und die Jacke, als auch die Hotpants, ihre Schuhe und die Strumpfhose. Eilig sammelt Kimmy alles zusammen und achtet darauf, so leise wie möglich zu sein. Während die sich das Top über den Kopf zieht und in die Strumpfhose und die Hotpants schlüpft, kriecht eine schreckliche Angst in ihr empor. Sie lag, nur noch in Unterwäsche bekleidet, neben Jez im Bett… Sie hat doch nicht…? Während Kimmy in ihre Schuhe schlüpft, schließt sie für einen Moment die Augen. Das grelle Tageslicht, das durch das Fenster fällt, verschlimmert die Kopfschmerzen und lässt zeitweise das Bild vor ihren Augen verschwimmen. Warum kann sie sich an nichts erinnern, was in der letzten Nacht passiert ist?
„Willst du jetzt wirklich einfach abhauen?“ Erschrocken öffnet Kimmy die Augen und taumelt einen Schritt zurück. Jez sitzt aufrecht in seinem Bett, stützt sich mit einer Hand ab und kneift geblendet die Augen zusammen.
„Abhauen?!“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und unterdrückt es, mit einer Hand über ihre schmerzende Schläfe zu streichen.
„Erst willst du nicht nach Hause, weil du betrunken bist und jetzt willst du einfach abhauen?“ Betrunken! Darum kann sich Kimmy an nichts mehr erinnern! Sie zählt im Kopf eins und eins zusammen und merkt, wie die Wut in ihr zu brodeln beginnt. Jez zuckt zusammen, als Kimmy ihn plötzlich sauer, mit erhöhtem Lärmpegel, anzischt.
„Ach, betrunken? Warum denn auch?! Weil du mich abgefüllt hast, nur, um danach mit mir zu schlafen!“ Jez sitzt für einen Moment ganz still da, bevor er aufsteht, ein T-Shirt von seinem Schreibtischstuhl nimmt und es sich über den Kopf zieht, und dann auf Kimmy zugeht. Automatisch weicht sie einen Schritt zurück, woraufhin Jez stehen bleibt und ihr einfach nur in die Augen sieht.
„Das meinst du jetzt nicht im Ernst, oder?“ Kimmy ist überrascht darüber, wie gut Jez schauspielern kann. Wie kann er ihr so eiskalt ins Gesicht lügen?!
„Tu jetzt nicht so, als ob es nicht so wäre!“ Kimmy verengt ihre Augen zu Schlitzen, worauf Jez nur sarkastisch auflacht.
„Warst du wirklich so voll, dass du nichts mehr weißt?“ Er geht einen Schritt auf Kimmy zu und will ihren Arm greifen, doch Kimmy ist ihm einen Schritt voraus und schlägt seine Hand weg.
„Machst du dich jetzt noch lustig über mich?“ Bevor Kimmy eine Antwort bekommt, versetzt sie Jez mit der Schulter einen Stoß und versucht sich an ihm vorbei, zur Tür zu schieben. Anders als Kimmy es jedoch geplant hat, taumelt Jez nicht einmal zurück. Ganz im Gegensatz, er macht noch einen Schritt auf sie zu, schafft es diesmal nach ihrem Oberarm zu greifen und sie so zu zwingen, stehen zu bleiben.
„Wir haben nicht miteinander geschlafen, okay? Ich bin keiner von denen, die nur Vögeln im Kopf haben!“ Kimmy hält erschrocken die Luft an, als Jez sie sauer anzischt. Anscheinend hat sie mit ihrer Anschuldigung einen wunden Punkt von Jez getroffen. Sie fasst sich schnell wieder und lacht, genau wie Jez es nur kurz zuvor getan hat, sarkastisch auf.
„Und wie willst du mir dann erklären, dass ich nur noch in Unterwäsche neben dir lag?“ Jez lockert seinen Griff um ihren Oberarm und lässt von ihr ab. Die Anspannung aus seinem Gesicht ist für einen Moment komplett verschwunden. „Also doch!“ Jez Zögern ist Antwort genug für Kimmy. Sie schiebt sich an ihm vorbei, bleibt in der Tür noch einmal stehen und dreht sich um. „Ich dachte wirklich, du bist anders als die anderen Jungs! Aber anscheinend bist du keinen Scheiß besser!“ Als Kimmy wahrnimmt, wie Jez Augen zu glitzern beginnen, dreht sie sich um und läuft, so schnell sie kann, die Treppe hinunter. Nur mit Mühe schafft sie es, die Kontrolle über sich zu behalten und nicht den Tränen, die in ihren Augen brennen, zu gewähren, über ihre Wangen zu rollen.
Als sie eine warme Hand um ihren rechten Arm schließt, schreit sie vor Schreck leise auf. Sie dreht sich um und sieht direkt in Jez grüne, schimmerten Augen.
„Bitte, Kimmy! Glaub mir, es ist nichts zwischen uns passiert. Ich habe nicht mit dir geschlafen!“ Kimmy entreißt sich Jez Hand und läuft die letzten Stufen der Treppe hinunter.
„Das kannst du jedem erzählen, nur nicht mir!“ Mit diesen Worten reißt sie die Türe auf und verlässt übereilig das Haus.
Draußen atmet sie die kühle Mailuft ein. So hat sie sich den ‚Big Blöpp‘ eindeutig nicht vorgestellt! Sie zieht die Lederjacke enger um ihren Körper und überquert dann die Straße. Immer noch brennen die Tränen heiß in ihren Augen und in ihrem Hals und rauben ihr fast den Atem. Einen Moment schließt Kimmy die Augen, legt den Kopf nach vorne und atmet ein paar Mal ruhig ein und wieder aus, bis das erdrückende Gefühl auf ihrer Brust nachlässt.
Vor der Haustür öffnet sie beide Reisverschlüsse ihrer Lederjacke und durchsucht sie nach ihrem Schlüssel. Verwirrt hebt sie die Augenbrauen, als sie nur die glatte Oberfläche ihrer Handyhülle zwischen den Fingern spürt. Sie fährt mit den Fingern über die Taschen ihrer Hotpants, in der Hoffnung, dass der Schlüssel in einer der Taschen ist. „Verdammt…“, murmelt sie leise, als sie ihn dort auch nicht findet. Eigentlich wollte sie ohne von ihren Eltern bemerkt zu werden ins Haus gelangen. Erstens, weil sie genau weiß, dass ihre Mutter seit drei Uhr nachts auf sie wartet und jetzt bestimmt einen riesen Aufstand macht und zweitens, weil sie einfach nur in ihr Zimmer und sich einfach nur verkriechen will. Verkriechen vor ihren Eltern, vor Betty und vor allem vor Jez! Vor dem wohl größten Arschloch der Welt… Seufzend wirft sie diesen Plan über Bord. Mit zwei Finger drückt sie gleicht drei Mal hintereinander auf den Klingelknopf. Sofort reißt ihre Mutter die Haustür auf, als hätte sie hinter der Tür gestanden und auf ihre Tochter gewartet. Kimmy schiebt sich an ihr vorbei, schlüpft aus ihren Schuhen und will sofort die Treppe nach oben in ihr Zimmer laufen, doch ihre Mutter hält sie mit einer Hand am Oberarm zurück.
„Wo warst du? Es war spätestens drei Uhr ausgemacht!“ Kimmy streicht sie über die Schläfe und stöhnt leise auf.
„Ist doch egal!“ Sie will sich umdrehen und die Treppe nach oben laufen, doch ihre Mutter stellt sich ihr in den Weg.
„Ist es nicht! Ich habe mir Sorgen gemacht!“ Gereizt stöhnt Kimmy auf.
„Ich bin doch wieder da! Und ich bin keine zehn mehr! Ich kann auf mich selber aufpassen!“ Sie streicht sich wieder über die Schläfe und drückt die Augen zu.
„Darum geht es nicht, Kimmy!“ Da Kimmy lauter geworden ist, ist die Antwort ihrer Mutter dementsprechend auch nicht mehr so ruhig.
„Worum den dann?“ Trotzig verschränkt Kimmy die Arme vor der Brust und unterdrückt das Pochen an ihren Schläfen, das durch die lauten Antworten ihrer Mutter noch verschlimmert wird.
„Wir haben klar abgemacht, dass du um drei wieder zu Hause bist! Wenn du dich nicht an die Abmachungen hältst, kannst du eben nicht mehr feiern gehen!“
„Ach, willst du mir jetzt mit Hausarrest drohen, oder was? Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Noch bevor Kimmy eine Antwort darauf bekommt, dreht sie sich um und läuft die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie knallt die Tür hinter sich zu und zuckt bei dem lauten Geräusch selbst zusammen. Seufzend dreht sie den Schlüssel im Schlüsselloch um und lässt sich dann erschöpft auf ihr Bett fallen. Sie hat jetzt andere Probleme, als dass sie sich mit ihrer Mutter über Pünktlich- und Unpünktlichkeit streitet!
Einen Moment bleibt Kimmy auf dem Bauch auf ihrem Bett liegen, dann erhebt sie sich von ihrem Bett und geht langsam auf ihren Spiegel an ihrem Schrank zu. Sie verzieht das Gesicht und greift mit einer Hand in ihr offenes Haar. Hatte sie ihre Haare nicht eigentlich zusammengebunden? Langsam lässt sie ihren Blick über ihr Spiegelbild wandern. Ihr Eyeliner ist ein wenig verschmiert und die Wimperntusche hat einen gräulichen, dünnen Rand unter ihren unteren Wimpern hinterlassen. Kimmy schließt die Augen, seufzt, öffnet die Augen wieder, schält sich aus der Lederjacke, schmeißt sie aufs Bett und zieht energisch ein Abschminktuch aus der Packung.
Nachdem Kimmy die Wimperntusche und das Kajal weggewischt hat, versucht sie, den schwarzen Eyeliner von ihrem Augenlid zu entfernen. Als auch das zweite Abschminktuch draufgeht und der Eyeliner immer noch auf Kimmys Augenlidern zu sehen ist, gibt sie es auf und wirft genervt die benutzten Abschminktücher in den Mülleimer, bevor sie sich eine Jogginghose, einen weiten Pulli und frische Unterwäsche aus dem Schrank nimmt und ins Bad geht.
Erleichtert, dass sie die verschwitzen, nach Rauch und Party riechenden Klamotten ausziehen kann, steift Kimmy sie ab und wirft alle auf einen Haufen.
Als das warme Wasser über ihren Körper läuft, schließt Kimmy die Augen. Wie kann Jez nur so anders sein, als sie gedacht hat? Sie hatte doch Recht mit ihrer Vermutung… Und Betty hat ihr versucht zu erzählen, dass Jez anders wäre als die meisten anderen Jungs! Er wollte wirklich nur der Erste sein, der sagen kann, dass er mit ihr geschlafen hat! Die Enttäuschung und die Wut auf sich selbst und dass sie auf Jez reingefallen ist, lassen Kimmy die Hand zu einer Faust ballen und die Tränen wieder in ihre Augen schießen. Warum war sie nur so blind? Warum dachte sie, irgendwann würde auch zu ihr irgendein Junge kommen, der ihr Leben um hundertachtzig Grad dreht? Der für sie da ist und nicht nur das eine will? Der so perfekt ist, wie in all den Filmen und Büchern? Der Jede haben könnte, aber nur sie, das verletzte Mädchen haben will! Die Tränen laufen über Kimmys Wangen. Wie konnte sie nur an dem Märchen der Liebe für jeden so lange festhalten?
***
Jez liegt auf seinem Bett und starrt an die Decke. Ziellos hat er, nachdem Kimmy abgehauen ist, ein rotes T-Shirt und eine schwarze Jogginghose aus seinem Schrank geholt und angezogen, nachdem er duschen gegangen ist und bevor er sich wieder in sein zerwühltes Bett gelegt hat. Wie konnte er nur so eine Scheiße bauen? Warum hat er sich überhaupt auf die Knutscherei mit Kimmy eingelassen? Warum hat er nicht schon ‚Stopp‘ gesagt, als sie begonnen hat, ihn auszuziehen? Und vor allem… warum hat es ihm auch noch gefallen? Warum hat es ihm gefallen, wie er sie geküsst hat, obwohl sie betrunken war? Warum hat es ihm gefallen, wie sie ihn angefasst hat, obwohl sie betrunken war? Warum hat er die Kontrolle über sich selbst so sehr verloren, dass er beinahe das gemacht hätte, was er so verabscheut? Sein erstes Mal mit einem betrunkenen Mädchen zu haben, das es kaum kennt. Mit den Händen fährt sich Jez durch das Gesicht. Warum? Langsam rollt Jez sich auf den Bauch und vergräbt sein Gesicht in seinem Kissen. Kimmy hat Recht! Er ist keinen Scheiß besser, als die Jungs, die wirklich nur Vögeln im Köpf haben!
„Du bist doch so ein Arschloch!“, zischt Jez, an sich selbst gerichtet, in sein Kissen. „… so ein Arschloch!“ Seufzend dreht er sich wieder auf den Rücken und setzt sich auf. Er angelt sein Handy vom Nachtisch und drückt auf den Sperrknopf. Als das Display nicht angeht, öffnet er sie Schublade seines Nachttischs und kramt das Ladekabel heraus, bevor er sein IPhone ansteckt und kurz wartet, bis er es anmachen kann. Warum hat er Kimmy nicht einfach nach Hause gebracht und wäre dann selbst einfach nach Hause gegangen? Warum konnte er nicht einfach nein sagen? Mit zwei Fingern tippt Jez seinen Pin ein und wartet einen Moment, bis er WhatsApp öffnet und auf Kimmys Chat tippen kann. Einen Moment sieht er auf das Display und lässt die Hand mit dem Handy darin wieder sinken. Was hat er eigentlich vor? Kimmy über WhatsApp zu schreiben? Jez zieht die Beine an, schlingt die Arme darum und legt das Kinn auf die Knie. Als ob sie ihm glauben würde… Und um ehrlich zu sein, kann er Kimmy sogar verstehen. Wenn sie sich wirklich an nichts erinnern kann und denkt, er hätte sie ausgenutzt… Jez löst die Umklammerung an seinen Beinen, dreht sich auf die Seite, zieht die Knie an und starrt auf den Boden vor sich. Warum hat Kimmy ihn dazu bringen können, sie einfach zu küssen? Was hat sie an sich, das ihn dazu gebracht hat? Noch nie – nicht mal bei seiner Exfreundin Manda – hat Jez so einen Drang empfunden, ein bestimmtes Mädchen in den Armen zu halten, sie küssen zu dürfen und sie nie wieder loslassen zu müssen.
„Alls in Ordnung, Jez?“ Jez fährt erschrocken hoch und hat das Gefühl, dass sein Herz für eine Sekunde vergessen hat zu schlagen. Als er seine Mutter im Türrahmen erkennt, lässt er sich wieder nach hinten in sein Kissen fallen und fährt sich mit beiden Händen übers Gesicht.
„Erschreck mich doch nicht so!“, murrt er durch die Finger hindurch und setzt sich dann wieder auf. Seine Mutter lehnt sich an die eine Seite des Türrahmens und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Ich habe dreimal gerufen, dass ich wieder da bin.“ Langsam senkt Jez den Blick.
„Habe ich nicht gehört“, murmelt er, steht auf und fährt sich mit einer Hand durchs Haar. Seine Mutter hebt die Augenbrauen. Sie kennt ihren Sohn gut genug, um zu wissen, dass ihn etwas bedrückt.
„Ist wirklich alles okay?“ Sie sieht ihren Sohn forschend an.
„Ja, wirklich, Mama.“ Jez will sich an seiner Mutter durch den Türrahmen schieben, doch sie hält ihn am Oberarm fest. Sie sieht ihrem Sohn in die Augen.
„Was ist los?“ Ihre Stimme duldet keine Ausrede.
„Ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe…“, murmelt Jez leise und hofft inständig, dass diese Antwort seiner Mutter genügt. Sie seufzt leise.
„Ich mach Frühstück und leg‘ mich dann hin.“ Sie will sich umdrehen und die Treppe nach unten gehen, da fällt ihr noch etwas ein. „Ach… wem gehört eigentlich der Schlüssel, der unten liegt?“ Jez hat sich an ihr vorbeigeschoben und bleibt stehen, als seine Mutter ihm die Frage stellt.
„Welcher Schlüssel?“ Er dreht sich um und sieht seine Mutter fragend an. Diese runzelt die Stirn und sieht ihren Sohn prüfend an.
„Der mit dem bunten Anhänger. Der unten bei deinem Schlüssel liegt?!“ Jez sieht sie immer noch verwirrt an, als ihm die Antwort auf die Frage wie ein Geistesblitz kommt. Kimmy Schlüssel! Er hat ihn ihr gestern nicht mehr zurückgegeben!
„Achso…“, murmelt er leise. „Ist egal. Ich weiß, wem der Schlüssel gehört.“ Dann dreht er sich um und verschwindet im Bad.
***
Kimmy liegt mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett. Die Kopfschmerzen hämmern immer noch unangenehm gegen ihre Schläfe, doch sie konnte sich noch nicht aufraffen um nach unten zu gehen und sich eine Kopfschmerztablette zu holen. Jede Bewegung bringt die Schmerzen dazu, noch unangenehmer und störender zu werden. Seufzend öffnet Kimmy die Augen, setzt sich langsam auf, geht zur Tür und dreht den Schlüssel. Ihre Augenlider kommen ihr schwerer vor als sonst und die Schmerzen zehren langsam an ihren Nerven.
Als Kimmy die Treppe herunter getapst ist und die Küche betritt, steht ihre Mutter am Herd. Erst, als Kimmy die Tür zum Schrank mit den Medikamenten öffnet, dreht sie ihrer Tochter den Kopf zu. Auch ohne sie anzusehen, spürt Kimmy den missbilligenden Blick auf sich, den sie so gut es geht versucht zu ignorieren. Mit den Augen sucht sie den Arzneischrank nach der Aspirinpackung ab, kann sie aber nicht entdecken. Mit einer Hand schiebt sie einige der Packungen zu Seite und stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, doch sie kann die Tabletten noch immer nicht entdecken.
„Mama. Weißt du, wo die Aspirin sind?“ Kimmy sieht ihre Mutter fragend an. Diese legt den Kochlöffel weg und dreht sich zu ihrer Tochter.
„Haben wir dir nicht oft genug erklärt, dass du auf solchen Partys nichts trinken sollst? Anscheinend war es ja nicht wenig… Sonst wärst du auch pünktlich zu Hause gewesen!“ Kimmy rollt mit den Augen, stöhnt theatralisch auf und stöhnt noch einmal leise auf, weil es in ihrer Schläfe unerträglich zu pochen beginnt. Sie verzieht das Gesicht und massiert sich mit beiden Händen vorsichtig die Schläfen. Ihre Mutter schiebt sich an ihrer Tochter vorbei, greift in den Medikamentenschrank und zieht die Aspirinpackung zielsicher heraus. „Eigentlich dürfte ich sie dir gar nicht geben! Dass du lernst, wie du mit Alkohol umgehen musst.“
„Ich bin ganz deiner Meinung!“ Kimmy dreht sich, mit der Aspirinpackung in der Hand, um und sieht ihren Vater im Türrahmen stehen. Klar, dass er zu ihrer Mutter hält. Es ist ja immer so! Als hätten sie in ihrer Jugend nie Alkohol getrunken! „Warum bist du erst heute Morgen wiedergekommen, Kimmy? Wir haben uns Sorgen gemacht! Bei wem warst du noch?“ Kimmy drückt mit einer Hand die Schranktür zu und lehnt sich mit dem Rücken dagegen.
„Ist das jetzt so wichtig?“ Können ihre Eltern es mit der Fragerei nicht einfach sein lassen? Sie hat gerade genug andere Sachen im Kopf… von den Kopfschmerzen mal abgesehen! Mit einer Hand stößt sie sich leicht vom Schrank ab, legt die Tablettenschachtel auf die Arbeitsfläche und schenkt sich ein Glas mit Wasser ein. Mit zwei Fingern drückt sie eine der Tabletten aus der Einzelverpackung, legt sie sich auf die Zunge und spült sie schnell mit einigen Zügen Wasser hinunter.
„Ja, ist es Kimmy! Bei wem warst du? Bei Betty garantiert nicht? Etwa bei Jez? Was habt ihr gemacht? Rumgevögelt?“ Für einen Moment starrt Kimmy ihren Vater nur an, dann knallt sie das Glas auf die Arbeitsfläche und stürmt aus dem Raum.
„Du bist so scheiße!“, zischt sie, als sie sich an ihrem Vater vorbei schiebt und dann die Treppenstufen nach oben in ihr Zimmer rennt. Sie knallt die Tür hinter sich zu, dreht den Schlüssel im Schlüsselloch um und schleudert ihn durchs Zimmer. Kimmy wirft sich auf ihr Bett, zieht das Kissen unter ihr Gesicht, vergräbt es darin und lässt den Tränen, die in ihren Augen brenne, freien Lauf. Wie kann ihr Vater nur so sein? Wie kann er sie genau auf das ansprechen, was letzte Nacht wirklich passiert ist? Und vor allem… woher weiß er von Jez? Er hat ihn noch nie gesehen! Kimmy ballt eine Hand zur Faust und schluchzt leise in ihr Kissen. Wie kann Jez nur einer von denen sein, der Mädchen nur für das eine braucht? Wie kann er ihr so eiskalt ins Gesicht gelogen haben? Und warum hat sie, als sie noch nicht betrunken war, nicht gemerkt, dass Jez sie nur abfüllen und dann eiskalt ausnutzen will? Kimmy will gar nicht weiterdenken. Sie zieht sich die Decke über den Kopf und schluchzt nun lauter in ihr Kissen. Die Erkenntnis, dass der Junge, für den sie mehr als ‚Bekanntschaft‘ und vielleicht sogar ‚Freundschaft‘ empfunden hat, sie so eiskalt ausgenutzt hat, lastet wie Felsbrocken auf ihrem Herzen. Kimmy zwingt sich dazu, ruhig zu atmen, wodurch sie sich wieder ein wenig beruhigt. Sie hört, wie ihre Eltern diskutieren.
„Das hätte doch nicht sein müssen!“, hört Kimmy ihre Mutter sagen. Sie hält die Luft an, sodass sie die Antwort ihres Vaters verstehen kann.
„Mein Gott. Was, wenn Jez einer von denen Jungen ist, die Mädchen nur wegen dem einen wollen? Er ist siebzehn Jahre lang in einer Großstadt aufgewachsen! Da läuft es nun mal anders als hier auf dem Dorf! Ich will nicht, dass Kimmy in irgend so eine Szene abrutscht! Ich will nicht noch mein zweites Kind verlieren!“ Kimmy öffnet die Lippen und atmet ganz langsam ein. Ich will nicht noch mein zweites Kind verlieren! Sie beginnt kaum spürbar aber doch deutlich zu zittern, bevor sie das Gesicht wieder in ihrem Kissen vergräbt und die Tränen darin versickern lässt. Ich will nicht noch mein zweites Kind verlieren! Immer wieder schluckt sie. Ich will nicht noch mein zweites Kind verlieren! Mit beiden Händen zieht sie die Decke wieder enger um sich und beginnt in das Kissen zu schluchzen. Warum muss ihr Vater sie in diesem Moment ausgerechnet noch an Lennard erinnern? Sie hat gerade genug anderes im Kopf... Warum? Warum erinnert ihr Vater sie ausgerechnet jetzt an Lennard? Warum ist Jez so ein Arschloch? Warum hat sie nie gemerkt, dass Jez nur das eine will? Warum war sie so blind?
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Kimmy steht vor ihrem Spiegel und mustert sich schon seit einer ganzen Weile. Ihre Augen sind rot vom Weinen. Die Tränen haben rote Spuren auf ihren Wangen hinterlassen und ihre Haare sind zerzaust. Müde bindet Kimmy sich ihre Haare mit einem Haargummi seitlich zu einem eigentlich nicht erkennbaren Zopf zusammen und zwingt sich für einen Moment zu lächeln. Eigentlich hatte sie die Hoffnung, dass sie sich dann wirklich ein bisschen besser fühlt, aber bei der Grimasse, die sie zieht, fühlt sie sich nur noch schlechter.
Als es an der Tür klingelt, zuckt sie zusammen, obwohl sie genau weiß, dass es nur Betty ist. Trotzdem hat sie Angst, dass Jez hier auftauchen könnte.
Nachdem Kimmy sich beruhigt hat, hat sie ihre beste Freundin angerufen und sofort zu sich bestellt. Kimmy hört, wie ihre Mutter die Türe öffnet und etwas ziemlich überrascht zu ihrer Betty sagt. Diese antwortet etwas und nur wenige Sekunden später nimmt Kimmy die Schritte ihrer Freundin auf der Treppe war. Noch bevor Betty die Tür erreicht, ruft sie schon Kimmys Namen.
„Kimmy?!“ Ganz langsam geht Kimmy zu ihrer Zimmertür und schließt sie auf. Ihre Freundin blickt ihr besorgt entgegen. Sie betritt Kimmys Zimmer, schließt die Tür hinter sich ab und setzt sich dann neben Kimmy, die sich mittlerweile auf ihr Bett fallen gelassen hat. Betty mustert sie und sieht sie fragend an. Kimmy hat ihr nicht gesagt, was los ist, doch so wie sie aussieht, hat sie bestimmt nichts Positives zu erzählen. Noch bevor Betty fragen kann, was los ist, lehnt sich Kimmy an sie und lässt sich von ihrer Freundin in den Arm nehmen. Die Tränen schießen ihr wieder in die Augen. Als Betty merkt, dass Kimmy weint, wiegt sie sie leicht hin und her und streicht ihn sanft über das Haar. „Hey… Kimmy…“, murmelt sie leise ins Haar ihrer Freundin und streicht ihr darüber. Kimmy hebt vorsichtig den Kopf von Bettys Schulter und sieht, mit Tränen in den Augen, in Bettys hellen, strahlenden Augen. Sie sieht Kimmy fragend an.
„Er hat mich so verarscht!“, murmelt Kimmy, bevor die Tränen wieder über ihre Wangen laufen. „Er wollte nur das eine!“ Betty nimmt ihre Freundin wieder in den Arm und streicht ihr übers Haar. Kimmy schluchzt leise.
„Nicht wirklich, oder?“ Sie streichelt Kimmy über den Hinterkopf und vergräbt ihre Nase in Kimmys braunen, nach Shampoo duftenden Haaren. Kimmy hebt den Kopf.
„Glaubst du ernsthaft, ich lüge dich gerade an?“ Sie sieht ihre Freundin ernst an. Betty senkt beschämt den Blick und schüttelt dann den Kopf. Langsam hebt sie den Blick wieder und sieht ihre Freundin vorsichtig an.
„Habt ihr denn…?“ Bett braucht die Frage nicht ganz aussprechen, Kimmy beantwortet ihre Frage, indem sie ganz langsam nickt. „Warum?“ Betty sieht ihre Freundin immer noch vorsichtig an.
„Ich habe total den Filmriss…“, murmelt Kimmy, „Ich kann mich an nichts mehr erinnern!“ Sie sieht ihre Freundin verzweifelt an. „Betty, hilf mir!“ Kimmy greift nach den Händen ihrer Freundin. Tränen aus Verzweiflung, Angst und Wut steigen wieder in ihre Augen. Hilflos nimmt Betty ihre Freundin wieder in den Arm. Hat sie Jez wirklich so schlecht eingeschätzt? Ist er wirklich einer von denen, die von Mädchen nur das eine wollen? Betty wiegt ihre Freundin leicht nach rechts und links. Sanft streicht sie ihr mit einer Hand über den Rücken und vergräbt ihre Nase wieder in Kimmys Haaren. Betty schließt die Augen. Sie überlegt fieberhaft, wie sie ihr helfen könnte. „Und ich habe gedacht, er mag mich wirklich…“, schluchzt Kimmy leise in den Stoff von Bettys Oberteil hinein. Betty streicht ihr immer noch über den Rücken.
„Schsch…“, macht sie leise und schließt die Augen wieder.
„Er ist so ein Arschloch!“ Kimmy lehnt immer noch an Bettys Schulter und ballt eine Hand zur Faust. Betty nickt sanft.
„Ich habe wirklich nicht gedacht, dass er so etwas wirklich macht!“ Bettys Körper spannt sich an, als sie diesen Satz sagt. Kimmy hebt den Kopf und sieht ihre Freundin an.
„Ich auch nicht.“ Sie schließt die Augen. Aus ihren Augenwinkeln laufen die Tränen. Sie lässt sich nach links auf ihr Kopfkissen fallen und vergräbt das Gesicht darin. Betty krabbelt um ihre Freundin herum und legt ihren Kopf langsam auf das Kissen direkt neben Kimmys Kopf. Kimmy hebt den Kopf und sieht ihre Freundin an. Diese hebt eine Hand und streicht mit zwei Fingern die Tränen von Kimmys Wangen. Langsam legt Kimmy ihren Kopf wieder auf das Kissen und sieht ihre Freundin lange an. „Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn Jez nie hergezogen wäre...“ Sie senkt die Augenlider. Betty dreht eine Haarsträhne, die aus Kimmys Zopf heraus gerutscht ist, langsam um einen Finger. „Dann hätte ich mich nie in ihn verlieben können…“ Kimmy schließt die Augen. Eine letzte Träne bahnt sich den Weg aus ihrem Augenwinkel hinaus. Betty rutscht näher an sie heran und gibt ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Sie schweigt, genau wie Kimmy. Langsam setzt sich Betty auf. Kimmy bettet ihren Kopf auf dem Bauch ihrer Freundin und schießt die Augen. „Warum verliebe ich mich ausgerechnet in die größten Arschlöcher?“ Betty zieht das Haargummi aus Kimmy gewellten Haaren und streicht sie sanft über die Schulter ihrer Freundin.
„Ich weiß es nicht…“, murmelt sie leise und streicht nachdenklich durch Kimmys Haar. „Aber er hat dich ganz und gar nicht verdient!“
Nach einer ganzen Weile hält Betty inne und runzelt die Stirn. Sie streicht Kimmys Haare zur Seite, sodass sie die Haut an Kimmys Hals sehen kann. Mit zwei Fingen streicht sie darüber, dann setzt sie sich auf. Kimmy öffnet sie Augen und sieht ihre Freundin fragend an, als diese über sie klettert, sie vom Bett hochzieht und sie dann zu dem großen Spiegel an Kimmys Schrank schiebt. Kimmy sieht irritiert ihr Spiegelbild an. Was will Betty denn jetzt? Ihr zeigen, wie fertig sie aussieht? Danke, dass weiß sie auch so! Betty brennt jedoch etwas anderes auf der Seele, denn sie streicht mit der linken Hand Kimmys glänzenden Haaren über die Schulter. Kimmy verzieht das Gesicht und fährt dann über den dunklen Fleck an ihrem Hals.
„Das ist nicht sein Ernst, oder?“ Betty sieht ihrer Freundin, durch das Spiegelbild, hindurch in die Augen.
Jez starrt über den See. Er lässt einige der kleinen Kieselsteinchen durch seine Finger gleiten und dreht dann seinen Kopf Max zu.
„Und was hätte ich deiner Meinung nach machen sollen?“ Max seufzt, sieht über den See und zuckt die Schultern. Jez wendet den Kopf wieder ab und dreht eines der Steinchen zwischen seinen Fingern. Warum läuft eigentlich gerade alles so beschissen?
„Um ehrlich zu sein verstehe ich nicht, warum Kimmy so viel getrunken hat. Ich habe sie noch nie so erlebt.“ Jez sieht wieder zu seinem Freund herüber und seufzt. „Wenn sie irgendwie einen zweiten Sekt getrunken hat, war das schon viel.“
„Ich verstehe nicht, warum sie denkt, dass ich sie ausgenutzt hätte. Ich hätte mit ihr schlafen können, aber ich habe es nicht gemacht…“ Er sieht wieder über das ruhige Wasser und senkt dann für einen Moment die Augenlider. Max stützt sich mit den Unterarmen auf seinen Knien ab und lässt langsam die Luft zwischen den Lippen entweichen.
„Manchmal glaube ich, dass Kimmy die Menschen, die beginnen, ihr etwas zu bedeuten, zurückweist…“ Jez öffnet die Augen wieder und sieht Max dann lange von der Seite an.
„Wie meinst du das?“ Max löst seinen Blick von dem eigentlich traumhaften Anblick des Sees und sieht dann seinem Freund in die Augen.
„Kimmy…“ Er seufzt einmal und sieht Jez dann wieder in die Augen. „Sie hatte einen Zwillingsbruder. Er ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall gestorben und sie war dabei.“ Jez setzt sich aufrechter hin und sieht Max dann ein wenig verstört an.
„Was?“ Er weiß, dass er seinen Freund richtig verstanden hat, doch das, was Max ihm gerade gesagt hat, ist noch nicht wirklich hundertprozentig in seinem Gehirn angekommen.
„Er hieß Lennard und er hat mit mir Handball gespielt.“ Max bricht ab, wendet den Kopf von Jez ab, schließt die Augen und öffnet sie fast augenblicklich wieder, bevor er ein paar Mal blinzelt. Jez schluckt die Frage, die ihm auf der Zunge brennt, hinunter. Kimmy hatte einen Bruder? Warum hat niemand auch nur ein Wort von ihm gesagt? „Du bist ihm wahnsinnig ähnlich. Vom Charakter her...“ Max sieht Jez in die Augen. „Ich glaube, Kimmy hat in dir eine Person gefunden, die ihr helfen kann, irgendwie von ihm loszukommen. Sie hat es nie gesagt, aber ich glaube, sie leidet noch immer wahnsinnig unter seinem Tod.“ Max bricht wieder ab und wendet den Kopf ab. „Ich glaube, dass sie wahnsinnig verletzt ist. Sie hat sich seit Lennards Tod total verändert. Sie ist viel ruhiger und zurückhaltender geworden und denkt immer dreimal nach, bevor sie irgendetwas sagt oder macht. Früher hat sie immer erst etwas gemacht und danach nachgedacht. Wenn es Ärger gab und auch Lennard nicht mehr wusste, wie er sie verteidigen sollte, ist sie so lange untergetaucht, bis der größte Ärger wieder verdampft war. Und jetzt hat sie, glaube ich, Angst davor, einen Menschen zu lieben und diesen dann wieder zu verlieren. Verstehst du mich?“ Jez wendet den Blick ab und schluckt einmal, bevor er die Augenlider ein wenig senkt und dann, kaum wahrnehmbar aber ehrlich nickt. Kimmy hatte einen Bruder. Einen Bruder, den sie so sehr geliebt hat, wie er Jeremy liebt. Jez will sich gar nicht vorstellen, was er machen würde, wenn er Jeremy beim Sterben zusehen müsste. Er kann sich nicht vorstellen, Jeremy beim Sterben zusehen zu müssen! „Kimmy liebt dich, Jez. Sie hat sich noch nie einem Jungen gegenüber so verhalten wie dir. Gerade die Sache mit deinem Handy… Ich kenne keinen anderen Jungen, für den sie nur einen Gedanken für so eine Situation verschwendet hätte.“ Max macht eine Pause und sieht nachdenklich auf die Kieselsteine vor seinen Füßen. „Sie glaubt, dass du sie ausgenutzt hat. Es ist genau das eingetroffen, wovor sie sich die ganze Zeit versucht hat, zu schützen.“ Jez sieht über den See hinweg, schließt die Augen und atmet leise durch den Mund ein und aus.
„Danke…“, murmelt er leise.
„Wofür?“ Jez öffnet die Augen und sieht seinen Freund aus dem Augenwinkel aus an. Max wendet den Kopf von ihm ab, doch Jez kann genau erkennen, wie sehr er grade, als er von Kimmys Bruder gesprochen hat, mit sich selbst gerungen hat.
„Dass du mir von ihrem Bruder erzählt hast.“ Max wendet den Kopf ganz langsam Jez zu und sieht ihm einfach nur in seine grünen Augen.
„Eigentlich sollte ich es dir nicht sagen. Kimmy mag es nicht, bemitleidet zu werden. Aber ich glaube, du bist einer von denen, die es einfach wissen müssen.“ Jez zwingt sich zu einem aufmunternden Lächeln sieht dann wieder über das stille Wasser des Sees. „Nur so kannst du ihr irgendwie helfen.“
***
Kimmy zieht die Ärmel des beigen Sweatshirts fröstelnd über die Hände. Mit einer Hand drückt sie das eiserne Friedhofstor auf, in der anderen hält sie eins der Körbchen mit bunten Primeln, die sie immer und immer wieder mit auf den Friedhof nimmt. Das Tor quietscht wie immer entsetzlich, doch Kimmy nimmt es gar nicht richtig wahr. Die letzte Nacht hat sie fast nicht geschlafen, ist erst von ihrem allnächtlichen Traum geweckt wurden und dann, als sie noch einmal eingeschlafen ist, von einem weiteren Traum. Obwohl, es war kein Traum. Es war die Realität, die sie bis in die Träume mit verfolgt hat! Leise geht Kimmy über die Wege zwischen den vielen Gräbern hindurch.
Die Geburts- und Todesdaten auf den Grabsteinen versetzten ihr, wie immer, wenn sie hier ist, einen Stich ins Herz. Warum musste Lennard so jung sterben? Warum hat es ausrechnet ihn erwischt? Vor dem Grab mit dem hellen Grabstein, in den
Lennard Beck
5. September 1997 – 21. Mai 2009
eingemeißelt ist, bleibt sie stehen. Kimmy geht in die Hocke und lässt ihren Blick über das gesamte Grab wandern. Warum muss hier, unter dieser Erde, ihr Bruder begraben liegen? Warum könnte nicht jemand anderes genau hier, unter dieser Erde liegen? Sie schließt die Augen und unterdrückt die aufsteigenden Tränen. Sie darf jetzt nicht weinen! In den letzten vierundzwanzig Stunden hat sie das schon genug getan! Wegen eines Jungens, der keine ihrer Tränen wert ist!
Obwohl keine der Tränen über ihre Wange läuft, wischt Kimmy mit ihrem Sweatshirtärmel über ihre Wangen knabbert dann ein wenig auf den weichen Stoff herum. Warum Lennard? Warum niemand anderes? Warum nicht sie? Kimmy stellt die Blumen neben sich auf das noch taunasse Gras und erhebt sich dann wieder. Sie sammelt die Blätter, die trotz des Jahreszeit schon einzeln von den großen Bäumen gefallen sind, von der dunklen Boden und zupft dann das bisschen Unkraut, dass seit ihrem letzten Besuch gewachsen ist, aus der Erde. Beides wirft sie neben das Grab ihres Bruders und holt dann die kleine Schaufel hinter dem Grabstein hervor.
Als sie den kaputten Blumen aus der Erde gräbt, schweifen ihre Gedanken immer wieder ab. Warum hat Jez sie so eiskalt hintergangen? Warum hat sie sich von ihm so eiskalt hintergehen lassen? Kimmy blickt auf die kaputte Blume in ihrer Hand. Sie zwingt sich dazu, nicht mehr über Jez nachzudenken. Nicht hier, wo sie eigentlich an ihren Bruder denken soll.
Warum musste ausgerechnet Lennard sterben? Er hätte zwar nichts an ihrer jetzigen Situation ändern können, aber er wäre für sie da… Kimmy schluckt den Kloß, der sich in ihrem Hals immer dann bildet, wenn sie die Tränen zurückhält, herunter und sticht mit der Schaufel einige kleine Löcher in die feuchte Erde, in die sie die neuen, bunten Primeln hineinsetzt. Aber wirklich, wenn Lennard noch am Leben wäre… er könnte sie in den Arm nehmen, sie trösten. Jez sagen, was er von ihm hält! Kimmy rammt die Schaufel in den Boden und lässt sich langsam nach hinten in das noch immer nasse Gras fallen. Sie schlingt die Arme um die Knie und drückt ihr Gesicht in den Hohlraum zwischen ihrem Oberkörper und ihren Knien. Warum kann Lennard nicht mehr hier sein? Warum muss die ganze Welt so ungerecht sein? Warum sterben die Besten zuerst? Kimmy sieht keinen Grund mehr, die Tränen zurückzuhalten. Als die erste Träne von ihrer Wange auf ihre dunkle Jeans tropft, schluchzt sie leise auf.
„Warum ist die ganze Welt zu unfair?“, murmelt Kimmy leise, obwohl sie weiß, dass ihr niemand antworten wird. Umso mehr erschreckt sie sich, als sie doch eine bekommt.
„Das frage ich mich auch manchmal…“ Kimmy hebt den Kopf und wischt sich die Tränen von den Wangen, bevor sie die Person vor sich erkennt. Frau Winge, eine Oma, Mitte sechzig, relativ klein, aber mit riesigem Herz. Sie hat früher nur wenige Häuser weiter gewohnt – um genau zu sein in dem Haus, in dem Jez jetzt mit seiner Mutter wohnt - und ist erst nach dem Tod ihres Mannes vor knapp zwei Jahren in eine kleine Wohnung in Achern gezogen. Vor Lennards Tod hat sie manchmal auf ihn und Kimmy aufgepasst, wenn ihre Eltern sie darum gebeten haben. Nun steht die kleine Frau mit einem bunten Strauß Blumen in der Hand vor der Grabstätte direkt neben Lennards Grab und sieht Kimmys traurig aus ihren kleinen, grünlichen Augen an. „Aber ich glaube, es gibt keine Antwort darauf…“ Sie wendet den Blick von Kimmy ab und sieht traurig auf den Grabstein vor sich, auf dem dick der Name ihres verstorbenen Mannes steht. Kimmy erhebt sich langsam. Sie zieht das Sweatshirt über den Po und bückt sich dann, um die Schaufel aus der Erde zu ziehen und sich danach wieder aufzurichten. „Es erwischt immer die, die es nicht verdient haben.“ Kimmy sieht wieder nach rechts und zuckt beinahe ein zweites Mal zusammen, als Frau Winge direkt neben ihr steht und das Grab ihres Bruders betrachtet. Egal, wie dumm es vielleicht klingen mag, aber Kimmy hat, immer wenn die Frau in ihrer Nähe ist, das Gefühl, einen Menschen bei sich zu haben, der ihre Trauer als einziger richtig verstehen kann. „Es gibt nichts auf der Welt, was fair ist.“ Kimmy nickt ganz sachte zustimmend und schließt die Augen. Sie weiß schon lange, dass die gesamte Welt unfair ist, doch auch jetzt treibt ihr die Erkenntnis die Tränen wieder in die Augen.
„Leider…“, murmelt sie leise und öffnet die Augen wieder, als das Brennen der Tränen langsam abebbt. Sie lächelt Frau Winge sanft zu, obwohl die Tränen wieder beginnen in ihren Augen zu brennen. Die kleine Frau legt Kimmy sanft eine Hand auf den Rücken und sieht traurig auf das Grab vor sich. Sie steht einfach nur schweigen neben Kimmy und denkt wohl auch gerade darüber nach, warum die Welt so unfair ist…
***
Jez liegt auf seinem Bett und starrt an die Decke. Kimmy hatte einen Bruder. Er ist vor fünf Jahren gestorben… Er hat mit Max Handball gespielt… Jez setzt sich auf und runzelt die Stirn. Er hat mit Max Handball gespielt…?! Er war auch ein Einlaufkind beim Final Four 2009! Langsam lehnt er sich mit dem Rücken an die Wand, schließt die Augen und konzentriert sich. Im Kopf geht er all die Gesichter, die er vom Final Four 2009, bei dem auch er in Einlaufkind war, durch, die ihm noch einfallen. Einige Jungs, mit denen er jetzt Handball spielt, waren 2009 auch dabei und auch einige, die jetzt nicht mehr in der Mannschaft sind. Auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, ihm fällt einfach kein Gesicht zu dem Namen Lennard ein. Nur das Gesicht eines Jungens, mit dem er in den Ferien hier oft gespielt hat, schiebt sich für einen Moment vor sein Inneres Augenlid.
Entschlossen steht Jez von seinem Bett auf, setzt sich auf seinen Schreibtischstuhl und fährt seinen Laptop hoch. Als der Laptop das Wlan erkennt, öffnet Jez Firefox und klickt dann auf Google. „Unfall Fautenbach 2009“, gibt er ein und wartet, bis Google einige Website-Vorschläge bringt. Mit gerunzelter Stirn scrollt Jez ein wenig herunter und liest die Überschriften der Links, eine nach der anderen, durch. Bei „Tragischer Unfall auf der B36 – Elfjähriger verstirbt noch am Unfallort!“ bleibt Jez hängen und rechnet zurück. 2009 waren Kimmy und ihr Bruder genauso wie er selbst elf Jahre alt, wobei Jez anders als Kimmy schon im Februar und nicht erst im September Geburtstag, dann klickt er auf den Link und wartet, bis die Website sich vollständig aufgebaut hat.
22. Mai 2009
Tragischer Unfall auf der B36 – Elfjähriger verstirbt noch am Unfallort!
Am vergangenen Dienstagnachmittag ereignete sich ein tragischer Unfall zwischen einem Autofahrer und einem Elfjährigen, der diesen mit seinem Leben bezahlte.
Am vergangenen Dienstagnachmittag wollte der Elfjährige Junge zusammen mit einem weiteren gleichaltrigen Kind die Bundesstraße 36 überqueren. Der Junge wurde von einem heranrasenden Auto erfasst und schwer verletzt. Als die Notärzte eintrafen, konnten sie nur noch den Tod des Kindes feststellen.
Der Fahrer des Unfallwagens floh und wird von der Polizei gesucht! Bei Informationen melden sie sich bitte bei ihrer nächsten Polizeistelle oder unter der Nummer 0801/913542
Der genaue Unfallhergang ist noch unklar und wird nun von der örtlichen Polizei ermittelt.
Jez liest den Zeitungsbericht noch ein zweites Mal durch. Als die Notärzte eintrafen, konnten sie nur noch den Tod des Kindes feststellen… Langsam scrollt Jez wieder an den Anfang des Berichts und entdeckt klein das Datum am rechten, oberen Bildschirmrand. 22. Mai 2009. Langsam pustet er die Luft aus dem Mund, lehnt sich nach hinten, gegen die Lehne seines Stuhl und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Kimmys Bruder ist zehn Tage vor dem Final Four gestorben. Kein Wunder, dass ihm kein Gesicht zu diesem Namen einfällt... Jez legt beide Hände wieder auf die Tastatur seines Laptops und überlegt einen Moment. Dann öffnet er ein weiteres Tab und öffnet die Website des SuS Achern. Mit den Augen sucht er die Register ab, bis er das Bilderarchiv gefunden hat. Mit zwei Mausklicks öffnet er das Register des Jahrgangs ‚1996/1997 Handball Jungen‘ und scrollt wieder hinunter, bis er beim Mannschaftsbild der Saison 2008/2009 angelangt. Einen Moment wartet Jez, bevor er auf das Bild klickt, sodass es größer wird. Unter dem Bild sind klein die Namen der Jungen, in der richtigen Reihenfolge, aufgelistet. Jez lässt seinen Blick über die Namen wandern. ...Tom Meller, Max Leonhard, Lennard Beck,… Jez zählt die Namen durch und dann auf dem Bild die Jungen, bis er an einem kleinen, blonden Jungen mit braunen Augen hängen bleibt. Obwohl er Kimmy kaum ähnlich sieht, weiß Jez, dass er ihn schon einmal gesehen hat. An den Gesichtszügen erkennt man, dass er Kimmys Bruder sein muss. Sonst hat er, mit dem blonden Haaren aber keine Ähnlichkeit mit Kimmy. Jez wendet den Blick von dem Bild ab und stützt ein Kinn auf die Hand. Er will sich gar nicht vorstellen, wie Kimmy sich gefühlt haben muss…
***
Kimmy sitzt mit dem Laptop auf den Knien auf ihrem Bett und versucht sich auf den Film ‚Das Schicksal ist ein mieser Verräter‘ zu konzentrieren. Eigentlich einer der ungeeignetsten Filme jetzt gerade, aber Kimmy hat sich vorgenommen, ihn zu sehen und deshalb versucht sie es jetzt. Trotzdem driftet sie mit den Gedanken immer wieder ab. Zu Jez… Warum hat er sie nur so eiskalt ausgenutzt? Warum ist ausgerechnet er einer von diesen Jungs? Warum verliebt sie sich ausgerechnet noch in ihn? In ein Arschloch! In einen Jungen, der nur das eine von den Mädchen will! Enttäuscht streicht sich Kimmy mit zwei Fingern langsam über die Hand. Als es an der Tür klopft hebt sie nicht einmal den Blick.
„Hmm…“, macht sie nur. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen öffnet Kimmys Mutter die Tür, schließt sie hinter sich wieder und setzt sich dann auf die Bettkante von Kimmys Bett. Diese hebt nun doch den Kopf und stoppt, indem sie die Leertaste an ihrem Laptop drückt, den Film. Sie sieht ihre Mutter fragend an und schiebt ihren Laptop dann von den Knien auf die Matratze. Kimmys Mutter sieht ihrer Tochter in die Augen.
„Ich muss mal mit dir reden, Kimmy.“ Kimmy hebt die Augenbrauen, setzt sich dann auf und sieht ihre Mutter dann aufmerksam an. „Bei wem warst du nach der Party?“ Ohne dass sie merkt, werden Kimmys Gesichtszüge sofort härter.
„Warum willst du das wissen?“ Kimmys Mutter seufzt, als sie die Abwehrhaltung ihrer Tochter bemerkt. Sie lächelt sanft und greift dann nach Kimmys rechter Hand.
„Ich bin deine Mutter. Ich will doch nur, dass es dir gut geht!“ Nur schwer kann sich Kimmy ein ‚Pff‘ unterdrücken. Sie weiß selber, dass das nicht fair ihrer Mutter gegenüber wäre, aber ein bisschen Privatsphäre darf doch jeder noch haben!
„Ist doch egal!“ Kimmy entzieht ihrer Hand ihrer Mutter und wendet den Blick ab.
„Ist es nicht, Kimmy! Ich will doch nur wissen, ob dein Vater recht hat mit dem, was er gestern gesagt hat!“ Kimmy schluckt hart, da die Tränen wieder versuchen, in ihre Augen zu steigen. Sie zieht die Knie an, schlingt die Arme darum und bettet ihr Kinn auf den Knien.
„Keine Ahnung…“, murmelt sie leise und erschrickt dann, als sie feststellt, da sie das wirklich laut gesagt hat. Für einen Bruchteil einer Sekunde hebt sie den Blick und sieht, wie ihre Mutter die Stirn in Falten gelegt hat und ihre Tochter besorgt mustert. Kimmy löst die Umklammerung von ihren Beinen und erhebt sich von ihrem Bett. Sie geht langsam durchs Zimmer, den Rücken ihrer Mutter zugewandt, sodass diese ihr Gesicht nicht sehen kann. „Ja, ich weiß nichts mehr! Ja, ich habe zu viel getrunken! Ja, ich habe einen Filmriss! Ja, ich weiß, dass ihr mir tausend Mal gesagt habt, dass ich auf Partys nichts trinken soll! Und… ja, ich weiß nicht, ob ich mit Jez geschlafen habe oder nicht!“ Für den letzten Satz könnte Kimmy sich wieder einmal selbst ohrfeigen. Sie hält die Luft an und schließt die Augen. Die aufsteigenden Tränen brennen wie Feuer in ihren Augen. Sosehr sie auch dagegen ankämpft, Kimmy schafft es nicht, sie zurückzuhalten. Als ihr die erste Träne über die Wange rollte, vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen und atmet ganz langsam aus.
„Kimmy…“ Die Stimme ihrer Mutter klingt viel sanfter und näher, als Kimberly erwartet hat. Sie nimmt die Hände von ihrem Gesicht und dreht sich um. Die braunen Augen ihre Mutter glänzen ein wenig, als sie eine Hand hebt, ihrer Tochter durchs Haar streicht und sie langsam in den Arm nimmt. Kimmy lehnt ihren Kopf gegen die Schulter ihrer Mutter und lässt die Tränen über die Wangen laufen. „Schsch…“, macht ihre Mutter leise, als würde sie nicht ihre sechzehnjährige Tochter in den Armen halten, sondern, wie damals, als sie selbst weinend im Krankenhaus saß, als Lennard gestorben ist, ihre elfjährige Tochter. Sie wiegt Kimmy leicht nach rechts und links und streicht ihr durchs Haar.
Für Kimmy ist es ein befreiendes Gefühl, vor ihrer Mutter zu weinen und zu spüren, dass diese nur möchte, dass ihre Tochter keinen Kummer hat. Sonst hat sie ihren Kummer immer vor ihr versteckt und auch jetzt, wenn sie sie auf Lennard ansprechen würde, würde sie ihren Eltern nicht sagen, wie sehr sie ihren Bruder noch immer vermisst.
Als die letzte Träne aus Kimmys Augenwinkel gerollt ist, löst sie sich aus der Umarmung und fährt sich mit dem Pulloverärmel über das noch tränennasse Gesicht. Ihre Mutter streicht ihr noch einmal über die nun ein wenig unordentlich liegenden Locken, bevor Kimmy sich auf ihrem Bett niederlässt, sich an das große Kopfkissen lehnt und die Knie wieder anzieht. Kimmys Mutter setzt sie auf die Bettkante ihrer Tochter und mustert sie mit einem bedrückten Gesichtsausdruck.
„Ich habe gedacht, Jez mag mich wirklich… Aber er wollte nur mit mir schlafen…“, murmelt Kimmy leise und bettet ihr Kinn wieder auf den Knien. Eigentlich redet wohl kein Mädchen mit der eigenen Mutter über Jungs, aber das ist Kimmy gerade komplett egal. Sie hebt den Blick nicht, als ihre Mutter leise seufzt und nach der Hand ihrer Tochter greift.
„Ich glaube nicht, dass er einer von dieser Sorte Jungs ist.“ Erstaunt hebt Kimmy den Kopf. Sie sieht ihre Mutter fragend an.
„Du kennst ihn doch gar nicht…“ Sie bettet ihr Kinn wieder auf den Knien, als ihre Mutter neben ihre Tochter rutscht und ihr sanft über den Rücken streichelt.
„Ich weiß. Aber seine Mutter arbeitet seit sie hierher gezogen sind auch im Krankenhaus… und nach dem, was sie sagt, ist er nicht so.“ Kimmy sieht ihre Mutter von der Seite an und kuschelt sich dann in ihren Arm.
„Mütter erzählen doch immer nur Gutes über ihre Kinder…“ Kimmy schließt die Augen und seufzt leise. Mit den Fingern fährt ihre Mutter Kimmy langsam durch das offene Haar und gibt ihr einen Kuss darauf.
„Weißt du, Kimmy, Jez hat es momentan nicht leicht. Seine Eltern haben sich gerade getrennt, sein kleiner Bruder ist bei seinem Vater geblieben, er ist in ein ganz anderes Umfeld gezogen…“ Kimmy dreht eine Haarsträhne, die einsam über ihre Stirn fällt, zwischen zwei Fingern. Dann hat es Jez eben momentan nicht leicht! Sie hat es schon seit ganzen fünf Jahren nicht leicht und keiner sieht ihren Kummer! Er hat, auch wenn er es momentan nicht leicht hat trotzdem nicht das Recht sie eiskalt auszunutzen!
„Deshalb hat er noch lange nicht das Recht, mich eiskalt auszunutzen!“ Sauer setzt Kimmy sich auf und sieht ihre Mutter mit glitzernden Augen an.
„Das habe ich doch gar nicht gesagt, Kimmy!“ Trotzig verschränkt Kimmy die Arme vor der Brust.
„So hast du es aber gemeint!“ Kimmy erhebt sich von ihrem Bett. „Lass mich einfach in Ruhe!“ Ihre Mutter tut es ihr gleich und will nach der Hand ihrer Tochter greifen, doch Kimmy zieht sie weg. „Lass. Mich. In. Ruhe.!“ Beschwichtigend hebt ihre Mutter die Hände. „Bitte!“ Kimmy ist konzentriert darauf, nicht flehend zu klingen. Sie hält die Luft an, als ihre Mutter die Hände wieder sinken lässt und sich dann umdreht. Normalerweise gibt ihre Mutter nicht einfach so nach. Leise schließt diese die Zimmertür hinter sich. Ganz stillstehend lauscht Kimmy, bis sie die Schritte auf der Treppe hört, die Augen schließt, die Hände wieder auf das Gesicht presst und sich dann bäuchlings auf das Bett wirft. Sie spürt die heißen Tränen über ihre Wangen laufen, als sie stumm auf dem Bett liegt. Ist das jetzt wirklich wahr? Will ihre Mutter ihr wirklich einreden, dass Jez das Recht hat, sie eiskalt auszunutzen?!
Jez dreht sich auf den Bauch und vergräbt sein Gesicht in seinem Kissen. Er wälzt sich schon seit gefühlten Stunden in seinem Bett hin und her und denkt über Kimmy nach. Wenn das, was Max gesagt hat, dass er für Kimmy wichtig geworden ist, wahr ist, kann er sie vielleicht sogar ein bisschen verstehen. Er würde sich, wenn er Kimmy wäre, bestimmt auch total unsicher fühlen und versuchen, eine eigene Antwort auf seine Fragen zu finden. Jez dreht sich wieder auf eine Seite, zieht die Knie an und schließt die Augen. Das Gefühl, Kimmy etwas zu bedeuten, fühlt sich irgendwie gut und richtig an. Ohne es zu merken, muss Jez lächeln. Kimmy etwas zu bedeuten… Dass sie sauer auf ihn ist, kann Jez trotzdem nicht verdrängen. Wie kann er ihr nur beweisen, dass er nicht mit ihr geschlafen hat? Wie kann er ihr zeigen, dass sie ihm etwas bedeutet? Weil sie ihm etwas bedeutet! Ja, Kimmy bedeutet ihm etwas! Jez setzt sich auf, nur um sich wenige Sekunden später wieder in sein Kissen sinken zu lassen. Ist es vielleicht sogar das gleiche Gefühl, das er auch bei Manda, seiner Exfreundin, verspürt hat? Den Drang, immer für sie da zu sein, auf sie aufzupassen und sie immer in den Arm nehmen zu dürfen…. Jez seufzt leise und schließt die Augen. Er sieht Kimmy wieder vor sich. Wie sie ihn aus glasigen Augen ansieht! Wie sie ihre Lippen auf seine drückt! Wie sie sich an ihn kuschelt, bevor sie einschläft. Jez kann eigentlich nur seinen eigenen Atem hören, aber trotzdem hat er das Gefühl, auch sein eigenes Herz schlagen zu hören. Ja, es ist dasselbe Gefühl wie bei Manda! Langsam öffnet Jez die Augen wieder und dreht sich dann auf die Seite. Er zieht die Decke enger um seinen Körper und schließt die Augen wieder. Ja, es hat gestimmt, was er zu Kimmy in der vorletzten Nacht gesagt hat. Er liebt sie!
***
Mit den Augen sucht Kimmy noch einmal ihren Schreibtisch nach ihrem Schlüssel ab. Er kann doch nicht einfach verschwunden sein! Aber wenn sie jetzt noch länger mit Suchen verbringt, verpasst sie den Bus… Seufzend greift sie nach ihrer Tasche und läuft dann eilig, ohne ihren Schlüssel, die Treppe hinunter. Kimmy schlüpft in ihre Schuhe und kontrolliert dann ein letztes Mal, ob ihre Haare wirklich richtig über dem Knutschfleck, den sie versucht hat, erfolglos mit Make-Up zu überdecken, liegen und ihn verdecken, bevor sie die Haustüre öffnet und das Haus verlässt. Eilig überquert sie die Straße und steckt sich dann die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren. Das Lied „Jar of Heats“ von Christina Perri ertönt. Kimmy weiß selbst nicht, warum sie es auf ihrem Handy hat. Sie verlangsamt ihre Schritte ein wenig und passt ihre Geschwindigkeit unbewusst dem Rhythmus des Liedes an. Mit der Hand fährt sie unter ihre braunen, gewellten Haare und berührt die Haut an ihrem Hals. Warum hat Jez ihr den Knutschfleck eigentlich gemacht? Will er unbedingt, dass jeder sieht, dass er es geschafft hat, mit ihr zu schlafen? Aber… ein Knutschfleck ist doch eigentlich kein Beweis dafür, oder?
Mittlerweile hat Kimmy den Busbahnhof erreicht und kann in den Bus, der schon an der Haltestelle steht, gleich einsteigen. Sie zieht, als sie am Busfahrer vorbeigeht, die Monatsfahrkarte aus der Tasche und schiebt sich dann durch den Gang, bis sie noch einen freien Platz findet. Kimmy lässt sich auf den Sitz fallen und schließt die Augen. Erst, als jemand ihre Haare streift öffnet sie die Augen. Romy steht neben ihr und hält sich an ihrem Sitz fest, als der Bus losfährt. Mit dem Kabel ihrer Kopfhörer ist sie irgendwie in Kimmys Haaren hängen geblieben und schiebt sie beiseite. Für einen Moment kräuselt Romy verwirrt die Stirn, dann beginnt sie fragend zu grinsen. Energisch zieht Kimmy das Kabel aus ihren Haaren, legt sie wieder über die Schulter, wendet den Kopf ab und stellt die Musik auf ihrem Handy auf volle Lautstärke. Warum hat Romy den Knutschfleck sofort entdeckt?! Im Stillen zwingt sie Kimmy dazu, nicht darüber nachzudenken. Sie lauscht lieber der Musik. „Who do you think you are? Who do you think you are?” Was glaubst du, wer du bist? Der Text trifft gerade total zu. Was glaub Jez, wer er ist? Denkt er, er kann einfach mit ihr schlafen und sie verkriecht sich danach? Ein Kampfgeist erwacht in Kimmy. Was glaub Jez von sich?! Sie wird ihm später sagen, was sie von ihm hält! Dass schafft sie auch alleine. Ohne Lennard!
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In den ersten zwei Schulstunden bespricht Herr Renner mit der Klasse die Aufgaben des Kurztests, den er vor einer Woche mit der Klasse geschrieben hat. Da Jez bis auf zwei Flüchtigkeitsfehler alles richtig hat, sieht er sich nicht verpflichtet, dem Lehrer zuzuhören. Er beobachtet lieber Kimmy. Sie sitzt drei Plätze weiter links vor ihm und dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Aufmerksam folgt sie dem Vortrag des Lehrers und lehnt sich nur ab und an zu Betty herüber, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, worauf diese immer nur mit den Schultern zuckt. Ihre gewellten Haare liegen über ihrer Schulter und glänzen ein wenig in der Sonne, die durch eins der Klassenzimmerfenster in den Raum fällt. Ihre Augen sind kaum geschminkt, soweit Jez es beurteilen kann, strahlen aber trotzdem irgendwie. Ihre Lippen schimmern ein wenig rosa, als sie beginnt, an einem Ende ihres Kugelschreibers zu knabbern. An sich sieht sie glücklich aus. Sie sieht glücklich aus? Vor drei Tagen hat sie ihm noch, mit Tränen in den Augen gesagt, was für ein Arschloch er sei und dass sie dachte, er wäre anders und jetzt sieht sie glücklich aus? Vielleicht ist es ihr ja egal, ob er nun ein Arschloch ist oder nicht? Vielleicht würde sie sich so und so nicht für ihn interessieren?! Beunruhigt malt Jez kleine Kreise auf seinen Collegeblock, der geöffnet vor ihm liegt. Der Gedanke, dass Kimmy sich vielleicht gar nicht für ihn interessiert, ist für Jez, nachdem er sich selbst gestanden hat, dass er sie liebt, kaum ertragbar. Erst, als Max Jez den Ellbogen unsanft gegen den Arm rammt, hebt er den Blick von seinem Block und sieht seinen Freund an. Vor ihm liegen Jez und sein eigener Test. Mit der Spitze seines Stifts tippt er auf die zweite Aufgabe.
„Ich raff die immer noch nicht“, murmelt er leise und sieht Jez hilfesuchend an. Dieser lehnt sich ein wenig zur Seite und liest sich die Aufgabe noch einmal durch.
2) Bestimme mit Hilfe des Newton-Verfahrens eine Nullstelle der Funktion f(x)=x5+2x2-13 auf 2 Nachkommastellen genau.
Startwert: x0 = 1,5
„Bevor du die Aufgabe nur Max erklärst, kannst du sie gerne allen erklären!“ Jez zuckt zusammen und sieht dann nach vorne. Herr Renner sitzt an seinem Lehrerpult und sieht ihn fordernd an. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du sie richtig hast.“ Jez seufzt und zieht seinen Test zu sich heran. Er hat eigentlich überhaupt keine Lust, sein Gehirn jetzt auf Mathe zu schalten. Kurz überfliegt er noch einmal die Zahlen und Formeln, die nicht wirklich leserlich auf seinem Blatt stehen, bevor er mit der Erklärung ansetzten will, doch Herr Renner unterbricht ihn. Er klopft mit einem Whiteboardmarker auf das Pult und dirigiert Jez dann noch vorne.
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In der Pause steuert Kimmy zielsicher auf die Gruppe Mädchen, die zum großen Teil aus den Mädchen ihrer Hockeymannschaft besteht, zu. Sie hat jetzt keine Lust, Jez gegenüber zu stehen und seine Blicke auf sich zu spüren. In den ersten zwei Stunden, im Matheunterricht, hat er sie auch die ganze Zeit beobachtet und anscheinend gedacht, sie würde es nicht merken.
Kimmy stellt sich Neah, ein Mädchen mit rötlichen Haaren, die wunderbar zu ihren dunklen Augen passen. Noch bevor Kimmy dem Gespräch folgen oder etwas sagen kann, kommt Romy quer über den Schulhof auf sie zugelaufen und zieht sie ein wenig unsanft von der Gruppe weg. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt sanft, als sie sich einige Schritte von der Gruppe entfernt und mit der Hand Kimmy Haare von der Schulter schiebt, sodass sie den Knutschfleck auf ihrem Hals sichtbar machen. Romy sieht Kimmy aus ihren blauen, strahlenden Augen in ihre Augen.
„Sag nicht, dass du am Freitag so voll warst, dass du einfach mit Jez rumgeknutscht hast. Oder seid ihr zusammen?“ Ihre blauen Augen glänzen ein wenig in der Sonne. Absichtlich drückt Kimmy ihre Hand unsanft weg und legt ihr Haare wieder über ihren Hals. Es muss ja nicht jeder sehen, dass Jez sein Ziel erreicht hat!
„Ich…“, beginnt sich Kimmy zu verteidigen, bricht dann aber ab und weicht Romys Blick aus. „Habe ich mich wirklich so an Jez rangemacht, wie er gesagt hat?“ Zögerlich hebt Kimmy den Blick wieder und sieht Romy an. Romy geht einen Schritt nach hinten und streicht die Haare, die aus dem Haargummi gerutscht sind, wieder zu den anderen. Sie verzieht ein wenig mitleidig das Gesicht.
„Weißt du überhaupt noch was von dem Abend?“ Kimmy beißt sich auf die Unterlippe und senkt den Blick wieder. Das ist für Romy Antwort genug. „Jez hat gemerkt, dass du nicht mehr sicher alleine stehen konntest. Er hat Max irgendwas gefragt und ist dann mit dir nach draußen gegangen. Mehr habe ich nicht gesehen. Ich habe gedacht, ich spioniere dir nicht nach. Ich bin davon ausgegangen, dass er dich nach Hause bringt. Aber du hast dich schon ziemlich an ihn gekuschelt…“ Sie sieht Kimmy ein wenig bedrückt an. „Und du weißt wirklich nichts mehr?“ Kimmy schüttelt den Kopf und hebt den Blick dann wieder.
„Aber ich muss wohl mit Jez rumgeknutscht haben…“, murmelt sie leise und sieht Romy dann mit einem aufgesetzten Lächeln an. „Ist aber ja auch egal, oder? Ich will nur nicht, dass jeder denkt, dass wir zusammen sind oder so. Sind wir ja auch nicht!“ Im Stillen schickt Kimmy ein Stoßgebet in den Himmel. Dass Romy nicht merkt, wie sie sich immer wieder verhaspelt! Romy runzelt ein wenig verwirrt die Stirn, lässt Kimmy dann aber in Ruhe. Sie folgt ihr zurück zu der Mädchengruppe. Schnell fügt Kimmy sich in das Gespräch ein. Sie ist glücklich darüber, nicht mehr mit Romy über Jez reden zu müssen.
Als der Gong die Pause beendet, geht Kimmy zu Betty herüber und läuft dann zusammen mit ihr ins Schulhaus. Sie will sich grade von ihrer Freundin verabschieden, da sie ab jetzt verschiedene Fächer haben, da fällt ihr Blick auf den großen Flachbildschirm, der an einer der Wände in der Aula hängt. Die Vertretungspläne alle Klassen werden darauf angezeigt. In der dritten Und vierten Stunde sind bei den Klassen 11a bis 11f die zwei Wörter ‚Latein frei‘ eingefügt wurden. Ein Lächeln huscht über Kimmys Lippen, als sie nach ihrer Tasche greift und sich von Betty verabschiedet. Eilig läuft Kimmy die Treppe hinauf, durch einen der insgesamt drei Übergänge und in dem Schulgebäude die Treppe wieder hinunter. Sie läuft den Gang entlang, bis sie die Schließfachreihe ihrer Klassenstufe erreicht hat.
Am Einsteingymnasium Achern ist es so organisiert, dass für jede Klassenstufe Schließfächer gestellt sind. Die Schließfächer des Jahrgangs 1996/1997, also der jetzigen 11ten Klassen, liegen im alten Gymnasiumgebäude alle beieinander. Vor ihrem Schließfach bleibt Kimmy stehen und fährt mit der freien Hand über ihre Hosentaschen, bis ihr einfällt, dass sie ihren Schlüssel nicht dabei hat, da sie ihn seit dem Wochenende nicht mehr findet. Leise seufzt Kimmy und dreht sich dann um.
„Suchst du den?“ Kimmy zuckt zusammen, als sie die Stimme hört. Nicht, wegen des ‚Besitzers‘ der Stimme, sondern, weil sie dachte, sie sei alleine auf dem Gang. Jez steht vor ihr, sieht sie aus seinen grünen Augen an und hält ihr ihren Schlüssel hin. Kimmy greift danach und will sich ohne sich zu bedanken umdrehen, doch sie überlegt es sich noch einmal anders. Eigentlich wollte sie Jez ja die Meinung sagen… Warum nicht jetzt?
„Dankeschön…”, zischt sie zuckersüß. Sie lächelt aufgesetzt und holt Luft, um zu einem Satz anzusetzen, doch zu ihrer Verwunderung kommt ihr Jez zuvor.
„Pass auf, Kimmy…“ Als Kimmy herablassend die Augenbrauen hebt, korrigiert sich Jez. „Kimberly.“ Er seufzt leise und fährt dann fort. „Ich weiß, dass du glaubst, dass ich mit dir geschlafen habe. Ich weiß, dass du denkst, ich hätte dich abgefüllt, nur um dich danach auszunutzen. Aber es war nicht so, ehrlich. Du hast selbst so viel getrunken. Du…“ Kimmy unterbricht Jez mit einem sarkastischen Auflachen.
„Ach, willst du mir jetzt irgendwelche Vorwürfe machen?“ Kimmy hat die Stirn immer noch in Falten gelegt und sieht Jez fordert an. Ab jetzt wird sie jeden noch so kleinen Fehltritt von ihm ausnutzten, um ihm eine reinzuwürgen!
„Nein! Ich will nur, dass du mich vielleicht verstehst!“ Kimmy ist überrascht, wie bissig Jez Antwort kam, doch sie setzt einen desinteressierten Blick auf und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Okay. Dann sag mir, was passiert ist.“ Sie verengt ihre Augen für einen Moment zu Schlitzen und sieht Jez dann abwartend an. Innerlich hat sie aber den Entschluss, Jez nicht zu verstehen, egal was er ihr erzählt, schon gefasst.
„Du hast getrunken. Ich habe mir nichts dabei gedacht…“ Kimmy holt Luft und will Jez unterbrechen, doch er ist schneller als sie. „Nein Kimberly! Jetzt hörst du mir zu!“ Für einen Moment vergisst Kimmy ihre Abwehrhaltung. Sie hat nicht damit gerechnet hat, dass Jez so direkt werden kann. „Irgendwann konntest du nicht mehr geradestehen. Ich wollte dich nach Hause bringen. Du hast zu mir gesagt, dass du Ärger bekommst, wenn du betrunken nach Hause gehst. Ich hatte Mitleid mit dir, deshalb habe ich dich einfach mit zu mir genommen.“ Kimmy schnaubt leicht, als Jez behauptet, er hätte Mitleid gehabt. Als ob! Die Geschichte hat er sich aber schön ausgedacht! „Ich habe dich in mein Zimmer gebracht und dann…“ Jez bricht ab und fährt sich mit einer Hand durchs Haar. „Du hast mich geküsst.“ Jetzt kann sich Kimmy nicht mehr halten. Sie lacht sarkastisch auf.
„Weißt du eigentlich, dass du ein beschissen guter Lügner bist!“ Sie wirkt beinahe amüsiert, doch die Ironie ist deutlich zu hören.
„Ich habe gewusst, dass du dir meine Version nicht mal zu Ende anhören wirst. Aber dass du es weißt. Das, was ich zu dir gesagt habe… ich habe es ernst gemeint!“ Jez steht noch immer ganz ruhig vor ihr, doch in seinen Augen kann man erkennen, dass er innerlich mehr als aufgewühlt ist. Einen Moment wechselt Kimmys abwehrender Gesichtsausdruck zu einem verwirrten. „Es stimmt, dass ich dich liebe!“ Schlagartig weicht die gesamte Verächtlichkeit, die sich von Kimmy Stimme auf ihr Gesicht übertragen hat, aus ihrem Gesicht. Sie hat mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Jez ihr ein Liebesgeständnis macht.
„Das hast du dir aber schön ausgedacht! Nur dumm, dass ich dir nicht glaube!“ Sie setzt das ironische Lächeln wieder auf, schiebt sich an Jez vorbei und lässt ihn einsam in dem Schulgang stehen.
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Als Kimmy sich an ihm vorbeigedrängt und ihm somit den Rücken zugewandt hat, schießt Jez die Augen und atmet einmal tief ein. Er hört ihre schnellen Schritte durch den Gang hallen. Erst, als ihre Schritte sich immer weiter entfernen, leiser werden und irgendwann ganz verklingen, hebt Jez die Hände und fährt sich über das Gesicht. Was hat er sich eigentlich gerade dabei gedacht? Leise pustet er die Luft wieder aus und zieht dann seinen Schlüssel aus der Tasche. Er verstaut seine Tasche in seinem Schließfach und verlässt dann, genau wie Kimmy, das Schulgebäude.
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Langsam läuft Kimmy durch die Straßen bis in die Innenstadt von Achern. Sie hat noch genau eine Stunde frei. In der Schule konnte sie nicht bleiben. Nicht da, wo Jez ihr einerseits eiskalt ins Gesicht lügt und andererseits ein Liebesgeständnis macht. Wenn es eins war! Wenn es nicht genauso eine Lüge ist, wie die Geschichte, dass sie ihn zuerst geküsst hätte! An einer kleinen Kirche biegt Kimmy rechts, in eine kopfsteingepflasterte Straße, ein und steuert auf die kleine Eisdiele zu.
Mit der Eiswaffel in der Hand, setzt sie sich auf eine Bank in der Sonne, schließt die Augen und versucht das cremige Limetteneis zu genießen. Wie kann Jez sie erst eiskalt ausnutzen, behaupten, er hätte nicht mit ihr geschlafen, erzählen, sie hätte angefangen ihn zu küssen und dann sagen, dass er sie liebt?! Wie kann man so dreist sein und so lügen?
Kimmy Blick fällt auf den Kaugummi- und Spielzeugautomaten an einer Hauswand, die es eigentlich schon lange nicht mehr gibt. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen. So dumm es auch klingen mag, der Kaugummiautomat lenkt sie von ihren eigentlichen Gedanken, von Jez ab. Dafür erinnert er sie an Lennard. Früher haben beide immer ihre Eltern angebettelt, dass sie auch eins der Spielzeuge aus diesem Automaten bekommen, doch sie haben nie eins bekommen. Auch wenn Kimmy es nicht will, ihre Gedanken an Lennard, erinnern sie auch an Jez. Weil er jetzt die Nummer neun des SuS Achern ist… Und Lennard nur noch die ehemalige Nummer neun! Warum musste ausgerechnet Jez die neun bekommen? Warum muss das größte Arschloch, der größte Lügner, der… Kimmy ballt ihre freie Hand zur Faust und atmet einmal tief durch. Warum muss sie immer an Jez denken? Warum verdrängt er selbst Lennard aus ihren Gedanken? Warum ist Jez so ein Arschloch? So ein Lügner? Und… warum war er gleichzeitig so liebt und süß zu ihr?
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Jez stützt den Kopf auf seine rechte Hand auf und sieht aus dem Fenster. Er dreht einen Stift zwischen zwei Fingern und malt sich blaue Kugelschreiberstriche auf die Hand, merkt es aber nicht. Wie konnte er eigentlich so dumm sein und glauben, Kimmy würde ihm zuhören? Sie hat ihre Meinung über ihn und wird sie auch nicht einfach so ändern! Und warum hat er sich überhaupt auf sie eingelassen? Warum hat er ihre Bitte, sie nicht nach Hause zu bringen, nicht einfach ignoriert? Warum hat er danach noch seine Selbstbeherrschung verloren und fast mit Kimmy geschlafen? Warum hat es das getan, wofür er andere Jungs verachtet? Würde Jez nicht die ganzen beiden Naturwissenschaftsstunden über Kimmy nachdenken, würde er sich fragen, warum die Lehrerin in heute komplett in Ruhe lässt. Erst als alle um ihn herum beginnen, ihre Sachen einzupacken, hebt Jez den Kopf und tut es ihnen gleich. Er schultert seinen Rucksack und verlässt dann zusammen mit den anderen Schülern den Raum.
Jez holt seine Motorradjacke und den Helm aus seinem Schießfach und durchquert gedankenverloren eins der sechs Schulgebäude und steuert dann auf die Motorrad- und Rollerstellplätze zu. Einige Jugendliche – zum Teil Jungs aus der Mannschaft, die gleich zum Training fahren - stehen an ihren Motorrädern, Rollern oder Mofas und unterhalten sich noch, andere verlassen den Parkplatz. Neben seiner gelben Yamaha bleibt Jez stehen, lässt den Rucksack von seinen Schultern rutschen und schlüpft in die schwarz-weiße Motorradjacke, setzt den Rucksack wieder auf, zieht den Helm über den Kopf schlüpft in die Motorradhandschuhe.
Als Jez langsam vom Parkplatz rollt, wandern seine Gedanken wieder zu Kimmy obwohl er versucht, sich auf den Straßenverkehr und nicht auf sie zu konzentrieren. Automatisch ordnet er sich in den Straßenverkehr ein. Eigentlich kann er sie schon verstehen… wenn man überzeugt davon ist, dass etwas passiert ist, dann lässt man sich das auch nicht so einfach ausreden… Als Jez beinahe die Linksabbiegerspur verpasst, nur weil er in Gedanken versunken war, zwingt er sich dazu, an nichts mehr zu denken. Wenigstens die nächsten zehn Minuten.
***
Kurz nach halb elf abends liegt Jez mit angezogenen Knien auf seiner Bettdecke und starrt innerlich total aufgewühlt in die Dunkelheit. Nur das Licht der Straßenlaterne, das durch sein Fenster fällt, erhellt den Raum ein wenig. Warme Tränen rollen über seine Wangen. Jez dreht sich auf den Bauch und drückt sein Gesicht in sein Kissen. Warum hat er es Kimmy eigentlich gesagt? Hat er wirklich die Hoffnung gehabt, dass sie ihm verzeihen würde und ihm sagen würde, was sie für ihn empfindet? War er wirklich so blauäugig? Hat er wirklich geglaubt, Kimmy würde ihm sagen, dass sie dasselbe für ihn empfindet? Jez presst sein Gesicht noch tiefer in sein Kissen und unterdrückt einen Schluchzer. Warum hat er sie überhaupt geküsst? Warum hat er sie nicht einfach nur in sein Bett gelegt und über sie gewacht, während sie geschlafen hat? Sie hätte gesehen, dass er das, was er sagt, wirklich ernst meint. Dass sie ihm etwas bedeutet! Jez atmet tief ein, um sich zu beruhigen und dreht sich dann wieder auf die Seite. Eine letzte Träne rollt über seine Wange, als er seine Mutter von unten rufen hört, doch Jez ignoriert es. Warum verliebt er sich erst in ein Mädchen und ist am Schluss selbst daran schuld, dass sie mit ihm nichts mehr zu tun haben will? Dass sie denkt, er wäre einer der Jungs, die Mädchen nur für das eine wollen! Wieder bilden sich Tränen in seinen Augen und laufen seine Wangen hinunter. Jez schließt die Augen, zieht die Knie wieder an und weint leise in die Dunkelheit hinein. Auch als seine Zimmertür einen Spalt weit aufgeht, helles Licht in sein Zimmer fällt und seine Mutter das Zimmer betritt, rührt Jez sich nicht. Er hört nur die leisen Schritte seiner Mutter, spürt, wie sie sich neben ihn auf die Matratze setzt und ihm dann sanft mit einer Hand über den Rücken streicht.
„Jez?“, fragt die ganz leise, fast unhörbar. Sie beginnt mit den Fingern langsam Jez Wirbelsäule nachzufahren und lehnt sich dann ein wenig über ihren Sohn.
„Hm?“, macht Jez ganz leise, dreht sich auf den Bauch und vergräbt sein Gesicht in seinem Kissen. Er will nicht, dass seine Mutter sieht, wie er weint. Sie hat es momentan schon schwer genug, da muss sie sich nicht auch mit den selber verbockten Problemen ihres Sohns herumschlagen. Jez nimmt das leise, unterdrückte Seufzten seiner Mutter deutlich wahr, als er den Zug ihrer Hand auf seiner Schulter spürt. Nur wiederwillig dreht Jez sich um und setzt sich dann auf. Er wendet den Kopf von seiner Mutter ab, denn auch wenn es noch so dunkel ist, man kann erkennen, dass er geweint hat.
„Jez?“, wiederholt sich seiner Mutter noch einmal. Jez spürt ihren intensiven Blick auf sich und schließt die Augen. Ohne, dass er etwas dagegen tun kann, bilden sich erneut Tränen in seinen Augen und rollen über seine Wangen hinab. Langsam rutscht seine Mutter näher an ihren Sohn heran und nimmt ihn in den Arm. Dankbar lässt Jez sich von seiner Mutter in den Arm nehmen und gibt den Kampf gegen die Tränen auf. Mit einer Hand fährt seine Mutter ihm über den Rücken und streicht ihm dann durch seine schwarzen Haare.
„Ich habe es so verbockt…“, murmelt Jez leise, mehr zu sich selbst als zu seiner Mutter, doch schon jetzt spürt er, wie es ihn erleichtert, seine Gedanken loszuwerden. Langsam lässt Jez Mutter ihren Sohn los und mustert ihr prüfend in der Dunkelheit. Sie hebt fragend die Augenbrauen und sieht ihrem Sohn in die grünen Augen. Dieser senkt den Blick und kneift dann geblendet die Augen zu, als seine Mutter sich über das Bett lehnt und seine Nachttischlampe anknipst. Sie wendet sich ihrem Sohn wieder zu und mustert ihn, als dieser die Augen, immer noch ein wenig geblendet, wieder öffnet und dem Blick seiner Mutter ausweicht.
Mit den Fingern fährt Kimmy durch ihr offenes Haar. Sie lässt ihren Bick durch das Klassenzimmer schweifen und bleibt an Jez hängen. Er sitzt mit dem Rücken gegen die Wand zu seiner Linken gelehnt, sodass er das gesamte Klassenzimmer im Blick hat. Seine Augen ruhen auf ihr und auch, als ihre Blicke sich treffen, wendet er sich nicht ab. Verächtlich hebt Kimmy die Augenbrauen und kann das Funkeln in Jez grünen Augen erkennen. Sein bis gerade noch unbeeindruckter Gesichtsausdruck verändert sich langsam, bevor er den Kopf abwendet. Zufrieden lächelt Kimmy, dabei weiß sie nicht einmal, warum sie so zufrieden ist. In ihrem Inneren sagt ihr ein Gefühl, dass das, was sie tut, trotz allem, was Jez ihr angetan hat, nicht richtig ist. Er hat sie eiskalt ausgenutzt! Damit versucht sie das ungute Gefühl immer wieder abzudrängen. Warum soll sie dann weiter auf liebes, braves Mädchen machen? Er bekommt doch nur das, was er verdient hat! Egal, ob er sagt, dass er sie liebt oder nicht! Lügen kann doch sowieso jeder! Kimmy nimmt ihren Füller - der aus korallenfarbigen Material besteht - aus ihrem Mäppchen und dreht ihn zwischen den Fingern. Sie stützt ihren Kopf auf eine Hand und beißt auf die Innenseite ihrer Lippe.
Nachdem sie nach ihrem allnächtlichen Traum wieder eingeschlafen ist, hat sie noch einmal geträumt. Von Jez… Wie sie sich an ihm auf einer Party festgehalten hat, weil ihr schwindelig war. Wie er sie sanft an sich gedrückt hat und mit zu sich nach Hause genommen hat. Wie sie sich geküsst haben… Für einen Moment schließt Kimmy die Augen und atmet einmal tief ein. Warum träumt sie eigentlich so einen Blödsinn? Langsam öffnet sie die Augen wieder und unterdrückt sich ein Seufzen. Aber… Jez hat sie von sich gedrückt und zu ihr gesagt, dass sie lieber schlafen sollte. Auch mit geöffneten Augen kann Kimmy das Bild deutlich vor sich sehen. Wie sie sich langsam auf die Seite legt. Wie Jez sie zudeckt. Wie er zulässt, dass sie sich an ihn kuschelt. Und wie er ihr über das Haar streicht und in die Dunkelheit starrt… Eine angenehme Gänsehaut legt sich auf Kimmys Haut. Zwischen den Fingern dreht sie noch immer ihren Füller, als sie sich zum ersten Mal traut, sich die Fragen zu stellen, die sie schon längst hätte mal hinterfragen sollen. Ist das ganze vielleicht wirklich so abgelaufen? Dass sie in Jez Armen eingeschlafen ist? Oder ist es einfach nur ihre geheime, innerliche Traumvorstellung? Und warum hat sie dann nicht von Lennard geträumt? Warum ist sie nicht von ihrem allnächtlichen Traum geweckt worden? Lag es vielleicht an Jez? Oder lag es einfach nur an dem Alkohol? Beinahe sofort entscheidet Kimmy sich für die zweite der beiden Varianten, hat aber wieder das Gefühl, das Falsche zu denken.
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In der Pause steht Kimmy wieder bei den Hockeymädchen. Mit den Augen verfolgt sie, wie Neah ihren Freund, einen Jungen aus der zwölften, Fabian heißt er, umarmt und ihm einen Kuss auf die Wange gibt. Neben den beiden steht ein Junge, den Kimmy nicht nur vom Sehen vom Schulhof her kennt, aber gerade nicht genau weiß, woher sie ihn noch kennt. Seine blonden Haare hat er mit Haarwachs gestylt, auf seinen Lippen liegt ein sanftes Stylerlächeln und seine blauen Augen scheinen fast zu strahlen. Ohne es bewusst zu wahrzunehmen, mustert Kimmy ihn einmal komplett durch. Er fängt ihren Blick auf und lächelt ihr sanft zu. Ertappt erwidert Kimmy das Lächeln und dreht mit einer Hand eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern, einfach, dass sie eine Beschäftigung hat und sie nicht daran denken muss, dass ihre Wangen sich bestimmt rot färben. Sie senkt den Blick für einen Moment. Als sie ihn wieder hebt, liegt der Blick des Jungen immer noch auf ihr. Er sieht ihr, immer noch lächelnd, in die Augen. In diesem Moment weiß Kimmy auch wieder, woher sie ihn sonst noch kennt. Er hat ihnen die Bändchen beim Big Blöpp gegeben! Der Junge, über den Betty gesagt hat, dass er einen Blick auf Kimmy geworfen hat!
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Mit beiden Händen zieht Kimmy ihren Zopf wieder fest und fährt sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Die Ohrenstöpsel ihres Handys baumeln aus ihrem Top heraus. Langsam läuft sie den kleinen Hang zu der Badebucht am See herunter und taucht die Hände in das kalte Wasser. Eigentlich wollte Kimmy in dieser Woche ihre GFS - ein Projekt, dass jeder Schüler am Einsteingymnasium in einem beliebigen Fach durchführen muss – zu Ende bringen, doch sie kann sich im Moment einfach auf nichts konzentrieren. Einerseits geht ihr Jez nicht aus dem Kopf, andererseits spukt jetzt auch noch der Junge aus der Zwölften in ihrem Kopf herum. Aber auch wenn Kimmy es sich von ganzem Herzen wünschen würde, der Junge würde es nicht an Jez in ihren Gedanken vorbeischaffen. Mit irgendetwas muss ihr Traum doch zusammenhängen! Sie kann sich doch sonst auch nur an Träume erinnern, die etwas mit der Realität zu tun haben! Kann es wirklich sein, dass sie Jez geküsst hat und nicht anders herum? Kann es wirklich sein, dass er nicht mit ihr geschlafen hat? Kann es sein, dass er das ‚dass ich dich liebe‘ wirklich ernst gemeint hat? Energisch verscheucht Kimmy diesen Gedanken. Ach was! Rede dir doch nicht so einen Müll ein! Es ist doch genau Jez Ziel, dass sie ihm verzeiht und er genau dasselbe noch einmal durchziehen kann! Langsam erhebt sich Kimmy wieder und legt ihre nassen Hände vorsichtig auf die Wangen. Das kühle Wasser fühlt sich herrlich erfrischend auf ihrer heißen Haut an. Genießerisch schließt sie die Augen und atmet die warme Luft tief ein. Erst, als Kimmys Handy in der Tasche ihrer Shorts zu vibrieren beginnt, öffnet sie die Augen wieder, wischt sich die Hände an ihrem Top ab und zieht dann ihr Handy aus der Tasche. Einige WhatsApp Nachrichten aus der 11c-Gruppe, der B-Mädchen Hockey-Gruppe und eine Freundschaftsanfrage auf Facebook. Kimmy öffnet Facebook und tippt mit gerunzelter Stirn auf das Profil der Person, die sie geadded hat. Sofort erkennt sie die blonden Haare und blauen Augen auf dem Profilbild. Finn Böll. So heißt er also. Kimmy nimmt die Anfrage an und schiebt ihr Handy dann wieder zurück in ihre Shorttasche. Mit beiden Händen streckt sie sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und trabt dann langsam wieder los.
Hat Betty vielleicht Recht und dieser Finn hat wirklich ein Auge auf sie geworfen? Ein Gedanke kriecht langsam in Kimmys Kopf. Vielleicht kann sie ja Jez mithilfe von Finn eine Auswischen… Dafür, dass er sie so eiskalt ausgenutzt hat. Kimmy weiß, dass es nicht fair ist, eine Person nur zu seinen eigenen Gunsten auszunutzen, doch vielleicht kann sie hier eine klitzekleine Ausnahme machen…
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Jez sitzt mit seinem Laptop vor sich auf der Terrasse und starrt einfallslos auf den Bildschirm. Er hat komplett keine Ahnung, wie er das Thema ‚Muskelaufbau ohne Geräte‘ gliedern soll. Schon am zweiten Schultag hier, ist Herr Renner auf ihn zugekommen und hat ihm gesagt, dass er noch in diesem Schuljahr eine GFS halten muss, woraufhin Jez dem von seinem Lehrer vorgeschlagenen Thema spontan zugesagt hat, ohne sich groß darüber Gedanken zu machen, was damit alles auf ihn zukommt. Leise seufzend klappt er den Laptop zu und legt ihn drinnen neben ein braunes Päckchen auf den Wohnzimmertisch. Mit gerunzelter Stirn liest Jez den Namen des Empfängers auf dem Päckchen durch.
Anita Winge
Ringerstr. 7
77855 Achern – Fautenbach
„Ach, stimmt!“ Jez hebt den Kopf, als seine Mutter aus der Küche kommt und ihr Blick auf das Päckchen fällt. „Anscheinend hat da mal wieder jemand nicht gewusst, dass meine Mutter schon lange nicht mehr hier wohnt. Eigentlich wollte ich es heute noch zu ihr bringen, aber ich habe gleich Dienst.“ Sie seufzt leise und geht an ihrem Sohn vorbei.
„Ich kann es ihr bringen.“ Jez Mutter bleibt stehen und sieht ihren Sohn an. Dieser zuckt die Schultern. „Habe sowieso nichts zu tun heute.“ Seine Mutter lächelt sanft und gibt Jez einen Kuss auf die Wange.
„Danke Jez. Du bist ein Schatz.“ Mit diesen Worten dreht sich um und verlässt das Haus. Jez nimmt das Päckchen in die Hand und lächelt einen Moment. Er wollte sowieso zu seiner Oma. Sie müsste Kimmy eigentlich kennen, schließlich waren Kimmy und ihr Bruder die einzigen Kinder hier in der Straße.
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Langsam rollt Jez die Einfahrt des kleinen Reihenhauses hinein, in dem seine Oma seit fast zwei Jahr jetzt schon wohnt. Er war, bevor er nach Fautenbach gezogen ist, nur einmal in diesem Haus. Davor war er, als er noch jünger – vielleicht acht oder neun Jahre alt - war, relativ oft bei seinen Großeltern. Mit einem Ruck zieht er sein Motorrad auf den Ständer, zieht sich die Handschuhe von den Fingern und öffnet den Verschluss seines Helms. Er fährt sich durch sein nun etwas zerzaustest Haar und geht dann langsam die zwei Stufen zu der Haustür hinauf.
Keine drei Sekunden nachdem Jez geklingelt hat, öffnet seine Oma auch schon die Haustür und sieht ihren Enkel überrascht an.
„Jez!“ Die Freude, dass ihr Enkel sie mal wieder besuchen kommt, ist ihr deutlich in das kleine, faltige Gesicht geschrieben. „Komm rein.“ Ihre grünen Augen, die Jez Mutter von ihr und Jez und Jeremy von ihrer Mutter geerbt haben, funkeln freudig. Sie lässt Jez, bevor er etwas sagen kann, in die Wohnung und gibt ihm ein Zeichen, dass er ihr in die Küche folgen soll. „Jetzt habe ich gar nichts zu essen für dich da!“ Ein Grinsen kann Jez sich nicht mehr unterdrücken.
„Das klingt, als ob ich voll verfressen wäre!“, beschwert er sich bei seiner Oma und lässt den Rucksack von den Schultern rutschen, bevor er die Motorradjacke auszieht. Seine Oma dreht sich zu ihm um und lächelt.
„Sind das nicht alle Jungs in deinem Alter?“ Jez holt Luft, um ihr zu widersprechen, doch ihm fällt keine gute Antwort ein. Seine Oma lacht leise auf und sieht ihrem Enkel dann in die Augen. „Was führt dich zu mir?“ Mit einer Hand öffnet Jez seinen Rucksack und legt das Päckchen auf den Tisch.
„Ich habe gedacht, ich bring’s dir mal.“ Er lächelt sanft. Seine Oma wirft nur einen flüchtigen Blick darauf, bevor sie wieder zu ihrem Enkel aufsieht.
„Du bleibst aber noch ein bisschen, oder?“ Jez nickt und stellt seinen Rucksack auf einen der Küchenstühle. Er hängt seine Motorradjacke darüber und legt seinen Helm mit den Handschuhen darin auf den Tisch, bevor er seiner Oma durch das kleine Wohnzimmer auf die Terrasse folgt. Jez lässt sich auf einen der Holzstühle fallen und schließt für einen Moment die Augen. „Ist die Schule so anstrengend?“ Sofort öffnet Jez die Augen wieder und erkennt das neckische Glänzen – das sich auch immer in Jeremys Augen spiegelt – deutlich in den grünen Augen seiner Oma.
„Geht…“, murmelt er und lässt seinen Blick über die Pflanzen am Rand der Terrasse wandern. „Ist halt Schule.“ Jez Oma schüttelt leise lachend den Kopf.
„Und neue Freunde…?“ Sie sieht ihren Enkel nun ernst an. Dieser nickt.
„Die Dorfkinder hier sind doch gar nicht so schlimm.“ Ein Grinsen huscht über Jez Lippen. Er weiß, dass seine Oma sich um ihn fast mehr Sorgen gemacht hat als um ihre Tochter. Dass er sich hier, auf dem Dorf, nicht wohlfühlt.
„Bist du mit Kimberly Beck in einer Klasse?“ Jez hebt den Blick, nickt und sieht seine Oma erstaunt an. „Hast du sie noch erkannt?“
„Wie erkannt?“ Jez Oma beginnt leise zu lachen, als sie den erstaunten Blick ihres Enkels deutet. Sie erhebt sich, geht durch die Terrassentür nach drinnen und lässt ihren immer noch verwirrten Enkel alleine zurück. Einen Moment sieht Jez seiner Oma noch irritiert hinterher. Warum erkannt? Wie soll er Kimmy wiedererkennen, wenn sie sich davor noch nie gesehen haben? Bevor Jez eine Antwort auf seine Frage finden kann, kommt seine Großmutter mit einer alten Keksdose wieder auf die Terrasse. Sie setzt sich auf ihren Stuhl und nimmt den Deckel von der Dose. Mit beiden Händen greift sie in die hinein und holt, ganz vorsichtig, einen Stapel alter Fotos heraus. Neugierig beugt Jez sich ein wenig nach vorne, sodass er auch einen Blick auf die Bilder werfen kann. Das obere Bild zeigt ihn. Als maximal achtjähriger Junge. Auf seinem Schoß sitzt Jeremy. Er ist vielleicht ein oder zwei Jahre alt auf dem Bild. Jez spürt den seitlichen Blick von seiner Oma auf sich und lächelt sanft. Sie legt das Bild auf den Tisch und blickt nun auf das nächste Bild. Es zeigt diesmal wieder ihn, Jeremy und zwei andere Kinder. Auf dem Schoß des Mädchens sitzt Jeremy, wenn man es sitzen nennen kann. Er war vielleicht ein halbes Jahr alt. Rechts neben dem braunhaarigen Mädchen sitzt er selbst, links ein blonder Junge mit hellbraunen Augen. Langsam öffnet Jez den Mund und hebt die Hand. Bereitwillig händigt seine Oma ihm das Bild aus und beobachtet ihn, als er es noch einmal genauer mustert. Wie? Kann das wirklich sein? Jez lässt den Blick weiter wandern. Er kneift ein wenig die Augen zusammen. Das Mädchen hat braune, gewellte Haare und braune Augen. Sie lächelt schüchtern in die Kamera. Kann es wirklich sein, dass er Kimmy früher wirklich schon gekannt hat? Dass er sogar ihren Zwillingsbruder Lennard gekannt hat und jetzt nichts mehr davon weiß?
„Erkennst du sie jetzt?“ Jez hebt den Blick von dem Bild und sieht seine Oma ein wenig verwirrt an. Das Lächeln verschwindet aus dem Gesicht von Jez Großmutter. Sie wirkt fast ein wenig traurig. „Du und Lennard…“ Sie tippt mit dem Zeigefinger auf den blonden Jungen auf dem Bild. „Ihr wart ein Herz und eine Seele, wenn du hier warst.“ Sie starrt auf die Tischplatte, als würde sich darauf die Erinnerung wiederspiegeln. „Ihr habt alles zusammen gemacht, wenn ihr hier wart. Erinnerst du dich nicht mehr an ihn?“ Jez sieht seine Oma von der Seite an und nickt dann.
„Doch. Aber was ist mit ihm passiert?“ Zwar weiß Jez durch Max ja, was mit ihm passiert ist, aber jetzt, als ihm bewusst wird, dass er Lennard gekannt hat, dass er wirklich der Junge war, mit dem er immer gespielt hat, nehmen die Worte in Jez Kopf plötzlich eine ganz andere Gestalt an und vermischen sich mit Erinnerungen, die langsam, verschwommen wieder in sein Gehirn zurückkehren. Bilder, wie er, wenn er zu seinen Großeltern gekommen ist, immer darauf gewartet hat, dass die beiden Kinder aus dem Haus schräg gegenüber auf die Straße gegangen sind, um Federball oder irgendetwas anderes zu spielen und, wie er dann immer schnell nach draußen gelaufen ist und gefragt hat, ob er mitspielen kann. Traurig sieht seine Großmutter ihn an.
„Er ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es war schrecklich.“ Sie sieht ihm aus ihren kleinen, grünen Augen in seine und seufzt. „Er war ein ganz lieber Mensch. Immer auf das Wohl der anderen fixiert… Und er hat seine Schwester geliebt. Auch wenn die beiden komplett anders getickt haben.“ Jez sieht seine Oma fragend an.
„Was meinst du mit ‚komplett anders getickt‘?“ Einen Moment sieht seine Oma Jez in die Augen.
„Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?“ Jez sieht auf die Tischplatte vor sich und schüttelt ganz leicht den Kopf. Auch wenn es die Zeit ist, an die er sich noch erinnern kann, ihm fällt jetzt gerade nichts Passendes ein. Natürlich hat er noch gewusst, dass er früher, wenn er hier war, immer mit Kindern gespielt hat, aber daran gedacht, dass er ausgerechnet mit diesen Personen wieder am schnellsten Kontakt knüpft, hat er nicht. „Er war immer ein ganz ruhiger Junge. Kimmy war das komplette Gegenteil. Sie war immer die, die – ich sage mal so – Mist gebaut hat. Eher die Draufgängerin. Sie hat erst gehandelt und dann darüber nachgedacht. Lennard hat es genau anders herum gemacht. Aber… seit seinem Tod hat das Mädchen sich sehr verändert.“ Sie legt den Kopf in den Nacken und sieht in den fast wolkenlosen Himmel.
„Verändert?“ Eigentlich war es ja Jez Ziel, etwas über Kimmy herauszufinden, aber dass seine Oma ihm so viel über sie erzählen kann und ihm sagt, dass er sie schon seit seiner Kindheit kennt, überrascht ihn doch. Leise seufzt seine Oma und sieht ihren Enkel dann wieder an.
„Sie ist viel ruhiger geworden. Sehr bedacht darauf, was sie tut. Ihre Eltern haben ihr immer versucht einzureden, dass sie nichts für den Tod ihres Bruders kann. Ich glaube aber, dass sie sich die Schuld noch immer gibt. Obwohl sie nicht die geringste Schuld trifft!“ Traurig sieht sie Jez in die Augen. „Sie vermisst ihren Bruder noch immer sehr.“ Jez blickt auf das Foto in seinen Händen. Es muss schrecklich sein. Das Gefühl zu haben, schuld am Tod einer geliebten Person zu sein!
„Darf ich das Bild behalten?“ Jez sieht seine Oma fragend an. Sie nickt und seufzt. Anscheinend liegt ihr noch etwas auf dem Herzen – vielleicht die erneute Nachfrage, ob er sich wirklich nicht mehr oder nur noch so wenig an Kimmy und Lennard erinnern kann – aber sie spricht es nicht laut aus. Einen Moment zögert Jez, dann er erhebt sich von seinem Stuhl. Seine Oma tut es ihm gleich und folgt ihm dann in die Küche, in der er das Bild vorsichtig in seinem Rucksack verstaut, in seine Motorradjacke schlüpft, den Rucksack über die Schultern zieht und den Helm in die Hand nimmt.
„Jez?“ Jez sieht seine Großmutter aufmerksam an. „Danke, dass du mit deiner Mutter hierhergekommen bist. Ohne dich würde sie das nicht alles schaffen!“ Sie lächelt sanft. Jez weiß nicht, was er darauf erwidern soll.
„Bitte“, murmelt er deshalb leise und nimmt seine Oma in den Arm.
***
Kimmy liegt auf dem Bauch auf ihrem Bett und lässt die Beine in der Luft baumeln. Kurz nachdem Kimmy Finns Freundschaftsanfrage bestätigt hat, hat er sie angeschrieben. Sie schreiben jetzt schon seit fast zwei Stunden ununterbrochen über alles Mögliche. Darüber, dass sie Hockey spielt, dass er Fußball spielt, dass sie beide der Meinung sind, dass die Schule ganz schön nervig sein kann, dass Finn nur noch ein paar Wochen zur Schule gehen muss, weil die Abiturprüfungen schon vorbei sind und dass Kimmy Finn auf dem Big Blöpp aufgefallen ist. Obwohl Kimmy das letzte Thema nicht so angenehm ist, da der Big Blöpp sie wieder an Jez erinnert, den sie gerade aus ihren Gedanken vollkommen verbannt hat, schreibt sie mit Finn darüber.
„Kimmy, kommst du essen?“ Kimmy sieht auf ihren Wecker. Sie hat gar nicht gemerkt, wie spät es schon geworden ist! Schnell schiebt sie das Handy in die Hosentasche und verlässt dann ihr Zimmer.
„Ja!“, ruft sie, bevor sie die Treppe herunterspringt und die Küche betritt. Irgendwie hat Finn ihr gerade total gute Laune bereitet.
„Deckst du noch den Tisch?“ Das Lächeln verschwindet aus Kimmys Gesicht. Eine Frage, die sie hasst! Warum ruft ihre Mutter sie zum Essen, wenn es noch gar nicht fertig ist? Genervt rollt die mit den Augen, zieht ihr Handy aus der Hosentasche und öffnet den Facebookmessager, während sie drei Teller aus dem Schrank holt und auf den Tisch stellt. Nachdem sie auch das Besteck auf dem Tisch verteilt hat, lässt sich Kimmy auf ihren Platz fallen und tippt eine Antwort an Finn. Es macht schon Spaß, mit Finn zu schreiben… und anscheinend ist er wirklich ein bisschen interessiert an ihr… Das würde perfekt in ihren Plan passen…
„Packst du das Ding wenigstens beim Essen weg, Kimmy!“ Kimmy hebt den Blick von Display ihres Handys und sieht ihrem Vater fast direkt in die Augen. Brav legt sie das Handy neben sich auf die Tischplatte, da es nicht erst einmal passiert ist, dass ihr Vater ihr Handy einkassiert hat, weil sie es auch nach seiner Aufforderung nicht weggelegt hat.
Ein wenig lustlos stochert Kimmy in der Lasagne herum. Eigentlich mag sie Lasagne sehr, aber heute hat sie irgendwie keinen Hunger. Ihr Blick fällt stattdessen immer wieder auf ihr Handy, das während des Essens nicht nur einmal vibriert hat, worauf ihr Vater immer genervt aufgestöhnt hat.
Irgendwie schafft Kimmy es doch, ihre Lasagne aufzuessen. Sie greift nach ihrem Handy und will die Küche verlassen, wird von ihrem Vater aber zurückgehalten.
„Wohin so schnell? Du kannst wenigstens den Tisch abräumen!“ Kimmy bleibt, mit dem Rücken ihrem Vater zugewandt, im Türrahmen stehen. Mit einem ‚Ich-bin-doch-nur-deine-liebe-kleine-Tochter-Lächeln‘ dreht sie sich um.
„Ich muss noch Mathe lernen.“ Das ist nicht einmal mehr gelogen. Sie hat zwar eine 2,5 in dem Kurztest geschrieben, aber verstanden hat sie es trotzdem nicht. Und die ‚gute‘ Note hat sie nur geschrieben, weil sie von Max und dieser von Jez abgeschrieben hat. Eigentlich wollte sie Jez fragen, ob er es ihr mal erklären kann, aber jetzt fragt sie ihn bestimmt nicht mehr.
„Dann kannst du dein Handy ja hier unten lassen.“ Triumphierend lächelt er seiner Tochter zu.
„Ich will aber zusammen mit Betty lernen… über Skype… und… ähm… Skype hängt sich an meinem Laptop immer auf!“ Diesmal ist Kimmy es, die triumphierend lächelt und sich dann umdreht und die Treppe hinauf in ihr Zimmer huscht, bevor ihrem Vater doch noch ein Gegenargument einfällt.
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Jez sitzt auf seiner Decke und starrt noch immer auf das kleine Bild in seinen Händen. Er hat Lennard wirklich gekannt! Er hat Kimmy gekannt! Und jetzt, im Nachhinein, kann er sich wirklich an einen Jungen aus Fautenbach erinnern, mit dem er früher gespielt hat. „Er ist nicht mehr in Fautenbach!“, haben seine Eltern und Großeltern immer zu ihm gesagt, wenn er nach seinem Tod nach ihm gefragt hat, wenn er wieder in Fautenbach war. Dass er so etwas wirklich vergessen konnte… Leise seufzt Jez. Er greift sein Handy, das am Ladekabel hängt und auf dem Nachttisch liegt, entsperrt es und öffnet Facebook. Flink tippt er auf Kimmys Profil und vergrößert ihr Profilbild. Es zeigt sie irgendwo draußen. Man kann die Bäume im Hintergrund erkennen. Sie hat sich, als das Bild gemacht wurde, gerade die Haare aus dem Gesicht gestrichen, aber es sieht trotzdem wunderschön aus. Mit den Augen vergleicht er das Profilbild von Kimmy und die ‚kleine Kimmy‘ auf dem Bild seiner Oma. Dass er sie nicht wiedererkannt hat! Sie hat sich kaum verändert. Klar, man sieht, dass sie kein Kind mehr ist, aber von den Gesichtszügen, den Augen und den Haaren hat sie sich nicht sehr verändert. Warum hat er sie nicht wiedererkannt? Wenn er sie doch früher relativ oft gesehen hat… Nachdenklich lässt Jez sein Handy sinken. Ob sie sich an ihn erinnern kann? An den Großstadtjungen, der früher oft bei seinen Großeltern zu Besuch war? Der mit ihrem Bruder gespielt hat, bevor er starb. Der ihrem Bruder vom Charakter anscheinend so ähnlich war.
Vorsichtig zieht Kimmy ihr Handy aus ihrem Mäppchen und entsperrt es hinter ihrem aufgestellten Schulbuch. In der dunklen Leiste am oberen Displayrand ist das kleine WhatsApp-Zeichen zu sehen. Schon die ganze Deutschstunde über schreibt Kimmy heimlich mit Finn. Betty lehnt sich ein wenig zu ihr herüber und liest interessiert die letzten Nachrichten von ihm. Am Vortag hat Kimmy sie schon fast vollkommen über Finn informiert. Anfangs war Betty nicht begeistert, hat es aber versucht vor ihrer Freundin zu verbergen, aber dennoch sie weiß, dass Kimmy es sonst schwer fällt, neue Bekanntschaften zu machen. Sie gönnt es ihrer Freundin, auch wenn sie heimlich die Hoffnung hatte, dass sie doch noch einmal mit Jez reden könnte und die beiden sich vielleicht wenigstens gegenüberstehen könnten, ohne dass Kimmy Jez mit ihren Blicken beinahe tötet. Als Kimmy ihre Antwort getippt hat, schiebt sie ihr Handy - von dem sie die pinke Hülle abgemacht hat, sodass es nicht zu viel Platz in ihrem Mäppchen nimmt - wieder unter die vielen Stifte. Sie verbirgt ihren Mund hinter der Hand, sodass Herr Weiler nicht sehen kann, dass sie lächelt. Er reagiert, wie die meisten älteren Lehrer, allergisch auf wohl alle elektronischen Geräte. Bestes Beispiel: Jez Handy. Das Lächeln verschwindet aus Kimmys Gesicht. Da ist er wieder. Der Gedanke an Jez… Warum denkt sie immer an ihn? Sie sollte an Finn denken! Einfach aus Prinzip! Er ist viel netter als Jez! Und er würde nie auf die Idee kommen, sie so eiskalt auszunutzen! Mit den Fingern streicht sie über die Kanten ihres Blocks, von dem sie alleine in dieser Stunde wieder einmal drei ganze Blätter doppelseitig beschrieben hat. Kimmy stützt den Kopf auf die andere Hand und zuckt im selben Moment zusammen, als ein kleiner Schmerz durch ihren Finger blitzt. Warmes Blut bahnt sich den Weg durch den kleinen Schnitt. Betty lehnt sich auf ihrem Stuhl nach hinten und grinst amüsiert. Kimmy schneidet sich andauernd an ihren Büchern, Blöcken oder an sonst was. Kimmy kneift die Augen gespielt eingeschnappt zusammen und wühlt dann ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Tasche. Perfektionistisch wickelt sie es um ihre Fingerkuppe und hebt den Blick erst, als sie das unterdrückte Lachen von Betty wahrnimmt. Diese schüttelt nur ganz sanft den Kopf und wendet den Kopf ab, sodass sie nicht noch mehr lachen muss. Kimmy grinst und stützt ihren Kopf dann wieder auf die Hand. Auch wenn sie sich jetzt für einen Moment dazu gezwungen hat, nicht an Jez zu denken, trotzdem wandern ihre Gedanken wieder zu Jez und zu Finn. Er würde nie auf die Idee kommen, sie so eiskalt auszunutzen… Das Grinsen verschwindet aus Kimmys Gesicht. Ist es ihr Plan dann wirklich eine gute Idee? Jez mithilfe von Finn eifersüchtig zu machen? Ihm zu zeigen, dass sie ihm nicht nachtrauert? Dass er ihr scheißegal ist? Sie selbst wäre doch auch kein Stück besser als Jez. Leise seufzt Kimmy. Aber anders herum gesehen - versucht Kimmy die Zweifel zu verscheuchen – nutzt sie Finn ja nicht aus. Er hilft ihr nur bei etwas. Vielleicht, ohne wirklich davon zu wissen, aber ausnutzen ist das noch nicht, oder?
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Jez lässt die Füße von der kleinen Mauer herunter baumeln und starrt quer über den Schulhof. Max und einige der Handballjungs stehen oder sitzen vor und neben ihm und unterhalten sich. Anfangs hat Jez noch versucht dem Gespräch zuzuhören, mit über die teilweise echt versauten Witze zu lachen, doch Kimmy lenkt ihn viel zu sehr ab. Sie steht in der Gruppe Mädchen, mit denen sie zusammen Hockey spielt. Links von ihr steht Romy, das blonde Mädchen, mit dem Kimmy wohl am meisten – abgesehen von Betty – zu tun hat, rechts Betty und ihr gegenüber ein Mädchen mit rötlichen Haaren. Ein Junge hat seine Arme von hinten um ihre Hüfte gelegt, neben den beiden steht ein blonder Junge, mit dem Kimmy und Romy sich angeregt unterhalten. Warum versteht sich Kimmy so gut mit diesem Typen? Woher kennt sie ihn überhaupt? Und warum guckt Betty so gequält? Gefällt es ihr etwa auch nicht, dass Kimmy sich so gut mit dem Typen versteht? Jez ist so in seinen Gedanken versunken, dass er gar nicht merkt, wie Betty alleine auf sie zugesteuert kommt. Erst, als sie sich in Max Arme schmiegt und ihre Mundwinkel sich noch immer nicht heben, löst Jez den Blick von Kimmy und sieht nun Betty und Max an. Max gibt Betty einen Kuss auf ihr dunkles Haar und legt seine Arme von hinten um das kleine, zierliche Mädchen. Ihr Blick wandert über den gepflasterten Boden bis hin zu Jez. Einen Moment sieht sie ihm in die Augen und drückt dann sanft Max Arme von sich. Dieser sieht seine Freundin ein wenig verwirrt an und folgt ihr mit dem Blick, als sie nach Jez Handgelenk greift.
„Komm mal mit!“ Jez runzelt zwar die Stirn, steht aber ohne zu widersprechen von der Mauer auf. Max hebt kurz die Augenbrauen, dann glaubt er zu wissen, was Betty von Jez wissen will, weshalb er sich den anderen Jungs zuwendet und Betty Jez ein Stück weg dirigierend lässt. Jez schiebt die Hände in die Hosentaschen und sieht Betty, als sie stehen bleibt, fragend an. Ihre hellen Augen funkeln im Licht der Sonne, als sie zu Jez hinaufsieht. „Hast du mit Kimmy geschlafen?“ Anders, als Jez erwartet hat, klingt sie kein bisschen aggressiv. Eher besorgt. Jez seufzt leise. Ihm war zwar klar, dass Betty davon weiß, aber dass sie ihn darauf anspricht und nicht Kimmy, verletzt ihn schon ein wenig.
„Nein!“, antwortet er und hält Bettys bohrendem Blick stand. „Pass auf…“ Jez seufzt. Er hat eigentlich nicht vorgehabt, Betty die Geschichte zu erzählen, aber einen anderen Ausweg, sodass sie ihm glaubt, sieht er nicht. „Kimmy hat zu viel getrunken. Ich wollte sie heimbringen, aber sie hat gesagt, sie bekommt Ärger, wenn sie voll nach Hause kommt. Ich hatte Mitleid mit ihr und hab sie dann eben mit zu mir genommen und -“ Er bricht ab. Die Geschichte ist ihm nicht direkt peinlich, allerdings ist ihm trotzdem nicht wohl dabei, sie einfach Betty zu erzählen, bevor Kimmy sie komplett gehört hat. Nur wenigen Leuten – beispielsweise Niklas oder Emelina, seine beste Freundin aus Köln, die er schon von klein auf beziehungsweise in- und auswendig kennt – würde er ohne darauf angesprochen zu werden, ohne zu zögern von Kimmy erzählen. Einfach weil sie ihn auch gut genug kennen, um beurteilen zu können, ob etwas wirklich so passiert ist oder nicht. Betty hebt die Augenbrauen und sieht Jez fragend an.
„Was und? Hast du mit ihr geschlafen oder nicht?“ Jez schließt die Augen und seufzt noch einmal.
„Nein!“, wiederholt er sich. „Ich habe sie in mein Zimmer gebracht und -“ Wieder ist Jez kurz davor abzubrechen, doch diesmal zwingt er sich selbst, weiterzusprechen. „ - glaub’s mir, oder glaub’s mir nicht, Kimmy hat mich geküsst.“ Bettys bisher bohrender Blick wird weicher. Sie nickt ganz langsam und sieht ihm die ganze Zeit in die Augen, so, als ob sie ihn auffordern will, weiterzusprechen. „Ich habe zu ihr gesagt, dass es keine gute Idee ist und dass sie lieber schlafen soll. Sie hat gesagt, sie schläft nur, wenn ich mich neben sich lege und…“
„…du hast dich neben sie gelegt und sie hat dich wieder geküsst?“ Jez sieht Betty ein wenig enttäuscht an.
„Du glaubst mir nicht…?“ Betty schüttelt den Kopf, was man so oder so deuten kann.
„Du hast noch nicht fertig erzählt. Ich kann dir noch nicht sagen, ob ich dir glaube oder nicht.“ Jez ist erstaunt über diese Antwort. Eigentlich hat er etwas anderes erwartet. Schließlich ist, soweit er es in den letzten Wochen deutlich gemerkt hat, Betty Kimmys erste und vertrauteste Ansprechperson.
„Ja, sie hat mich wieder geküsst. Und ich wollte es nicht, wirklich, aber…“ Er fährt sich mit einer Hand übers Gesicht und durchs Haar. „Ja, wir haben uns geküsst. Ja, ich weiß, dass ich mich hätte unter Kontrolle haben müssen, aber bitte, glaub mir, ich habe wirklich nicht mit Kimmy geschlafen!“ Die letzten Sätze kommen nur noch flehend über Jez Lippen. „Dafür bedeutet sie mir mittlerweile viel zu viel.“ Er fährt sich wieder mit einer Hand durch die Haare und sieht Betty mit einem verzweifelten Funkeln in die Augen an. Betty wendet einen Moment den Blick ab und sieht zu Kimmy herüber, die immer noch ziemlich amüsiert aussieht und sich mit diesem Typen unterhält. Bevor sie etwas sagt, gongt es. Betty sieht wieder zu Jez auf und lächelt sanft.
„Kimmy glaubt dir zwar nicht, aber ich. Du musst nur wissen, dass sie…“ Betty senkt den Blick und sieht auf ihre Schuhspitzen. „… dass sie fast jedem, der ihr nur minimal etwas bedeutet, einen Korb gibt.“ Sie dreht sich um und steuert dann alleine auf einen der Eingänge des Einsteingymnasiums zu. Ein wenig verwirrt bleibt Jez zurück. ‚…dass sie fast jedem, der ihr nur minimal etwas bedeutet, einen Korb gibt.‘ Will Betty ihm damit vielleicht sogar ungewollt sagen, dass er Kimmy doch etwas bedeutet? Dass er ihr wirklich nicht komplett egal ist?
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In den darauffolgenden Schulstunden kann Jez sich, wie in den letzten Tagen üblich, kein Stück konzentrieren. Und im Gegensatz zu den Vortagen, hat er nicht mehr so viel Glück bei den Lehrern. In Englischunterricht hat der Lehrer wohl Spaß daran gehabt, Jez immer und immer wieder aufzurufen, obwohl er eindeutig keine Ahnung hatte, was gerade besprochen wird. Nur in Mathe kann Jez, auch wenn er nicht aufpasst, die gestellten Aufgaben lösen. In Köln war die Klasse – vor allem in Mathe – viel weiter gewesen.
Wie es wohl gerade bei den Jungs seiner Handballmannschaft in Köln läuft? Ob sie immer noch Tabellenführer sind? Niklas ist in diesem Fall eindeutig die falsche Station, so, wie er Handball hasst. Ohne wirklich zu registrieren, was er wirklich aufschreibt, überträgt Jez die Aufgaben von der Tafel auf sein Blatt. Und wie es Jeremy wohl geht? Seit der Sache mit Kimmy hat er sich kaum noch Gedanken über seinen Bruder gemacht! Ob er immer noch so Stress mit ihrem Vater hat? Oder hat er sich wieder beruhigt? Jez Blick wandert durch das Klassenzimmer und bleibt an Betty und Kimmy, die zwei Reihen vor ihm sitzen, hängen. Hinter ihrem Buch tippt Kimmy auf ihrem weißen Smartphone herum. Immer wieder entsperrt sie es, tippt etwas, sperrt es wieder, schiebt es in ihr Mäppchen und streicht sich dann durch ihre gewellten Haare. Auch ohne etwas auf Kimmys Handydisplay erkennen zu können, weiß Jez, dass sie mit diesem Typen schreibt. Er stützt den Kopf auf die linke Hand und unterdrückt ein leises Seufzen. Das Gefühl, dass Kimmy sich mit einem anderen Jungen besser versteht als mit ihm, sticht hart immer wieder in seinem Brustkorb. Im Stillen ermahnt Jez sich selbst. Warum ist er so eifersüchtig auf diesen Typen? Er hat es doch selbst verbockt! Klar, dass Kimmy nichts mehr mit ihm zu tun haben will!
Max, der neben Jez sitzt, hat schon den ganzen Tag gemerkt, dass Jez etwas beschäftigt. Schon bevor Betty mit ihm in der Pause allein gesprochen hat. Hat Betty vielleicht Recht mit ihrer Vermutung? Dass nicht nur Jez Kimmy etwas bedeutet? Sondern, dass sie ihm vielleicht auch etwa bedeutet? Dass er sie vielleicht sogar mehr mag? Schon in der Halle, als Kimmy und Betty auf der Tribüne saßen und Jez Kimmy entdeckt hat, hatte Max so ein Gefühl. Jez hatte plötzlich eine ganz andere Ausstrahlung. Anders als jetzt. Im Stillen nimmt Max sich vor, am Nachmittag noch einmal mit Jez zu reden. Er wird das Gefühl, dass Jez sich wegen Kimmy quält, einfach nicht los.
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Nach der Schule sitzt Jez, mehr Max als sich selbst zuliebe, auf dem Bett seines Freundes und hält den xBox-Controller in der Hand. Auch, wenn er sonst komplett nichts mit Fußball anfangen kann, er gehört trotzdem zu den Jungs, die gerne mal Fifa zocken. Außer heute. Um ehrlich zu sein, hat er heute wiedermal auf komplett nichts – außer Handball, aber das ist ja wegen seinem Schlüsselbein ausgeschlossen – Lust. Max hält das Spiel an und sieht Jez von der Seite an. Dieser legt den Controller neben sich auf die Matratze und seufzt. Max hebt die Augenbrauen und tut überrascht, obwohl er jetzt genau an dem Punkt angekommen ist, weshalb er Jez zu sich bestellt hat. Langsam dreht er sich zu Jez und sieht ihn eine Weile lang einfach nur an.
„Sag mal…“, fängt er vorsichtig an und hat heute zum ersten Mal das Gefühl, mehr als nur zwanzig Prozent von Jez Aufmerksamkeit zu haben. „…kann es sein, dass dich die Sache mit Kimmy ziemlich fertigmacht?“ Jez hebt den Blick und sieht Max in die Augen. Jetzt hat er seine hundertprozentige Aufmerksamkeit. Genauso schnell, wie Jez Max in die Augen gesehen hat, wendet er den Blick auch schon wieder ab. Er greift wieder nach dem Controller und dreht in langsam in den Händen.
„Kann sein…“, murmelt er nur. Max runzelt die Stirn. Auch wenn er Jez noch nicht lange kennt, er weiß irgendwie, dass er sich noch nie so verhalten hat. Schweigend wartet er darauf, dass Jez vielleicht doch ein wenig ausführlicher antwortet. Dieser seufzt noch einmal. Er hebt den Blick wieder, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und schließt für einen Moment die Augen. „Das Beschissenste daran ist, dass ich selbst schuld bin!“ Er zieht die Knie an, stützt die Ellbogen drauf und legt den Kopf in die Hände. Ein wenig hilflos sieht Max Jez an.
„Aber…“, fängt Max leise an und überlegt sich erst dann, was er sagen soll. „…du hast doch nicht mir ihr geschlafen, oder?“ Jez hebt den Kopf und sieht ihm für einen Moment in die Augen. Max hat schon Angst, er hat vielleicht etwas Falsche gesagt, doch Jez schüttelt nur langsam den Kopf.
„Ich hätte sie aber nicht küssen dürfen. Ich hätte mich selbst unter Kontrolle haben müssen… Ich hätte fast mit ihr geschlafen. Dieses ‚fast‘ ist schon zu viel.“ Er lehnt den Kopf gegen die Wand hinter sich und hypnotisiert die gegenüberliegende Wand. Max holt Luft, um etwas zu sagen, sagt aber doch nichts. Ihm fällt nichts wirklich Aufmunterndes ein. Er schweigt einfach nur, genau wie Jez. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit traut er sich, die Frage zu stellen.
„Liebst du sie?“ Jez dreht den Kopf von ihm weg und nickt genauso wenig wie er den Kopf schüttelt.
„Ja.“ Wenn Max‘ kleine Schwester und seine Eltern zu Hause gewesen wären, hätte Max Jez nicht verstanden, so leise beantwortet er seine Frage. Max sieht auf seine Hände und dreht die Daumen in kleinen Kreisen umeinander. „Vielleicht klingt das jetzt komisch, aber ich glaube es ist normal, dass man sich, wenn diese eine Person in der Nähe ist, nicht richtig unter Kontrolle hat.“ Er sieht vorsichtig zu Jez auf, der ihn aus seinen grünen Augen einfach nur ansieht. „Ich habe Betty auch einfach geküsst, ohne darüber nachzudenken…“
„Es ist aber ein Unterschied ob erstens die Person weiß, dass du sie liebst und zweitens, inwiefern man ‚die Kontrolle verliert‘ definieren kann.“ Max zieht den Kopf ein wenig ein. Jez klang gerade nicht weiter genervt und gleichzeitig gekränkt. Augenblicklich jedoch sieht er seinen Freund entschuldigend an. Max kann wohl am wenigsten dafür, dass er es mit Kimmy verbockt hat! Dann hat er auch kein Recht, ihm seinen Hass gegen sich selbst aufzudrücken. „Sorry“, murmelt er leise und fährt sich mit den Händen wieder durch die Haare. „Ich meine nur…“ Er seufzt, bricht ab und starrt dann wieder auf die gegenüberliegende Wand. „Ich wollte ihr alles erklären. Ihr sagen, dass es anders gelaufen ist, als sie denkt. Aber sie wollte mir nicht einmal zuhören. Ich habe keinen anderen Ausweg gesehen, als ihr zu sagen, dass ich sie liebe…“ Jez Stimme ist noch immer sehr leise, doch Max versteht jedes Wort. Sie sind gefüllt mit dem Selbsthass, den Max in diesem Moment fast spüren kann. Aber warum ist Jez so sauer auf sich selbst? Klar, er ist nicht komplett schuldlos, aber Kimmy hat doch wohl die meiste Schuld! Sie hört Jez doch nicht zu! Sie ist doch die, die nicht mit sich reden lässt und sich nicht einmal darauf einlässt, die komplette Geschichte zu hören!
„Du hast ihr gesagt, dass du sie liebst?“ Erst jetzt, nachdem sich Max im Stillen aufgeregt hat, ist ihm bewusstgeworden, dass Jez ihm dieses Detail vorher noch nicht erzählt hat.
„Gestern in der Freistunde.“ Er vergräbt das Gesicht in den Händen. Immer noch hilflos rutscht Max näher an ihn heran, sodass sich ihre Schultern berühren. Jez hebt den Kopf und sieht Max kurz in die Augen. Auch wenn es nur Sekunden sind, kann Max deutlich das glasige Glänzen erkennen, dass ihn darauf schließen lässt, dass Jez gerade mit den Tränen kämpft.
„Und was hat sie gemacht? Oder gesagt?“ Jez sieht auf seine Hände.
„Sie hat gesagt, dass ich mir das schön ausgedacht habe und dann ist sie weggelaufen.“ Max kann sich jetzt auch nur noch schwer ein Seufzen unterdrücken. Allein der Gedanke daran, dass Betty seine Gefühle nicht erwidern würde… schrecklich! „Das Schlimmste ist eigentlich nicht, dass ich es mit ihr verbockt habe…“, fügt Jez leise hinzu, lässt das Ende des Satzes dann aber in der Luft hängen. Max sieht in fragend von der Seite an. Wenn nicht das das Schlimmste daran ist, was soll es dann sein? „…viel schlimmer ist, dass sie sich jetzt an diesen Typen so ranmacht!“ Max runzelt die Stirn. Er weiß nicht, von welchem Typ Jez spricht, doch der Hass auf diesen Jungen ist deutlich aus seiner Stimme zu hören.
„Welcher Typ?“, fragt er vorsichtig. Jez seufzt leise. Es ist bisher nur einmal passiert, dass er sich wegen einem Mädchen so gefühlt hat. So nutzlos. So unerwünscht. So überflüssig. Max wartet auf eine Antwort, doch Jez zieht nur sein Handy aus der Hosentasche, öffnet Facebook und öffnet Kimmys Profil. Kimberly Beck und Finn Böll sind jetzt befreundet. Das ist der letzte Eintrag in Kimmy Chronik. Jez tippt auf den Link zur Chronik von diesem Finn und hält Max dann sein Handy hin. Dieser nimmt das Handy entgegen und lässt seinen Blick langsam über das Profilbild wandern. Nur weil sie auf Facebook befreundet sind, denkt Jez, dass Kimmy sich an ihn ranmacht?
„Sie hat heute im Unterricht die ganze Zeit mit ihm geschrieben…“, murmelt Jez leise. Max sieht seinen Freund wieder von der Seite an und beschließt, ihm erst einmal nicht ins Gewissen zu reden. Jez ist jetzt so aufgewühlt, dass er in allem eine kleine Katastrophe sieht.
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Kimmy ist von sich selbst überrascht, als sie am Spätnachmittag, fast Abend, neben Finn langsam durch die Fußgängerzone von Achern bummelt. Normalerweise ist sie sonst nicht der Typ, der sich nach einem Tag über Facebook und WhatsApp schreiben mit einem Jungen trifft. Auch, dass sie ohne weiter darüber nachzudenken über alles Mögliche mit Finn geschrieben hat, verwundet sie. Aber irgendwie hat er schon was… Unauffällig sieht Kimmy Finn aus dem Augenwinkel an und sieht schnell weg, als Finn seinen Blick ihr zuwendet.
„Hast du auch so Bock auf Eis wie ich?“ Er grinst frech und sieht an sich total lässig aus, mit den Händen in den Hosentaschen und dem engen, dunklen T-Shirt. Kimmy lächelt und nickt. Sie folgt Finn um die kleine Kirche herum und dann in die kopfsteingepflasterte Seitenstraße hinein, in die sie vor zwei Tagen schon einmal eingebogen ist, um sich ein Eis zu holen. Kurz, nachdem Jez ihr gesagt hat, dass er sie liebt…
In der letzten Nacht hat Kimmy für sich selbst beschlossen, dass Jez vielleicht gar nicht gelogen hat. Jedenfalls nicht mit dem Teil, dass er sie liebt. Vielleicht hat er nur gehofft, dass sie ihm verzeiht. Aber damit hat er sich geschnitten! Jetzt wird sie ihm zeigen, dass er das mit jedem Mädchen machen kann, aber nicht mit ihr!
Noch bevor Kimmy das einzelne Geld aus ihrer Hosentasche geholt hat, legt Finn einen Fünf-Euro-Schein auf den Tresen und grinst sie unschuldig an.
„Zu spät.“ Kimmy legt den Kopf schief und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Du bist doof.“ Finns Grinsen wird noch breiter, als er Kimmy ihre Eiswaffel reicht und unschuldig mit den Schultern zuckt.
„Ich weiß.“ Er gibt Kimmy einen sanften Hüftcheck und beginnt zu lachen, als ihr Grinsen zu einem leisen Lachen wird. Mit einer Hand streicht Kimmy sich die Haare aus dem Gesicht, als sie neben Finn bis zu einer der nächsten Bänke zusteuert, auf die er sich fallen lässt und die Augen schließt, als die Sonne ins Gesicht scheinen. Kimmy setzt sich neben ihn und mustert ihn, was sie eigentlich schon seit mindestens einer Stunde machen wollte, aber erst jetzt, da er sie mit geschlossenen Augen ja sowieso nicht sehen kann, wirklich machen kann. Seine blonden Haare sind wie am Vortag auch mit Haarwachs hochgestylt, alleine eine Strähne hat sich selbstständig gemacht und steht in die entgegengesetzte Richtung. Die hellen Wimpern umranden Finns blaue Augen ähnlich wie die von Jez, nur dass sie nicht halb so schön aussehen, weil sie eben so hell sind. Ähnlich wie bei Jez… Woher weiß sie eigentlich so genau, wie Jez aussieht? Und wieso vergleicht sie Finn immer und immer wieder genau mit Jez? Es gibt doch genug andere Jungs, mit denen sie Finn vergleichen kann! Kimmy merkt nicht, wie Finn langsam die Augen öffnet und sie ihm einfach nur in die Augen sieht. Erst, als er sie sanft mit dem Finger in die Seite stubst, zuckt sie zusammen und wendet schnell den Blick ab, in der Hoffnung, dass Finn die Schamesröte auf ihren Wangen nicht sieht, oder vielleicht auf die Sonne schiebt, die schon seit Mitte April fast ununterbrochen die Erde erwärmt.
„Was?“, fragt Kimmy leise, weniger als Frage gemeint, eher, um sich selbst abzulenken.
„Nichts…“ Finn schmunzelt sanft, dass kann Kimmy aus dem Augenwinkel erkennen. Irgendetwas verleitet sie, den Blick wieder zu heben und in Finns blaue, strahlende Augen zu sehen. Genau in diesem Moment gongen die Glocken der kleinen Kirche neun Mal. Finn schürzt seine Lippe und sieht zu dem Ziffernblatt der Kirche hinauf. Kimmy folgt seinem Blick. Viertel vor sieben. Er sieht sie entschuldigend an. „Sorry, aber ich habe gleich noch Training.“ Kimmy lächelt und steht auf.
„Und ich muss noch Mathe lernen…“, seufzt sie, als auch Finn sich erhebt. Er grinst.
„Checkst du’s nicht?“ Kimmy seufzt noch einmal und nickt. Kurz sieht Finn sieht über ihre Schulter hinweg und dann wieder in ihre braunen Augen. „Wenn du willst kann ich’s dir mal erklären.“ Das erste Mal lächelt er in Kimmys Nähe nicht mehr so stylerhaft, sondern schüchtern. Kimmys Miene erhellt sich. Nicht, weil sie sich darüber freut, dass sich Finns Mimik ihr gegenüber verändert hat, sondern wegen seines Angebots.
„Ehrlich?“ Finn nickt und fährt sich mit der rechten Hand durch sein helles Haar. Kimmy lächelt, als ihr Blick wieder auf die Kirchturmuhr fällt. Wenn sie nicht eine halbe Stunde warten will, dann sollte sie langsam los zum Busbahnhof. Finn folgt ihrem Blick. Er muss auch los. Da Finn zu Sportplatz muss, der in die entgegengesetzte Richtung des Busbahnhofs liegt, müssen sie sich hier schon verabschieden.
„Ciao“, sagt er leise und zögert einen Moment. Dieser peinliche Moment, wenn man nicht weiß, was man genau tun soll, entsteht. Kimmy lächelt noch immer. Ihr Plan schießt ihr wieder in den Kopf. Wenn sie ihn in kurzer Zeit durchführen will, dann muss sie die Initiative ergreifen. Kimmy macht zwei Schritte auf Finn zu und umarmt ihn kurz zur Verabschiedung. Dieser bleibt er ganz still stehen, erwidert die Umarmung dann aber doch.
„Tschüss“, murmelt sie leise, dreht sich um und setzt sich in Bewegung. Noch einmal sieht sie über ihre Schulter und lächelt Finn zu, bevor sie sich wieder umdreht und ihre Haare, während sie läuft, auf und ab wippen. Mensch, Kimmy, was geht bei dir? Warum kannst du Finn einfach so umarmen, ohne ihn wirklich zu kennen? Liegt es vielleicht daran, dass sie anders über Finn denkt, als über Jez? Kimmy biegt um die Ecke zum Busbahnhof und rennt los, als sie sieht, dass der Bus schon an der Haltestelle steht. Kurz bevor die Bustür schließt, springt Kimmy in den Bus, zieht ihre Monatsfahrkarte aus der Hosentasche und schiebt sich dann durch den Gang.
In der letzten Reihe lässt sich Kimmy auf einen Fensterplatz fallen, zieht ihr Handy und die Kopfhörer aus der Tasche, steckt sie sich in die Ohren und öffnet den Mediaplayer an ihrem weißen Smartphone. Sie öffnet den Ordner mit dem neusten Studioalbum der Toten Hosen ‘Ballast der Republik‘ und tippt auf das Lied ‘Vogelfrei‘. Es ist eins der rockigsten Lieder auf diesem Album, was gerade sehr auf Kimmy zukommt. Sie hat jetzt keine Lust, nachzudenken. Nur mit dieser rockigen Musik kann sie dies erreichen. Eigentlich! Heute verdrängen nicht einmal mehr die Basssolos und der rockige Gesang diese Gedanken. Warum musste sie selbst an Jez denken, als Finn neben ihr saß und ihr sanft in die Seite gestupst hat? Und ist es wirklich eine gute Idee, Jez mithilfe von Finn eifersüchtig zu machen? Ist es nicht unfair, Finn dafür auszunutzen? Kimmy schließt die Augen und lehnt ihren Kopf gegen die Scheibe. Vor ihrem inneren Auge tauchen einerseits die strahlend blauen Augen von Finn, andererseits aber auch die funkelnden grünen Augen von Jez auf. Schnell öffnet Kimmy die Augen wieder. Ist das jetzt wirklich wahr? Dass sie keinen Moment nicht an Jez oder Finn oder beide denken kann? Kimmy dreht ihr Handy zwischen den Fingern und starrt noch immer durch das Fenster nach draußen. Sie steht auf und läuft langsam durch die Busreihen nach vorne zur Tür.
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Als Jez am Abend seinen Rucksack für den nächsten Schultag packt, beginnt sein Handy leise zu vibrieren. Er hält inne und greift dann nach seinem Handy. Auf dem Sperrbildschirm zeigt es sieben neue WhatsApp-Nachrichten von Niklas an. Mit schnellen Fingern entsperrt Jez sein Handy und öffnet die App. Bisher hat er noch kein Wort über die Sache mit Kimmy an Niklas verloren. Dieser hat sich deshalb ‚sein eigenes Bild‘ über die ‚Beziehung‘ zwischen Jez und ihr gebildet. Jez seufzt als er die Nachrichten durchliest. Er legt das Schulbuch, das er noch in der Hand hält, auf seine Tasche und lässt sich dann auf sein Bett fallen.
Jez: Hey, Niklas, hör zu…
Tippt Jez und zögert einen Moment, bevor er auf den kleinen Senden-Pfeil tippt.
Jez: Letzten Donnerstag war ‘ne Party hier. Ich war mit Kimberly und noch ein paar anderen dort. Kimberly war ziemlich angetrunken, deshalb wollte ich sie nach Hause bringen…
Seufzend schließt Jez die Augen. Als er sie wieder öffnet, hat Niklas ihm geantwortet.
Niklas: Ja und? :o
Ja und? Ja, und es ist alles danach beschissen gelaufen!
Jez: Ich habe sie mit zu mir genommen, weil sie gesagt hat, ihre Eltern finden es nicht gut, wenn sie betrunken nach Hause kommt. Und…
Jez schließt die Augen. Kann man so etwas wirklich über WhatsApp schreiben? Jez öffnet die Augen wieder und sieht auf das noch leuchtende Display seines Handys.
Jez: Sie hat mich geküsst… ich wollte sie erst nicht küssen aber irgendwie…
Jez bricht nach den drei Punkten ab und wartet auf eine Antwort von Niklas.
Niklas: Ja und? Küsst sie so schlecht :D?
Jez verdreht die Augen und lehnt sich gegen die Wand. Wenn das das Problem wäre, dann wäre es kein Problem!
Jez: Nein… als sie am nächsten Morgen aufgewacht ist, hat sie gedacht, dass ich mit ihr geschlafen habe…
Jez schließt die Augen. Ist es wirklich eine so gute Idee, Niklas über WhatsApp die ganze Geschichte zu schreiben?
Kimmy schiebt ihre Wasserflasche in den Schulrucksack, bevor sie sich die Lederjacke überstreift und in ihre schwarz-weißen Nike Performance schlüpft. Finn hat gestern gefragt, ob er sie mit seinem Motorrad mit zur Schule nehmen soll, sodass Kimmy nicht mit dem Bus fahren muss. Einen Moment hat Kimmy gezögert – ihre Eltern haben ihr nicht ohne Grund verboten, den Führerschein selbst zu machen -, doch als Finn ihr versichert hat, dass er eine zweite Jacke und einen zweiten Helm hat, hat Kimmy eingewilligt. Gerade, als sie ihre Schnürsenkel der Sportschuhe an den Seiten in die Schuhe steckt, vibriert ihr Handy auf der kleinen Kommode neben ihr. Kimmy erhebt sich, entsperrt das Handy und öffnet WhatsApp. Sie überfliegt kurz die Nachricht von Finn, dass er draußen auf sie wartet, schiebt das Handy in die Jackentasche ihrer Lederjacke und verschließt den Reißverschluss mit einer Hand, während sie den Rucksack hochhebt und das Haus verlässt. Noch während Kimmy mit der Hand die Tür hinter sich zuzieht, erblickt sie schon Finn, der neben seinem rot-blau-weißen Motorrad steht. Seine Haare sind ein wenig zerzaust, wahrscheinlich wegen seinem Helm, doch in der Kombination mit seinen blauen Augen sieht er trotzdem wirklich heiß aus. Das nimmt selbst Kimmy wahr. Sie lächelt, als sie die zwei Stufen der Treppe hinunterläuft und auf Finn zukommt. Er erwidert ihr Lächeln und nimmt sie zur Begrüßung kurz in den Arm. Wieso kann sie Finn einfach zu umarmen, obwohl sie ihn kaum kennt? Er könnte genauso gut ein Fremder sein… Kimmy verscheucht die Gedanken.
„Hey“, sagt Finn leise, als er sich aus der Umarmung löst und dicht vor Kimmy steht.
„Hey“, murmelt sie und streicht sich die Haare, die der Wind ihr ins Gesicht weht, mit einer Hand zur Seite. Finn lächelt, dreht sich dann ein wenig und gibt Kimmy eine Motorradjacke und einen Helm. Kimmy nimmt beides entgegen und streift es sich über.
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Jez stützt den Kopf auf die Hand und dreht seinen Stift zwischen den Fingern. Wieder einmal steht Latein auf seinem Stundenplan und er hat komplett keine Ahnung, um was sich der Unterricht heute dreht. Diesmal liegt es aber nicht daran, dass er sich nicht bemüht dem Unterricht zu folgen, sondern daran, dass er Latein einfach nicht versteht. Er sitzt neben Florian, ein Junge, der auch erst seit kurzem beim SuS spielt und in eine von den unzähligen Parallelklassen von ihm geht. Dieser lehnt sich ein Stück zu Jez herüber und flüstert:
„Verstehst du überhaupt irgendwas?“ Jez seufzt und deutet ein Kopfschütteln an.
„Kein bisschen“, murmelt er leise und zuckt im nächsten Moment zusammen, als die Stimme des Lateinlehrers durch das Klassenzimmer schallt.
„Jez! Wenn du dich am Unterricht schon nicht beteiligst, dann sei wenigstens leise.“ Das war wieder einmal so klar! Er hat zum ersten Mal in der gesamten Lateinstunde den Mund aufgemacht und er redet angeblich die ganze Zeit! Als Antwort auf die unberechtigte Zusammenfaltung, presst Jez die Lippen aufeinander und sieht desinteressiert an die Tafel. Das reicht dem Lehrer, dessen Namen Jez nicht einmal mehr weiß, um den Unterricht fortzusetzten.
„Sorry“, murmelt Florian ganz leise, sodass eigentlich nur Jez es hören kann, doch wieder schallt die Stimme des Lehrers, diesmal unangenehm laut, durch das Klassenzimmer.
„Raus!“ Man kann deutlich die Anspannung im Gesicht des Lehrers sehen, der mit einer Hand Richtung Tür zeigt. Jez hebt die Augenbrauen. Er hat jetzt mit allem gerechnet, aber nicht, dass der Lehrer ihn meint.
„Ich?“, fragt er deshalb nach.
„Sofort!“ Kommt nur als Antwort, doch Jez rührt sich keinen Zentimeter.
„Ich habe doch gar nichts gemacht!“, verteidigt er sich. Und eindeutig, entweder, er ist wirklich, wie Kimmy es sieht, ein wirklich guter Schauspieler, oder er meint es wirklich ernst. Dass kann man erkennen.
„Diskutiere nicht mit mir.“ Die übliche Antwort von einem Lehrer, wenn er merkt, dass er auf der falschen Seite steht.
„Aber…“, setzt Jez wieder an, doch der Lehrer schneidet ihm das Wort mit einer Handbewegung ab. „Boa…“, macht Jez ganz leise, sodass es diesmal nur Florian hören kann, als er sich erhebt und das Klassenzimmer verlässt. Absichtlich lässt Jez die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Er setzt sich auf den Tisch, der direkt neben der Klassenzimmertür steht, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und schließt die Augen.
Gestern Abend hat Jez noch ewig mit Niklas geschrieben und konnte danach nicht schlafen. Dieser verlorene Schlaf quält ihn schon seit heute Morgen. Warum sieht er den Rauswurf eigentlich negativ? Jetzt lässt ihn wenigsten jeder um ihn herum in Ruhe.
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Als Jez aus der Klasse geflogen ist, hat ein zufriedenes Lächeln Kimmys Lippen umspielt, doch in ihrem Inneren hat es sich falsch angefühlt. Ist es eigentlich fair, Jez so zu behandeln? Ja, er hat richtig Mist gebaut und sie wirklich verletzt, aber ist das, was sie macht das Richtige? Schon, nachdem Kimmy sich von Finn verabschiedet hat, quälen sie die Fragen mehr oder weniger. Obwohl… sie behandelt ihn doch nicht unfair, oder? Es ist doch nicht unfair, wenn sie keinen Kontakt zu ihm haben will. Einzig die Art, wie sie mit ihm spricht ist vielleicht nicht ganz fair. Kimmy dreht ihren korallenfarbigen Füller zwischen den Fingern. Aber anders gesehen… er hat sie auch nicht fair behandelt! Er hat sie ausgenutzt! Er hat sie abgefüllt, nur, um mit ihr zu schlafen!
Kimmy zuckt zusammen, als der Gong ertönt und die zweite große Pause ankündigt. Eilig packt sie, genau wie alle anderen im sie herum, ihre Sachen in ihren Rucksack, bevor sie ihn über die Schultern hängt und zusammen mit Neah den Raum verlässt. Hintereinander schieben sie sich gegen die Schülermassen, da sie, anders als gefühlt alle anderen, in den Altbaubereich des Gymnasiums müssen. Neah läuft dicht vor Kimmy durch die Schüler und macht Kimmy den Weg frei.
Vor den Klassenzimmern, in denen die beiden Mädchen den restlichen Schultag getrennt Unterricht haben, lassen sie ihre Rucksäcke und Ordner liegen und laufen die breiten Treppen hinunter auf den Schulhof.
Anders als in den letzten Tagen gesellt Kimmy sich nicht zu den Hockeymädchen, sondern steht alleine neben Neah, ihrem Freund Fabian und Finn, der sie fast die gesamte Pause hindurch aus seinen blauen Augen hinaus mustert und sanft lächelt.
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Auch heute wieder sitzt Jez mit einigen Jungs auf der kleinen Mauer auf dem Pausenhof und ist wieder einmal nicht ganz bei der Sache. Und wieder einmal ist Kimmy daran schuld. Sie steht neben diesem Finn, einem anderen Zwölftklässler und dem Mädchen mit den rötlichen Haaren, die zusammen mit Kimmy Hockey spielt. Betty, die in den Armen von Max steht, linst an ihrem Freund vorbei und beobachtet, genauso wie er selbst, Kimmy. Allein ihr Blick zeigt schon, dass sie von diesem Finn auch nicht so begeistert ist. Jez wendet seinen Blick von Kimmy ab. Es macht ihn einfach fertig zu sehen, wie sie sich mit diesem Typen besser versteht als mit ihm selbst. Betty dreht sich in Max Armen und sieht Jez so lange an, bis er den Blick hebt und gezwungen ist, Bettys besorgten Blick wahrzunehmen. Ihr Freund folgt ihrem Blick und pustet die Luft, die er gerade eingeatmet hat, um etwas zu sagen langsam wieder aus. Ihm ist natürlich auch schon aufgefallen, dass das Gespräch, das er mit Jez geführt hat, sein Ziel ein wenig verfehlt hat, aber er weiß einfach nicht, wie er seinem Freund sonst helfen könnte. Jez nimmt auch seinen Blick wahr verlässt die Gruppe mit der Ausrede, sich etwas zu Essen holen zu wollen.
Langsam läuft er über den Schulhof und zwangsläufig auch an Kimmy und den anderen dreien vorbei. Aus dem Augenwinkel kann er erkennen, wie Kimmy, als sie ihn auf sich zukommen sieht, ihn einen Moment beinahe erschrocken mustert und sich schnell deutlicher zu Finn wendet, einen Schritt auf ihn zugeht und ihre Hand auf seinen Arm legt, woraufhin dieser zu lächeln beginnt. Jez hält den Atem an, als er an den vieren vorbeiläuft. Vielleicht aus Angst, ihm könnte ein nicht wiedergutzumachender Spruch herausrutschen, vielleicht aber auch einfach, dass keiner von ihnen seinen schnaubenden Atem hören kann. Unruhig beißt er sich auf die Innenseite der Unterlippe und schließt für einen Moment im Gehen die Augen, als er die Gruppe hinter sich lässt und wirklich auf den Bäcker zusteuert, der in den Pausen extra für die Schüler da ist.
Ist das wirklich Kimmys Ziel? Ihn mithilfe von diesem Finn eifersüchtig zu machen? Ihm zu zeigen, dass er Mist gebaut hat? Und um selber zu sehen, dass er wegen ihr leidet? Während Jez sich an einigen fußballspielenden Fünft- oder Sechstklässlern vorbeischlängelt, schieben sich diese Fragen wieder in den Kopf. Warum hat sie sich sonst so an den Typen rangemacht, als sie bemerkt hat, dass er auf sie zukommt?
„Junger Mann, wir haben hier nicht ewig Zeit!“, beschwert sich eine der Verkäuferinnen und reißt Jez damit aus den Gedanken.
„Ähh...“, macht Jez. „‘ne Brezel…“, murmelt er und nimmt sowohl die Brezel als auch das Wechselgeld entgegen.
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Jez steuert über den fast leeren Motorrad- und Rollerparkplatz auf seine gelbe Yamaha zu, die einsam neben einer blau-weiß-roten Honda, wenn es Jez richtig sieht, steht. Klar, keine andere Klasse hat heute bis Viertel vor fünf Schule. Alle anderen aus der Klassenstufe, vor allem die Jungs, mit denen er Handball spielt und die sonst immer mit ihren Motorrädern zur Schule kommen, sind schon längst weg, da das Training um siebzehn Uhr beginnt. Mit einer Hand legt Jez seinen grauen Motorradhelm auf die Sitzfläche seines Motorrads und lässt den Rucksack von den Schultern rutschen, bevor er den größten Reißverschluss öffnet und den Ordner, den er gerade noch aus seinem Schließfach geholt hat, hineinzwängt und die Motorradhandschuhe herauswühlt. Er hat heute nicht viel vom Unterricht mitbekommen, auch wenn er sich wirklich bemüht hat, seine Gedanken zur Seite zu schieben und den Unterricht zu folgen.
Jez schlüpft gerade in seine Motorradjacke, als er die zwei über den Parkplatz laufenden Personen wahrnimmt. Selbst aus dem Augenwinkel kann Jez die Statur von Finn erkennen und neben ihm Kimmy, deren Haare offen über ihre Schulter fallen. Unbewusst verschnellert Jez seine Bewegungen und zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu, bevor er die Druckknöpfe zudrückt und seinen Rucksack über die Schultern zieht. Bevor Jez jedoch in der Lage ist, nach seinem Motorradhelm zu greifen, haben Kimmy und Finn dessen Motorrad schon erreicht.
„Hey Jez.“ Jez greift nach seinem Motorradhelm und dreht sich erst dann um. Alleine an Kimmys Tonlage kann er den Sarkasmus erkennen, der ihr auch deutlich – als ein zuckersüß gestelltes Lächeln - ins Gesicht geschrieben steht. Jez erwidert nichts darauf. Klar, dass ihm in dem Moment, in dem er Kimmy mit ihren eigenen Waffen schlagen könnte, nichts Gutes einfällt! Deshalb zieht er sich schon den Helm über den Kopf, verschließt ihn, streift die Handschuhe über die Hände und drückt dann den Seitenständer seines Motorrads nach oben, bevor er sich darauf schwingt und kommentarlos vom Parkplatz rollt.
„Was geht denn bei dem schief?“, murmelt Finn, mehr an sich selbst gerichtet, während er seine Motorradjacke schließt und Kimmy dann hilft, seinen Rucksack über ihren zu ziehen.
„Keine Ahnung. Der tickt schon seit er hier her gekommen ist komisch.“ Kimmy weiß, dass es nicht richtig ist, solche Lügen über Jez zu erzählen. Aber was soll sie denn anderes sagen? Etwa, dass Jez hoffentlich eifersüchtig auf ihn ist? Nein! Dann würde sie ihren Plan doch gleich streichen können! Kimmy will sich schnell den Helm über den Kopf ziehen, sodass Finn ihren bedrückten Gesichtsausdruck nicht sehen kann, doch er hält sie mit seiner schnellen nächsten Frage zurück.
„Aber nach dem Big Blöpp hat er dich nach Hause gebracht, oder was?“ Kimmy entgleist für den Bruchteil einer Sekunde die Kontrolle über ihren Gesichtsausdruck, doch sie fängt sich sofort wieder. „Oder lag das nur daran, dass du bisschen viel getrunken hast?“ Leise lacht Kimmy künstlich auf.
„Ich glaub, das kann nicht nur sein, sondern das war so.“ Finn geht einen Schritt nach hinten, lacht frech auf und sieht sie dann aus seinen blauen Augen an.
„Ach, hat das kleine, sechzehnjährige Mädchen etwa doch etwas Hartes getrunken?“ Kimmy weiß, dass die Frage nicht ernst gemeint war, aber um ehrlich zu sein, könnte sie sie nicht einmal mehr beantworten. Nur Bruchstücke sind wieder in ihrem Gehirn aufgetaucht. Allerdings ist sich Kimmy sicher, dass sie nur denkt, dass es so passiert sein könnte… es träumt sich ja jeder seine Geschichten zusammen…
„Ich doch nicht!“, sagt sie leise amüsiert und zieht sich dann diesmal erfolgreich, bevor Finn noch etwas sagen kann, den Helm über den Kopf. Dieser tut es ihr gleich, schlüpft dann, genau wie Jez es vor wenigen Minuten getan hat, bevor er wortlos abgezischt ist, in seine Motorradhandschuhe und klappt das Visier seines Helmes runter. Mit einer Hand klappt er frech Kimmy das Visier ihres Helms zu, bevor er sich auf das Motorrad setzt und wartet, bis Kimmy hinter ihm auf die Maschine geklettert ist.
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Als Kimmy aus ihren Schuhen schlüpft und gerade mit der Motorradjacke, dem Helm und ihrem Rucksack die Treppe hinaufgehen will, kommt ihre Mutter mit gerunzelter Stirn in den Flur und sieht ihre Tochter ernst an.
„Hatten wir nicht eigentlich einmal ausgemacht, dass du bei keinem aus deiner Klasse mit dem Motorrad, Roller oder sonst was mitfährst?“ Schon alleine an der Stimme ihrer Mutter kann Kimmy erkennen, dass sie sauer ist. Ja, sie hat diese Abmachung mit ihren Eltern, aber was erwarten sie denn? Dass sie bis achtzehn mit dem Bus zur Schule fährt? Außerdem hätten sie sie doch einfach selbst den Motorradführerschein machen lassen, dann müsste sie bei niemand mitfahren. Aber nein, das ist ja viel zu gefährlich! Warum soll es zu gefährlich sein? Ob sie mit dem Motorrad fällt oder vor einem Bus läuft, macht doch keinen Unterschied! Unweigerlich wird Kimmy an Lennard erinnert, was sie für einen Moment ihre Wut vergessen lässt. Einerseits kann sie ihre Eltern ja verstehen… aber nur wegen Lennard können sie ihr doch nicht all das verbieten, was fast jede andere Sechzehnjährige oder jeder andere Sechzehnjähriger macht!
„Finn ist aber nicht aus meiner Klasse“, gibt Kimmy zurück und geht einfach die Treppe hinauf, hört aber sofort die Schritte ihrer Mutter hinter sich.
„Kimberly!“ Kimmy denkt nicht einmal daran, sich umzudrehen. Sie lässt die letzten Stufen der Treppe hinter sich und stößt mit dem Fuß ein wenig unsanft die Tür zu ihrem Zimmer auf, was ihre Mutter ihren Namen, nun wirklich sauer, wiederholen lässt. Sie ist ihrer Tochter die Treppe hinauf gefolgt und steht nun im Türrahmen von Kimmys Zimmer. Diese lässt ihre Sachen auf ihren Schreibtischstuhl fallen und dreht sich genervt um.
„Was?“, fragt sie, genau wie ihre Mutter nun eine Spur lauter, genervt nach. Diese verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt kaum merklich den Kopf. Dabei wippen ihre hellen, glatten Haare, die Lennard von ihr geerbt hatte, ein wenig hin und her.
„Es macht keinen Unterschied ob der Typ in deiner Klasse ist oder nicht! Wir haben abgemacht, dass du mit niemandem mitfährst und du hältst dich daran!“ Kimmy zieht amüsiert den rechten Mundwinkel nach oben und verschränkt, genau wie ihre Mutter, die Arme vor der Brust. Warum muss sie ausgerechnet jetzt so nerven? Kann ihre Mutter sie nicht einfach in Ruhe lassen?
„Ach, mach ich das?“ Kimmys Stimme trieft fast vor Sarkasmus.
„Kimberly!“ Kimmy zuckt zusammen, als ihre Mutter sie nun fast anschreit.
„Was?“, gibt sie wieder in derselben Lautstärke wie ihre Mutter zurück. „Wollt ihr mir wirklich alles verbieten? Erst verbietet ihr mir, den Motorradführerschein selbst zu machen, dann verbietet ihr mir, mit jemanden mitzufahren! Muss ist jetzt bald mit Sturzhelm die Treppe rauf und runter laufen? Ich könnte ja hinfallen!“ Nachdem Kimmy ihrer Mutter die Vorwürfe an den Kopf geworfen hat, ist es totenstill. Man kann nur Kimmys aufgebrachtes Atmen hören. Die Anspannung weicht auf dem Gesicht von Kimmy Mutter, nachdem sie die Wörter, die ihr ihre Tochter gerade entgegen gebrüllt hat, zu vollständigen, sinnvollen Sätzen zusammengesetzt hat. Ihre Brust hebt und senkt sich deutlicher als vorher, das erkennt Kimmy sofort. Sie ballt immer noch beide Hände zu Fäusten, doch langsam lockert Kimmy diese Muskeln.
„Kimmy…“, fängt ihre Mutter nun ganz leise an. Sie hat den Blick auf die Dachschräge direkt hinter ihrer Tochter geheftet und sucht verzweifelt nach den richtigen Worten. „… es ist doch nur…“ Ein wenig unentschlossen löst sie ihren Blick von der Wand und sieht ihrer Tochter zögerlich in die Augen. Fast augenblicklich kann Kimmy das Gefühl, dass gerade in der Seele ihrer Mutter wütet, erkennen. Trauer. „… ich will dich nicht auch noch verlieren!“ Die letzten beiden Worte kann Kimmy nur noch erahnen, da die Stimme ihrer Mutter versagt, als sie sich die Hand vor den Mund hält, die Augen schließt und sich anschließend von ihrer Tochter abwendet. Kimmy fühlt sich hilflos. Hilflos, wie nur ein einziges Mal zuvor in ihrem Leben. Ganz vorsichtig macht sie einen Schritt nach vorne und hebt eine Hand.
„Mama?“, fragt sie ganz leise. Sie berührt erst mit einem Finger, dann mit der gesamten Hand die Bluse ihrer Mutter, bevor sie sie ihn den Arm nimmt und fest an sich drückt. Die gesamte Wut ist wie auf einen Schlag verdampft. Kimmy macht gar nichts. Weder wiegt sie ihre Mutter in den Armen hin und her, noch kommt auch nur ein Buchstabe über ihre Lippen. Stattdessen schließt die nur die Augen und zwingt sich dazu, nicht auch zu weinen. Nicht jetzt! Nicht vor ihrer Mutter! Einmal schluckt sie noch hart, dann räuspert sie sich. „Das tust du auch nicht. Finn fährt ganz vorsichtig.“ Dass das nicht die richtige Antwort war, merkt Kimmy sofort. Ihre Mutter löst sich aus der Umarmung und sieht ihrer Tochter in die braunen Augen.
„Das ist mir egal.“ Sagt sie ganz leise. „Morgen fährst du wieder mit dem Bus!“ Kimmy holt Luft, um Einwände einzulegen, doch sie pustet sie wieder heraus, und presst stattdessen ein ‚Okay!‘, hervor.
Als Jez am Morgen vor seinem Wecker aufwacht, hämmert ein dröhnender Schmerz in seinem Kopf und er verspürt ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Erst, als er sich aufsetzt, merkt er, dass er am kompletten Körper durchgeschwitzt ist. Mit einer Hand fährt er sich durch die schweißnassen Haare, bevor er einen Blick auf den Wecker riskiert und feststellt, dass er in fünf Minuten sowieso aufstehen muss. Langsam erhebt Jez sich und hätte sich am liebsten wieder in sein Bett fallen lassen, als er merkt, wie kaputt und ausgelaugt er ist. Doch statt sich diesem Drang zu unterwerfen, zwingt er sich ins Bad zu gehen und sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen.
Ganz langsam und mit halb geschlossenen Augen trottet Jez fertig angezogen und mit seinem Schulrucksack über der rechten Schulter die Treppe hinunter. In der Küche stellt er den Rucksack auf einen Stuhl und greift nach einer Wasserflasche, um sie darin zu verstauen. Ein wenig irritiert sieht seine Mutter ihn an, als Jez innehält und sich mit einer Hand an den Kopf fasst.
„Alles in Ordnung Jez?“, fragt sie vorsichtig und sieht nun nicht mehr irritiert, sondern besorgt aus.
„Ja…“, murmelt Jez leise, „Nur ein bisschen Kopfschmerzen.“ Anscheinend reicht das seiner Mutter nicht. Sie sieht ihren Sohn noch immer besorgt an und macht dann einen Schritt auf ihn zu, um ihm die Hand auf die Stirn zu legen.
„Dafür, dass du ‚nur ein bisschen Kopfschmerzen‘ hast, bist du ziemlich warm“, stellt sie nun noch eine Spur besorgter fest und mustert ihren Sohn dann. Dieser lässt sich auf einen der Küchenstühle fallen, zieht fröstelnd die Ärmel seiner Kapuzenjacke, die er knapp über die Ellbogen hochgeschoben hat, über die Hände, stützt die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in seine Hände. Er schließt die Augen und spürt, wie seine Mutter ihm eine Hand auf den Rücken legt. „Das sieht mehr aus, als würdest du krank werden…“ Jez erhebt sich schnell von dem Stuhl und muss sich erst einmal an der Tischkante festhalten, da ihn ein plötzliches Schwindelgefühl überkommt, was seine Mutter natürlich sofort bemerkt. Sie greift nach dem Arm ihres Sohns und sieht ihm besorgt an, als er wieder eine Hand hebt und sich den Kopf hält. „Ich denke, es ist besser, wenn du heute zu Hause bleibst.“ Jez lässt die Hand sinken und sieht seine Mutter einen Moment an.
„Wir schreiben heute aber Englisch“, versucht er seine Mutter von der Idee, ihn nicht in die Schule gehen zu lassen, abzubringen, obwohl er jetzt wirklich nicht gerade in der Verfassung ist, eine Englischklausur zu schreiben.
„So wie es dir gerade geht, setzt du sie so oder so in den Sand. Da kannst du auch zu Hause bleiben!“
„Mama, ich bin keine elf mehr…“, versucht Jez seine Mutter noch einmal von ihrem Plan abzubringen, doch sie bleibt hart. Warum er unbedingt in die Schule gehen will, weiß Jez selbst nicht. Vielleicht, weil er hofft, dass er Kimmy heute nicht bei diesem Finn sieht. Vielleicht auch, weil er hofft, dass Kimmy ihre Meinung über ihn geändert hat.
„Bitte geh wieder hoch ins Bett. Wenn du heute zur Schule gehst, bist du morgen richtig krank!“ Seufzend gibt Jez auf und schiebt sich an seiner Mutter vorbei. Auch wenn er heute zu Hause bleibt, ist er morgen richtig krank. Das macht doch keinen Unterschied!
„Das bin ich auch so…“, erwidert er ganz leise, bevor er nach seinem Rucksack greift und schon dabei ist, die Küche zu verlassen, als er die Antwort seiner Mutter wahrnimmt.
„Hauptsache, du hast das letzte Wort.“ Sie klingt nicht genervt, obwohl sie sich, gerade wenn sie einmal mit ihrem älteren Sohn diskutiert, immer beschwert, dass er immer das letzte Wort haben muss, was auch stimmt. Jez seufzt einmal leise, fasst sich wieder an den dröhnenden Kopf und macht sich dann auf den Weg nach oben.
In seinem Zimmer lässt er sich auf sein Bett fallen und stützt den Kopf dann wieder in die Hände. Seine Mutter hat Recht. Er würde die Englischklausur so und so verhauen. Außerdem ist Jez sich nicht einmal mehr sicher, ob er es überhaupt noch bis zur Schule schaffen würde. So, wie die Müdigkeit ihn gerade quält.
Bevor Jez unter seine Bettdecke kriecht, schält er sich aus seiner Jeans und schlüpft in eine lange Jogginghose. Fröstelnd zieht er die Schultern hoch und greift nach seinem Handy, bevor er unter die Bettdecke kriecht und schnell noch eine WhatsApp-Nachricht an Max tippt, in der steht, dass er krank ist und heute nicht zu Schule kommt. Müde lässt Jez sein Handy neben sich auf die Matratze sinken und zieht die Bettdecke enger um seine Schultern. Obwohl es eigentlich nicht kalt in seinem Zimmer ist, friert er und nicht einmal der Rucksackverband, der ihn sonst beim Einschlafen immer unnormal sehr stört, stört ihn jetzt.
***
Mit schnellen Schritten eilt Kimmy heute wirklich zur Bushaltestelle, aber nicht, weil sie ihre Eltern versteht, sondern weil sie direkt nach der Schule mit Betty in die Stadt will und am späten Nachmittag noch Training in Achern hat. Aus diesem Grund trägt sie auch nicht nur ihren Schulrucksack über den Schultern. Über ihrer linken Schulter hängt ihre blaue Trainingstasche, in die sie nicht nur ihre Hockeysachen, sondern auch ihre Hallenschuhe und die Schulsportsachen gepackt hat.
Als Kimmy den Busbahnhof erreicht, steht der Bus schon an der Haltestelle und wartet nur noch darauf, dass die Letzten einsteigen. Während Kimmy die Stufe hinaufspringt, zieht sie ihre Monatsfahrkarte aus der Tasche ihrer Jeansjacke. Sie zeigt sie dem Busfahrer im Vorbeigehen und schiebt sich dann durch die Busreihen bis in die vorletzte Reihe, in der sie den gefühlten letzten Sitzplatz im gesamten Bus ergattert. Den Rucksack lässt Kimmy über den Schultern hängen, die Trainingstasche stellt sie einfach in den Gang, bevor sie ihr weißes Smartphone mit den Kopfhörern aus der Jackentasche zieht, diese in ihre Ohren steckt und das Lied ‘Zu Dir (weit weg)‘ von Mark Forster startet. Kimmy schließt für einen Moment die Augen und lauscht den ersten Tönen des Lieds. Ohne einen wirklichen Grund muss sie an Jez denken. Vielleicht weil der Text vielleicht ein wenig zutrifft? Schnell wischt Kimmy den Gedanken weg, aber dennoch muss sie immer und immer wieder an ihn denken. Sie hat ihn gestern schon doof angemacht… Kimmys Gedanken wandern zu dem Zeitpunkt, an dem sie und Finn Jez an seinem Motorrad getroffen haben. Was sie Finn über ihn erzählt hat, war nicht richtig, dass weiß Kimmy, aber aus irgendeinem Grund sucht sie wieder einmal nach einer guten Ausrede für ihr Verhalten. Ist es überhaupt richtig, Jez für etwas zu bestrafen, indem sie ihn ignoriert, immer und immer wieder sarkastische Antworten gibt oder Finn Lügen über ihn erzählt? Jez hat ja schließlich nicht von Anfang an komisch getickt. Um genau zu sein, hat er noch nie wirklich komisch getickt. Er hat einfach einen Fehler gemacht, den er jetzt nicht zugeben will. Kimmy öffnet die Augen und sieht an ihrer Sitznachbarin vorbei durch das Busfenster hinaus. Der Feldweg fliegt an ihr vorbei und die Mofas oder Fahrradfahrer, die darauf unterwegs sind, verschwinden unnatürlich schnell aus ihrem Blickfeld. Leise seufzt Kimmy, als sie ihren Kopf ein wenig zur Seite lehnt. Sie schließt die Augen kurz und blinzelt dann einige Male, als ihr bewusst wird, dass sie sich gerade eingestanden hat, dass Jez einfach nur ‚einen Fehler‘ gemacht hat. So etwas kann doch nicht nur ein ‚einfacher Fehler‘ sein? Denkt man nicht vorher darüber nach, mit wem man ins Bett geht? Egal, ob es zum ersten Mal ist oder ob man schon zehntausende Andere vorher hatte? Denkt Jez vielleicht gar nicht darüber nach? Kimmy stellt die Lautstärke der Musik an ihrem Handy ein wenig lauter, sodass sie keine Außengeräusche mehr wahrnimmt. Ihre Gedanken wandern weiter zurück. Aber warum hat Jez dann versucht sie zu küssen? War es vielleicht vorher sein Plan, mir ihr zu schlafen, wenn sie nichts getrunken hat? Oder hat da mehr als nur dieser Gedanke dahinter gesteckt? Fast genauso schnell wie Kimmy dieser Gedanke gekommen ist, verscheucht sie ihn auch wieder. Mensch Kimmy! Rede dir doch nicht so einen Blödsinn ein! Wenn Jez wirklich mit dir geschlafen hat und ihm wirklich was an dir liegt, dann hätte er sich schon längst bei dir entschuldigt. Und versucht, alles zu erklären. Der Gedanke daran, dass Jez versucht hat ihr alles zu erklären, dass er gesagt hat, dass er sie liebt und dass sie ihm seither keine Chance mehr gelassen hat, alles aufzuklären, schiebt Kimmy gekonnt beiseite.
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Kimmy stützt ihren Kopf auf die linke Hand und knabbert an der Hinterseite ihres Füllers. Die Englischklausur liegt vor ihr und wartet nur darauf, dass sie irgendetwas über die Bildung von bestimmten Zeitformen darauf schreibt. Leise seufzt Kimmy und lässt ihren Blick durch das Klassenzimmer wandern. Einige ihrer Mitschüler lehnen über ihren Klausuren und schreiben eifrig, andere sehen sich, genau wie sie, ein wenig hilflos im Klassenzimmer um. Hätte sie gestern doch lieber noch ein bisschen Englisch gelernt, anstatt sich drei Folgen ‘Pretty Little Liars‘ am Stück anzusehen und dann noch lange bis nach Mitternacht mit Finn zu schreiben! Klar, später weiß man es immer besser...
Innerlich macht Kimmy sich wieder selbst Vorwürfe, warum sie nicht den inneren Schweinehund überwunden und wirklich noch ein bisschen gelernt hat, aber jetzt nützt es ja sowieso nicht mehr. Sie lehnt sich wieder über ihre Klausur und liest die Aufgabe noch einmal durch und zu ihrer eigenen Verwunderung ist sie eigentlich ganz einfach. Sie hat es sich nur wieder selbst unnötig schwer gemacht, indem sie die Aufgabe falsch interpretiert hat. Schnell lässt Kimmy die Feder ihres Füllers über das Blatt wandern, was zur Folge hat, dass das Ganze nicht wirklich ordentlich aussieht, aber das ist ihr in Klausuren eigentlich egal. Zufrieden drückt Kimmy den Deckel auf ihren Füller, legt ihn neben ihre Klausur und lehnt sich noch zufriedener zurück. Erleichtert atmet sie auf, streicht sich ihre gewellten Haare über die Schulter und dreht dann einzelne Strähnen um ihren Zeigefinger.
Ein weiteres Mal lässt sie ihren Blick durch das Klassenzimmer wandern und bleibt an dem leeren Tisch eine Reihe vor sich hängen. Max hat in der ersten Pause irgendetwas von Jez und krank zu Betty gesagt, aber eigentlich sollte sie das ja gar nicht interessieren! Einen Moment bleibt der Gedanke, wie sie Jez angemacht hat, als sie ihn das letzte Mal gesehen hat und vielleicht ist da ein kleiner Funke von Schuldgefühl, der sich in sie schleicht, aber dennoch versucht sie sich wieder selbst zu ermahnen. Mensch Mädchen! Der Junge hat dich eiskalt verarscht, ausgenutzt und angelogen! Wieso denkst du denn dauernd an ihn? Leider haben die Versuche keinen Erfolg. Nicht einmal der Gedanke an die ewig langen Chatverläufe von Finn und ihr kann Jez aus ihren Gedanken schieben.
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Auch wenn die Müdigkeit wie ein tonnenschweres Gewicht auf Jez Augenlider lastet, kann er einfach nicht schlafen. Immer noch liegt er wie ein zusammengerollter Igel in seine Bettdecke gerollt und friert, aber wenigstens zittert er nicht mehr so sehr. Seine Mutter kommt langsam in sein Zimmer, stellt eine dampfende Tasse Tee auf den Nachttisch, setzt sich auf die Bettkante von Jez Bett und mustert ihren Sohn besorgt. Es kommt nicht oft vor, dass Jez krank ist, aber wenn es ihn erwischt, dann immer richtig und vor allem plötzlich. Vorsichtig legt sie die Hand auf Jez Stirn, der die Decke, die schon wie eine zweite Haut um ihn liegt, noch enger versucht um sich zu ziehen.
„Und so wolltest du wirklich in die Schule gehen?“ Fast könnte man meinen, dass Jez Mutter sich über ihren Sohn lustig macht, doch in Wirklichkeit ist es eine ernstgemeinte Frage. Jez zuckt nur, soweit es im Liegen geht, die Schulter und öffnet die Augen kurz. Leise seufzt seine Mutter, als sie Jez mit der Hand noch einmal über die Stirn streicht. Zwar sieht sie als Krankenschwester tagtäglich kranke Menschen, aber wenn es mal Jeremy oder Jez nicht gut geht, macht sie sich ununterbrochen Sorgen.
***
Es ist schon fast sechzehn Uhr, als Kimmy mit Betty durch den erst vor wenigen Wochen eröffneten H und M schlendert und hier und dort stehen bleibt, um die Sachen an den Kleiderstanden begutachtet. Betty wühlt sich gerade durch eine ganze Reihe von schwarzen Röcken, während Kimmy ihren Blick durch die ärmellosen Blusen wandern lässt. Sie sieht kurz zu ihrer Freundin herüber, die ihren Blick auffängt und zu grinsen beginnt. Fragend hebt Kimmy die Augenbrauen. Betty grinst noch breiter, zieht einen der schwarzen Röcke aus der Reihe von Röcken und hält ihn Kimmy entgegen.
„Ich wette mit dir, der steht dir mega!“ Kimmys linke Hand drückt noch immer die Blusen ein wenig auseinander, während sie die rechte Hand hebt und Betty entgeistert ansieht.
„Und ich wette mit dir, dass du mich nicht mithilfe von zehn Pferden in das Ding bringst!“ Kimmy ist eins der Mädchen, die der Meinung ist, dass Röcke bei anderen wirklich gut aussehen, nur dass sie selbst darin aussieht wie ein kleines Kindergartenmädchen. Betty schiebt traurig die Unterlippe nach vorne und sieht ihre Freundin flehend an.
„Bitte! Probiere ihn doch wenigstens an!“, bettelt sie. Kimmy verschränkt die Arme vor der Brust und bemüht sich, nicht zu grinsen. Betty hat ihren Hundeblick, den sie wirklich besser als jeder andere beherrscht, aufgesetzt und sieht ihre Freundin aus treuen, hellen Augen an.
„Vergiss es!“, versucht Kimmy hart zu bleiben, doch als Betty die Unterlippe noch ein Stück nach vorne schiebt und den Rock mit traurigem Blick mustert, kann sie nicht anders. Sie beginnt zu lachen, woraufhin ihre Freundin sie mit leuchtenden Augen ansieht.
„Also probierst du ihn an?“ Kimmy seufzt und stöhnt gleichzeitig auf, als ihre Freundin sie am Handgelenk packt und zu den Umkleidekabinen zieht. Sie drückt Kimmy den Rock in die Hand, in der sie schon ein Oberteil hält und schiebt sie in eine der freien Umkleidekabinen.
„Du bist schrecklich, Betty!“, beschwert sich Kimmy noch, bevor ihre Freundin den Vorhang der Umkleidekabine vor ihrer Nase zuzieht. Ein kurzes, liebevolles Lächeln wandert über Kimmys Lippen, bevor sie sich umdreht, die Kleider an einen der Haken hängt und aus ihren Vans schlüpft.
Nachdem sich Kimmy aus ihren Klamotten geschält hat und in den schwarzen Skater-Rock, der einen leichten Schulmädchentouch besitzt, geschlüpft ist, schiebt sie den Vorhang beiseite und tritt aus der Umkleide heraus. Betty steht ihr gegenüber und mustert sie kurz von oben bis unten, dann gibt sie den großen Spiegel frei, sodass sich Kimmy selbst betrachten kann. Und sie muss zugeben, so schlecht sieht der Rock wirklich nicht aus. Fast, als hätte Betty die Gedanken ihrer Freundin gelesen, stellt sie sich neben sie und sieht ihre Kimmy zufrieden an.
„Und wehe du sagst jetzt, es sieht nicht gut aus!“ Kimmy lächelt und sieht Betty dann an, die fast ein bisschen erleichtert grinst. „Ich glaube, das würde auch Jez gefallen…“, murmelt diese ganz leise, anscheinend nicht ganz sicher, ob das jetzt das Beste ist, was sie sagen kann. Kimmys Lächeln will aus ihrem Gesicht verschwinden, doch sie zwingt sich dazu weiter zu lächeln, zieht jedoch die Augenbrauen hoch und sieht ihre Freundin fragend an.
„Warum Jez? Wennschon Finn, bitte!“ Sie dreht sich um und lässt ihre Freundin alleine vor den Umkleiden zurück. Schnell zieht Kimmy den Vorhang hinter sich zu, schlüpft aus dem Rock und dem Oberteil und dann wieder in ihre eigenen Klamotten, bevor sie die Umkleide wieder verlässt. Draußen wartet Betty, ein wenig verunsichert, auf ihre Freundin und folgt ihr dann zur Kasse. Kimmy sieht Betty extra nicht in die Augen. Ihre Freundin soll nicht sehen, dass sie sie mit ihrem Kommentar ein wenig aus der Bahn geworfen hat.
An der Kasse reiht sich Kimmy in die Schlage ein und versucht angestrengt Betty nicht anzusehen. Diese sieht ihre Freundin von der Seite an, bevor sie leise Luft holt und dann zu einer Frage ansetzt.
„Wieso denn nicht Jez? Hast du mir noch vor zwei oder drei Wochen noch erzählt, wie süß er ist?“ Die Kassiererinnen haben eine zweite Kasse geöffnet, zu der Kimmy schnell wechselt und die Sachen vor die Verkäuferin legt.
„Weil er mich von vorne bis hinten verarscht und ausgenutzt hat?!“ Sie hat ihre Stimme gedämpft, sodass die Verkäuferin nicht alles mitbekommt, doch anscheinend hat diese doch die Ohren gespitzt, denn wie auf Knopfdruckt verlangsamt sie das Abkassieren. Betty holt Luft, um etwas zu erwidern, schluckt den Satz, der ihr auf der Zunge liegt aber doch noch herunter. Sie wartet lieber, bis die Kassiererin das Wechselgeld an Kimmy ausgegeben hat und sie zusammen mit ihrer Freundin den Laden verlassen kann. Die beiden Mädchen sind noch nicht einmal mit beiden Füßen aus dem Laden getreten, da kann Betty die Antwort einfach nicht mehr zurückhalten.
„Jetzt mal ganz ehrlich Kimmy: Ich glaube nicht, dass Jez mit dir geschlafen hat.“ Wie angewurzelt bleibt Kimmy mitten in der Fußgängerzone, die helle H und M Tüte über dem Unterarm hängend, stehen und braucht einen Moment, um die Klarstellung zu verarbeiten. „Kimmy, bitte versteh mich nicht falsch, aber ich habe das Gefühl, dass Jez nicht lügt. Und ich glaube auch nicht, dass er damit, dass er dich liebt, lügt und…“ Noch bevor Betty ihren Satz zu Ende bringen kann, unterbricht Kimmy sie mit einem scharfen:
„Woher weißt du, dass er mir gesagt hat, dass er mich liebt?“ Sie kneift die Lippen aufeinander, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht ihre Freundin mit zusammengekniffenen Augen an. Sich verteidigend hebt Betty beide Hände.
„Max hat es mir gesagt. Und Jez hat es ihm gesagt. Und…“ Betty stoppt einen Moment, fährt aber dann bestimmt fort. „…ich habe Jez gesagt, dass du jedem, der dir nur minimal etwas bedeutet, einen Korb gibst…“ Betty hat es Kimmy gleichgetan und zischt ihre Freundin wie eine Schlange an. „… und ich finde die Show, die du mit Finn abziehst, echt unter aller Sau!“ Mit diesen Worten dreht sich sie um und verlässt ohne Kimmy die Fußgängerzone.
‚Und ich habe Jez gesagt, dass du jedem, der dir nur minimal etwas bedeutet, einen Korb gibst…‘ hallt es wieder und wieder durch Kimmys Kopf. Sie hat gar keine Möglichkeit ihrer Freundin hinterherzulaufen. Der Schock lässt sie einfach nicht los. Ihr Gesichtsausdruckt hat sich von sauer zu betroffen gewendet. Hat Betty vielleicht Recht? Dass sie jedem, den sie nur minimal in ihr Herz schließt, einen Korb gibt? Kimmy schluckt einmal und setzt sich dann in Zeitlupe in Bewegung. Allerdings nicht, um Betty hinterher zu laufen, sondern um quer durch die Innenstadt zum Einsteingymnasium zurückzulaufen, sodass sie dort ihre Trainingssache und den Schulrucksack aus ihrem Schließfach holen kann, bevor sie zum Training geht.
***
Jez wird durch einen Sturmklinger geweckt. Stöhnend rollt er sich auf den Bauch und zieht die Decke, die er während er geschlafen hat von sich geschoben hat, wieder über die Schultern. Er zittert nicht mehr, aber unter der Bettdecke ist es trotzdem viel angenehmer. Genervt öffnet Jez die Augen und sieht auf die Digitaluhr seines Handys, als das Klingeln nicht aufhört, bevor er sich aufsetzt und sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare fährt. Es ist mittlerweile schon nach siebzehn Uhr, was heißt, dass seine Mutter zu ihrer Schicht ins Krankenhaus ist. Ein letztes Mal seufzt er, bevor er sich komplett aufsetzt und dann langsam aufsteht. Mit einer Hand greift er nach seiner grauen Sweatshirtjacke und zieht sie, während er die Treppe langsam, sockig heruntergeht, über. Noch einmal fährt er sich durch die Haare und über die müden Augen, bevor er die Haustür öffnet und dem Sturmklingen so ein Ende bereitet.
„Jez, ich muss mit dir reden. Egal ob du krank bist, oder nicht!“ Erstaunt macht Jez einen Schritt zurück, als Betty sich an ihm vorbei ins Haus schiebt und die Haustür hinter sich zudrückt. Zielstrebig läuft sie, als wäre sie schon einmal hier gewesen, durch den Flur direkt ins Wohnzimmer. Jez folgt ihr irritiert und fährt sich mit einer Hand über die Schläfe. Egal, wie lange und gut er geschlafen hat, das Pochen im Kopf ist eindeutig nicht weniger geworden! Betty lässt sich auf das Sofa fallen und folgt dann mit den Augen Jez, wie er sich, genau wie sie, auf das Sofa fallen lässt und sich den Kopf reibt. „Du bist ja echt krank…“, stellt sie einen Tick leiser als gerade eben noch fest.
„Ach echt?“, fragt Jez mit sarkastischem Unterton in der Stimme. Betty sieht ihn einen Moment lang an, wendet den Blick dann ab und pustet langsam die Luft auf den Wangen.
„Ich… “, beginnt sie und bricht dann ab. Aus irgendeinem Grund ist sie von ihrem felsenfesten Vorhaben doch irgendwie etwas abgekommen. Jez stützt den Kopf in beide Hände und fährt sich noch einmal durch das Haar.
„Du?“, fragt er, als er den Kopf hebt und Betty einen Moment mustert. Diese spielt mit dem Armband, das um ihr rechtes Handgelenkt hängt und scheint zu überlegen.
„Ich…“, beginnt sie wieder, hebt den Kopf und pustet seufzend die Luft aus. Dann setzt sie sich entschlossen aufrecht hin und sieht Jez in die Augen. „Versprich mir, dass du mich nicht unterbrichst!“ Jez runzelt die Stirn.
„Versprochen?“ Um ehrlich zu sein hat er komplett keine Lust dazu, Betty stundenlang zuzuhören. Er will einfach nur zurück in sein Bett und wieder schlafen! Im Stillen hofft er nur, dass Betty es nicht zu sehr übertreibt.
„Ich habe Kimmy gesagt, dass ich nicht glaube, dass du mit ihr geschlafen hast und…“ Betty unterbricht sich mitten im Satz selbst und sieht Jez an, als hätte nicht sie sich selbst, sondern er sie unterbrochen. „…sie fand es nicht so toll.“ Jez sieht Betty ein wenig verständnislos an. Erstens, weil er nicht versteht, warum sie so einen Aufriss gemacht hat, bevor sie ihm das gesagt hat und zweitens, weil sie ihm damit nicht wirklich etwas Neues sagt. Er setzt gerade an, um etwas zu sagen, aber Betty schneidet ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Du hast versprochen den Mund zu halten, bis ich fertig bin!“ Sie sieht ihn für einen Moment streng an und beginnt dann wieder an dem Lederarmband herumzuspielen. „Ich glaube, sie ist sich selbst nicht mehr sicher, ob sie das Richtige denkt. Und ich glaube, dass sie dich liebt und dass es sie einfach wahnsinnig verletzt hat und…“ Betty bricht wieder ab und wendet den Kopf von Jez ab. Ihr fällt es aus irgendeinem Grund unglaublich schwer, die Worte in eine verständliche Reihenfolge zu bringen. Vielleicht, weil sie sich ein wenig fühlt, als würde sie ihre beste Freundin verraten, vielleicht aber auch, weil Jez bisher noch nicht die erwartete Reaktion gebracht hat. „…und ich glaube, dass sie dich mit Finn nur eifersüchtig machen will.“ Vorsichtig sieht Betty Jez aus den Augenwinkeln heraus an. Dieser fährt sich mit beiden Händen wieder durch sein zerzaustes Haar und pustet langsam die Luft zwischen den Lippen hindurch. Dann stützt er das Kinn in beide Hände und sieht Betty an.
„Sie hat sich gestern schon ziemlich an ihn rangemacht, als ich an ihr vorbei bin.“, murmelt er, wieder einmal mehr laut gedacht.
„Es kommt mir auch komisch vor. Sie schreibt mit ihm erst seit ein paar Tagen und versteht sich so…“ Mit beiden Händen gestikuliert Betty ein wenig, da ihr kein passendes Wort einfällt. „Du weißt, was ich meine! Am Anfang habe ich gedacht, dass sie es ja eigentlich verdient hat. Aber sie… ich weiß nicht. Sie verstellt sich in seiner Nähe irgendwie.“ Man kann Betty deutlich anmerken, dass sie sich Sorgen macht. „Ich meine, es ist doch nicht normal sich zu verstellen, um jemand anderen zu gefallen?“ Jez schüttelt ganz langsam den Kopf. Betty senkt den Blick und beginnt wieder mit ihrem Armband zu spielen. „Ich glaube, ich bin noch daran schuld, dass sie jetzt mit Finn schreibt.“ Betty spürt Jez Blick auf sich und wartet darauf, dass er irgendetwas erwidert, doch sie wartet vergeblich. Er stützt einfach nur den Kopf in die Hände und schließt die Augen. Verwirrt hebt Betty die Augenbrauen. „Es tut mir leid“, murmelt sie ganz leise. Jetzt hebt Jez doch den Kopf und sieht sie einen Moment an. Betty weicht seinem Blick aus. „Auf dem Big Blöpp - ich hab sie davor noch ein bisschen mit dir aufgezogen und…“ Betty hebt für einen Moment den Blick, nur, um Sekunden später die Tischplatte des kleinen Couchtischs zu hypnotisieren und sich dann die Haare zu rauft. „…sie hat mir gesagt, dass du sie an dem einen Tag küssen wolltest und dass dann dein Handy geklingelt hat.“ Betty rattert die Wörter herunter, nur, um sie so schnell wie möglich ausgesprochen zu haben. „Sie hat mich danach angerufen, hat gesagt, dass sie dich liebt und dann hat sie gesagt, dass sie Angst davor hat, dass du einer von denen bist, die nur das eine wollen!“ Betty presst die Lippen aufeinander und wendet sich nun komplett von Jez ab. Sie schließt die Augen und atmet einige Male ein und aus. Es fühlt sich an, als würde sie ihre beste Freundin verraten! Als würde sie ihrem größten Feind erklären, wie er sie umbringen kann!
„Ich hätte nicht an mein Handy gehen dürfen. Ich hätte sie einfach küssen sollen.“ Betty öffnet überrascht die Augen und dreht sich zu Jez. „Ich glaube es ist besser, wenn…“ Er stockt, erhebt sich und fährt mit den Fingern durch sein Gesicht. „…wenn ich sie einfach in Ruhe lasse. Ich habe es doch selbst verbockt.“ Betty hebt die Augenbrauen. Sie hat mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Jez einfach aufgibt und die gesamte Schuld auf sich nimmt. Fast wie in Zeitlupe steht Betty auf und macht einen Schritt aus Jez zu.
„Du willst jetzt nicht ehrlich aufgeben?“ Jez presst die Lippen aufeinander und sieht an Betty vorbei.
„Ich glaube es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Betty will protestieren, schluckt die vielen Worte, die ihr auf der Zunge liegen jedoch herunter und seufzt leise.
„Schade. Ich habe gedacht, du bist einer, der kämpft, um sein Ziel zu erreichen.“ Betty schiebt sich an Jez vorbei und verlässt das Wohnzimmer. Im Stillen hofft sie, dass Jez ihr folgt, doch als sie ihren Kopf ein wenig nach hinten dreht, kann sie erkennen, dass er sich keinen Zentimeter gerührt hat. Sie zwingt sich dazu, nicht noch einmal zu seufzten, dann verlässt sie das Haus.
Kimmy seufzt leise in ihr dunkles Zimmer hinein. Es ist fast vier Uhr morgens und sie hat noch keine Sekunde geschlafen. Mit dem rechten Zeigefinger malt sie kleine, imaginäre Kreise auf das Bettlaken direkt neben ihrem Kopf. Seit fast drei Stunden liegt sie jetzt schon grübelnd unter ihrer Bettdecke. Bis kurz nach ein Uhr nachts hat sie noch mit Finn geschrieben, aber irgendwie konnte sie sich nicht wirklich darauf konzentrieren. Immer wieder sind ihr Bettys Worte durch den Kopf geschossen. ‘Kimmy, bitte versteh mich nicht falsch, aber ich habe das Gefühl, dass Jez nicht lügt. Und ich glaube auch nicht, dass er damit, dass er dich liebt, lügt!‘ Kimmy seufzt noch einmal leise und zieht die Hand dann unter die weiche Decke. Kann es vielleicht sein, dass Betty wirklich recht hat…? Dass Jez sie wirklich liebt und dass er wirklich nicht mit ihr geschlafen hat? Kimmy zieht die Knie an und vergräbt das Gesicht in der Decke. Kann es vielleicht sein, dass sie sich auf die Version, dass Jez sie eiskalt ausgenutzt hat, so sehr versteift hat und dass die Traumstücke nicht nur zusammengesponnen, sondern Erinnerungsstücke sind? Kann es vielleicht sein, dass sie ihn geküsst hat und nicht anders herum? Dass er sie zwar auch geküsst hat, aber dass er, bevor es so weit kommen konnte, dass sie miteinander schlafen, stopp gesagt hat und sie wirklich nur in seinen Armen eingeschlafen ist? ‘…und ich habe Jez gesagt, dass du jedem, der dir nur minimal etwas bedeutet, einen Korb gibst!‘ Kimmy löst das Gesicht aus der flauschigen Bettdecke und pustet die angehaltene Luft langsam aus. Hat Betty in diesem Punkt vielleicht auch recht? Dass sie jedem, der ihr etwas bedeutet, einen unbewussten Korb gibt? Aber dann müsste sie doch Betty, Romy und Max auch schon längst zurückgewiesen haben! Oder ist es bei ihnen vielleicht etwas anderes? Klar liebt sie Betty. Als ihre beste Freundin eben. Romy, als das beste Hockeymädchen, das sie kennt und Max, weil sie ihn einfach schon seit ihrer Kindheit kennt. Weil er früher mit Lennard zusammen Handball gespielt hat. Und weil er irgendwie ein Teil von Betty ist. Und Jez? Ist es diese bestimmte, andere Liebe? Diese Liebe, die sie dazu bringt, immer wieder an ihn denken zu müssen? Diese Liebe, die sie dazu bringt, ihn immer wieder anzusehen und sich selbst Vorwürfe zu machen, weil es ihm ihretwegen schlecht geht? Diese Liebe, die sie dazu bringt, keine anderen Jungen mehr so genau anzusehen, wie sie ihn ansieht? Grübelnd dreht sich Kimmy auf den Rücken. Die kleine Stofftiermöwe fällt bei dieser Bewegung von ihrem Platz auf dem Bettpfosten und kullert über das Kissen und Kimmys Schulter, bis sie auf ihrem Bauch liegen bleibt. Mit einer Hand greift diese nach dem kleinen Stofftier. In der Dunkelheit kann Kimmy nur die Konturen des kleinen Seevogels erkennen, doch es genügt, um sie an Lennard zu erinnern. Mit beiden Händen drückt sie das Stofftier an die Brust und schließt die Augen.
„Was glaubst du, was soll ich machen?“, flüstert sie leise in die Stille hinein. „Jez bestrafen oder ihn alles erklären lassen?“ Kimmy weiß, dass sie keine Antwort bekommt, wie auch? Aber irgendwie befreit es sie ein wenig, die Frage ausgesprochen zu haben. Zu wissen, wie es sich anfühlt, diese Worte in diesem Zusammenhang auszusprechen...
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Als Jez aufwacht und vorsichtig blinzelnd die Augen öffnet, fällt helles Tageslicht durch sein Fenster. Die Sonnenstrahlen tanzen auf dem hellen Holzboden, auf dem Klamottenberg auf seinem Schreibtischstuhl und auf den Schulbüchern, die ordentlich in ihrem Fach in dem großen Regal stehen. Langsam setzt Jez sich auf und reibt sich mit einer Hand über die Augen, bevor er sie zögerlich öffnet und nach seinem Handy greift. Die Digitalanzeige zeigt 10:43 Uhr an. Leise pustet Jez die Luft zwischen den Lippen hindurch und lehnt sich dann zur Seite, um das Handy, das nur noch fünf Prozent Akku hat, an das Ladekabel zu stecken. Einen Moment sieht er sich noch in seinem Zimmer um und überlegt, ob er jetzt noch ein bisschen weiterschlafen oder ob er doch lieber aufstehen soll.
Entschlossen schiebt Jez mit beiden Händen die Decke zur Seite, steht langsam auf und sucht sich dann frische, gemütliche Klamotten aus seinem Kleiderschrank. Bevor er das Zimmer Richtung Bad verlässt, öffnet er das Fenster und lässt frische Luft in das Zimmer.
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Nachdem Jez frisch geduscht die Küche betreten und an dem leicht aufkommenden Schwindelgefühl festgestellt hat, dass es ihm immer noch nicht hundertprozentig gut geht und um kurz vor elf Uhr an einem Schultag gefrühstückt hat, sitzt er jetzt in seinem Zimmer auf seiner Bettdecke und versucht das zu entziffern, was er in der letzten Lateinstunde aufgeschrieben hat, bevor er aus der Klasse geflogen ist. Nicht nur seine in diesem Fall wirklich unleserliche Schrift lässt ihn immer wieder seufzen, sondern die Sprache an sich. Ganz ehrlich? Wer braucht heutzutage noch Latein, außer vielleicht Medizinstudenten? Genervt lässt Jez den karierten Collegeblock auf seine Bettdecke sinken. Als er die Sprache am Anfang des vergangenen Schuljahres Französisch, Spanisch und Chinesisch – was auf dem Gymnasium in Köln angeboten wurde - vorgezogen hat, dachte er wirklich, es wäre eine gute Entscheidung, doch jetzt könnte es sich dafür Ohrfeigen, dass er Französisch oder Spanisch nicht gewählt hat, obwohl er in Spanisch nur ein bisschen mehr hätte lernen müssen, um gut im Unterricht mitzukommen.
Auch wenn er fast den gesamten vergangenen Tag geschlafen hat, lastet die Müdigkeit schon wieder schwer auf seinen Augenlidern. Mit ein bisschen zu viel Schwung schiebt Jez den Block von seiner Bettdecke, woraufhin er von seinem Bett fällt und die einzelnen Blätter herausfallen. Seufzend lehnt Jez sich über die Bettkante, sammelt mit einer Hand die Blätter wieder ein, mit der anderen hebt er den Bock auf, in den er die Blätter hineinlegt und diesen dann auf dem Nachttisch platziert. Ein wenig ungeschickt kriecht er unter die blau überzogene Bettdecke und kuschelt sich darunter.
Müde schließt er die Augen und will eigentlich einschlafen, doch die Gedanken an Bettys unangekündigten Besuch am Vortag lassen ihn die Welt der Träume nicht erreichen. Hat sie vielleicht recht damit, dass er einfach so aufgibt? Dass er nicht mehr um Kimmy kämpft? Jez muss sich selbst eingestehen, dass er, seit Kimmy ihn zurückgewiesen hat, nichts mehr unternommen hat, um sie zum Umdenken zu bringen. Aber was soll er auch machen? Kimmy würde ihm doch sowieso nicht zuhören! Und die Sache, dass Kimmy ihn mit Finn nur eifersüchtig machen will… Muss nicht auch irgendein Gefühl in ihr sein, dass sie ihn eifersüchtig machen will? Mal abgesehen von der Wut, die er selbst sogar verstehen kann. Jez öffnet die Augen wieder und starrt gedankenverloren durch sein vom Tageslicht erhelltes Zimmer. Vielleicht liegt Betty mit ihrer Vermutung, dass Kimmy irgendwelche Gefühle für ihn hat nicht einmal falsch. Vielleicht denkt Kimmy, dass sie sich von ihren Gefühlen abwenden kann, wenn sie es erst schafft, dass er selbst nicht mehr dazu stehen kann!
***
Kimmy fährt sich mit den Fingern ein letztes Mal aufgeregt durchs Haar, dann folgt sie Finn durch die Haustür und lächelt, als er den Kopf kurz zu ihr umdreht und sein sanftes Standartlächeln auf seinen Lippen erscheint. Er schlüpft aus seinen Schuhen und wartet dann darauf, dass Kimmy es ihm gleichtut und ihm die Treppe hinunter in den Keller folgt, in dem sein Zimmer liegt. Noch bevor Kimmy das Zimmer betreten kann, drückt Finn auf den Lichtschalter. Zögerlich tritt Kimmy durch den Türrahmen und sieht sich dann neugierig um. Zu ihrer Verwunderung ist das Zimmer recht ordentlich, nur einige Schulbücher liegen zu einem Stapel gebildet auf dem Schreibtisch. Dieser steht unter dem kleinen Kellerfenster, rechts daneben ein Regal und ein großer Schrank. An der Wand links neben der Tür hängt ein mittelgroßer Flachbildfernsehr, darunter steht ein kleines, flaches Schränkchen, auf dem eine Spielkonsole steht. Gegenüber steht Finns Bett. Als Kimmy die Bettdecke sieht, muss sie ungewollt grinsen. Dass es Menschen gibt, die bestimmte Fußballvereine vergöttern, weiß sie ja, aber sie hätte beim besten Willen nicht gedacht, dass der achtzehnjährige Finn, der vor ihr steht und ihrem Blick folgt, auch einer von diesen fanatischen Fans ist.
„Sag nichts, es gibt keinen geileren Verein als den KSC!“ Kimmy grinst noch immer, schiebt sich dann an Finn vorbei und lässt ihren Rucksack von den Schultern rutschen.
„Naja… Geschmackssache.“ Finn hebt die Augenbrauen, doch auf seine Lippen liegt immer noch das freche Grinsen.
„Ich habe gedacht, du bist kein Fußballfan…“ Kimmy lächelt schelmisch und lässt sich dann langsam auf das Bett sinken.
„Das habe ich auch nie behauptet! Ich meine nur… “, sie sieht einen Moment auf die blau-weiße Bettdecke, „…du hättest dir vielleicht einen Verein mit außergewöhnlicheren Vereinsfarben aussuchen können.“ Finn schüttelt sanft den Kopf und grinst noch immer.
„Dass Mädchen immer nach den Vereinsfarben oder dem Aussehen der Spieler gehen.“ Gespielt beleidigt verschränkt Kimmy die Arme vor der Brust.
„Ach, denkst du das von mir?“ Finn steht nun direkt vor Kimmy und sieht zu ihr nach unten.
„Denkst du, dass ich das von dir denke?“ Er greift nach ihren Händen und zieht sie hoch. Auch so ist Kimmy noch ein ganzes Stück kleiner als er, aber das merkt sie in diesem Moment gar nicht. Eher merkt sie, wie dicht Finn an ihr steht, ihre Hände rechts und links neben ihrer Taille in Finns Händen, bis er ihre linke Hand loslässt um ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen.
„Keine Ahnung…“, murmelt Kimmy leise und senkt den Kopf ein wenig, sodass sie nicht mehr richtig wahrnehmen kann, wie dicht sie an Finn steht. Es fühlt sich, ganz tief in ihrem Inneren, falsch an. Finn ist nicht der Junge, dem sie so nahe sein will! Es ist ein ganz anderer… Entschlossen hebt Kimmy den Kopf wieder, entzieht ihre Hand aus Finns und schlängelt sich unter seinem Arm durch. „Wolltest du mir nicht Mathe erklären?“ Im Stillen hofft Kimmy, dass Finn diese Aktion nicht als Abfuhr sieht, denn ihren Plan aufgeben will sie eigentlich nicht. Sie konnte nur jetzt einfach nicht anders! Zu Kimmys Beunruhigung sieht er jedoch nicht ganz zufrieden aus, auch wenn man erkennen kann, dass er sich anstrengt, sich nichts anmerken zu lassen.
„Stimmt.“ Kimmy greift nach ihrem Rucksack und zieht ihr Mathebuch heraus. Es stimmt wirklich, dass Finn sich angeboten hat, um ihr Mathe zu erklären. Und um ehrlich zu sein, hat Kimmy es nicht nur wegen ihrem Plan angenommen. Irgendjemand sollte ihr Mathe wirklich mal erklären, sonst steht sie schriftlich wirklich auf der Kippe zu einem Unterkurs.
***
Seufzend entsperrt Jez sein Handy zum gefühlt tausenden Mal innerhalb von nur zehn Minuten. Er schreibt gerade den Text, den seine Klasse heute im Deutschunterricht geschrieben hat und von dem Max ihm ein Foto über WhatsApp geschickt hat, ab. Jez liest immer einen Satz durch und versucht in sich so lange zu merken, bis er ihn zu Papier gebracht hat, aber das gelingt ihm nicht so recht. Nachdem er lange in seinem Bett gelegen und gegrübelt hat, ist er wirklich eingeschlafen. Der Schlaf war jedoch nicht wirklich erholsam. Seine Gedanken haben ihn bis in die Träume verfolgt. Die Erinnerungen an seinen Traum sind nur noch bruchstückenmäßig in Jez Gedächtnis vorhanden, aber sie schieben sich trotzdem vor seine Konzentration. Er hat davon geträumt, wie Betty ihn gefragt hat, ob er wirklich aufgeben will. Wie Max zu ihm gesagt hat, dass doch jeder bei dieser einen Person die Kontrolle irgendwie verliert. Und wie Kimmy zu ihm sagt, was für ein grandiosen Lügner er ist. Alles Sätze, die die drei in Wirklichkeit mal zu ihm gesagt haben. Jez lässt seinen Kuli auf den karierten Block sinken und stützt den Kopf auf seine rechte Hand. Vielleicht haben Betty und Max ja recht. Vielleicht ist er wirklich normal, bei manchen Menschen die Kontrolle über sich zu verlieren. Vielleicht hat er ja wirklich schon aufgegeben und will es sich selbst nur noch nicht eingestehen. Jez hebt den Kopf und steht auf. Er tigert nachdenklich durch sein Zimmer und bleibt schließlich an seinem Fenster stehen.
Auf der Straße versucht gerade ein Junge, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre, einem anderen Junge Longboard fahren beizubringen. Sofort wird Jez an Jeremy und seine Freunde in Köln erinnert. Jeremy hat zum letzten Weihnachten ein Longboard geschenkt bekommen und auch gerade in der Innenstadt von Köln sind viele Jugendliche mit Long- oder Pennyboards unterwegs. Seufzend lässt Jez seinen Blick wieder durch das Fenster über die Straße wandern. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er doch in Köln geblieben wäre… aber andererseits… Augenblicklich schiebt Jez den Gedanken beiseite. Niemals wäre er bei seinem Vater und vor allem bei dessen neuer Frau, die gleichzeitig die Mutter seines ehemaligen besten Kumpels ist, geblieben, auch wenn er so Jeremy und seine Freunde verlassen musste. Gerade will Jez sich von seinem Fenster abwenden, da erkennt er aus dem Augenwinkel eine Person, die den Gehweg entlanggeht. Langsam wendet Jez sich wieder seinem Zimmerfenster zu und sieht von oben heraus auf die Straße. Auch von oben erkennt Jez Kimmy sofort. Über ihren Schultern hängt ihr lilafarbener Rucksack, in den Händen hält sie ihr Handy und tippt darauf herum. Auch als sie die Straße überquert, sieht sie nicht von ihrem Handy auf und läuft deshalb fast in einen der kleinen Jungen hinein, der sich so lautstark bei Kimmy beschwert, dass Jez jedes einzelne Wort durch das gekippte Fenster klar verstehen kann. Kimmy hält ihr Handy noch immer in der rechten Hand und fährt den Jungen an, dass er doch aufpassen soll, wohin er fährt. Ohne auf eine Antwort zu warten, setzt sich Kimmy wieder in Bewegung. Einer der beiden Jungen ruft ihn noch etwas hinterher, doch Kimmy hat ihre Augen schon wieder auf das Display ihres Handys geheftet, bevor sie den Hof ihres Elternhauses betritt und – die Augen immer noch auf dem Handydisplay – den Schlüssel aus ihrer Jackentasche zieht. Jez hebt die Augenbrauen und wendet sich dann von seinem Fenster ab. Wenn Kimmy ihren Bruder bei einem Autounfall verloren hat, warum ist sie dann so unvorsichtig? Bevor Jez weiterdenken kann, klingelt sein Handy. Er erwartet eigentlich keinen Anruf, deshalb sieht er ein wenig verwirrt auf das Display und nimmt den Anruf schnell an, als er den Namen auf dem Display gelesen hat.
„Jeremy, alles in Ordnung?“ Zum ersten Mal merkt Jez, dass er jeden Anruf von Jeremy mit diesem Satz beginnt.
***
Mit den Fingern fährt Kimmy langsam über die die Tasten ihres Laptops und legt ihren Kopf in den Nacken. Eigentlich wollte sie heute Abend mit Betty mal wieder einen von ihren Mädchenabenden machen, aber Kimmy hatte am Morgen um ehrlich zu sein keine Lust gehabt, Betty wie ein kleiner Straßenköter hinterherzurennen und sich für etwas bei ihr zu entschuldigen, für das sie nicht im Geringsten etwas kann. Betty hätte gestern doch nicht mit Jez anfangen müssen! Sie hat ihr doch unterstellt, sie würde Jez und Finn von vorne bis hinten verarschen und Lügen erzählen! Leise schnaubt Kimmy beim Gedanken daran, was ihre Freundin ihr am Vortag alles unterstellt hat. Innerlich verspürt sie eine komische Wut, die jedoch von einem anderen Gefühl überwogen wird. Einsamkeit. Ohne Betty hat Kimmy einfach niemanden, mit dem sie über alles – außer über Lennard – reden kann. Romy, zum Beispiel, ist zwar eins der liebsten Mädchen, das Kimmy kennt, aber sie kennt Kimmy eben nicht gut genug. Klar, weiß sie von Lennard, aber nicht, wie sehr Kimmy noch immer unter seinem Tod leidet. Sie weiß, dass da etwas zwischen ihr und Jez gelaufen ist, aber sie hat keine Ahnung, was wirklich passiert ist. Langsam schiebt Kimmy den Laptop von den Knien, stellt ihn neben ihrem Bett auf den Fußboden und rollt sich dann unter ihrer Bettdecke zusammen. Ist die Sache mit Finn wirklich so eine gute Idee? Diese Frage würde Kimmy jetzt gerne irgendjemand stellen. Irgendjemand, der sie ihr aus ehrlichem Herzen heraus beantwortet. Obwohl sie die Antwort eigentlich selbst kennt. Nein, ist es nicht. Es hat sich so falsch angefühlt, so dicht an Finn zu stehen. Zu sehen, wie seine Augen funkeln, wenn er sie ansieht. Zu sehen, wie er sich zusammenreißen muss, um ihr nicht klar und deutlich zu zeigen, wie sie ihn mit ihrer Abfuhr verletzt. Und zu spüren, wie er die Nähe zu ihr sucht.
Kimmy wird erst genau in diesem Moment bewusst, was das bedeuten könnte. Ruckartig setzt sie sich auf und schließt die Augen. Das kann nicht sein! Finn kennt sie doch erst seit wenigen Tagen! Er kann sich doch nicht… Kimmy schafft es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Natürlich ist es Kimmys Plan, aber irgendwie hat sie nie wirklich darüber nachgedacht, ob Finn vielleicht wirklich mehr als nur freundschaftliche Gefühle – wenn man das nach so kurzer Zeit schon sagen kann – für sie hat. Wie müsste er sich wohl fühlen, wenn er irgendwann herausfinden würde, dass alles das, was sie hier gerade abzieht, nur eine beschissene Show ist, um den Jungen eifersüchtig zu machen, der sie verletzt hat?
Ein letztes Mal zieht Kimmy ihre Stutzen hoch, bevor sie nach ihrem Hockeyschläger greift und sich auf ihre Position für das Anspiel begibt.
Heute ist ein Heimspieltag der Hockeyabteilung des SuS Achern und nach ihrer Mannschaft, den B-Mädchen, spielt die Damenmannschaft, weshalb schon einige Zuschauer, die das Damenspiel sehen wollen, um das Spielfeld herum verteilt stehen. Für das Spiel hat Kimmy sich vorgenommen, alle Gedanken, die nichts mit Spielzügen oder sonst etwas zu tun haben, aus ihren Kopf zu verbannen. Mit der rechten Hand streicht sie sich ein letztes Mal über die Haare, dann konzentriert sie sich voll auf das bevorstehende Spiel.
Immer und immer wieder versucht die Mannschaft die Spielzüge, die Lydia mit ihnen in den letzten Trainings geübt habt, auch jetzt im Spiel umzusetzen. Vom Spielfeldrand aus ruft Lydia den Mädchen Anweisungen zu.
„Romy, geht weiter zurück!“ Wäre Kimmy nicht, wie in jedem anderen Spiel auch, voller Adrenalin, würde sie Lydia dafür bewundern, dass sie in dem Wirrwarr, den die Mannschaft manchmal auf den Platz bringt, überhaupt noch ein System erkennt. Man kann deutlich erkennen, dass sie erst das zweite Jahr als Mannschaft zusammen auf dem Platz stehen.
Neah nimmt einen von Romy nicht ganz platzierten Pass an und leitet ihn direkt in eine Schnittstelle der gegnerischen Abwehr weiter. Obwohl es nicht Kimmys Position ist, erkennt sie, dass sie, wenn sie einen Zahn zulegt, den Pass noch annehmen kann und dann, ausgenommen von der Torfrau und einer Gegenspielerin, frei vor dem Tor stehen würde. Ohne groß darüber nachzudenken, rennt Kimmy los, fischt sich den Ball zwischen den beiden Gegenspielerinnen heraus und schiebt ihn mit einem energischen Ruck an der alleingelassenen Torfrau ins Tor.
Kimmy hat noch gar nicht richtig realisiert, dass sie den Hockeyball gerade eiskalt im gegnerischen Tor versenkt hat, da kommt Neah jubelnd auf sie zugelaufen und umarmt Kimmy überschwänglich. Auch die anderen Mädchen kommen laufen auf sie zu und bejubeln das Tor. Romy gibt Kimmy einen Klaps auf den Hinterkopf.
***
Unwissend, wo Betty und Max ihn hinbringen, folgt Jez den beiden über den großen Platz vor der Ortenauhalle. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Samstag damit zu verbringen, für die Englischklausur zu lernen, die er noch nachschreiben muss und die Hausaufgaben zu machen, die er in den letzten Tagen eigentlich hätte machen müssen, aber Betty und Max haben darauf bestanden, dass er mit ihnen an diesen für ihn unbekannten Ort kommt.
Schon, bevor der Hockeyplatz hinter der Ortenauhalle in Jez Blickfeld wandern kann, hört er, dass dort ein Spiel stattfinden muss. Nur noch zögerlich folgt Jez Betty und Max. Vielleicht spielen gerade Kimmys Hockeymannschaft. Denken die beiden wirklich, dass er hier und jetzt mit Kimmy redet? Dass sie ihn einfach hierherbringen können und dass dann alles wieder gut ist? Max dreht den Kopf zu Jez, als er merkt, wie Jez seine Schritte verlangsamt. Mit einer Kopfbewegung deutet er an, dass er sich ein bisschen beeilen soll.
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Es laufen gerade die letzten Minuten des Spiels und die Mannschaft des SuS führt immer noch knapp mit dem 1:0, dass Kimmy gleich am Anfang des Spieles geschlossen hat. Der momentane Angriff der SuS Mädchen läuft fast genauso ab, wie der, der die in Führung gebracht hat. Neah nimmt den Pass von Romy an und leitet ihn wieder durch haargenau dieselbe Schnittstelle weiter an Kimmy. Kimmy fischt sich den Ball wieder zwischen ihren beiden Gegenspielerinnen heraus und müsste ihn eigentlich nur an der Torfrau in das Tor schieben, doch diesmal macht sie es nicht so eiskalt wie vorher. Das ganze Spiel über konnte sie sich zusammenreißen und Jez, Betty und Finn aus ihren Gedanken verbannen, doch jetzt schafft sie es einfach nicht mehr. Aus dem Augenwinkel heraus erkennt sie drei Personen, die am Spielfeldrand entlanglaufen und Kimmy weiß sofort, wer es ist. Wer einer dieser Personen ist. Jez!
Die Sekunde, die Kimmy mit ihren Gedanken verschwendet hat, nutzt die Torfrau der anderen Mannschaft, klaut Kimmy den Ball vom Schläger weg und spielt ihn direkt in den Lauf einer ihrer Mitspielerinnen. Diese nimmt ihn grandios an und sprintet dann, mit dem Ball am Schläger, los. Sie lässt die beiden Abwehrspielerinnen des SuS einfach hinter sich und schiebt den Ball, mindestens genauso cool wie Kimmy vorher, an der Torfrau des SuS vorbei. Sofort, als der Ball im Netz zappelt, lässt die Spielerin einen Jubelschrei los und lässt sich von ihren Gegenspielerinnen umarmen.
„Verdammt!“ Kimmy schmeißt enttäuscht von sich selbst ihren Hockeyschläger auf den roten Untergrund. Das Tor ging eindeutig auf sie! Aus dem Augenwinkel kann Kimmy erkennen, wie Lydia am Spielfeldrand vor sich hin flucht.
Nach dem Gegentor pfeifen die Schiedsrichter das Spiel nicht mehr an. Enttäuscht hebt Kimmy ihren Hockeyschläger auf und fährt sich mit den Fingern durch die nass geschwitzten Haare. Langsam trottet sie zu den anderen der Mannschaft, die mindestens genauso enttäuscht wie sie wegen des wahrlich in letzter Sekunde verschenkten Sieges sind.
„Sorry“, murmelt Kimmy leise. Sie weiß, dass die anderen genauso wie sie wissen, dass der Ausgleich auf ihre Kappe geht und lieber entschuldigt sie sich dafür, anstatt dass sie so tut, als wäre es nicht ihre alleinige Schuld gewesen.
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Jez steht neben Max hinter Betty und versucht sich dazu zu zwingen, nicht immer und immer wieder zu Kimmy herüber zu schauen, die gerade ihre Stutzen mit der Schuhinnenseite herunter schiebt, die Schienbeinschoner und den Hockeyschläger aufhebt und von jedem der anderen Mädchen, die in Richtung der Umkleidekabinen gehen, einen aufmunternden Klaps auf den Hinterkopf bekommt. Nur noch eine Frau, Mitte zwanzig vielleicht, steht noch neben Kimmy und sagt etwas zu ihr. Kimmy richtet sich auf, fährt sich mit den Händen über die Haare, schüttelt den Kopf und sagt irgendetwas, bevor sie sich in Bewegung setzt und den anderen Mädchen in die Umkleidekabine folgt.
„Und was soll das jetzt werden?“, fragt Jez mit einem gewollten, negativen Unterton in der Stimme. Er lässt seinen Blick über die anderen Leute wandern und bleibt an dem blonden Haar eines Jungen hängen. Finn.
„Wie wär’s, wenn du nachher mit Kimmy redest?“ Betty sieht Jez ganz vorsichtig an, doch er sieht ihr nicht in die Augen. Er starrt nur einen Moment am Spielfeldrand entlang, dann sieht er Max kurz an.
„Vergesst es, okay?“ Bevor die beiden nur Luft holen können, um etwas zu erwidern, hat Jez sich umgedreht und ist um die Ecke der großen Sporthalle gebogen.
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Kimmy folgt Neah frisch geduscht und mit der Trainingstasche über der Schulter um die Ecke der Ortenauhalle und steuert dann geradewegs auf Finn und Fabian zu, die das ganze Spiel mit verfolgt haben. Ein wenig mitleidig nimmt Finn Kimmy zur Begrüßung in den Arm. Kimmy kuschelt sich in Finns Arme. Egal, wer jetzt vor ihr stehen würde, sie würde jedem in die Arme fallen, nur, um die Nähe zu einer Person zu spüren und so das Spiel für einen Moment zu vergessen. Ja, es ist nur ein Spiel. Aber wenn man bis zu letzten Minute führt, sich freut, weil man den Sieg schon zur Hälfte in der Tasche hat und dann gibt man ihn so fahrlässig wieder her, dann kann man doch enttäuscht sein! Erst nach einigen Sekunden löst sich Kimmy aus der Umarmung und sieht mehr unbewusst als bewusst an Finn vorbei. In ihr Blickfeld fallen sofort Betty und Max. Betty streicht sich gerade ihre Locken aus dem Gesicht und lässt sich dann von Max in den Arm nehmen, der etwas zu ihr sagt. Aber klar, auf die Entfernung kann Kimmy nicht verstehen, was er sagt. Obwohl ihr das eigentlich ziemlich egal sein sollte. Sie lässt ihren Blick noch einmal über die vielen Menschen streifen, die sich mittlerweile um das Spielfeld herum versammelt haben, aber Jez entdeckt sie nicht. Kimmy ist fast ein bisschen enttäuscht. Klar, ist er irgendwie daran schuld, dass sie sich den letzten Ball einfach abnehmen lassen hat, aber aus irgendeinem Grund hat sie es als gut empfunden, dass er da war. Finn sieht Kimmy aus seinen blauen Augen hinaus an und streicht ihr mit zwei Fingern die Haare aus dem Gesicht.
„Hey, das passiert doch jedem Mal.“ Kimmy sieht zu ihm hinauf und seufzt dann.
„Es ist trotzdem …“, murmelt Kimmy leise und lässt das letzte Wort des Satzes in der Luft hängen. Neah gibt Kimmy einen sanften Stoß in die Seite.
„Komm schon, das letzte Mal war es Romy, die den Sieg hergegeben hat. Und ohne dein Tor am Anfang wäre es auch nur ein Unentschieden geworden.“ Sie lächelt Kimmy aufmunternd zu. Noch einmal seufzt Kimmy leise, dann wendet sie sich wieder zu Finn.
***
Jez lehnt sich mit dem Rücken gegen einen der Bäume und schließt die Augen. Denken Betty und Max wirklich, dass sie ihn zu Kimmy schleifen können und dass er sich für etwas entschuldigt, was gar nicht passiert ist? Langsam öffnet Jez die Augen wieder und sieht über das ruhige Wasser des Sees.
Um ehrlich zu sein, weiß Jez nicht, warum es ihn ausgerechnet hierher verschlagen hat. Vielleicht, weil er, wenn er in Köln Stress mit jemanden hatte, immer ans Rheinufer gegangen ist. Vielleicht aber auch, weil er hier Kimmy das erste Mal außerhalb der Schule getroffen hat. Langsam lässt Jez die kleinen, grauen Kieselsteine durch seine Finger gleiten. Auch mit geöffneten Augen erscheint das Bild, wie Kimmy durch das hohe Gras läuft, wieder vor ihm. Wie der Wind ihre Locken in ihr schmales Gesicht weht. Wie sie die Strähnen energisch aus dem Gesicht streicht. Wie sie mit den Händen die Grashalme zur Seite biegt.
Energisch verscheucht Jez den Gedanken daran und atmet die heute nicht allzu warme Mailuft ein. Langsam dreht er einen der grauen Kieselsteine in den Händen und seufzt leise. Klar haben Betty und Max recht. Natürlich ist es besser, wenn er die Sache Kimmy so schnell wie möglich erklärt. Aber dann will er doch selbst entscheiden können, wann und wo. Außerdem sah sie nicht gerade so aus, als hätte sie noch wahnsinnige Lust, mit ihm zu reden, oder ihm einfach nur zuzuhören, nachdem ihre Mannschaft in wahrhaftig letzter Sekunde noch das Ausgleichstor bekommen hat. Jez seufzt noch einmal und erhebt sich dann langsam. Bevor er sich umdreht und die Hände in die Hosentaschen schiebt, lässt er den Kieselstein, den er in der Hand gehalten hat, über das Wasser flippern. Ganz langsam setzt er sich in Bewegung und läuft fast wie in Zeitlupe auf dem Feldweg neben der großen Bundesstraße entlang. Am Montag wird er mit Kimmy reden. Ganz sicher! Am Montag wird er ihr alles erklären und sagen, dass auch er einen riesigen Fehler gemacht hat.
***
Kimmy bleibt vor der Haustür stehen und zieht den Schlüssel aus der Tasche ihrer hellblauen Jeans. Finn steht gefühlt nur wenige Zentimeter hinter ihr, nur die Trainingstasche, die Kimmy über die rechte Schulter gehängt hat, hält ihn ein wenig auf Abstand. Leise pustet Kimmy die Luft, die sie gerade eingeatmet hat, aus. Es fühlt sich immer noch falsch an, was sie vorhat! Mit dem Fuß drückt sie die Haustür auf und lässt ihre Trainingstasche auf die untere Treppenstufe der Treppe fallen. Finn lächelt sanft, als er hinter Kimmy das Haus betritt und die Tür hinter sich zudrücken will. Leise seufzend dreht Kimmy sich zu ihm um und sieht wieder, ohne es zu merken, knapp an Finn vorbei. Sie schafft es einfach nicht, ihm in die Augen zu sehen. Wenn sie ihn nicht direkt ansieht, geht auch nicht wieder die Sirene, dass sie etwas falsch macht, in ihrem Kopf an. Ihr Blick fällt durch den kleinen, offenen Spalt der Tür. Kimmy erkennt nur eine Person, die auf dem Fußweg entlanggeht, schiebt sich blitzschnell an Finn vorbei und stellt einen Fuß zwischen die Tür. Sie weiß selbst nicht warum, aber irgendwie hat sie das Bedürfnis zu wissen, ob das vielleicht Jez da draußen ist.
„Mein Schlüssel…“, stammelt sie leise und drückt die Tür schnell wieder auf. Kimmy tastet nach dem Schlüsselloch und zu ihrer eigenen Verwunderung hat sie ihren Schlüssel wirklich ausversehen stecken lassen. Sie zieht ihn aus dem Schlüsselloch und erschrickt, als sie den Blick hebt und die Person erkennt, die gerade die Treppe hinauf zu der Haustür des Hauses gegenüber geht. Romy! Kimmy kann gar nicht weiterdenken, denn die Haustür vor Romy geht schon auf und Jez steht in die Tür. Auch über die Entfernung kann Kimmy erkennen, dass in Jez Gesicht ein Ansatz von einem Lächeln liegt, bevor er Romy hereinlässt. Trotzig dreht Kimmy sich um und zieht die Haustür mit ein bisschen zu viel Schwung hinter sich zu, aus Zorn auf sich selbst, weil sie diesen Eifersuchtsstich im Brustkorb gespürt hat.
Finn ist derweil aus seinen Schuhen geschlüpft und sieht sie fragend an, als er ihren Gesichtsausdruck wahrnimmt. Zu Kimmys Erschütterung merkt sie, dass sie ihren neutralen Gesichtsausdruck seit einigen Wochen nicht mehr wirklich draufhat. Schnell verzieht sie das Gesicht noch mehr, macht einen Schritt auf Finn zu und legt ihre Arme um ihn. Was Jez kann, kann sie alle mal! Wenn er sich an Romy ranmacht, dann kann sie sich auch an Finn ranmachen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen! Sie lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter und seufzt leise. „Ich hab’s voll verbockt…“, murmelt sie und spürt, wie Finn seine Arme langsam um sie schließt. Wie ein kleines Kind wiegt er sie einige Male hin und her und streicht ihr dann die offenen Haare von der Schulter, sodass er ihr Gesicht sehen kann.
„Mach es doch nicht schlimmer als es ist. Jeder verbockt doch mal was…“ Kimmy hebt den Kopf und sieht Finn in die Augen.
„Aber ich hab es richtig verbockt!“ Finn deutet ein Kopfschütteln an und lehnt seinen Kopf ein wenig nach vorne, sodass seine Stirn die von Kimmy berührt.
„Du bist schrecklich, weißt du das, Kimmy?“ Kimmy hebt einen Moment die Augenbrauen und lächelt dann.
„Ja, ich weiß.“ Finn nimmt seine Arme langsam von Kimmys Körper, wendet den Blick aber nicht ab. Er greift nach ihren Händen, wendet den Blick dann doch für einen Moment ab, nur um ihn sofort wieder auf Kimmy zu richten und sie aus seinen strahlend blauen Augen anzusehen. Kimmy spürt sofort, dass Finn irgendetwas auf dem Herzen hat. Er setzt an, um etwas zu sagen und sagt doch nichts. Erst beim zweiten Versuch, bringt er ein Wort heraus.
„Du, Kimmy. Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht blöd, weil wir uns erst so kurz kennen aber ich…“ Er bricht ab und sieht Kimmy fast schüchtern in die Augen.
„Du?“, fragt Kimmy leise und ist in diesem Moment mehr als glücklich darüber, dass ihre Eltern nicht zu Hause sind. So wie sie sie kennt, würden sie jetzt, genau in diesem Moment, hereinplatzen.
„Ich weiß nicht aber…“ Wieder bricht Finn ab und sieht Kimmy immer noch aus seinen strahlenden Augen an. „…ich find dich total süß. Und ich fand dich schon süß, als dich letztes Jahr zum ersten Mal beim Handballturnier von der Schule aus wahrgenommen habe und irgendwie… du bist mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Am Big Blöpp - Melos hat zu mir gesagt, dass ich dich ansprechen soll, aber ich hatte einfach nicht genug Mut dazu. Ich hatte selbst zu viel Angst, um dich auf Facebook zu adden. Und… “ Wieder bricht er ab und sieht Kimmy ein wenig ängstlich, als hätte er ihr gerade etwas Schreckliches gestanden, in die Augen. „Ich liebe dich, Kimmy.“ Ohne, dass Kimmy es will, senkt sie den Blick und stellt sich vor, dass nicht Finn, sondern Jez vor ihr steht. Und dass die drei ‚magischen Wörter‘ nicht aus Finns Mund stammen, sondern aus Jez. Schnell schließt Kimmy die Augen und versucht so die Vorstellung zu verscheuchen. Sieh ihn wieder an! Finn spielt bei deinem Plan doch gerade so gut mit!, schließt es Kimmy in den Kopf. Schnell öffnet sie die Augen und sieht zu Finn auf. Seine blauen Augen funkeln schüchtern, ängstlich und hoffnungsvoll zugleich.
„Ich dich auch, Finn“, antwortet Kimmy in einem Flüsterton. Komm schon!, flüstert eine leise Stimme in ihrem Kopf. Er gibt dir das was du brauchst! Jez nimmt dich nur, wenn du ihm gibst, was er braucht! Und das hast du nicht nötig! Die protestierende Stimme in ihrem Kopf ignoriert Kimmy, so gut es geht. Sie hebt beide Arme, um sie Finn um die Hals zu legen. Seine blauen Augen beginnen plötzlich zu funkeln. Diesmal aber nicht mehr zögerlich und hoffnungsvoll. Diesmal einfach nur glücklich. So glücklich, dass die protestierende Stimme es schafft, Kimmy für einen Moment zu erreichen. Siehst du! Jetzt ist er glücklich und du bist unglücklich! Er kann dir nicht geben, was du brauchst! Schnell senkt Kimmy den Blick und hofft so, die Stimme aus ihrem Kopf zu verbannen.
„Meinst du…?“ Er braucht die Worte nicht auszusprechen. Kimmy weiß, was Finn sie fragen will. Sie nickt ganz sachte und wartet dann ganz ruhig darauf, wie Finn seine Hände auf ihre Hüfte legt und sich langsam ein wenig nach vorne lehnt, um ihr einen ganz sanften, zaghaften Kuss zu geben. Angespannt hält Kimmy die Luft an. Ja, es fühlt sich nicht schlecht an, so dicht an Finn zu stehen! Aber spätestens dann, als seine warmen Lippen ihre berühren, weiß sie, dass sie das, was sie hier macht, nicht lange durchhalten wird. Es fühlt sich so falsch an, ihren ersten Kuss so zu erleben! Ohne diese Liebe, die jeder Verliebte als so wundervoll beschreibt. Und dafür, mit den streitenden Stimmen in ihrem Kopf.
Finn löst ganz langsam seine Lippen von Kimmys. Sie hat unbewusst die Augen geschlossen und öffnet sie ganz langsam wieder, bevor sich vorsichtig lächelt und sich dann in Finns warme Arme kuschelt.
***
Romy folgt Jez schweigend in sein Zimmer. Sie hat ihm kurz nach dem Spiel geschrieben. Als sie gesehen hat, wie Kimmy alleine mit Finn weggefahren ist. Aus irgendeinem Grund hat sie es als falsch empfunden, dass Kimmy sich so plötzlich und so intensiv für Finn interessiert. Jez hat ihr erst nach einer gefühlten Ewigkeit geantwortet und war von dem Vorhaben, sich mit ihr zu treffen, weil sie ihm etwas ‘sehr Wichtiges‘ zu sagen hat, nicht auf Anhieb begeistert. Mit dem Fuß stößt Jez die Tür zu seinem Zimmer auf und lässt sich wortlos auf sein Bett fallen. Er lehnt sich in sein Kissen und greift nach einem rot-gelben Handball, der bis eben noch auf der Matratze lag. Entschlossen drückt Romy die Zimmertür hinter sich zu und setzt sich, als wäre es selbstverständlich, im Schneidersitz Jez gegenüber auf das Bett.
„Also…“ beginnt Romy und sieht Jez an, bevor sie weiterspricht. Er dreht den Handball zwischen den Händen und sieht Romy ein wenig gequält an.
„Wenn du mir jetzt das gleiche erzählst wie Betty mir erzählt hat, dann…“ Romy zieht die Augenbrauen hoch. Nicht, weil sie nicht damit rechnen würde, dass Betty, Kimmys aller beste Freundin, nicht auch auf Jez zukommen würde und mit ihm über sie reden würde, sondern, weil sich das, was er sagt, fast wie eine nicht zu Ende geführte Drohung anhört.
„Dann?“, fragt sie kein bisschen verunsichert. Jez hat nicht damit gerechnet, dass Romy, das blonde Mädchen mit den blauen Augen und dem so unschuldigen Lächeln, so taff und selbstbewusst auf einen eigentlich gar nicht so gemeinten Satz reagiert. Was vielleicht auch daran liegt, dass er bisher kaum ein Wort mit ihr gewechselt hat.
„Dann…“, antwortet er, ein wenig leiser und überlegt dann erst im Stillen, was er sagen könnte. Zufrieden lächelt Romy und lehnt sich nach vorne, um Jez den Handball aus der Hand zu nehmen. Sie legt ihn, noch bevor Jez protestieren kann, neben dem Bett auf dem Boden und sieht ihn streng an, sodass er seine Proteste zwangsläufig herunterschlucken muss. Romy setzt sich ein wenig aufrechter hin, bevor sie Luft holt, um noch einmal anzufangen.
„Ich glaube es haben mehr Leute als du denkst davon mitbekommen, was zwischen dir und Kimmy auf dem Big Blöpp gelaufen sein soll.“ Jez runzelt die Stirn und will Romy unterbrechen, doch sie schneidet ihm schon vorher mit einer Handbewegung das Wort ab. „Ja, du brauchst mir nicht zu erzählen, dass du nicht mir ihr geschlafen hast!“ Langsam lässt sie ihre Hand wieder in den Schoß sinken und sieht ihm dann in die Augen. „Ich habe nicht erst einmal mit Betty darüber geredet - obwohl ich mir ihr eigentlich sonst kaum etwas zu tun habe - aber, ist ja auch egal, auf jeden Fall hat sie mir von Allem erzählt und sie hatte die Hoffnung, dass ich Kimmy vielleicht umstimmen könnte. Aber…“ Zum ersten Mal in diesem Gespräch kann Jez Unsicherheit in Romys Augen erkennen. „… ich hatte bisher irgendwie noch nicht den Mut dazu.“ Jez kommt es vor, als wäre es Romy ein bisschen peinlich zu gestehen, dass sie Angst davor hat, mit Kimmy zu reden. „Weißt du, du denkst, du kennst jemanden, aber dann tut oder sagt diese Person Sachen, die du einfach nicht verstehen kannst und für die du keine Worte hast.“ Automatisch schießt Jez das Bild von ehemals besten Freund Simeon in den Kopf.
„Ja“, antwortet er nur ganz leise. Er hebt den Blick und nimmt deutlich wahr, dass Romy ihn einen Moment lang nicht mehr mit ihrem strengen Blick ansieht.
„Ich habe immer gedacht, ich kenne Kimmy. Ich habe immer gedacht, ich weiß wie sie tickt. Was sie macht. Was sie nicht macht. Aber irgendwie habe ich mich total in ihr getäuscht. Das, was sie mit Finn macht…“ Unbewusst unterbricht Romy ihren Satz, als Finns Name fällt. „…ist…!“ Romy hebt die Hände und lässt sie wieder in den Schoß fallen, um zu demonstrieren, dass sie keine Worte für Kimmys Verhalten hat. „Und…“ Romy sieht Jez schweigend einfach nur in die Augen. „…ich glaube, du bist der Einzige, der ihr zeigen kann, dass sie echt Scheiße baut.“ Jez sieht Romy an, als hätte sie ihm gerade erklärt, wie man sich in einem Fluss ertränkt.
„Ich? Sie hört mir doch nicht mal zu!“ Romy sieht Jez noch immer in die Augen.
„Das wird sie tun. Du musst nur warten, bis sie ihren Plan weit genug durchgezogen hat.“ Jez hebt fragend die Augenbrauen, bekommt aber keine richtige Antwort von Romy. „So dumm, wie es jetzt auch klingt, ich glaube, Kimmy will dich mit Finn eifersüchtig machen. Und sie wird nicht nur bei –“ Romy imitiert Gänsefüßchen in die Luft „- dem bisschen Rummachen bleiben. Auch wenn sie solche Aktionen sonst gar nicht bringt. Ich kenne sie so nicht, dass sie sich einfach an einen Typen ranmacht, obwohl sie ihn kaum kennt.“
„Mich hat sie auch kaum gekannt.“ Romy sieht Jez aus ihren blauen Augen an und seufzt leise. Sie kennt Jez zwar kaum, aber an seinen einsilbigen Antworten kann sie trotzdem erkennen, dass sie gerade auf ein Thema eingeht, dass ihn selbst sehr beschäftigt und vielleicht auch deprimiert.
„Bei dir und Finn - es gibt da einen Unterschied. Und der ist, dass sie Gefühle für dich hat und für Finn nicht! Er ist nur ein Teil ihres Plans! Ihre…“ Romy hebt ihre Hände und lässt sie dann wieder sinken. „…ihre Handpuppe oder so etwas!“ Jez lehnt sich nach vorne und greift, bevor Romy etwas dagegen machen kann, nach seinem Handball. Langsam lehnt er sich wieder zurück und dreht den Ball zwischen seinen Fingern. Es beruhigt ihn. Irgendwie. Vielleicht, weil schon, als er klein war, immer einen Ball hatte, den er durch die Luft schleudern konnte, um sich abzuregen, vielleicht aber auch aus einem anderen Grund, den Jez selbst nicht kennt.
„Meinst du…“ Jez spricht nicht weiter. Allein der Gedanke an die Frage, die er zum ersten Mal laut aussprechen würde, tut schon höllisch weh. Romy sieht Jez lange aus ihren blauen Augen an und wartet darauf, dass er weiterspricht, doch er wendet den Blick ab und starrt konzentriert an ihr vorbei.
„Ich glaube, sie würde, allein um dich eifersüchtig zu machen und um zu sehen, dass es dir wegen ihr schlecht geht, auch weitergehen.“ Romys Stimme klingt viel sanfter und irgendwie auch brüchiger wie vorher. Wie, als würde ein Ruck durch Jez fahren, erhebt er sich und sieht Romy, die sitzen geblieben ist, von ober hinunter an.
„Glaubst du, sie denkt, es ist richtig, anderen dasselbe zurückzugeben?“ Bevor Jez weiterreden kann, erhebt sich Romy. Alleine diese Frage beantwortet ihr schon, dass ihm Kimmy ihm wirklich etwas zu bedeuten scheint. Und auch sein angespannter, beinahe schon verzweifelter Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass er sie vielleicht sogar liebt. Einen Moment sieht Romy Jez schweigend in die Augen. Deutlich kann er ein Schimmern darin erkennen, was sie, als sie hierhergekommen ist, noch nicht gesehen hat. Jez schließt die Augen und wendet sich von Romy ab. „Geh! Bitte!“, flüstert er leise. Überrascht macht Romy einen Schritt nach hinten und legt dann den Kopf schief. Der einzige erklärliche Grund von Jez aus, warum sie jetzt gehen sollte, wäre wohl, weil das Schimmern in seinen Augen bedeutet hat, dass er nicht will, dass Romy sieht, wie sehr er unter der ganzen Sache mit Kimmy leidet.
„Nein!“ Beinahe erschrocken zuckt Jez zusammen und versucht es noch einmal.
„Bitte Romy!“ Es dauert einige Sekunden und im Stillen hofft Jez schon, das Romy sich doch umdreht und sein Zimmer verlässt, doch sie schiebt sich an ihm vorbei, sodass sie wieder vor ihm steht und sieht ihn an. Wie ein kleines Kind will Jez sich die Hände vors Gesicht halten, sich wegdrehen. Aber Romy reagiert schneller. Sie packt Jez angehobene Unterarme und hält ihn fest.
„Warum?“ Jez öffnet den Mund, sagt nichts, dreht den Kopf weg und reißt sich dann plötzlich los. „JEZ!“ Romy schreit Jez fast förmlich an, als er zwei Schritte nach hinten macht.
„Warst du noch nie verliebt? Weißt du nicht, wie es sich anfühlt, wenn diese Person mit jemand anderem rummacht? Wie man sich fühlt, wenn man noch selbst daran schuld ist?“ Romy lässt die Hände langsam sinken. Sie kann deutlich erkennen, wie sich jeder einzelne Muskel von Jez Körper anspannt und wie sein Brustkorb sich schnell hebt und senkt. „Es tut weh! Es tut einfach nur verdammt weh!“ Diese beiden Sätze presst Jez noch mit tränenerstickter Stimme hervor. Überrascht und geschockt zugleich sieht Romy ihn an. Sie hat noch nie erlebt, dass ein Junge wegen einem Mädchen vor ihr geweint hat. Jez macht einen Schritt nach hinten, lehnt sich mit dem Rücken gegen den Schrank, lässt sich an dem Schrank herunterrutschen und vergräbt sein Gesicht zwischen den Armen, bevor er zu zittern beginnt und leise weint. Damit hat Romy nicht gerechnet. Weder, dass Jez seine Gefühle so zeigen kann, noch dass er Kimmy so sehr liebt, dass es ihm wirklich alleine wegen ihr so schlecht geht.
Romy konnte noch nie gut mit Menschen umgehen, denen es schlecht geht. Sie fühlt sich dann immer so hilflos. Hilflos und alleine. Langsam geht sie zu Jez herüber und geht neben ihm in die Hocke. Sie lehnt genau wie er gegen den Schrank und berührt ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen seinen Arm. „Jez?“, fragt sie ganz leise, kaum hörbar. Jez antwortet nicht darauf. Er hält das Gesicht weiterhin in den Armen versteckt. Hilflos legt Romy ihre komplette Hand auf Jez Arm und versucht es noch einmal. „Jez, bitte.“ Den Kopf noch immer in den Armen schüttelt er kaum merklich den Kopf. Romy seufzt leise und nimmt ihre Hand von Jez Arm.
Enttäuscht, weil sie sich so hilflos fühlt, legt Romy den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Ihr Atem geht ruhig, als sie die Knie anwinkelt, aber sie hat das Gefühl, das Rattern ihres Gehirns in den eigenen Ohren rauschen zu hören.
Romy weiß nicht, wie lange sie vor dem Schrank neben Jez gesessen ist und an der Schulter gespürt hat, wie er vor sich hin gezittert hat. Erst als Jez mit dem Zittern aufhört, öffnet sie die Augen wieder und dreht den Kopf zu ihm. Er hat seinen Kopf noch immer in den Armen vergraben, aber auch so kann Romy erkennen, dass er wieder in normalen, gleichmäßigen Zügen atmet. Noch einmal, genauso wie vorher, berührt Romy vorsichtig mit den Fingern Jez Unterarm. Und diesmal hebt Jez, auch ohne dass sie seinen Namen sagt, den Kopf. Seine Augen sind ein wenig gerötet und schimmern glasig, als er sich mit dem Handballen über die Wangen fährt.
„Nein“, murmelt Romy leise. Jez hält in seiner Bewegung inne und dreht den Kopf zu Romy. Diese hat die Ellbogen auf die Knie gelegt und starrt auf die Innenseite ihrer Unterarme.
„Was?“ Jez beobachtet mit fragendem Blick Romys Mimik genau, als sie endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, zu einer Antwort ansetzt.
„Nein“, wiederholt sie sich noch einmal. Sie beginnt an dem Armband, das um ihr Handgelenkt liegt, herumzuspielen. Schon an ihrem Gesichtsausdruck kann man erkennen, dass auch sie über etwas nachgedacht hat, was sie bedrückt. „Nein. Ich war noch nie selbst daran schuld, dass diese Person mit jemand anderem herumgemacht hat.“ Sie macht eine Pause und hebt den Blick von ihrem Armband, um nun auf den Handball zu starren, der von Jez Bett gekullert ist und nun Mitten im Raum liegt. „Aber das liegt auch nur daran, dass es bisher nur eine solche Person gab.“ Bevor Romy weiterspricht, wendet sie den Kopf ganz von Jez ab. „Eine Person, die trotzdem lieber eine andere will.“ Jez sieht Romy immer noch von der Seite an und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch Romy kommt ihm mit leise Stimme zuvor. Sie legt den Kopf in den Nacken und schließt die Augen, bevor sie zu sprechen beginnt. „Ich habe gedacht, Finn schreibt und trifft sich nicht einfach so ohne Grund mit mir. Es hat sich so richtig angefühlt. Und dann war plötzlich Kimmy da. Er hat sich trotzdem noch mit mir getroffen und war total lieb. Ich habe wirklich gedacht, er interessiert sich für mich, nicht für sie. Es sieht sie einfach nur als eine Freundin von mir. Und mittags schreibt er mir, dass er Kimmy liebt.“ Romy bricht ab. Jetzt ist sie es, die das Gesicht in den Armen vergräbt und mit den Tränen ringt. „Wenn er wenigstens irgendwann glücklich mit ihr wäre…“ Romy bricht wieder ab und beginnt leise zu weinen.
„Romy…“, beginnt er leise. Es fühlt sich komisch an. Wie können sich die Rollen des Leidenden und Trösters so schnell ändern?
„Vielleicht bin ich aber ja doch selbst schuld. Schließlich hatte ich lange genug Zeit, mit Finn zu reden, bevor er überhaupt Kontakt mit Kimmy hatte.“ Jez rutscht leise neben Romy weg und setzt sich ihr genau gegenüber wieder auf den Boden. Zögerlich streicht er ihr mit zwei Fingern über den Arm. Anders als er hebt sie den Kopf fast augenblicklich. Aus ihren blauen Augen kullern Tränen. Sie hebt eine Hand, zieht den Ärmel der hellblauen Adidas-Jacke herunter und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Jez senkt den Blick für einen Moment, dann sieht er Romy entschlossen in die Augen.
„Du bist garantiert nicht selbst schuld!“ Romy zieht die Nase hoch und seufzt. Sie sieht Jez in die Augen und heftet dann den Blick auf sein schwarzes, enges T-Shirt. „Glaubst du…“ Sie zögert mit ihrer Frage und ringt mit sich, ob sie sie überhaupt stellen soll. Jez sieht sie aufmerksam an. Wenn man ihn so sieht, kann man sich gar nicht mehr richtig vorstellen, dass er vor wenigen Minuten noch neben ihr saß und geweint hat.
„Ja?“, fragt er leise, als er merkt, wie sehr Romy mit sich ringt.
„Glaubst du, es ist schlimm, wenn man mit fast siebzehn noch ungeküsst ist?“ Überrascht hebt Jez die Augenbrauen, was Romy sofort deutet. Sie erhebt sich und schiebt den Ärmel ihrer Jacke wieder hoch.
„Klar. Du denkst bestimmt auch, ich bin total verklemmt.“ Sie will sich schon umdrehen und gehen, hält wegen Jez Worten aber inne.
„Wieso sollte es schlimm sein? Nicht jeder findet sofort die eine Person.“ Langsam steht Jez auf. Dadurch, dass er so dicht vor Romy saß, steht er nun auch dicht vor ihr und sieht sie von oben an. Romy hebt den Kopf und sieht Jez in die Augen. Sie zuckt die Schulter und zieht noch einmal die Nase hoch. „Das erste Mädchen, dass ich geküsst habe, war meine erste Freundin. Und seitdem…“ Eigentlich wollte Jez sagen, dass er seither kein einziges anderes Mädchen mehr geküsst hat. Kein einziges anderes Mädchen, außer Kimmy.
„…hast du kein einziges Mädchen mehr geküsst, ausgenommen von Kimmy?“ Ein Lächeln huscht über Jez Lippen, als Romy seinen Gedanken ausspricht. Schweigend nickt er. „Danke“, murmelt sie leise und senkt den Blick wieder.
„Warum danke?“ Romy sieht wieder auf und zuckt wieder die Schultern.
„Ich bin doch eigentlich hergekommen, weil ich dir helfen wollte, deine Probleme zu lösen und nicht, um dir von meinen zu erzählen.“ Jez lächelt und wendet dann den Blick kurz ab.
„Vielleicht löst sich ja dein Problem automatisch, wenn sich meins löst. Oder andersrum.“ Romy sieht Jez wieder in die Augen und lächelt.
„Bestimmt.“ Man kann ihr deutlich ansehen, dass ihr die Worte Mut gemacht haben. Sie kommen einen Schritt dichter an Jez heran und umarmt ihn. Einen Moment zögert Jez, dann legt er seine Arme um das blonde Mädchen und erwidert die tröstende Umarmung.
***
Kimmy kuschelt sich, auch wenn es sich nicht richtig anfühlt, in Finns Arme und versucht es zu genießen, wie er ihr sanft mit den Fingern durch ihre Locken fährt. Zwar streiten sich immer noch die Stimmen in ihrem Kopf, wie sie sich jetzt gerade fühlen soll, aber dennoch schafft sie es, sich ein wenig zu entspannen.
Mittlerweile dämmert es schon und Kimmys Eltern sind nach Hause gekommen, haben ihre Tochter aber zum Glück in Ruhe gelassen. Finn drückt Kimmy einen Kuss auf die Haare, dann setzt er sich langsam auf.
„Ich muss dann heim“, sagt er leise, mit entschuldigendem Unterton in der Stimme. Kimmy setzt sich ebenfalls auf und legt ihren Kopf ein bisschen schief.
„Schade“, murmelt sie und steht dann von ihrem Bett auf, sodass es Finn ihr gleichtun kann.
Kimmy folgt Finn die Treppe hinunter und lehnt sich unten gegen das hölzerne Treppengeländer. Finn schlüpft in seine Schuhe und zieht seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche, bevor er einen Schritt auf Kimmy zumacht und seine Hände auf ihre Taille legt. Ganz vorsichtig gibt er ihr einen Kuss auf die Lippen.
„Tschüss“, murmelt er leise, bevor sich ihre Lippen noch einmal berühren.
„Kimmy kannst du bitte mal…“ Kimmy zuckt zusammen und auch Finn fährt erschrocken zurück. Kimmys Mutter steht mit einem Zettel in der Hand im Türrahmen zum Flur und sieht ihre Tochter mit einer Mischung aus Erstaunen und Schock an. „Ups…“, murmelt sie leise und sieht ihre Tochter entschuldigend an, bevor ihr Blick weiter zu Finn wendet und ihn versucht unauffällig zu mustern, was ihr natürlich nicht gelingt. Finns Finger berühren Kimmys Fingerspitzen und schließen sich dann darum.
„Ähm… Mama. Das ist Finn. Wir… sind zusammen.“ Über das Gesicht von Kimmys Mutter huscht ein verwirrtes, aber freundliches Lächeln. Hat ihre Tochter vor wenigen Tagen nicht noch für Jez geschwärmt? Finn lächelt ebenfalls und nickt Kimmys Mutter zu. Kimmy dreht sich schnell, sodass sie wieder zu Finn gewandt steht. „Schade, dass du schon gehen musst“, murmelt sie leise und hofft inständig, dass ihre Mutter versteht, dass sie jetzt bitte bitte gehen soll! Finn seufzt leise, streicht Kimmy mit einer Hand noch einmal durchs Haar und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.
„Tschüss“, sagt er leise und dreht sich dann um, um die Haustür aufzumachen und das Haus zu verlassen. Kimmy lehnt sich in den Türrahmen und sieht Finn noch dabei zu, wie er sein Auto öffnet und sich hineinsetzt. Langsam drückt Kimmy sich vom Türrahmen ab, geht wieder hinein und schießt die Tür hinter sich.
***
Jez sieht Romy zu, wie sie in ihre schwarzen knöchelhohen All-Stars schlüpft und sich dann wieder aufrichtet. Mit der rechten Hand streicht sie sich eine der vielen Haarsträhnen, die aus ihrem Pferdeschwanz gerutscht sind, hinters Ohr und lächelt Jez noch einmal zu, bevor sie die Haustür öffnet. Mit beiden Händen stößt Jez sich vom Treppengeländer ab.
„Romy?“ Romy bleibt in der offenen Haustür stehen und dreht sich zu Jez um.
„Ja?“ Man sieht ihr nicht mehr an, dass sie geweint hat. Ihre blauen Augen sind nicht mehr rot umrandet und auch ihre Mimik verrät nichts mehr davon.
„Danke, dass du hergekommen bist.“ Jez lächelt sanft und nimmt Romy noch einmal in den Arm. Er weiß nicht direkt warum, aber Romy hat ihm auf irgendeine Art und Weiße gezeigt, dass er sein Ziel erreichen kann, wenn er nur darum kämpft. Romy erwidert die Umarmung und schließt die Augen, als sie Jez Körperwärme für den Moment spürt. Mit einer Hand fährt Jez Romy sanft über den Rücken, bevor er sich aus der Umarmung löst. Romy tut es ihm gleich, lächelt sanft und streicht sich noch einmal über die Haare.
„Ciao.“ Sie dreht sich um und geht die zwei Treppenstufen herunter.
„Ciao“, sagt Jez leise und sieht Romy noch einige Momente hinterher, dann geht er wieder nach drinnen und geht ins Wohnzimmer.
In der rechten Hand hält er den grauen Motorradhelm, mit der linken fährt er sich durchs Haar. Jez betritt gerade das Schulhaus, lässt seinen Blick über die vielen kleineren oder größeren Schülergruppen wandern und steuert dann auf die Clique zu. Auch Max und Betty stehen dabei. Einen Moment zögert Jez. Er hat, seit er am Samstag einfach abgehauen ist, nicht mehr mit ihnen gesprochen, geschrieben oder sonst etwas.
„Hey, Jez.“ Jez dreht den Kopf. Romy hat hinter ihm das Schulgebäude betreten und lächelt sanft.
„Hey.“ Jez erwidert Romys Lächeln und steuert dann hinter ihr auf die Clique zu. Als beide die Gruppe erreicht haben, spürt er fast augenblicklich die Blicke von Max und Betty auf sich. Da er den beiden nicht vor der gesamten Gruppe erklären will, dass er am Samstag vielleicht ein bisschen überreagiert hat, lächelt er beiden zu und hofft, dass sie es deuten können. Betty sieht ihn ein wenig gequält an, aber Max scheint sein Lächeln gedeutet und verstanden zu haben. Er lehnt sich zu Betty nach vorne, die mit dem Rücken zu ihm steht und tut so, als würde er ihr einen Kuss auf den Hinterkopf geben, doch in Wirklichkeit murmelt er etwas selbst für Jez Unverständliches. Betty dreht sich zu ihrem Freund um, sieht zu ihm hoch und sieht dann zu Jez, bevor sie zufrieden lächelt. Wenigstens ist das Problem gelöst… Für heute hat er aber noch ein anderes Problem zu lösen. Aber dazu muss er erst Kimmy noch finden…
Mit den Augen sucht Jez die Aula ab, entdeckt Finn, Neah und einige andere Jungs und Mädchen aus der zwölften Klassenstufe, mehr aber nicht. Es macht ihn nervös, dass er Kimmy noch nicht entdeckt hat. Und es lässt ihm Zeit, dass immer mehr und mehr Gedanken über das geplante Gespräch mit ihr in seinem Gehirn Platz finden. Wird Kimmy noch einmal so reagieren, wie schon einmal? Wird sie ihn wenigsten aussprechen lassen? Wird sie Jez Variante von der Nacht vielleicht doch annehmen? Oder wird sie immer noch alles abstreiten? Und was soll er tun oder sagen, wenn sie ihn wieder als grandiosen Lügner bezeichnet? Wenn sie… Mit dem Jackenärmel wischt Jez über das dreckige Visier seines Helmes, allein in der Hoffnung, es würde ihn vielleicht ablenken. Vielleicht wird sie ihn aber auch sofort verstehen… Und vielleicht wird sie sich entschuldigen. Dafür, dass sie ihm diese Sache unterstellt hat und dass sie ihm keine Möglichkeit gegeben hat sich zu erklären… Jez hebt den Blick und erstarrt beinahe, als Kimmy direkt in sein Blickfeld fällt. Sie trägt eine weiße Bluse, darüber eine helle Jeansjacke, schwarze Vans und einen schwarzen, kurzen Skater-Rock. Ihre Haare liegen offen über ihren Schultern, die langen Ponysträhnen wellen sich und umspielen als gleichmäßige Locken ihr schmales Gesicht. Über ihren Schultern hängt ihr lilafarbener Rucksack und auf ihren Lippen liegt das zarte, aber unechte Lächeln, das bestimmt nicht jedem auffällt, Jez aber schon.
Mit den Augen folgt er Kimmys Bewegungen. Sie streckt den Hals, lässt ihren Blick durch die Aula wandern und bleibt dann an der Gruppe mit Finn und Neah hängen. Jez muss ihrem nicht folgen. Er weiß, dass sie zu ihnen gehen wird. Langsam setzt Kimmy sich in Bewegung, fährt sich mit einer Hand durchs Haar und sieht immer wieder auf den Boden, als würde sie irgendetwas beschäftigen. Max, der neben Jez steht, folgt seinem Blick und auch Betty und Romy beobachten Kimmy dabei, wie sie auf Finn zusteuert, der sich ein wenig von der Gruppe gelöst hat. Zur Begrüßung legt er Kimmy die Hände auf die Taille und zieht sich dich an sich. Jez hält den Atem an, als Finn sich zu Kimmy herunterbeugt und sich ihre Lippen, als wäre es etwas ganz selbstverständliches, berühren. Das…! Nein! Warum?, schießt es Jez durch den Kopf. Er zwingt sich den Blick abzuwenden, doch auch so sieht er noch das Bild vor sich, wie Finn sich über Kimmy beugt und sie sich küssen. Ganz langsam atmet Jez aus.
Fast förmlich kann er fühlen, wie der Gedanke durch seinen ganzen Körper kriecht und einen stechenden Schmerz im Brustkorb hinterlässt. Erst dann merkt er, wie sich Romy hinter seinem Rucksack, am unteren Ende seiner Motorradjacke mit einer Hand festklammert. Jez sieht auf, hebt die Hand mit dem Motorradhelm ein wenig und zeigt den anderen damit an, dass er noch zum Schießfach muss. Er dreht sich um und weiß, dass Romy seine Botschaft ihm zu folgen, verstanden hat.
Vor den Schließfächern der Elftklässler, nimmt Jez Romy in den Arm.
„Das können sie doch nicht machen!“, haucht Romy leise, sodass Jez Mühe hat, ihre Worte zu verstehen, die von dem Geschrei der Schülermasse fast übertönt werden. Romy hält sich an Jez Jacke fest. „Doch nicht jetzt und hier!“ Jez legt seine Arme um Romys zarten Körper. Doch! Verdammt nochmal, doch! Sie können! Aber warum tun sie es? Warum tut Kimmy es? Weiß sie nicht, wie sehr sie nicht nur ihn, sondern auch Romy damit verletzt? Jez lehnt seinen Kopf ein wenig nach vorne. Romys Haare kitzeln ihn im Gesicht, als er seine Wange sanft gegen ihr Haar drückt.
„Bitte. Nicht weinen, Romy“, flüstert er leise in Romys Ohr. Auch durch die mit Protektoren vollgestopfte Motorradjacke spürt er, dass sie zittert. „Bitte“, wiederholt er noch einmal.
„Ich kann nicht“, flüstert Romy zurück. Sie drückt ihr Gesicht gegen die harten Schulterprotektoren von Jez Jacke. Jez löst seine Arme vom Romys Körper, greift mit seinen Händen nach ihren Handgelenken und drückt ihren Körper sanft aber bestimmt von sich. Romy senkt den Kopf, bevor Jez ihre Handgelenke loslässt. Er zieht seinen Schlüssel aus der Tasche, öffnet sein Schießfach, stopft den Helm und die Jacke hinein und drückt es wieder zu, bevor er sich wieder zu Romy wendet. Sie trägt dieselbe hellblaue Adidas-Jacke wie am Vortag und wie am Vortag zieht sie den Ärmel über die Hand und hält sie sich vor Mund und Nase. Ihre blauen Augen schimmern glasig und egal ob man sie kennt oder kaum kennt, so wie Jez, man sieht, dass sie mit den Tränen ringt. Jez kann nicht anders, er macht wieder einen Schritt auf sie zu und nimmt sie in den Arm. Romy legt die Hände in Jez Nacken und drückt den Kopf in die dünne, graue Kapuzenjacke mit den weißen Bändchen, die Jez trägt. Jez legt seine Arme um Romy Körper und hat plötzlich das Bedürfnis, sie noch enger an sich zu ziehen. Nur das sanfte Zittern von Romys Körper, das darauf schließen lässt, dass sie wirklich angefangen hat zu weinen und sein Verstand, dass sie nicht das Mädchen ist, dem er so nahe sein will, hindern ihn daran.
„Romy“, flüstert Jez leise. Ihm fällt erst jetzt auf, dass sich die Gänge geleert haben und nur noch ein paar einzelne Schüler durch die Gänge rauschen, dass sie nicht zu spät zum Unterricht kommen. Sanft wiegt Jez Romy ein wenig hin und her.
„Nein! Ich will nicht! Scheiß auf Schule!“, presst sie in Jez Jacke. Mit einer Hand streicht er ihr über das offene, helle Haar.
„Das wollte ich eigentlich gar nicht sagen. Aber wenn wir schon schwänzen, sollten wir nicht unbedingt hierbleiben.“ Romy hebt den Kopf. Aus ihren Augenwinkeln rollen Tränen. Kurz sieht sie Jez an, dann nickt sie und greift nach seiner Hand, bevor sie durch die nächste Tür das Schulhaus verlassen.
***
Kimmy stützt ihren Kopf auf die linke Hand und starrt teilnahmslos auf den leeren Platz zwei Reihen vor sich. Also hat sie richtiggelegen. Warum sollten Romy und Jez sonst beide fehlen, wo sie sie doch beide, nebeneinander, heute in der Aula gesehen hat! Mein Romy das wirklich ernst? Erstens, etwas mit dem Jungen anzufangen, der sie eiskalt ausgenutzt hat und zweitens mit dem Jungen etwas anzufangen, den sie trotzdem liebt? Denkt Romy wirklich, dass es ihr nur so schlecht ging, weil sie sich an ihr erstes Mal nicht mehr erinnern kann? Denkt Romy wirklich, dass sie so schnell das Interesse an Jez verloren und die an Finn gefunden hat?
Leise seufzt Kimmy und beginnt dann in ihrem Block zu blättern, bis sie eine leere Seite gefunden hat. Mit ihrem Füller malt sie kleine Herzchen auf das Blatt und lässt die Feder einfach über das karierte Papier wandern. Erst nach ein einigen Momenten merkt sie, wie sie beginnt eine Person zu malen. Weil Kimmy selbst nicht weiß, was genau sie da zu Papier bringt, lässt sie ihren Füller weiter über das Papier wandern. Als ihre Hand den letzten Strich ihres Werkes gemalt hat und nur noch über dem Papier schwebt, lässt Kimmy ihren Blick über die vier Gesichter und die Symbole, die sie darum verteilt hat wandern und versteht dann den Zusammenhang. Sie presst die Lippen aufeinander, legt ihren Füller neben den Block auf den Tisch und reißt das Blatt leise von ihrem Block, nur, um es zusammenzuknüllen und neben ihr Mäppchen auf den Tisch zu legen, dass sie es nach der Stunde schleunigst vernichten kann.
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Jez schließt die Augen und lehnt sich gegen die kühle Außenwand der Ortenauhalle. Die Sonnenstrahlen tanzen auf seinem Gesicht und blenden und wärmen ihn gleichzeitig. Romy sitzt neben ihm, in seinen Arm rechten gekuschelt und drückt das Gesicht gegen seine Schulter. Ob sie so die Tränen verstecken will, die ihr immer noch über die Wangen laufen, oder ob sie sich einfach besser fühlt, wenn sie seine Nähe spürt, weiß Jez nicht. Aber er denkt auch nicht darüber nach. Er spürt einfach nur die Leere und die Fassungslosigkeit in sich. Jez schließt die Arme um Romy und streicht ihr mit einer Hand sanft übers Haar. Weiß Kimmy wirklich nicht, dass Romy Gefühle für Finn hat? Dass sie nicht nur ihn eifersüchtig macht? Jez öffnet die Augen und sieht betrübt über das rote, umzäunte Hockeyfeld. Ja, er ist eifersüchtig. Ja, er spürt, wie sie durch seinen Körper kriecht und an ihm nagt, egal wie sehr er versucht, nicht an sie zu denken. Ja. Kimmy hat ihr Ziel erreicht. Sie hatte es schon erreicht, da hat sie nur einige Worte mit Finn gewechselt. Unbewusst malt Jez mit den Fingern kleine Kreise auf Romys Rücken, woraufhin sie den Kopf hebt und sich aufsetzt, die Tränen mit einer Hand aus dem Gesicht wischt und sich wie Jez an die kühle Wand lehnt.
„Fühlst du dich auch so einsam?“ Jez sieht immer noch über den roten Hockeyplatz.
„Ja“, antwortet er ganz leise. Romy sieht auf ihre Hände, zieht ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und putzt sich leise die Nase. Einige Momente behält die das Taschentuch in den Händen, dann lässt sie es achtlos neben sich auf den Boden fallen. „Das Schlimmste ist zu wissen, dass er ihre Nähe spüren darf und ich nicht. Dass er sie in seinen Armen halten darf und ich nicht und dass er sie küssen darf und ich nicht.“ Romy sieht Jez von der Seite an.
„Hast du das Gefühl vorher schon gekannt?“ Jez setzt sich ein wenig auf und seufzt.
„Nein. Es ist einfach nur schrecklich.“ Diesmal ist es Romy, die ihren Blick über den roten Hockeyplatz wandern lässt.
„Wie fühlt es sich an, diese eine Person küssen zu dürfen?“ Romy wartet schweigend auf eine Antwort von Jez.
„Unbeschreiblich.“ Jez macht eine Pause und sieht auf seine Hände. „Manche sagen, nach einer Weile fühlt es sich nur noch wie ein normaler Kuss an.“ Romy wendet ihren Kopf wieder. Ihre Tränen sind versiegt und nur noch als die leicht brennende Spur auf ihre Haut zu fühlen.
„Und? Ist es so?“ Jez deutet fast augenblicklich ein Kopfschütteln an.
„Nein. Aber irgendwann weißt du, wie der andere tickt. Du musst dich auf ihn einlassen, erst dann kannst du die Person immer wieder neu für dich entdecken.“ Romy senkt die Augenlider ein wenig und zieht dann fröstelnd die Schultern hoch. Auch wenn die Sonne, die nun schon über die Baumwipfel lugt, wärmende Strahlen auf die Erde sendet, kriecht plötzlich eine Gänsehaut über ihren Rücken. Jez wendet den Kopf zu ihr. Er sagt nichts, hebt nur den Arm und bietet Romy so an, sich wieder an ihn zu kuscheln. Romy rutscht näher an Jez heran und wartet darauf, dass Jez wieder beide Arme um ihren Körper schließt. Sie schließt die Augen, als sie durch ihre Jacke hindurch Jez Körperwärme spürt und legt einfach nur eine Hand in seinen Nacken, bevor sie ihr Gesicht sanft in seine Halsbeuge drückt.
Jez weiß nicht, wie lange er Romy einfach nur im Arm hält. Wie lange sie ihren Kopf an seine Brust lehnt, die Hand in seinem Nacken verschränkt hält, seine Hände immer und immer wieder sanft ihre Wirbelsäule rauf und runter fahren und wie lange ihre Haare in seinem Gesicht kitzeln. Und wie lange er einfach nur dasitzt und sich vorstellt, wie es wäre, wenn er gar nicht erst hierhergezogen wäre.
Langsam beginnt Romy, ihre Finger in Jez Nacken sanft zu bewegen. Jez schließt die Augen. Auch wenn Romy nicht Kimmy ist, fühlt sich ihre Nähe gut an. Nicht gut, in der Form von Verliebtheit. Gut, in der Form von ‘Deine beste Freundin ist gerade da für dich‘. So wie er sich bei Emelina, seiner besten Freundin aus Köln, immer fühlt. Langsam hebt Romy den Kopf, streichelt mit ihrer anderen Hand ganz sanft über Jez Wange und beobachtet ihn dabei, wie er langsam die Augen wieder öffnet und das intensive Grün in der Sonne schimmert. Er sieht sie einen Moment an, dann beginnt er zu lächelt. Ein Lächeln, das einen so beruhigenden Eindruck hinterlässt. Vorsichtig streicht er ihr über die blonden Haare und berührt mit dem Finger ihre Wange, als er sanft eine der Strähnen zur Seite streicht.
Weder Jez noch Romy merken, wie nahe sie sich sind. Wie sich ihre Körperwärme vereint. Wie vertraut sie sich in diesem Moment sind, obwohl sie sich kaum kennen, nehmen beide doch ganz bewusst wahr. Mit den Fingern fährt Romy ganz sanft über Jez Wange, seinen Wangenknochen und wieder zu seinem Kinn. Die Berührung hinterlässt eine warme Spur auf Jez Wange und er muss zugeben, es führt sich gut an. Er hält den Blickkontakt zu Romy die ganze Zeit. Romy lächelt sanft und sieht ihn aus ihren blauen Augen mit schwarzgetuschten Wimpern an, bevor sie sie langsam schließt und ihre Stirn vorsichtig an seine Wange lehnt. Einen Moment verweilen beide so, dann dreht Jez sein Kopf zu Romy und sieht ihr wieder in die Augen. Einen Moment halten die beide den Blickkontakt, dann schließt Jez die Augen, lehnt sich ein wenig nach vorne und spürt im nächsten Moment Romys Lippen, ganz weich und vorsichtig, auf seinen.
Nur wenigen Sekunden spürt Jez die Wärme von Romys auf seinen Lippen, bevor sie sich von ihm löst. Jez zieht Romy enger an sich, worauf sie beide Arme um Jez Hals legt und ihre Lippen sich ein weiteres Mal berühren. Vorsichtig klettert Romy auf Jez Schoß, ein Bein rechts, eins links von seiner Hüfte und streicht ihm mit den Fingern durch die Haare. Sie genießt die sanften Bewegungen von Jez Lippen, bis er sie wieder langsam von ihren löst, ihr einen Kuss auf die Wange gibt und den Kopf dann gegen ihr Schlüsselbein lehnt. Romy kann deutlich spüren, wie sich Jez Brustkorb hebt und senkt. Sie schließt die Augen, lehnt den Kopf gegen den von Jez und streicht ihm mit den Fingern sanft durchs Haar.
„Jez?“ Anfangs denkt Romy, Jez will einfach nicht reagieren, trotzdem spürt sie, dass er sie damit nicht verletzten will.
„Hm?“, macht er leise und hebt dann doch den Kopf. Aus seinen grünen Augen sieht er sie beinahe ausdruckslos an. Zaghaft lächelt Romy.
„Danke.“ Jez hebt die Augenbrauen. „Jetzt weiß ich, dass es sich wohl noch besser anfühlen muss, diese eine Person küssen zu dürfen.“ Leise seufzt Jez und lächelt Romy dann aufmunternd zu. Sie erwidert das Lächeln und klettert dann von Jez Schoß. Dieser schließt die Augen, lehnt den Kopf hinter sich gegen die Wand und atmet zweimal tief ein. Ja, es war falsch, Romy zu küssen. Aber wer soll ihm das übel nehmen? Kimmy? Nein. Finn? Wenn er Romy nicht liebt, wieso? Jez öffnet die Augen, zieht sein Handy aus der Hosentasche und sieht auf die Uhr. Leise räuspert er sich und dreht den Kopf dann zu Romy.
„In fünf Minuten geht die dritte Stunde los.“ Romy seufzt leise und steht auf. Jez tut es ihr gleich, greift nach seinem Rucksack und wartet darauf, dass Romy ihm folgt.
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Kimmy spielt mit Finns Fingern, während er sich mit einigen seiner Freunde unterhält und sanft durch ihre Haare streicht. Egal, wie sehr sie sich auch auf das Gespräch konzentrieren mag, ihr lässt der Gedanke, dass Romy und Jez beide nicht zum Unterricht erschienen sind, obwohl sie beide zusammen noch in der Aula gesehen hat, einfach keine Ruhe. Warum ist Romy Jez einfach so, kommentarlos, gefolgt, als er sich von der Gruppe entfernt hat? Warum sind beide einfach nicht in den Unterricht gekommen? Das ist nicht Romy! Egal, was für eine verrückte, taffe, selbstbewusste Nudel sie auch ist und egal was für unverständlich respektlose Antworten sie so manchem Lehrer gibt, schwänzen war für sie noch nie ein Thema. Und für Jez? Im Stillen grübelt Kimmy darüber, ob Jez vielleicht nur, um erst einmal einen guten Eindruck zu schaffen, regelmäßig zur Schule gekommen ist. Aber das kann doch eigentlich auch nicht sein… Jeder Andere, aber nicht Jez! Wie soll er es sonst schaffen, in jedem Fach – ausgenommen von Latein – so gut zu sein?
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In der dritten und für Jez und Romy gleichzeitig ersten Stunde, sind beide damit beschäftigt, die Notizen von Max zu den gemachten Versuchen abzuschreiben. Mit einem missbilligenden Blick duldet der Naturwissenschaftslehrer das, ruft aber beide nach dem Unterricht zu sich nach vorne. Jez schultert seinen grauen Rucksack und schiebt sich hinter Romy durch die Tischreihen nach vorne. Mit einem Kopfnicken deutet der Lehrer beiden an, dass sie ihm in den Vorbereitungsraum folgen sollen, da eine Klasse nach ihnen im Chemie-Raum Unterricht hat. Romy dreht den Kopf ein wenig und verzieht das Gesicht, sodass Jez Mühe hat nicht zu grinsen. Sie sieht einfach zu gequält aus.
„Wenn ihr das nächste Mal schwänzt, solltet ihr euch vielleicht nicht erwischen lassen.“ Augenblicklich verschwindet das unterdrückte Grinsen aus Jez Gesicht und auch Romy hebt ein wenig erschrocken die Augenbrauen. Sie öffnet den Mund und braucht einen Moment, bis sie das Wort, das sie sagen will und das sie leider auch auf irgendeine Art und Weise verrät, über die Lippen bringt.
„Erwischen?“ Ja, sie hat sich und Jez auf eine unbewusste Art verraten. Erwischt? So ähnlich wie ‘Ja, wir haben geschwänzt, aber wir wurden doch nicht erwischt!‘. Romy merkt innerhalb von wenigen Sekunden selbst, dass sie sich und Jez gerade verraten hat, das kann man deutlich an ihrer Mimik erkennen, auch wenn sie versucht, so unbeeindruckt wie möglichen auszusehen.
„Ihr bleibt beide heute länger. Ich habe ein paar tolle Aufgaben für euch.“
„Ich habe aber was anderes vor!“, beschwert sich Romy nicht mehr wirklich leise.
„Das hättet ihr euch vorher überlegen müssen!“ Trotzig verschränkt Romy die Arme vor der Brust.
„Sie dürfen uns gar nicht dazu zwingen! Was, wenn meine Eltern mich vermissen und denken, mich hat jemand entführt?!“ Auch wenn die Situation, in der sich beide gerade befinden, nicht zum Lachen ist, muss Jez den Kopf wegdrehen, sodass der Lehrer nicht sieht, wie er sich ein Grinsen unterdrückt. Glaub Romy wirklich, dass der Lehrer sie wegen einer so sinnlosen Ausrede gehen lässt? Sie ist fast siebzehn, da werden ihre Eltern nicht sofort zur Polizei gehen, wenn sie nicht gleich nach der Schule nach Hause kommt!
„Wenn mir das eine kleine Fünftklässlerin erzählt hätte, dann würde ich es sogar minimal verstehen, Romy, aber nicht bei zwei Elftklässlern, die morgens - ich sage mal so - besseres zu tun haben, als zur Schule zu kommen.“ Romy will schon wieder Luft holen, um eine weitere, trotzige Antwort zu geben, doch dann spürt sie, zwar nur ganz leicht aber trotzdem deutlich, wie Jez sanft ihren Arm berührt. Sie wendet den Kopf zu ihm und sieht ihn mit gerunzelter Stirn an.
„Komm, lass gut sein.“ Sauer schnaubt Romy und wendet sich dann von Jez ab.
„Gut, dass wenigstens einer von beiden Einsicht hat.“ Der Lehrer deutet mit dem Kopf zur Tür. „Ihr könnt jetzt gehen. Aber Punkt drei seid ihr wieder hier!“ Romy setzt sich in Bewegung, als ihr ein neuer, dummer Spruch durch den Kopf schließt, doch auch wenn es ihr schwerfällt, sie schluckt ihn herunter, allein um sich Jez nicht zu widersetzen.
„Boa…“, macht Romy leise, als Jez hinter ihr den Vorbereitungsraum verlassen hat und leise seufzt. Eigentlich hatte er heute Mittag ja etwas anderes vor, als sich mit den dreckigen Aufgaben dieses Lehrers, dessen Namen er schon wieder vergessen hat, zu beschäftigen. „Was für ein Mist“, murmelt Romy leise und wendet sich dann zu Jez. „Sorry. Ohne mich hättest du nicht einfach geschwänzt, oder?“ Jez fährt sich mit einer Hand durch sein dunkles Haar und zuckt die Schultern.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ Romy rollt mit den Augen. Sie hasst solche Antworten! Wieso kann die Menschheit nicht ehrlich sein? Jez beginnt zu schmunzeln und seufzt dann leise. „Sorry. Ich muss…“ Er deutet mit dem Kopf Richtung Übergang, der zwei der Schulgebäude miteinander verbindet. Romy folgt der Bewegung und seufzt dann auch.
„Ich habe jetzt Englisch“, murmelt sie, bevor sie zu Jez aufsieht.
„Und ich Deutsch. Bei Herr Weiler!“ Romy grinst frech.
„Okay, du hast eindeutig mehr Pech.“ Sie geht einen Schritt auf Jez zu und nimmt ihn kurz in den Arm. „Danke nochmal.“ Als sie sich von Jez löst, liegt ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen.
„Ist schon okay.“ Romy sieht Jez nach, als er sich an ihr vorbeischiebt und auf den Übergang zugeht. Er dreht sich noch einmal um und zwinkert ihr frech zu. Auch wenn dieser Typ von Naturwissenschaftslehrer ihre gerade wieder ein bisschen bessere Laune total versaut hat, muss sie grinsen, bevor auch sie sich in Bewegung setzt und durch das Schulgebäude schlendert. Wenn sie schon die ersten beiden Stunden geschwänzt hat, macht es auch jetzt nichts mehr aus, wenn sie ein paar Minuten zu spät zum Unterricht kommt.
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Mit den Augen folgt Kimmy Jez Bewegungen, als er sich vor Herr Weiler durch die Tür schiebt und sich neben Max auf den freien Stuhl fallen lässt. Die beiden reden leise miteinander und Jez versucht Max anscheinend leise zu erklären, warum er die ersten beiden Stunden nicht im Unterricht war. Max runzelt die Stirn und schüttelt fast unmerklich den Kopf, worauf Jez sich von ihm abwendet und seine Deutschsachen aus dem grauen Rucksack sammelt. Was Jez Max erzählt hat, hat sie, obwohl sie nur eine Reihe hinter den beiden sitzt, nicht verstanden. Betty, die neben ihr sitzt und ihre Freundin den ganzen Tag schon ignoriert, lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und wendet ertappt den Blick ab, als sich ihr und Kimmys Blicke treffen. Nur schwer kann Kimmy sich ein Seufzen unterdrücken. Soll sie selbst vielleicht auf Betty zugehen und sich bei ihr zu entschuldigen? Vielleicht hat Betty ja jetzt, wo Kimmy mit Finn zusammen ist, verstanden, dass sie Jez versucht abzuhaken.
Den Kopf stützt Kimmy auf die linke Hand, als Herr Weiler beginnt, der Klasse einen Vortag zu halten, was für eine schreckliche Klasse sie seien und wie freundlich und lernbereit die Schulklassen noch vor einigen Jahren waren. Aber… kann es vielleicht doch sein, dass Betty mit ihrer Aussage recht hat? Oder besser gesagt, mit ihren Aussagen. Ja, vielleicht stimmt es wirklich, dass sie jedem, der ihr etwas bedeutet, einmal einen Korb gibt. Aber ist das nicht normal? Dass man nicht jeden Menschen mit offenen Armen empfängt oder dass man erst merkt, wie sehr man diesen einen Menschen braucht, wenn man ihn schon auf irgendeine Weise verletzt und verloren hat? Und ja, sie hat Jez verletzt. Nicht nur mit ihrem Plan und mit Finn, nein. Wenn wirklich nicht das passiert ist, was sie bis vor wenigen Tagen noch selbst geglaubt hat, dann hat sie ihn auch auf eine andere Art verletzt. Indem sie ihm etwas unterstellt hat, was er selbst vielleicht sogar verabscheut!
Das Blättern von Heft- oder Blockseiten lässt Kimmy kurz aus ihrer Gedankenwelt auftauchen. Ihre Klassenkameraden blättern fast ausnahmslos ihn ihren Blöcken und Heften und auch wenn Kimmy nicht weiß, was sie suchen soll, sie tut es ihren gleich, um direkt wieder in ihre Gedankenwelt abzutauchen. Aber… wieso ist Jez dann heute Morgen mit Romy verschwunden? Und warum war sie am Samstag bei ihm? Vielleicht stimmt sein ‘Ich liebe dich!‘ doch nicht und Romy ist die Nächste, der er große Gefühle vorspielen will, obwohl er sie eigentlich nur auf seine Liste mit den anderen tauenden Mädchen setzten will, die er schon gevögelt hat! Jetzt spürt Kimmy nicht mehr nur noch das wurmende Gefühl, dass auch sie auf der Liste steht. Nein, sie spürt die kalte Eifersucht. Die kalte Eifersucht auf Romy. Weil sie Zeit mit Jez verbracht hat. Weil sie ihm vielleicht das gibt, was sie ihm geben könnte. Und weil es ihm gefällt!
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Anders als alle anderen seiner Klassenkameraden kann Jez nicht einfach um drei Uhr die Schule hinter sich lassen. Seufzend zieht er sich den Rucksack über die Schultern, bevor er sich von Max verabschiedet und durch das immer noch ziemlich belebte Schulgebäude läuft. Er zwängt sich zwischen den vielen, kleineren Schülern hindurch und pustet lustlos die Luft zwischen den Zähnen heraus.
Zeitgleich mit Romy trifft Jez am Chemie-Raum ein. Romy legt den Kopf in den Nacken und seufzt leise.
„Ich hab Hunger“, beschwert sie sich bei Jez und sieht ihn sarkastisch böse an, als er zu grinsen beginnt, ihr einen sanften Stoß in die Seite gibt und dabei erzählt, dass er in der letzten Pause extra mehr gegessen hat. Sie seufzt noch einmal, als sie den Lehrer erblickt und ihm dann in den Chemie-Raum folgt.
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Jez seufzt leise, als er den dritten Tisch im Chemie-Saal mit der komischen, blauen Paste sauber gemacht hat. Er hebt den Kopf, als Romy ein amüsiertes Geräusch von sich gibt. Der Lehrer hat beide alleine gelassen, da er im Nebenklassenzimmer noch Unterricht hat, hat ihnen aber die Aufgabe gegeben, den Chemie-Raum auf Vordermann zu bringen. Jez grinst, als Romy ein zerknittertes Blatt Papier zusammenknüllt und es Jez zuwirft. Dieser runzelt die Stirn, fängt den Papierball trotzdem und streicht es auf dem bereits sauberen und trockenen Teil des Tisches glatt. Was genau darauf zu sehen ist, weiß Jez nicht, aber man kann deutlich erkennen, dass es irgendetwas Schräges darstellen soll. Grinsend schüttelt Jez leicht den Kopf, knüllt das Blatt wieder zusammen und zielt auf dem Tisch sitzend auf den Mülleimer.
„Wetten, du triffst nicht?“ Jez hält inne und sieht Romy kurz an.
„Wetten doch?“ Romy drückt sich mit beiden Händen auf die Fensterbank und grinst frech. Sie folgt Jez Bewegung, als er das zerknüllte Papier in einem hohen Bogen in Richtung Mülleimer wirft. Die Kugel springt vom Rand des Mülleimers zur Seite weg und kullert in den Mülleimer daneben. Grinsend dreht Jez den Kopf wieder in Romy Richtung, die siegessichert den Kopf hebt.
„Falscher Mülleimer!“ Bevor Romy sich wegducken kann, fliegt schon der gelbe Schwamm, mit dem Jez bis gerade die Tische sauber gemacht hat, quer durch das Klassenzimmer und prallt nur wenige Zentimeter neben ihrem Kopf am Fenster ab. Dass er dabei einen blauen, nassen Fleck an der Fensterscheibe hinterlässt, interessiert weder Jez noch Romy. „Nicht getroffen!“ Sie springt von der Fensterbank und schlängelt sich vor Jez, der von dem Tisch aufgesprungen ist, durch die Tischreihen. Lachend beginnt sie wie ein kleines Kind zu strampeln, als Jez sie am Arm erwischt, an sich zieht und ihr frech in die Seiten pikst. „Hör auf!“, japst sie lachend. „Bitte!“ Langsam lässt Jez von Romy ab und grinst. „Du bist so doof!“, sagt sie mit todesernstem Gesichtsausdruck und muss dann über sich selbst lachen. Sie erhebt sich von dem staubigen Linoleumboden, klopft sich den Staub von der hellen Jeans und hebt dann den gelben Schwamm auf. Das Grinsen verschwindet aus ihrem Gesicht, als sie sich wieder aufrichtet. „Ich habe Hunger und keinen Bock mehr.“ Jez hebt die Hände, sodass Romy erkennt, dass sie ihm den Schwamm zuwerfen soll.
„Ich habe noch was zu Essen. Aber wehe, du lässt mir nichts übrig!“ Fast augenblicklich fliegt der Schwamm auf Jez zu und Romy flitzt durch das Klassenzimmer zu Jez grauen Schulrucksack. Kurz lächelt Jez noch, dann seufzt er leise, bückt sich und sammelt die anderen vielen Papierkugeln ein. Er will diese gerade alle auf einmal in den Mülleimer verfrachten, da hält er inne. Eins der zusammengeknüllten, karierten Blätter behält er in der Hand, die anderen wirft er in einem Schwung in den grünen Kunststoffmülleimer. Vorsichtig, aus Angst, das Blatt beim Endknittern zu zerreißen, öffnet Jez die Papierkugel und stellt sich extra so, dass Romy nicht sieht, was er in der Hand hält. Nur wenige Sekunden lässt er seinen Augen Zeit, über die mit Füller gezeichneten Skizzen zu wandern, dann knüllt er das Blatt wieder zusammen und schiebt es in seine Hosentasche.
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Leise seufzt Romy, als sie um kurz vor drei neben Jez die breite Treppe in die Aula hinunterläuft.
„Eine Stunde noch, dann hat mein Nachbar auch und ich kann heim“, murmelt sie leise vor sich hin. Jez wendet den Kopf zu ihr.
„Wieso?“ Romy sieht ihn kurz in die Augen.
„Weil der nächste Bus erst in zwei Stunden kommt und er mich wohl oder über mitnehmen muss.“ Jez springt die letzte Stufe der Treppe hinunter.
„Auto oder Motorrad?“
„Motorrad.“ Jez fährt sich mit einer Hand durch die Haare. „Wenn du ‘nen Helm dahast, kann ich dich mitnehmen.“ Romy sieht Jez einen Moment an, dann lächelt sie.
„Wirklich?“ Jez nickt. „Ich wohne aber nicht in Fautenbach.“ Romy folgt Jez zu den Schließfächern, als er die Schultern zuckt.
„Ob ich jetzt zehn Kilometer mehr fahre oder nicht, ist auch egal. Viel übrig geblieben ist von dem Nachmittag ja nicht.“ Jez zieht seinen Schlüssel aus der Hosentasche, öffnet das Schließfach und holt seinen Helm und die Motorradjacke heraus. Romy folgt mit den Augen seinen Bewegungen, dann geht sie einige Schließfächer weiter und holt einen schwarzen-gelben Motorradhelm aus ihrem Schließfach. Romy lächelt kurz, als sich Jez und ihr Blick treffen, bevor sie ihm aus dem Schulhaus und quer über den Schulhof folgt.
Neben seiner gelben Maschine lässt Jez seinen Rucksack auf den Boden rutschen, schlüpft in die schwarzgraue Jacke und dreht sich dann zu Romy um.
„Du musst mir nur sagen, wohin ich fahren muss.“ Romy nimmt Jez Rucksack entgegen, zieht ihn über ihren eigenen und nickt dann. Jez zieht sich den Helm über den Kopf, setzt sich auf sein Motorrad und wartet darauf, dass Romy hinter ihm auf die schmale Sitzfläche klettert. Sie zögert einen Moment, legt dann ihre Arme um Jez Körper und stützt sich mit den Händen am Tank ab.
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Zu Hause wärmt Jez sich etwas zu Essen auf und zieht den zerknitterten Papierball aus seiner Hosentasche. Mit beiden Händen streicht er das Blatt auf der Arbeitsfläche glatt und lässt seinen Blick wie vorhin in der Schule über die Skizzen wandern. Es sind zwar keine Kunstwerke, aber dennoch kann Jez deutlich erkennen, wer die vier gezeichneten Personen sein sollen. Kimmy, Finn, Romy und er selbst. Um die vier Portraits hat Kimmy kleines Symbole und Worte verteilt. Neben seinem eigenen Bild prangen ein Herz und ein trauriger Smiley, zwischen den Finns und Kimmys Bildern ein Blitzpfeil und ein gebrochenes Herz.
Kann das wirklich sein? Dass das Kimmys Gedanken sind? Dass es ihr wehtut, die Sache mit Finn durchzuziehen? Dass sie Romy für etwas beschuldigt, was im Zusammenhang mit ihm und Finn steht?
Das Piep-Geräusch der Mikrowelle unterbricht Jez Gedanken für einen Moment. Er holt den heißen Teller aus der Mikrowelle, stellt ihn auf den Tisch und schüttelt die Hand. Während Jez sich an den Tisch setzt, greift er wieder nach dem Blatt und lässt seinen Blick darüber wandern. Gleichzeitig schiebt er sich die heiße Lasagne Gabel für Gabel in den Mund. Leise seufzt er, als er das Blatt auf den Tisch legt. Über Kimmys Kopf stehen die beiden Worte ‚Lügnerin‘ und ‚Verräterin‘. Wenn das Kimmy sich wirklich wie eine Verräterin fühlt, wie soll er sich dann fühlen? Er hat Romy geküsst. Einfach so. Weil er gedacht hat, es geht ihm danach besser. Und vielleicht auch, weil er gedacht hat, es geht Romy dann besser. Weil sie jetzt sagen kann, sie ist nicht mehr ungeküsst…
Langsam lässt Jez seine Gabel auf den Teller sinken, bevor er seufzt. Auch wenn Romy ihm nichts von seinem Essen übriggelassen hat, hat er keinen richtigen Hunger. Noch ein paar Mal stochert er in der Lasagne herum, dann erhebt er sich wieder und greift nach dem Blatt. Vorsichtig faltet er es zwei Mal, bevor er seinen Teller wegräumt und dann nach oben in sein Zimmer geht.
In seinem Zimmer legt Jez den Zettel auf den Tisch, greift nach seinem Handball und schmeißt sich auf sein Bett. Für einige Momente vergräbt er sein Gesicht in seinem Kissen und hält die Luft an. Irgendwie ist die Tatsache, dass Kimmy - obwohl sie, wenn er es richtig interpretiert, zeichnet, dass sie es als falsch ansieht – mit Finn zusammen ist, erst jetzt in seinem Kopf angekommen. Das Bild, wie Kimmy quer durch die Aula läuft, Finn in den Arm nimmt und ihn dann küsst, taucht wieder vor seinen geschlossenen Augenlidern auf. Ruckartig setzt Jez sich auf, öffnet die Augen und atmet tief durch. Er spürt die kalte, fiese Eifersucht, die er über den Tag halbwegs unterdrücken konnte, wieder in sich aufsteigen. Auf dem Bett sitzend wirft er den Handball gegen die gegenüberliegende Wand, auch, wenn sein Schlüsselbein sich mit einem stechenden Schmerz beschwert.
Jetzt, wenn Kimmy herausfinden würde, dass er auch Romy geküsst hat, könnte er sogar verstehen, wenn sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Erst küsst er sie, weil er sich nicht unter Kontrolle hat und dann küsst er Romy, weil er denkt, es geht ihm danach besser! Er ist doch kein Stück mehr besser als die Jungs, die alle zwei Wochen eine Neue am Start haben! Jez wirft den Ball noch einmal gegen die Wand, aber diesmal kommt er nicht zurück, sondern fällt auf halbem Wege einfach herunter. Einen Moment pustet Jez die eingeatmete Luft aus, dreht sich wieder auf den Bauch und vergräbt das Gesicht wieder in sein Kissen. Jetzt ist es nicht mehr nur die Eifersucht, die hart gegen seinen Brustkorb drückt. Jetzt ist es auch noch der Hass auf sich selbst!
Auch wenn Jez sich zwingt, Kimmy aus seinen Gedanken zu verbannen, gelingen will es ihm nicht wirklich. Wenigstens lässt der Druck der Eifersucht gegen seine Brust nach einer Weile nach. Langsam setzt Jez sich auf und lehnt sich gegen die Wand, bevor er aufsteht, seinen Handball aufhebt, auf sein Bett wirft und sich dann an seinen Schreibtisch setzt.
Eigentlich hat er jetzt gar keinen Kopf für Hausaufgaben, aber vielleicht drängen sie Kimmy ja aus seinen Gedanken. Jez sucht seine Sachen aus dem Rucksack und fährt dann seinen Laptop hoch. Langsam sollte er sich wirklich mal an sein Naturwissenschaftsprojekt halten, einen weiteren Minuspunkt bei dem Naturwissenschaftslehrer sollte er sich nicht mehr leisten. Während Jez wartet bist sein Laptop hochgefahren ist, schleichen sich die vergangenen Stunden trotz aller Gegenwehr wieder in seinen Kopf. Beim nächsten Mal solltet ihr euch vielleicht nicht erwischen lassen… Was meint der Typ mit ‚erwischen lassen‘ Jez stützt den Kopf auf die Hand und starrt nachdenklich auf den Bildschirm des Laptops. Erwischen lassen. In Form von ‚Ihr wurdet heute Morgen schon gesehen‘ oder in Form von ‚Jemand hat euch gesehen‘. Langsam setzt Jez sich auf. Jemand hat euch gesehen. Vielleicht wollte der Typ von Lehrer ihnen nicht noch eine reindrücken aber - wenn es wirklich Fall Nummer zwei war - hat vielleicht jemand gesehen, wie er Romy geküsst hat? Energisch schiebt Jez den Gedanken beiseite und klickt zweimal auf das Firefox-Icon. Nein! Es kann Keiner gesehen haben! Das Firefoxfenster öffnet sich und die Startseite von Facebook baut sich langsam auf. Kurz lässt Jez seinen Blick über die Neuigkeiten wandern, da ertönt leise das Benachrichtigungsgeräusch. Jez zieht fast ein bisschen erschrocken die Stirn in Falten, als er den Namen der Person liest, der ihn angeschrieben hat. Finn Böll. Was will der denn von ihm? Einen Moment zögert Jez, dann öffnet er den Chat einem Mausklick und liest die Nachricht durch.
Finn Böll: Sag mal, macht es dir eigentlich Spaß einem Mädchen nach dem anderen etwas vorzuspielen, nur, dass du sie ins Bett bekommst?
Langsam lehnt sich Jez gegen die Lehne seines Stuhls und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Weiß Finn etwa auch davon, dass er Kimmy angeblich nur ins Bett bekommen wollte? Bevor Jez weiter darüber nachdenken kann, schickt er drei Fragezeichen an Finn. Einen Moment sieht Jez wieder auf seine Laptoptastatur, bevor er leise seufzt. Finn müsste eigentlich – so schnell, wie die Geschichte an der Schule herumgegangen ist – mitbekommen haben, was Kimmy ihm selbst unterstellt. Leise seufzt Jez noch einmal. Zwar findet er die kleine Schule hier in Fautenbach eigentlich schöner als das riesige Gymnasium, auf dem er vorher in Köln war, aber im Gegensatz zu hier hat sich dort ein Gerücht nie so schnell verbreitet. Einfach, weil es bei der Vielzahl an Schülern und Klassen normal war, dass mal jemand von der Schule geflogen ist, weil er irgendetwas mit Drogen am Hut hatte oder dass auch mal ein Junge ein Mädchen abgefüllt hat, nur um sie ins Bett zu bekommen. Oder anders herum. Vielleicht ist der Grund, dass Jez die ganze Sache noch mehr stört auch einfach, dass er diese Jungs, die Mädchen nur für das eine wollen, noch nie leiden konnte.
Finn Böll: Erst füllst du Kimberly ab, nur, um sie flachzulegen und dann knutschst du mit Romy rum?!
Es hat uns doch jemand gesehen! Das ist das Erste und Einzige, was Jez im ersten Moment durch den Kopf schießt. Es hat uns doch jemand gesehen!
Finn Böll: Und tu jetzt nicht so, als wäre es nicht so. Ich habe dich und Romy genau gesehen!
„Verdammt…“, murmelt Jez leise und fährt sich mit den Händen durch die Haare, bevor er kurz die Augen schließt und zweimal tief ein- und ausatmet. Finn hat ihn mit Romy gesehen. Ausgerechnet Finn! Dann weiß es Kimmy auch innerhalb von kürzester Zeit! Und dann hat er es doppelt verkackt bei ihr….
Jez Winge: Erstens: Wenn du die Wahrheit nicht kennst, dann erzähle keine Lügen. Und zweitens: Was geht es dich eigentlich an, mit welchen Mädchen ich was mache?
Jez ist sich bewusst, dass er mit dieser aggressiven Antwort den Verdacht, dass er Romy nur aus dem einen Grund geküsst hat, verstärkt, aber das ist ihm in diesem Moment erstmal egal. Was fällt dem Typen ein, ihm Sachen zu unterstellen, die nie so passiert sind oder passieren werden?! Als die Sprechblase mit den drei springenden Punkten erscheint, die anzeigt, dass der Chatpanter schreibt, lehnt Jez sich ein wenig nach vorne und wartet ungeduldig, bis er die Nachricht erhält.
Finn Böll: Erstens: Ach, ich erzähle Blödsinn? Es weiß nur JEDER, dass du Kimberly am Big Blöpp nur abgefüllt hast, um sie flachzulegen. Und zweitens: Mich geht es sehr wohl was an. Falls du es noch nicht mitbekommen hast: Kimberly ist MEINE Freundin… und was Romy angeht. Such dir eine andere Schlampe! Du hast sie mit Sicherheit nicht verdient!
Jez lehnt sich zurück, presst die Lippen aufeinander und steht auf. Er klappt seinen Laptop zu, schiebt sein Handy in die Hosentasche und läuft schnell die Treppe nach unten. Dort schlüpft er in seine Motorradjacke und in die blauen Turnschuhe und greift nach seinem Helm und dem Schlüssel, bevor er das Haus verlässt und sein Motorrad aus der Garage schiebt.
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Mit einer Hand zieht Kimmy die vielen, kleinen Gras- und Unkrautkeime aus der feuchten, schwarzen Erde auf Lennards Grab. Ihr ist es in den letzten Tagen kaum aufgefallen, aber bis auf den allnächtlichen Traum hat sie kaum noch an ihren Bruder denken müssen. Sie hält kurz inne, hebt den Kopf und betrachtet den hellen Grabstein. 21. Mai 2009. Leise seufzt Kimmy. In einer Woche ist es fünf Jahre her. fünf ganze Jahre! Seufzend fährt sie mit der Beschäftigung, die Keime aus der Erde zu ziehen, fort.
„Was glaubst du. Ist es richtig, Jez mithilfe von Finn eine auszuwischen?“ Eigentlich ist es dumm, hier, auf dem Friedhof, wo jeder sie hören könnte, mit Lennard zu reden. Mit einer Person, die ihr nie mehr antworten wird. Aber hier fühlt sich Kimmy ihrem Bruder am nächsten. Langsam lässt sie die Hand mit dem grünen Unkrautbüschel sinken und hebt den Kopf wieder. „Es fühlt sich so falsch an… Aber er hat heute Morgen einfach geschwänzt. Mit Romy zusammen…“ Kimmy presst die Lippen aufeinander und spürt den Klos im Hals, der sich immer dann bildet, wenn sie versucht nicht zu weinen. „Sie war am Samstag bei ihm. Ich meine, was, wenn er vielleicht doch nicht mit mir geschlafen hat? Was, wenn ich ihm zu Unrecht eine reinwürge und er in Romy vielleicht Trost findet?“ Kimmy schließt die Augen und spürt die heißen Tränen erst hinter den Augenlidern brennen, bevor sie über ihre Wangen rollen. Sie hebt eine Hand und wischt sie mit dem Handballen vorsichtig weg. „Was, wenn er sich in sie verliebt… Und glücklich mit ihr ist. Und ich weiß dann, dass ich…“ Kimmy spricht nicht weiter. Sie unterdrückt ein leises Schluchzen und atmet einmal tief ein. „… dann eifersüchtig auf Romy bin. Weil sie den Jungen haben kann, den ich will. Den ich hätte haben können und den ich selbst fortgestoßen habe!“ Kimmy vergräbt das Gesicht und ihrer Armbeuge und weint leise. Was, wenn Jez sich wirklich in Romy verliebt? Wenn sie selbst daran schuld ist, dass er sich nicht mehr für sie interessiert?
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Jez drückt gleich dreimal hintereinander auf den Klingelknopf und fährt sich mit einer Hand durchs Haar. Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sich endlich etwas regt und Romy die Haustür öffnet. Sie hebt die Augenbraunen, als sie Jez vor der Tür erkennt.
„Jez?“ Romy klingt mehr als überrascht.
„Ich muss dir was zeigen.“ Romy sieht Jez noch verwirrt an und lässt ihn ins Haus. Mit dem Kopf deutet sie in Richtung der Treppe und überholt Jez am oberen Treppenabsatz, um ihm zu zeigen, in welche Richtung ihr Zimmer liegt.
Nur kurz sieht Jez sich in Romys Zimmer um. Alles in allem ist ihr Zimmer so eigerichtet, wie er erwartet hätte, würde nicht Finn gerade in seinem Kopf herumspuken. Die Möbel bestehen alle aus weißem Holz, die Wände sind in einem leichten Cremeton gestrichen – ausgenommen von einer weiß-braun-orange-gemustert tapezierten Wand. Auf dem Boden liegt ein heller, cremefarbener Teppich. Auf dem Bett liegt die blaue Adidas-Jacke, die Romy am Morgen noch getragen hat. Zielsicher steuert Jez auf Romys Fenster zu. Die Fensterbank ist zu einer Art Couch umfunktioniert, mit einem hellen, orangefarbenen Stoff überzogen und voll belegt mit vielen kleinen weißen, roten und gelben Kissen. Wohl der Traum jedes Mädchens. Ein weißes Tablet liegt zwischen den Kissen. Romy folgt Jez Bewegungen mit den Augen. Sie zieht die Augenbrauen hoch, als er nach ihrem Tablet greift, sich hinsetzt und das Tablet, das sie nur mit der Wischfunktion gesperrt hat, entsperrt.
„Was…?“, fragt Romy, geht auf Jez zu und will ihm das Tablet aus der Hand nehmen. Sie hält inne, als sie sieht, wie er sie bei Facebook abmeldet und sich selbst anmeldet. Fragend runzelt sie die Stirn und lässt sich langsam neben Jez auf die weiche Sitzfläche sinken. Neugierig sieht sie über Jez Hand hinweg und wartet ungeduldig, bis der Lade-Kreis vom Display verschwindet und sich die Startseite von Jez Facebookprofil aufbaut. Bevor Romy überhaupt die Möglichkeit hat, irgendetwas zu lesen, hat Jez schon einen Chat geöffnet. Wortlos reicht er ihr das Tablet und macht ihr mit einem Kopfnickten klar, dass sie den Chatverlauf lesen soll. Einen Moment noch sieht sie Jez fragend an, dann wirft sie zögerlich einen Blick auf das Display und hebt die Augenbrauen, als sie Finns Namen als Chatpartner liest. Romy scrollt bis zum Anfang des Chats und beginnt dann die Nachrichten zu lesen. Leise atmet Jez einmal tief ein und fährt sich mit der Hand erst durchs Gesicht und dann durchs Haar, bevor er aufsteht, aus seiner Motorradjacke und seinen Turnschuhen schlüpft und die Jacke über die Lehne von Romys Schreibtischstuhl hängt. Es macht ihn irgendwie nervös, dass Romy einfach nur dasitzt und seelernruhig den Chatverlauf liest. Langsam lässt Romy die Hand mit dem Tablet sinken und lehnt sich nach hinten in ihre Kissen. Jez setzt sich wieder neben sie, dreht sich zu ihr und sieht sie erwartungsvoll an. Sie hält ihm das Tablet hin.
„Also bin ich doch nur eine Schlampe für ihn…“ Romy wendet den Blick ab und starrt auf den cremefarbenen Teppich. Jez hat mit allem gerechnet, aber nicht, dass Romy auf dieses eine Wort so viel Wert legt. Sie zieht die Beine an, lehnt sich gegen die Wand und schließt die Augen. Vorsichtig legt Jez Romys Tablet auf den Boden und seufzt leise.
„Mit Schlampe hat er doch nicht dich gemeint.“ Er tut es Romy gleich und lehnt sich ihr gegenüber gegen die Wand. Romy öffnet die Augen und sieht Jez einen Moment an.
„Wen denn sonst? Kimmy bestimmt nicht!“ Leise seufzt Jez noch einmal. Versteht Romy nicht, dass er nicht gekommen ist, um ihr zu zeigen, dass Finn sie angeblich als Schlampe bezeichnet? Versteht sie nicht, dass er gekommen ist, um ihr zu zeigen, dass er sich auf irgendeine Art und Weise vielleicht doch Sorgen um sie macht? Obwohl er eigentlich nicht darüber nachgedacht hat, was Romy in dem Moment empfinden könnte, in dem er ihr den Chat zeigt. Er ist eigentlich gekommen, weil sie die erste Person war, die ihm eingefallen ist und die so ziemlich dasselbe Problem hat wie er.
„Romy…“ Jez greift nach Romys Hand, als sie den Kopf seitlich gegen die Fensterscheibe lehnt, die Augen schließt und deutlich sichtbar gegen die Tränen kämpft.
„Ich bin ihm doch eh scheißegal!“, zischt sie und will ihre Hand Jez entziehen, doch er hält sie fest und rutscht dann neben Romy.
„Bist du nicht! Sonst hätte er mir nicht geschrieben, dass ich dich nicht verdient habe!“ Romy hebt den Kopf und sieht Jez kurz von der Seite an. Schnell wendet sie den Blick wieder ab und greift nach einem Kissen. Als wöllte sie sich ablenken, zupft sie ein paar Mal daran herum, bevor sie leise Luft holt.
„Meinst du?“ Fast unmerklich nickt Jez. Er lächelt sanft, als Romy sich zu ihm dreht und ihn entschuldigend ansieht. Ihre blauen Augen schimmern noch immer glasig, als sie versucht, sich zu einem Lächeln zu zwingen, was aber genau das Falsche ist. Aus ihrem Augenwinkel rollt eine Träne. Romy will sie mit einer Hand wegwischen, doch Jez greift nach ihrem Arm und hält sie so davon ab. Fragend sieht Romy ihn an, dann lässt sie sich in seine Arme sinken und drückt das Gesicht gegen Jez dunkles Shirt. Jez legt die Arme um Romy und streicht ihre langsam beruhigend über den Rücken.
„Sch…sch…“, macht er leise und lehnt den Kopf ein wenig nach vorne, sodass er Romy in Ohr flüstern könnte. Romys Haare kitzeln an seiner Wange, während sie leise weint.
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Kimmy hebt die Augenbrauen, als sie Finns blau-weiß-rotes Motorrad im Hof stehen sieht. Was will Finn denn unangemeldet bei ihr? Und vor allem: Wo ist er? Kimmy läuft eilig die beiden Treppenstufen zur Haustür hinaus, als ihr der Gedanke kommt, dass Finn alleine mit ihren Eltern ist und sie ihm erst einmal einen Vortrag halten, wie er mit ihr umzugehen hat. Mit einer Hand schließt sie die Haustür auf, schlüpft aus ihren Schuhen und wirft ihren Schlüssel ohne hinzusehen auf das Schlüsselbrett, bevor sie in das Wohnzimmer läuft. Und tatsächlich sitzt Finn mit ihrem Vater auf der Couch, sieht aber nicht aus, als würde es ihn irgendwie stören.
„Finn!“, ruft Kimmy – mehr erleichtert als überrascht - leise, läuft auf ihn zu und gibt ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. In diesem Moment ist es ihr wirklich egal, dass ihr Vater neben ihr sitzt, sie hat einfach nur Angst davor, dass er Finn irgendetwas über Lennard erzählt. „Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?“ Finn lächelt Kimmy zu und zuckt entschuldigend die Schultern.
„Überraschung.“ Sanft lächelt Kimmy zurück und greift nach Finns Hand. Dieser lässt sich von ihr hochziehen und nickt Kimmys Vater noch kurz zu, bevor er hinter seiner Freundin die Treppe hinauf in Kimmys Zimmer verschwindet.
Kimmy drückt die Tür hinter sich und Finn zu und dreht den Schlüssel im Schlüsselloch einmal um. Finn lässt sich auf Kimmys Bett fallen und lehnt sich gegen das Kissen. Er hebt einen Arm und wartet darauf, dass Kimmy über ihn klettert und sich auf der Wandseite in seinen Arm sinken lässt. Leise seufzt er, dreht sich dann du Kimmy und gibt ihr einen Kuss auf die Lippen.
„Kimmy?“ Kimmy sieht Finn in die Augen.
„Hm?“, macht sie leise. Kurz wendet Finn seinen Blick ab und löst mit zwei Fingern einen kleinen Knoten aus Kimmys Haaren.
„Ich mach mir Sorgen um Romy…“ Fragend zieht Kimmy die Augenbrauen zusammen. „Als ich heute Morgen die ersten zwei Stunden frei hatte, habe ich gesehen, wie sie mit Jez rumgemacht hat.“ Schlagartig setzt sich Kimmy auf. Egal wie sehr sie sich bemüht hat, das aufgesetzte Lächeln kann sie einfach nicht in ihrem Gesicht halten.
„Sie hat was?“ Finn tut es Kimmy gleich und setzt sich auf.
„Sie hat ihn geküsst. Oder er sie - was weiß ich!“ Finn sieht Kimmy einen gefühlt ewig langen Moment aus seinen blauen Augen an. „Ich will nicht, dass er dasselbe mit ihr macht, was er mit dir gemacht hat.“ Kimmy wendet den Blick ab und schweigt. Er hat sie geküsst. Jez hat Romy geküsst! Wie am Vormittag spürt Kimmy wieder die kalte Eifersucht in sich aufsteigen. Die Eifersucht auf Romy.
Wie kann sie ihr das antun? Hat sie nicht gemerkt, wie sehr sie unter der Nacht nach dem Big Blöpp gelitten hat?! Kimmy spürt, wie Finn dichter an sie herangerückt ist. Auch wenn es sich eigentlich nicht gut anfühlt, Kimmy kuschelt sich in seine Arme und versteckt das Gesicht in seinem Oberteil. Im Stillen hofft sie, dass Finn denkt, dass sie so reagiert hat, weil er die Sache mit Jez erwähnt hat. Mit einer Hand fährt Finn Kimmy über den Hinterkopf. Er gibt ihr einen Kuss auf den Scheitel und flüstert dann leise:
„Ich habe Romy angeschrieben, aber sie antwortet mir nicht.“ Er macht eine kleine Pause, als würde er überlegen, was er als nächstens sagen soll. „Und Jez auch.“ Langsam hebt Kimmy den Kopf. Finn hat Jez angeschrieben! „Er streitet alles ab.“ Kimmy wendet ihren Blick auf Finns Schulter.
„Klar. Als ob ihm noch jemand glauben würde…“, murmelt sie leise. Im nächsten Moment hat sie das Gefühl, die Last, die entsteht, wenn sie einfach etwas über Jez - über den Jungen, den sie wirklich liebt – behaupten, was nicht der Wahrheit entspricht, würde sie erdrücken.
„Vielleicht…“ Mit einer Hand drückt Finn Kimmys Kinn nach oben, sodass sie ihn gezwungenermaßen ansehen muss. „…hört Romy ja auf dich.“ Einen Moment dauert es, bis der Satz in ihrem Gehirn angekommen ist, dann nickt Kimmy.
„Fährst du mich?“ Das Standartlächeln, das eigentlich immer auf Finns Lippen liegt, taucht wieder auf, als er sanft nickt und ihren einen Kuss auf die Wange gibt.
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Jez sitzt Romy wieder gegenüber an die Wand gelehnt. Nachdem sie sich beruhigt hat, hat er ihr ganz von vorne erklärt, was alles passiert ist und wie er Finns Worte interpretieren würde.
„Und du glaubst wirklich, es würde etwas bringen, Kimmy zu sagen, dass ich Finn…“ Romy dreht ein Kissen zwischen den Händen, bevor sie weiterredet. „…süß finde?“ Jez sieht Romy aus seinen grünen Augen an und nickt dann.
„Vielleicht nicht unbedingt sofort ‘Ich steh auf Finn‘ aber irgendwie so, dass sie darüber nachdenken muss.“ Nachdenklich nickt Romy und erwidert Jez Blick dann.
„Und was, wenn sie total abblockt und mich als Schauspielerin dastehen lässt?“ Leise seufzt Jez. In diesem Moment ist Romy der totale Gegensatz zu ihrem normalen Ich. Sonst redet sie doch auch erst und denkt dann darüber nach.
„Keine Ahnung… Aber das Risiko musst du eingehen.“ Nachdenklich zupft Romy an ihrem weißen Top herum.
„Kannst du nicht? Ich meine… “ Jez weiß genau, was Romy fragen will, deshalb schüttelt er bestimmt den Kopf.
„Nein, Romy. Wenn du es ihr sagst, ist es viel glaubwürdiger.“ Romy seufzt und schließt die Augen.
„Ich glaub, ich pack das nicht“, murmelt sie leise. Schon alleine an ihrer Körperhaltung kann Jez erkennen, dass die Angst die Tränen wieder versucht heraus zu kitzeln.
„Du hast mir versprochen nicht wieder zu weinen.“ Romy öffnet die Augen. Sie schimmern glasig, als sie versucht, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Jez rutscht neben Romy und pikst ihr mit dem Finger in den Bauch. Schützend hält diese sich die Hände davor.
„Was soll das?“, beschwert sie sich leise. Jez legt den Kopf schlief und grinst.
„Ich habe gesagt, du sollst nicht weinen!“ Mit diesen Worten legt er seine Arme um Romy und beginnt sie am Bauch zu kitzeln. Lachend, strampelnd und nach Luft japsend gleichzeitig versucht sie sich aus Jez Umklammerung zu befreien.
„Jez!“, japst sie lachend und spürt das Gewicht von Jez Oberkörper auf sich.
„Ja?“, fragt er amüsiert und hält mit einer Hand beide Hände von Romy fest. Verzweifelt versucht sie sich zu befreien, bevor er von ihr ablässt und sie sich erschöpft auf den Rücken sinken lassen kann.
„Ich weine nicht mehr! Versprochen!“ Jez lässt Romys Hände los und dreht sich neben ihr auf den Rücken, wobei er aufpassen muss, nicht von der weichen Sitzfläche zu fallen. „Du bist so doof“, murmelt sie leise und fährt lachen hoch, als Jez ihr auf ihren frechen Kommentar wieder in die Seite knufft. Schelmisch grinsend dreht sie sich auf den Bauch, klemmt sein rechtes Bein zwischen ihre Knie und greift nach seinen Handgelenken, um sie rechts und links neben seinem Kopf auf den hellen Stoff zu drücken. „Du bist so doof!“, flüstert sie leise und quietscht leise auf, als Jez seine Arme, als würde sie sie nicht auf die Matratze drücken, hebt, sich dreht, sodass Romy neben ihm auf die Matratze rollt und ihre Handgelenke auf die Matratze drückt.
„Ach echt?“ Einige Momente verharrt er in der Position, dann lässt er von Romy ab und legt den Kopf neben ihr auf eins der Kissen. Romy wendet sich ihm zu und legt ihren Kopf auf Jez Arm, den er ihr anbietet. Eine Weile schweigt sie.
„Danke Jez.“ Jez holt schon Luft, um zu fragen, wofür sie sich bedankt, doch Romy beantwortet ihm seine Frage schon. „Dafür, dass du für mich da bist, obwohl du selbst genug eigene Probleme hast.“ Ein Lächeln huscht über Jez Lippen und bleibt darauf liegen.
„Bitte“, flüstert er leise und schließt die Augen. Ja, er hat genug eigene Probleme. Aber eins der größten kann er vielleicht zusammen mit Romy lösen. Romy tut es Jez gleich, schließt die Augen und atmet dann so gleichmäßig ruhig, dass Jez meinen könnte, sie ist eingeschlafen. Und nein, es fühlt sich nicht falsch an, Romy in den Armen zu halten! Es fühlt sich nur falsch an, sie zu küssen! Unweigerlich wird Jez an die Zeit in Köln zurückerinnert. Als er mit Manda zusammen war, hatte er auch gleichzeitig eine beste Freundin – Emelina -, bei dem er dasselbe empfunden hat, wie bei Romy. Die Geborgenheit, die man bei einem Freund verspürt. Jez öffnet die Augen und legt den Kopf ein wenig nach vorne. Ja. Romy könnte eine richtig gute Freundin sein. Aber nicht mehr.
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Kimmy übergibt Finn den Motorradhelm und die Jacke, bevor sie sich umdreht, ein letztes Mal tief durchatmet und dann an der Haustür zu dem Reihenhaus, indem Romy mit ihren Eltern und ihren beiden kleineren Zwillingsbrüdern wohnt, klingelt. Aufgeregt tippt Kimmy mit dem linken Fuß immer wieder auf den Boden, bis die Haustür nach einer gefühlten Ewigkeit endlich aufgeht und Romys Mutter im Türrahmen steht. Sie kennt Kimmy, da sie eine Weile lang wirklich viel mit Romy gemacht hat, weshalb sie freundlich zu lächeln beginnt.
„Ist Romy da? Sie hat noch meinen Naturwissenschaftsordner“, fragt Kimmy freundlich und kommt sich für einen Moment vor wie in ihrer Kindheit. Als sie immer bei Betty und Lennard bei Max geklingelt haben, um sie zu fragen, ob sie mit draußen spielen wollen. Lächelnd nickt Romys Mutter, öffnet die Tür weiter und lässt Kimmy ins Haus.
„Du weißt ja, wo’s lang geht“, sagt sie freundlich und lässt Kimmy dann alleine im Flur zurück. Kurz schließt Kimmy die Augen, holt tief Luft und läuft dann die graue Steintreppe nach oben. Als sie gerade den oberen Absatz der Treppe erreicht hat, kommt einer von Romys Brüdern die Treppe nach oben gerannt und stößt sie unsanft von der Seite an, bevor er auf Socken über den Boden schlittert und vor der Zimmertür, aus der Geräusche einer Playstation oder einer anderen Konsole kommen, außer Atem stehen bleibt.
„Achtung! Romy hat Besuch von irgendeinem Typen mit ‘nem voll geilen, gelben Motorrad. Wetten, der ist ihr Freund?“ Irgendeinem Typen mit ‘nem voll geilen, gelben Motorrad. Jez! Bevor Kimmy etwas auf die Warnung des Elfjährigen antworten kann, ist der auch schon in dem Zimmer verschwunden und streitet sich lautstark mit seinem Zwillingsbruder um den Controller der Spielkonsole oder sonst etwas.
Beunruhigt bleibt Kimmy alleine zurück. Was soll sie jetzt machen? Wenn Jez hier ist? Sie kann Romy ja schlecht vor ihm warnen, wenn er daneben sitzt. Aber andererseits… Ohne weiter nachzudenken, läuft Kimmy auf Romys Zimmertür zu, zögert dann doch nochmal einen Moment und öffnet sie dann, ohne anzuklopfen, einen Spalt weit. Helles Tageslicht fällt durch den kleinen Spalt in den dunklen Flur. Leise drückt Kimmy die Tür gerade so weit auf, dass sie die beiden Personen, die auf der umgebauten Fensterbank sitzen, oder bessergesagt liegen, erkennen kann. Automatisch hält sie den Atem an, als sie sieht, wie Jez sich über Romy lehnt und sie kitzelt, worauf die zu lachen und japsen beginnt. Bei dem Versuch sich zu befreien, zieht Romy an ihrem weißen, engen T-Shirt, sodass der Spitzenrand ihres BHs deutlich heraus blitzt. Die Worte, die Romy japst, bevor Jez sie loslässt, kann Kimmy nicht verstehen. Obwohl, sie würde sie sowieso nicht verstehen. Ihre Ohren fühlen sich an, als würden sie tausend Tonnen Watte verstopfen. Das ganz leichte Schwindelgefühl, das Kimmy überkommt, kann man wohl darauf zurückführen, dass sie den Atem anhält. Für einen Moment schließt sie die Augen und holt dann zweimal tief Luft.
Als Kimmy die Augen wieder öffnet, sieht sie, wie Romy und Jez je auf dem Rücken liegen und einen Moment schweigen, bevor Romy wieder etwas murmelt, worauf Jez sie in die Seite knufft. Romy fährt hoch und rollt sich auf Jez, sein rechtes Bein zwischen ihren Beinen eingeklemmt und drückt seine Arme rechts und links neben seinem Kopf auf das Kissen. Wie in Trance sieht Kimmy, wie Romys Gesicht sich dem von Jez immer weiter nähert. Nur mit aller Kraft kann Kimmy sich dagegen wehren, aufzuschreien. Wie kann Romy ihr das antun? Wie kann sie nur?!
Mit beiden Händen stößt Kimmy am Türrahmen von Romys Zimmer ab, dreht sich um und läuft so schnell sie kann die Treppe hinunter. Romy und Jez sind doch sowieso beschäftigt genug, um sie zu hören! Nur mit Mühe kann Kimmy verhindern, dass sie die Haustür wie ein bockiges Kind hinter sich zuschlägt. Wie kann Romy nur? Hat sie denn nicht herausgehört, dass sie Jez liebt und nicht Finn? Dass Finn nur Mittel zum Zweck für sie ist?! Als Kimmy quer über die Straße läuft und auf einen der Parkplätze zusteuert, beruhigt sie sich soweit, dass sie Finn in die Augen sehen kann, ohne dass er gleich erkennt, was in ihr vorgeht. Mit gerunzelter Stirn kommt Finn ihr entgegen und nimmt Kimmy schon bevor sie irgendeinen Ton von sich gegeben hat in den Arm. Die Protektoren seine Motorradjacke drücken hart gegen Kimmys Oberkörper, bevor Finn sich langsam von ihr löst.
„Und?“, fragt er und sieht sie aus seinen blauen Augen an. Leise seufzt Kimmy und geht dann an ihm vorbei, um sich die Motorradjacke, die Finn über den Tank gelegt hat, überzustreifen.
„Ich habe nicht mit ihr geredet. Sie… war beschäftigt“, versucht sich Kimmy nicht zu direkt auszudrücken. Finn runzelt die Stirn und greift nach Kimmys Hand, als sie sich den Motorradhelm überstreifen will.
„Wie meinst du das?“ Kimmy zuckt die Schultern und wendet den Kopf dann von Finn ab. Dann deutet sie mit dem Kopf auf Jez gelbe Maschine, die im Hof steht und die sie vorhin gar nicht wahrgenommen hat.
„Jez bringt ihr wahrscheinlich gerade die neuesten Kusstechniken bei.“ Kimmys Stimme trieft fast vor Verachtung. Aber nur so schafft sie es, den Schmerz aus ihr zu verbannen. Finns Hand umfasst immer noch ihr Handgelenk. Er zieht sanft an ihrem Arm, sodass sie sich zu ihm drehen muss, bevor er den Kopf nach vorne lehnt, bis sich seine und Kimmys Stirnen berühren.
„Ist Romy dir so egal?“ Kimmy hebt den Blick nur kurz und seufzt dann, bevor sie ganz sanft mit dem Kopf schüttelt.
„Aber vielleicht muss sie ja selbst draus lernen.“ Finn seufzt leise, streicht Kimmy mit einer Hand durchs Haar und hebt dann seinen Kopf von Kimmys.
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Draußen dämmert es schon, als Jez zusammen mit Romy ihr Zimmer verlässt und über die Steintreppe ins Erdgeschoss gelangt. Romy sieht Jez dabei zu, wie er in die dunkle Motorradjacke schlüpft. Sie stöhnt leise auf, als ihre beiden Brüder lautstark die Treppe hinuntergerannt kommen und sie am Treppenabsatz absichtlich anrempeln.
„Penner…“, murmelt sie leise, was aber von der lautstarken Diskussion ihrer Brüder verschluckt wird. Sie bleiben nebeneinander im Türrahmen zum nächsten Zimmer stehen und mustern erst ihre große Schwester und dann Jez.
„Seid ihr zusammen?“ Beide grinsen frech, als ihre Blicke zwischen Romy und Jez hin und her wandern. Romy stößt sich von dem Metallgeländer ab, geht auf ihre beiden Brüder zu und packt einen der beiden dem Oberarm.
„Nervt mich jetzt nicht!“, zischt sie, als sie versucht, beide durch die Tür wegzuschieben, was ihr aber nicht gelingt.
„Also ja?“, fragt einer von beiden und weicht Romys Hand geschickt aus.
„Ich habe gesagt, ihr sollt mich nicht nerven!“, wiederholt Romy sich noch einmal und lässt dann sauer von einem ihrer Brüder ab.
„Es reicht jetzt!“ Unbemerkt von Romy, ihren Brüdern und Jez ist Romys Mutter die Kellertreppe hinaufgekommen und sieht ihre beiden Jüngsten streng an. Beide grinsen Romy noch einmal frech an und verschwinden dann aus Jez Blickfeld. Seufzend dreht sich Romy um und lächelt Jez ein wenig gezwungen zu. Sie streicht sich die Haare, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst haben, wieder zurück und wartet darauf, dass ihre Mutter den Flur verlässt. Sie lächelt ihrer Tochter zu und ist schon dabei, den Flur zu verlassen, als sie stehen bleibt und sich ihr noch einmal zuwendet.
„Warum hast du eigentlich Kimberlys Naturwissenschaftsordner gebraucht?“ Irritiert runzelt Romy die Stirn. „Sie war doch vorhin da und hat ihn geholt.“ Romy öffnet den Mund und kann aus dem Augenwinkel deutlich erkennen, dass nicht nur sie geschockt ist.
„Ähm… wir müssen ihn abgeben und… ähm… meiner war irgendwie durcheinander“, flunkert sie und lächelt zögerlich, in der Hoffnung, dass ihrer Mutter ihre Notlüge nicht sofort auffällt. Diese nickt leicht und verlässt dann langsam den Raum. Romy ist klar, dass sie ihr nicht glaubt, aber zum Glück ist ihre Mutter so fair und diskutiert nicht hier, vor Jez, mit ihr. „Verdammt…“, murmelt Romy leise und dreht sich zu Jez. Als ihre Blicke sich treffen, nickt Jez. Romy schiebt sich an ihm vorbei die Treppe hinauf und holt ihre Motorradjacke und den Helm.
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Aufgewühlt tigert Kimmy durch ihr Zimmer. Nachdem Finn zu ihrem Glück relativ früh zum Fußballtraining musste, konnte sie endlich ungestört nachdenken. Wie kann Romy ihr das antun? Wie kann sie einfach mit Jez rumknutschen, obwohl sie wissen müsste, dass ihr etwas an ihm liegt? Beunruhigt beißt Kimmy sich auf der Innenseite ihrer Unterlippe herum, während sie sich mit der Hand durch das offene Haar fährt und die Augen schließt. Und andererseits… hat sie sich vielleicht doch nicht in Jez getäuscht, so, wie sie in den letzten Tagen angefangen hat, zu glauben und vor allem zu hoffen. Wollte er vielleicht wirklich nur das eine? Vielleicht hat er mitbekommen, dass Romy, genau wie sie, noch nie einen Freund hatte und dazu genau wie sie war, noch ungeküsst ist, und deshalb ist sie die Nächste. Oder, er hat festgestellt, dass hier in der Umgebung nicht so viele Mädchen wohnen wie in Köln, die in Frage kommen und deshalb versucht er Romy große Gefühle vorzuspielen. Ein weiteres Mal fährt sich Kimmy mit der Hand durchs Haar und sieht bedrückt aus dem Fenster.
Die Straßenlaternen sind mittlerweile angegangen und beleuchten die Straße und die Einfahrten zu den Häusern. Unbewusst richtet Kimmy ihren Blick auf das Haus, in dem Jez zusammen mit seiner Mutter wohnt. Im Hof steht Jez gelbes Motorrad. Kimmy zieht die Augenbrauen hoch. Sie hat Jez gar nicht kommen hören. Sonst weiß sie doch auch immer, wann er kommt, schließlich ist er so ziemlich der Einzige, der hier in der Straße ein Motorrad besitzt. Entschlossen dreht sie sich vom Fenster weg. Hör auf so zu denken, Kimmy! Vergiss ihn! Jez ist nur ein dummes Arschloch, der Mädchen nur als Puppen sieht! Finn ist dein Freund! Er hat deine Liebe verdient! Scheiß egal, ob du nun wegen Jez mit ihm zusammengekommen bist oder nicht! Finn ist dein Freund! Finn ist dein Junge! Finn ist der Junge, den du liebst!
Erschrocken zuckt Kimmy zusammen, als es an ihrer Tür klopft. Sie war gerade so in Gedanken versunken. Kann ihre Mutter sie nicht irgendwann anders stören?! Innerlich ärgert sie sich darüber, gibt aber trotzdem ein ‚Hmm‘ von sich, schließlich muss ihre Mutter nicht merken, dass da etwas ist, was sie bedrückt.
Als Kimmy den Blick hebt und wider aller Erwartungen Romy im Türrahmen steht, braucht sie erst einmal einen Moment, um zu realisieren, das die Romy, die vor zwei Stunden noch mit Jez rumgeknutscht hat, jetzt vor ihr steht, als wäre nichts gewesen. Kimmy bemüht sich, ihren neutralen Gesichtsausdruck zu finden, bevor sie Romy in die Augen sieht.
„Romy?!“ Gekonnt verleiht Kimmy ihrer Stimme einen überraschten Nachdruck. Romy senkt den Blick und betritt dann Kimmys Zimmer. Sie trägt eine dunkle Motorradjacke, die Kimmy das erste Mal an ihr sieht und hält einen Motorradhelm in der Hand. Langsam dämmert Kimmy, dass Jez sie mit hierher genommen hat, schließlich hat Romy, genau wie sie, keinen Führerschein. Genau aus diesem Grund überrascht es sie auch nicht mehr, als Jez hier Romy durch ihre Zimmertür tritt und sie hinter sich zudrückt. Automatisch verschränkt Kimmy die Arme vor der Brust und nimmt so eine Abwehrhaltung ein. Romy und Jez wechseln einen Blick und sehen sie dann beide aus jeweils funkelnden Augen an.
„Kimmy, es ist anders, als du denkst…“, beginnt Romy und bricht ab, als in Kimmys Gesicht ein sarkastisches Lächeln auftaucht.
„Was soll ich denn denken?“, fragt sie und zwinkert Romy fragend zu, nur, um sie noch mehr zu verunsichern.
„Wir…“ Romy kneift die Augen ein wenig zusammen, bevor sie weiterspricht. „…wissen, dass du bei mir warst. Und ja, jetzt im Nachhinein haben wir beide gemerkt…“, sie sieht kurz zu Jez, „…dass man meinen könnte, es wäre da irgendetwas, aber so ist es nicht. Ich schwöre es dir!“ Einen Moment überlegt Kimmy, welchen Weg sie jetzt gehen soll. Auf desinteressiert tun und Romy sagen, dass sie eigentlich nur will, dass Jez sie nicht genauso verarscht wie sie oder ihnen sagen, dass sie weiß, dass sie sich geküsst haben. Schweigend lässt Kimmy ihren Blick zwischen Romy und Jez hin und her wandern. Einen Moment zu lange sieht sie in Jez grüne Augen, die sie auf irgendeine Art und Weise sofort fesseln. Leise räuspert sie sich, bevor sie es schafft, den Blick wieder zu Romy zu wenden und einen klaren Gedanken zu fassen.
„Ich könnte jetzt sagen, dass mir scheißegal ist, was zwischen euch ist…“ Ganz bewusst macht sie eine Pause und überlegt sie die nächsten Worte genau, bevor sie sie ausspricht. „…aber ich will nicht, dass er…“, mit dem Kopf deutet Kimmy in Jez Richtung. „…dich genauso verarscht und ausnutzt wie mich!“ Die zweite Hälfte des Satzes zischt sie in Jez Richtung und kneift die Augen angespannt zusammen. Als Jez fast ein bisschen genervt seufzt und den Blick kurz abwendet, müsste sie eigentlich ein Siegesgefühl in ihr einschleichen. Tut es aber nicht. Kimmy spürt nur dieses Gefühl, etwas Falsches zu tun und es sich selbst nicht eingestehen zu wollen.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht mit dir geschlafen habe?!“ Jez Augen funkeln auch in dem dämmrigen Licht in Kimmys Zimmer so sehr, dass man es mit gefühlt tausend Metern Abstand noch erkennen könnte. Kimmy macht zwei Schritte auf Jez zu, sodass sie kein halber Meter mehr trennt. Langsam löst sie ihre Arme vor ihrer Brust und sieht zu Jez hinauf.
„Keine Ahnung. Vielleicht könnte ich dir ja glauben. Wenn ich nicht halb nackt und ohne irgendeine Erinnerung neben dir aufgewacht wäre!“ Ganz sachte schüttelt Jez den Kopf.
„Denkst du ernsthaft, ich habe dich abgefüllt? Hältst du mich wirklich für einen von denen, die nur Vögeln im Kopf haben?“ Ohne es zu merken, nimmt Kimmy wieder ihre Abwehrhaltung ein, indem sie die Arme vor der Brust verschränkt.
„Ich kenn dich seit nicht einmal einem Monat. Woher soll ich wissen, wie du tickst?“ Siegessicher lächelt Kimmy und setzt noch einen drauf. „Und die Tatsache, dass du mich küsst und keine ganze Woche später mit Romy rummachst, deutet schon ziemlich darauf hin, dass du doch einer von denen bist.“ Jez öffnet den Mund und will protestieren, aber Romy kommt ihm zuvor.
„Es. Läuft. Nichts. Zwischen. Jez. Und. Mir.!“ Nicht nur Kimmy ist überrascht von der harten Tonlage von Romy. Auch Jez zuckt zusammen und sieht, genau wie Kimmy, zu Romy herüber, die gereizt eine Hand in die Hüfte stemmt und Kimmy sauer anblitzt. Gespielt amüsiert lacht Kimmy leise auf, stemmt, genau wie Romy, eine Hand in die Hüfte und geht auf das blonde Mädchen zu.
„Und was war heute Morgen? Dumm, wenn man sich beim Schwänzen und beim Rumknutschen erwischen lässt!“ Romy zieht aggressiv die Luft zwischen den Zähnen herein und tauscht einen unsicheren Blick mit Jez, auf den Kimmy nur gewartet hat. „Und noch dümmer ist es, wenn man sich dann auch noch selbst verrät.“ Sarkastisch lächelt sie Romy zu und geht dann wieder zwei Schritte zurück, um auch Jez wieder in ihrem Blickfeld zu haben. Die beiden wechseln wieder einen Blick, bevor Jez leise Luft holt.
„Wer hat uns gesehen?“ Mit einer Hand fasst sich Kimmy an den Kopf und schüttelt sarkastisch grinsend den Kopf.
„Sag mal, bist du wirklich so blöd oder tust du nur so?“ Unbeeindruckt von der Frage abtwortet Jez wirklich ehrlich, was Kimmy ein bisschen aus der Spur wirft.
„Warum soll ich es noch verleugnen, wenn du es eh weißt?“ Das gespielte Grinsen verschwindet zwar von Kimmys Lippen, aber ihren neutralen Gesichtsausdruck kann Jez nicht mehr einfach so verschwinden lassen. „Wer hat uns gesehen?“, wiederholt er sich stattdessen nochmal und wartet, anders als Romy, komplett unbeeindruckt auf Kimmys Antwort.
„Finn.“ Jez zuckt nicht mal mit der Wimper, als Kimmy den Namen ihres Freundes ausspricht. Ganz im Gegensatz zu Romy. Sie bemüht sich zwar sichtlich, aber die Erkenntnis, dass Finn gesehen hat, wie sie mit Jez rumgemacht hat, trifft sie mehr, als bei einer normalen Freundschaft normal ist. Obwohl sie aus Finns Nachrichten eigentlich schon wusste, dass kein anderer als er selbst gesehen hat, wie Jez sie geküsst hat und wie sie es erwidert hat. Ganz langsam wendet Kimmy sich ihrer ‚Freundin‘ und Teamkollegin zu. „Und weißt du was, Romy? Ich glaube, du zieht die ganze Show hier nicht ab, weil es dir um mich oder um Jez oder um sonst wen geht! Dir geht es ganz alleine um dich!“ Sie macht zwei schnelle Schritte auf Romy zu, sodass sie ihr bedrohlich nahekommt, bevor sie ihr die letzten Worte entgegenwirft. „Weil du eifersüchtig bist! Auf mich!“ Auch durch die dicke, mit Protektoren gefüllte Motorradjacke kann man deutlich erkennen, wie sich Romys Brustkorb unnatürlich stark hebt.
„Nein! Mir geht es nicht um mich! Mir geht es nur darum, dass Finn nicht die ganze Zeit verarscht wird! Er liebt dir wirklich und du nutzt ihn gnadenlos aus! Ganz ehrlich…“ Mit der Hand deutet sie auf Jez. „Wenn er mit dir geschlafen hätte - du wärst keinen Scheiß besser als er! Aber er hat nicht mit dir geschlafen! Und du merkst selbst nicht, dass du hier die Schlampe bist!“ Kimmy schafft es nicht mehr, den neutralen Ausdruck in ihrem Gesicht zu behalten. Romy hat gerade genau das ausgesprochen, was sie die ganze Zeit versucht hat zu verdrängen. Kimmys Augen glänzen resigniert, als sie eine Hand hebt und in Richtung Tür zeigt.
„Verschwindet! Alle beide!“, zischt sie und ringt mit sich selbst. Dem Drang, sich einfach auf den Boden sinken zu lassen und einfach anfangen zu weinen, wird sie nicht mehr lange standhalten. Nur noch verschwommen nimmt Kimmy wahr, wie Jez auf Romy zugeht, nach ihrem Arm greift und sie aus dem Zimmer zieht.
Das Klicken vom Schloss ihrer Tür nimmt Kimmy schon gar nicht mehr richtig wahr. Langsam lässt sie sich auf den Boden sinken, schließt die Augen und lässt die Fassade fallen. Über ihre Wangen laufen heiße Tränen, als sie versucht, sich gerade hinzusetzen um den Druck, den sie im Brustkorb verspürt, zu lindern. Ja, Romy hat recht. Sie ist die Schlampe! Sie macht mit Finn rum und spielt ihm die Liebe auf den ersten Blick vor, obwohl sie Jez liebt! Obwohl sie seine Liebe spüren will! Ihm nahe sein will! Seine Körperwärme spüren will! Seine Lippen auf ihren spüren will! Bei ihm sein will! Einfach nur sein Mädchen sein will! Kraftlos versucht Kimmy sich aufzurichten, lässt sich aber erschöpft wieder in ihre Ausgangsposition zurücksinken, zieht die Knie an und schlingt die Arme darum, bevor sich ihr Gesicht in die Arme drückt und versucht, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie ist selbst schuld! Selbst schuld daran, dass Jez sich von ihr abgewandt hat und in Romy eine Person gefunden hat, die nicht aus Feigheit Gerüchte über ihn verbreitet! Die ihm das gibt, was er braucht! Die keine Angst vor ihren eigenen Gefühlen hat…
Nach einer gefühlten Ewigkeit hebt Kimmy langsam den Kopf und wischt sich die Tränen von den Wangen. Vorsichtig richtet sie sich auf, schließt kurz die Augen und atmet einige Atemzüge ganz ruhig, bevor sie die Augen wieder öffnet und unbewusst an ihr Fenster tritt. Im Licht der Straßenlaternen kann sie deutlich erkennen, wie Romy und Jez neben Jez Motorrad eng beieinander stehen. Jez hält Romy im Arm, das kann Kimmy noch ausmachen. Mehr erkennt sie nicht.
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Beruhigend wiegt Jez Romy im Schein der Straßenlaternen sanft hin und her. Mit der rechten Hand streicht er ihr sanft über den Hinterkopf, während seine linke Hand auf ihrer Taille liegt.
„Bitte Romy…“, murmelt Jez leise in ihr Ohr und schließt die Augen. Jetzt im Nachhinein merkt er erst, wie dumm es von ihnen beiden war, einfach zu Kimmy zu fahren, ohne vorher zu überlegen, was sie ihr überhaupt erzählen wollen. „Romy…“, wiederholt er ihren Namen noch einmal und seufzt ganz leise. Romy hebt den Kopf und sieht ihn mit tränennassen Wangen an. Sie senkt den Blick auf den oberen Kragen von Jez Motorradjacke.
„Es tut mir leid“, flüstert sie kaum hörbar, „Jetzt habe ich dir alles versaut.“ Sie will ihr Gesicht wieder in dem harten Stoff von Jez Jacke verbergen, doch er ist schneller und hält sie zurück.
„Warum?“, fragt er leise. Romy fühlt sich gezwungen, zu Jez aufzusehen. Ganz langsam hebt sie den Blick um Jez in die Augen zu sehen.
„Die Chance, dass Kimmy einsieht, dass sie falsch denkt, habe ich kaputt gemacht.“ Sie senkt den Blick wieder und drückt sich, bevor Jez etwas dagegen machen kann, gegen ihn. Leise seufzt Jez noch einmal und fährt mit einer Hand durch Romys vom Helm zerzaustes Haar.
„Wenn sie wirklich Gefühle für mich hat, dann…“ Einen Moment muss Jez wirklich mit sich ringen, bis er den Satz über die Lippen bekommt. Allein aus dem Grund, weil er selbst nicht mehr wirklich daran glaubt. „…dann macht sie den Schritt zurück und sieht es ein.“ Ganz sanft drückt Jez Romy von sich. „Und wenn Kimmy von Finn weiß, was heute Morgen passiert ist,…“ Romy hebt den Kopf, als Jez Finns Name erwähnt. „…dann heißt es doch, dass du ihm etwas bedeuten musst, sonst hätte er es nicht erwähnt.“ Mit dem Handrücken wischt Romy sich die Tränen von den Wangen und zwingt sich zu einem Lächeln.
„Vielleicht…“, murmelt sie leise. „Vielleicht aber auch nicht.“ Sie wendet den Blick von Jez ab und beißt auf ihre Unterlippe.
„Komm. Ich bring dich heim.“ Romy sieht nur kurz zu Jez auf, als er ihr ihren Motorradhelm reicht. Es reicht aber schon, um das aufmunternde Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, was ihr das Gefühl gibt, nicht alleine zu sein.
Leise seufzend lässt Jez sich zurück in sein Kissen sinken. Es ist mittlerweile vier Uhr morgens und es tut ihm ehrlich leid, dass Niklas wegen ihm noch keine Sekunde Schlaf in dieser Nacht bekommen hat, aber er war der Erste, der ihm eingefallen ist, den er anrufen konnte. Natürlich ist ihm auch gleich Emelina in den Kopf geschossen, aber sie weiß im Gegensatz zu Niklas komplett nichts über Kimmy. Jez hat ihr extra nie etwas über sie geschrieben oder erzählt, wenn er mit ihr telefoniert hat. Anfangs, weil er dachte, Kimmy wäre nur eines der Mädchen hier, und dann, weil er jetzt mit ihr schreiben oder telefonieren kann, ohne an Kimmy erinnert zu werden, weil Emelina wissen will, ob sich an der momentanen Lage etwas geändert hat. Und weil er sie nicht zu sehr an ihre eigene Beziehung – eine Fernbeziehung zwischen Australien und Deutschland – erinnern will.
„Und was soll ich jetzt machen?“, fragt Jez mit gedämpfter Stimme in sein Handy, um seine Mutter nicht zu wecken. Am anderen Ende seufzt Niklas leise.
„Das hast du mittlerweile schon mindestens fünf Mal gefragt.“ Jez schließt die Augen und fährt sich mit einer Hand über das warme Gesicht.
Niklas hat ihm anfangs ganz ruhig zugehört und ihn nicht unterbrochen, bis er die ganze Geschichte erzählt hat. Eine Weile hat er einfach nur geschwiegen, bevor er Jez nochmal ganz von vorne erzählen lassen hat und zu jedem Satz irgendetwas mehr oder weniger hilfreiches geantwortet hat.
Leise murrt Jez. Ja, ihm ist klar, dass er Niklas nervt, aber es geht eben gerade nicht anders.
„Und was, wenn du zwei Tage oder so wartest und dann nochmal allein mit ihr redest? Ich meine, irgendwo, wo man nicht das Gefühl verspürt, eingeschlossen zu sein.“ Leise atmet Jez aus und dreht sich auf die Seite.
„Wie meinst du das?“ Er beobachtet einen kleinen Vogel, von dem er aufgrund der Dunkelheit nur die Umrisse erkennen kann, wie er versucht über das Glas des Dachfensters zu springen.
„Naja - wo warst du nach der Party?“ Verwirrt gibt Jez einen Laut von sich, sodass Niklas versteht, dass er nicht weiß, was er meint. „Na, als sie aufgewacht ist.“ Immer noch verwirrt wechselt Jez das Ohr.
„In meinem Zimmer.“ Er versteht immer noch nicht, worauf Niklas hinauswill.
„Eben. Und wo haben Romy und du versucht ihr auszureden, dass was zwischen dir und Romy läuft?“ Jez setzt sich auf und lehnt sich mit der Decke über den Beinen gegen die Wand. Irgendwie versteht er immer noch nicht, was Niklas ihm sagen will.
„Bei ihr.“ Jetzt beginnt es ihm zu dämmern. „In ihrem Zimmer. Meinst du, sie fühlt sich…“ Jez macht eine kurze Pause, um das richtige Wort zu finden, „…eingesperrt oder so?“ Einen Moment denkt Jez, Niklas hätte aufgelegt oder so etwas, weil er nicht gleich antwortet, aber das Tut-Geräusch fehlt.
„Ja, so ähnlich.“ Niklas macht wieder eine Pause. „Ich meine, wie würdest du dich fühlen, wenn du in deinem Zimmer wärst und Kimmy zu dir kommen würde und erklären will, dass du dich täuschst und dass sie nicht mir dir geschlafen hat. Jetzt mal angenommen, du hättest den Filmriss. Sie versucht dich von deiner Meinung abzubringen, oder vielleicht einfach nur zum Nachdenken zu bringen. Und du weißt selbst nicht mehr, ob du richtig liegst oder nicht. Wenn sie dann vor dir steht, die Person, die dich vielleicht eiskalt ausgenutzt hat, vielleicht aber auch nicht, ist es doch klar, dass du dich nicht wohl fühlst und aus der Situation raus willst.“ Im Stillen gibt Jez Niklas recht. Er würde sich dann auf irgendeine Art und Weise eingesperrt fühlen. Eingesperrt und hilflos.
„Schon“, murmelt er leise. „Aber wo soll ich sie sonst ansprechen? In der Schule bestimmt nicht und einfach so sehe ich sie nicht. Und wenn, dann nur durch Zufall und dann ist zu hundert Prozent Finn dabei.“ Jez kann deutlich hören, wie Niklas gähnt.
„Na und? Wenn er dabei ist, kann sie sich nicht mehr rausreden. Wenn du sie damit konfrontierst, dass sie ihn nur verarscht, dann wird er auch wissen wollen ob du recht hat. Und entweder, sie lügt ihn weiter an und er merkt es nicht, oder sie gesteht ihm, dass er nur Mittel zum Zweck für sie ist und er macht Schluss.“ Aus Rücksicht auf Niklas stellt Jez die Fragen, die sich bei ihm auftun, nicht mehr.
„Hm, vielleicht. Ich versuch’s einfach mal.“ Leise seufzt er, bevor er sich wieder auf den Rücken dreht.
„Du machst das schon.“ Zum ersten Mal schafft es Niklas wieder, ein Lächeln in Jez Gesicht zu zaubern. „Aber sorry. Wenn ich jetzt nicht pennen gehe, dann mach ich es morgen in Mathe. Und das ist nicht so eine Wahnsinnsidee.“ Jez schließt die Augen und sieht für einen Moment wieder die ganzen Bilder von dem Mist, den er mit der Clique in Köln gebaut hat, vor sich.
„Passt schon. Ciao.“ Jez wartet darauf, dass auch Niklas sich von ihm verabschiedet und das Tut-Geräusch ertönt. Leise seufzt Jez ein letztes Mal, aber diesmal nicht, weil ihn die ganze Sache belastet. Sondern, weil das ellenlange Gespräch mit Niklas ihn irgendwie erleichtert hat. Er dreht sich auf die Seite, steckt sein Handy an das Ladekabel und überprüft nochmal, ob der Wecker wirklich an ist, bevor er sich auf die andere Seite rollt, die Decke um die Schultern zieht und sie Augen schließt. Vielleicht ist es wirklich eine gute Idee, Kimmy erst wieder anzusprechen, wenn Finn bei ihr ist. Vielleicht merkt sie nur so, was für eine Scheiße sie baut.
Jez merkt gar nicht, wie er langsam wegdämmert und in einen traumlosen Schlaf fällt.
***
Müde lehnt Jez den Kopf gegen die kühle Wand der Schulsporthalle und verfolgt mit den Augen, wie seine Klasse ihre Runden in der Halle drehen. Irgendein Lauftest, dessen Name er in Köln immer schon vergessen hat und den wohl jeder Schüler hasst, weshalb er zum ersten Mal darüber glücklich ist, dass er verletzt ist und Sportverbot hat.
Unbewusst suchen seine Augen immer wieder das blaue Top von Kimmy, dass in der Masse aus überwiegend BVB-, Bayern München- und Deutschlandtrikots eigentlich recht auffällig ist. Ihre zusammengebundenen Haare wippen bei ihrer gleichmäßigen Bewegung und die Anstrengung, die man so manch anderem deutlich ansehen kann, zeichnet sich nur auf ihren ein bisschen geröteten Wangen ab.
Soll er schon heute versuchen, sie und Finn irgendwo alleine abzupassen? Oder ist es vielleicht besser, wenn er Kimmy noch zwei-drei Tage gibt, um die komplett durcheinandergebrachten Gedanken und Gefühle, die auch ihn fast die ganze Zeit beschäftigen, ein wenig zu ordnen und vielleicht selbst auf die Idee zu kommen, die ganze Sache zu beenden. Jez zwingt sich dazu, den Blick heute endgültig von Kimmy abzuwenden. Um sich abzulenken, sucht Jez mit den Augen nach Max, der ähnlich wie Kimmy keine Probleme hat. Auf der langen Gerade wird er langsamer und läuft neben Betty her, die sich mit einer Hand den Brustkorb hält und den Kopf zu Max wendet, als er irgendetwas zu ihr sagt. Jez kann nicht erkennen, ob sie ihm etwas antwortet. Er sieht nur, wie Max nach dem Oberarm seiner Freundin greift, seine Schritte verlangsamt und dann mit ihr langsam, quer durch die Halle, auf Herr Renner zuläuft, der mit einer Liste am Hallenrand steht und die Zeiten der Schüler aufschreibt. Er sieht Betty besorgt an, wechselt dann kurz einige Worte mit Max und macht eine Kopfbewegung, die ihm zeigt, dass er wieder weiterlaufen soll. Max löst die Hand nur mit Widerstreben von seiner Freundin, bevor er sich widerwillig umdreht und wieder los trabt.
„Jez!“ Mit einer Handbewegung winkt Herr Renner Jez zu sich und Betty, die sich mit dem Rücken an die Wand lehnt, sich daran herunterrutschen lässt und versucht, gleichmäßig Luft zu holen. Jez ist noch gar nicht richtig bei dem Sportlehrer angekommen, da erteilt er ihm schon den nächsten Befehl. „Hole bitte Bettys Asthma-Spray!“ Bevor Jez irgendetwas sagen kann, wendet sich Herr Renner Betty zu und redet leise auf sie ein.
„Okay“, murmelt Jez leise und beeilt sich dann, in die Mädchenumkleide zu kommen, da er von Jeremy weiß, dass es nicht so toll ist, wenn man ewig auf sein Asthma-Spray warten muss.
Jez runzelt die Stirn, als er die Mädchenumkleide betritt. Zum Glück ist Bettys Rucksack so knallig pink, dass er aus den vielen anderen Rucksäcken und Taschen, die auf den Bänken und auf dem Boden zwischen Schuhen und allem anderen Möglichem herumliegen, gleich heraussticht. Jez nimmt gleich Bettys ganzen Rucksack mit, weil er weiß, dass er das Asthma-Spray sowieso nicht finden würde. Eilig läuft er am Hallenrand entlang und stellt den Rucksack direkt neben Betty auf den Boden. Sie öffnet die Augen und zieht dann an dem Reißverschluss des kleinesten Faches. Mit den Fingern fährt sich hinein und schließt die Augen wieder.
„Verdammt…“, murmelt sie leise, schließt die Augen wieder und lehnt den Kopf gegen die Wand. Herr Renner seufzt leise, erhebt sich und sieht dann zu Jez herunter, der immer noch neben Betty in der Hocke sitzt.
„Kannst du mit ihr ins Krankenzimmer gehen?“ Jez nickt und steht auf. „Sie soll die Füße hochlegen.“ Jez nickt wieder, lehnt sich dann zu Betty runter und greift nach ihren Handgelenken. Einen Moment beobachtet Herr Renner sie noch, dann dreht er sich um und beginnt wieder, die Zeiten der Schüler aufzuschreiben. Hilfesuchend klammert Betty sich an Jez Arme und versucht gleichmäßig Luft zu holen. Schweigend führt Jez sie aus der Halle und in das Sanitätszimmer, das direkt neben dem Hallentrakt liegt.
Langsam lässt Jez Bettys Handgelenke los, sodass sie sich auf die Liege, die in dem kahlen und deshalb kalt und trostlos wirkenden Raum, steht, legen kann. Mit beiden Händen fährt sich Betty durchs Gesicht und schließt die Augen dann wieder.
Noch immer schweigend holt sich Jez den Stuhl, der der einzige Gegenstand ist, der außer der Liege noch im Raum steht, lässt sich darauf fallen und beobachtet Betty eine Weile. Und tatsächlich beruhigt sich ihr Atem nach ein paar Minuten und ihr Brustkorb hebt und senkt sich wieder gleichmäßig.
„Geht’s wieder?“, fragt Jez leise in die Stille hinein. Betty öffnet die Augen, drückt sich mit den Händen langsam nach oben und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Einige Strähnen sind aus ihrem Pferdeschwand gerutscht und kringeln sich in extremen Locken um ihr Gesicht. Leise seufzt sie und nickt dann zaghaft. Jez erwidert Bettys Lächeln und lehnt sich dann auf dem Stuhl zurück. Betty fährt sich mit der Hand durch das Gesicht und zieht dann das helle Haargummi aus ihren dunklen Haaren. Mit den Fingern entwirrt sie ihre Haare ein wenig, lehnt den Kopf gegen die Wand hinter sich und seufzt noch einmal leise, bevor sie die Augen wieder öffnet und Jez einen Moment lang mustert. Fragend sieht er sie an, als er den Blick aus ihren hellen Augen bemerkt. Betty wendet ihren Blick wieder ab und beobachtet die kleinen Staubkörnchen, die im Sonnenlicht, das durch das kleine, schmale Fenster in den Raum fällt, tanzen.
„Sag mal, kann es sein, dass Romy irgendwie - dass sie Finn irgendwie süß findet?“ Jez stützt die Ellbogen auf die Knie und verschränkt die Finger ineinander, bevor er leise seufzt und Betty dann aus seinen grünen Augen ansieht.
„Merkt man es so sehr?“ Ein Lächeln huscht über Bettys schmale Lippen.
„Ich weiß nicht. Es war nur eben komisch, dass sie gestern auch geschwänzt hat. Ich meine, ihr seid zusammen weggegangen…“ Mit einer Hand fährt Jez sich durch das dichte, dunkle Haar und grübelt schweigend, ob er Betty einfach alles, was am letzten Tag passiert ist, erzählen soll. „Sie kam mir irgendwie noch geschockter vor als du, als Kimmy…“ Betty spricht den Satz nicht zu Ende, sie weiß aber ganz genau, dass Jez weiß, wovon sie spricht.
„Hmm…“, macht er leise. „Kann sein…“ Deutlich spürt er Bettys bohrenden Blick auf sich, als er das Kinn in die Hände stützt und schweigt. Jez schließt Kurz die Augen und seufzt leise. Er fährt sich mit den Händen durch sein Gesicht und über seine schwarzen Haare. Betty hebt fragend die Augenbrauen und mustert Jez so lange, bis er beginnt zu erzählen. „Romy und ich - ja, wir haben zusammen geschwänzt, als wir gesehen haben, dass Kimmy und Finn zusammen sind. Sie war am Samstag bei mir und hat versucht mich zu überreden, dass ich Kimmy nochmal anspreche… Keine Ahnung, irgendwie hat sie mir dann eben gesagt, dass sie auf Finn steht und dass er aber Kimmy liebt.“ Jez unterbricht sich selbst und sieht Betty einen Moment an. Er weiß nicht recht, ob er Betty einfach von Romys Gefühlen für Finn erzählen soll. Die beiden Mädchen hassen sich nicht, aber sie sind so unterschiedliche Typen und werden deshalb auch nie beste Freundinnen werden. Betty nickt Jez bestätigend zu, sodass er fortfährt. „Wir sind dann gestern einfach hinter die Halle und haben am Anfang einfach nur geredet. Aber dann - keine Ahnung...“ Jez schafft es einfach nicht, Betty davon zu erzählen, dass er Romy aus purem Eigennutzten geküsst hat. Betty legt den Kopf ein wenig schief und mustert Jez schweigend.
„Und dann?“, fragt sie leise und lächelt Jez aufmunternd zu, als er den Kopf hebt und sie zweifelnd ansieht. „Komm schon Jez, du weißt, dass ich dich für nichts einfach so verurteile.“
„Ich habe sie geküsst!“ Wie eine Bombe platzen die Wörter aus Jez heraus, bevor er seinen Kopf in die Hände stützt und leise seufzt. Er traut sich nicht, den Kopf zu heben und Betty anzusehen. Vielleicht hat sie ja erwartet, was er sagen würde. Vielleicht hat er sie aber auch total überrascht und sie ist sich jetzt selbst nicht mehr sicher, ob sie ihm noch Glauben schenken soll. Erst, als Jez Bettys Hand auf seinem Unterarm wahrnimmt, hebt er zögernd den Kopf. Bettys helle Augen sehen ihn besorgt an, aber dennoch fordern sie ihn auf, weiterzuerzählen. Entschlossen setzt Jez sich aufrechter hin und sieht Betty an.
„Naja, danach sind wir eben wieder zurück, haben Nachsitzen reingedrückt bekommen. Du weißt schon. Als ich zu Hause war, hat Finn mich angeschrieben.“ Jez seufzt und stützt das Kinn wieder in die Hände. „Er hat Romy und mich gesehen.“ Vorsichtig hebt Jez den Blick und wartet ungeduldig auf eine Reaktion von Betty. Sie nickt ihm nur wieder zu, als Aufforderung, dass er weitersprechen soll. „Er hat mir geschrieben, dass ich die Finger von Romy lassen soll und dass ich doch nur dasselbe mit ihr machen will, wie ich es mit Kimmy gemacht habe. Ich bin dann zu Romy gefahren. Irgendwie hatte ich komplett keine Ahnung, was ich Finn schreiben sollte…“ Jez wendet den Blick ab und starrt auf die kalten, gelblichen Fliesen. „Sie war total fertig, wegen Finn und Kimmy und - “ Er hebt den Blick wieder und sieht Betty durch dringlich an. „Wir haben uns nicht nochmal geküsst! Ehrlich!“ Betty könnte meinen, Angst in Jez Augen zu erkennen. Sie lächelt sanft und nickt Jez bestätigend zu. Dieser senkt den Kopf und seufzt. „Kimmy war bei Romy und hat uns gesehen- Wir sind danach zu ihr gefahren. Dann ist eben alles irgendwie…“ Jez hebt den Kopf und fährt sich mit einer Hand durchs Haar, „…eskaliert.“ Mit beiden Händen fährt sich Jez über den Hinterkopf. Er schafft es einfach nicht! Er bringt es nicht übers Herz, das auszusprechen, was er sich alles versaut hat!
Bevor Jez weiterdenken kann, geht die Tür auf und Max kommt herein. Besorgt sieht er Betty an, als er sie entdeckt, geht zu ihr und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Alles wieder okay?“, fragt er leise. Betty nickt und seufzt leise, als sie ihren Blick wieder Jez zuwendet. Max tut es ihr gleich und sieht sie dann fragend an.
***
Kimmy lehnt sich gegen die Stuhllehne und unterdrückt ein Seufzen. Jez sitzt zwei Reihen vor ihr, hat den Kopf in die rechte Hand gestützt und sieht gedankenverloren aus dem Fenster. An was Jez jetzt wohl denkt? Vielleicht an gestern? Oder denkt er doch vielleicht nur an Romy? Kimmy schließt die Augen und versucht die kalte Eifersucht zu unterdrücken. Du bist doch selbst schuld! Wieso bist du noch eifersüchtig auf Romy, wenn du es selbst verbockt hast? Du hast behauptet, Jez hätte mit dir geschlafen, obwohl du es nicht genau wusstest! Du hast ihm Vorwürfe gemacht! Du hast angefangen, mit Finn rumzumachen, obwohl du Jez liebst! Du bist doch selbst daran schuld! Du ganz alleine!
Um sich abzulenken, entsperrt Kimmy ihr Handy hinter ihrem aufgestellten Buch und liest sich die neuen Nachrichten, die Finn ihr, obwohl sie sich vor zwanzig Minuten erst gesehen haben, geschickt hat. Unwillig wird Kimmy durch Finn wieder an den letzten Tag und deshalb auch an Jez und Romy erinnert. Das Gefühl, etwas Falsches zu tun und Finn nur auszunutzen, schiebt sich neben die beißende Eifersucht und bringt Kimmy wieder dazu, darüber zu grübeln, ob es überhaupt noch richtig ist, was sie macht. Vielleicht wäre es doch besser, alles zu beendet. Finn einfach sagen, dass sie ihn nur verarscht und in Wirklichkeit ein ganz anderer Junge in ihrem Kopf herum spukt. Klar, dass sie Finn so verletzen würde. Wenn er wirklich mit ihr zusammen ist, weil er sie liebt, muss sie ihm unglaublich wehtun. Aber andererseits… wenn er selbst herausfindet, dass sie ihn nur ausnutzt, müsste es ihn doch viel mehr verletzen - oder nicht? Tonlos seufzt Kimmy ein weiteres Mal. Ihre Gedanken bestehen nur noch aus einem einzigen Wirrwarr. Dann tut sie das, was sie jetzt als richtig ansieht und später ist es genau das Falsche. Was, wenn sie jetzt mit Finn Schluss macht und darauf hofft, dass Jez ihr alles verzeiht? Die Gerüchte, die sich ziemlich an ihr vorbei in der Schule verbreitet haben. Die vielen Anschuldigungen und Vergleiche, die ihn in einem schlechten Licht dastehen lassen haben… Aber andererseits, wenn er sich so einen Kopf darum gemacht hat... Er hat doch immer wieder versucht, mit ihr zureden. Ihr auszureden, dass er einer dieser Player ist. Hat er das alles gemacht, um besser vor allen dazustehen, oder hat er es gemacht, weil er etwas Ähnliches fühlt wie sie?
Würde Kimmy jetzt nicht im Klassenzimmer sitzen und so tun, als würde sie wenigsten zuhören, würde sie am liebsten aufspringen und weglaufen. Weglaufen vor all den Fragen, die in ihrem Kopf herum spuken. Weglaufen vor der Angst, Finn zu verletzen. Weglaufen vor der Angst, Jez durch ihre eigene Dumm- und Feigheit verloren zu haben. Weglaufen vor all den Problemen, die sie seit Jez hergekommen ist, verfolgen. Und lieber in die Arme der Trauer laufen, die sie vorher fast fünf Jahre lang verfolgt hat.
Jetzt ist Kimmy zum ersten Mal glücklich darüber, an Lennard denken zu müssen. Wie es wohl wäre, wenn er noch da wäre? Ob er ihr helfen würde? Und ob er wirklich dieser Lennard wäre, wie sie ihn sich immer wieder in ihren Gedanken und schönen Träumen ausgemalt hat? So… perfekt? Nicht perfekt in Form von ‚zum Verlieben‘. Jedenfalls nicht für sie. Sondern in Form von ‚bester Bruder‘. Und vielleicht auch bester Freund dabei. Ob sich diese Verbindung zwischen ihnen, die sie früher manchmal gespürt haben und von der es hieß, es würde sie nur geben, weil sie Zwillinge sind, verstärkt hätte, wäre Lennard nicht viel zu jung gestorben? Oder wäre sie mit dem Alter einfach geschrumpft?
***
Auch wenn Kimmy nach der Schule mit den Kopfhörern in den Ohren an Jez und Romy vorbeiläuft, hört sie deutlich, was sie zueinander sagen, bevor sie sich kurz umarmen und Romy ihr dann mit mehreren Metern Abstand zum Bus folgt. Alleine die Art, wie die beiden sich voneinander verabschieden lässt die Eifersucht in Kimmy wieder aufflammen. Um sich abzulenken, zieht sie ihr Handy aus der Hosentasche, tippt auf den Media-Player und erhöht die Lautstärke des Liedes „Good Girls“ von ‚5 Seconds of Summer‘. Eigentlich Musik, an die sie niemals denken würde zu hören, aber irgendwie hat sie jetzt gerade keine Lust darauf, nach den Liedern auf ihrem Handy zu suchen, die sich vor wenigen Wochen noch von allem abgelenkt haben. Vor wenigen Wochen… da ist ihr Lennard immer nur durch den Kopf gespukt. Kein anderer Junge hat es geschafft, ihn so lange aus ihren Gedanken zu verdrängen, wie es Jez geschafft hat…
Als Kimmy am Busbahnhof ankommt, zieht sie ihre Monatsfahrkarte aus der Tasche, springt in den Bus und beeilt sich, um noch einen Sitzplatz zu finden.
Der Bus setzt sich gerade in Bewegung und Kimmy hat nun zu viel Zeit Romy zu mustert, die im Gang steht und sich gegen einen der Sitze lehnt. Was hat sie, was Kimmy nicht hat? Ja, sie ist ein ganz anderer Typ als sie, aber hat nicht jeder diesen einen Typ von Mädchen oder eben Junge, den er am schönsten findet? Kimmy wendet den Blick ab und sieht aus dem Fenster. Entweder, Jez will wirklich nur das eine oder Romy und er haben sie gestern wirklich nicht angelogen und sie hat sich wirklich nur etwas hineininterpretiert. Aber - warum sollte Finn ihr dann erzählen, dass er gesehen hat, wie sie rumgeknutscht habe? Warum sollte er sie anlügen? Einen Grund hat er ja eigentlich nicht… Ein Gedanke huscht, wie eine kleine Maus, in Kimmys Gehirn. Vielleicht hat Finn ja Angst, dass sie irgendetwas für Jez empfinden könnte! Schließlich hat sie in den vergangenen Wochen schon ein wenig mehr Zeit mit ihm oder irgendwie in seiner Nähe verbracht. Auch wenn es teilweise gezwungenermaßen von der Schule aus war. Bevor Kimmy weiterdenken kann, hält der Bus an der Haltestelle, an der sie sich normalerweise immer von Betty und Max verabschiedet hat. Ohne es zu merken, denkt sie den letzten Gedanken nicht richtig zu Ende. Stattdessen schiebt sich ein andere, zusammen mit einem anderen Gefühl, vor ihn.
Betty fehlt ihr. Irgendwie. Das kleine, quirlige Mädchen, dem sie fast alles erzählen konnte. Die ihr gerade in Sachen Jez sinnvolle Tipps gegeben hat, die sie aber nicht befolgt hat. Genau deshalb ist sie jetzt in dieser beschissenen Situation. Durch das dreckige Glas der Busfensterscheibe erkennt Kimmy Max, dessen Finger in Bettys Finger verschränkt sind, als sie den Gehweg entlang von der Haltestelle weglaufen. Leise seufzt Kimmy, bevor sie den Blick abwendet und das Handy in ihren Händen dreht. Vielleicht wäre es gut, Betty heute Mittag anzurufen und sich mit ihr zu treffen. Ihr sagen, dass sie Mist gebaut hat. Dass sie selbst gemerkt hat, wie dumm die ganze Sache ist. Und vielleicht auch, dass sie Jez liebt und nicht Finn.
***
Jez und Romy sitzen Betty und Max auf dem Balkon, der direkt an Max Zimmer angrenzt, gegenüber. Nachdenklich lehnt sich Betty auf ihrem Stuhl zurück, zieht ein Bein an und setzt sich auf ihren Fuß. Ihre braunen Locken kringeln sich in ihrem Zopf, den sie zwischen den Fingern dreht und Romy schweigend mustert. Romy senkt den Blick auf ihre Knie und unterdrückt ein Seufzen. Auch Jez und Max schweigen nachdenklich und werden dabei erst durch Bettys Handy unterbrochen, das in Max Zimmer auf dem Bett liegt. Fragend zieht Max die Augenbrauen hoch, als seine Freundin aufsteht und die Schultern zuckt, bevor sie in Max Zimmer geht und ihr Handy in die Hand nimmt. Neugierig überfliegt sie den Namen und hält überrascht den Atem an. Kimmy. Eilig nimmt Betty den Anruf entgegen.
„Hey Betty“, begrüßt Kimmy sie zögerlich.
„Kimmy?“, fragt Betty, obwohl sie ja eigentlich weiß, dass es Kimmy ist. Langsam dreht Betty sich um und läuft bis zur Balkontür. Dort lehnt sie sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und kann die fragenden und gleichzeitig neugierigen Blicken der anderen drei auf sich spüren.
„Betty. Es tut mir leid – Irgendwie - du hast recht. Ich bau hier grade richtig große Scheiße!“ Betty öffnet den Mund, weiß aber nicht, was sie darauf antworten soll. Kann das wirklich sein? Hat Kimmy endlich gemerkt, dass das, was sie macht nicht gut ist?! „Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber kannst du vielleicht zu mir kommen?“ Ein Lächeln huscht über Bettys Lippen.
„Ja. Kann ich.“ Das Lächeln bleibt auf ihren Lippen liegen, als Kimmy sich von ihr verabschiedet und auflegt.
Max sieht Betty fragend an, als sie das Handy in ihre Hosentasche schiebt.
„Ich glaube…“ Sie sieht Romy und Jez an, „…ihr habt Kimmy gestern wirklich zum Nachdenken gebracht.“ Jez zieht fragend die Augenbrauen hoch.
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Betty hat keine ganze Minute verschwendet, um Jez, Romy und Max zu erklären, was sie gemeint hat. Sie hat ihnen nur eingetrichtert, dass sie so lange warten sollen, bis sie wieder zurück ist.
Keine zwei Sekunden, nachdem Betty geklingelt hat, öffnet Kimmy die Haustür. Ihre braunen Haare liegen unordentlich über ihren Schultern, als sie kurz lächelt und Betty rein lässt. Schweigend folgt Betty ihr, den ihr so bekannten Weg, hinauf in das Zimmer ihrer Freundin. In ihrem Zimmer lässt Kimmy sich auf ihr Bett sinken und sieht Betty, die sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen lässt, zögerlich an. Abwartend sieht Betty Kimmy an.
„Du hattest recht…“, murmelt Kimmy leise und spielt mit einem Haargummi, den sie bis gerade noch um ihr Handgelenkt getragen hat. „Irgendwie ist die ganze Sache mit Finn einfach nur voll daneben.“ Betty sieht ihre Freundin aus ihren extrem hellbraunen Augen an.
„Du liebst ihn nicht, habe ich recht?“, fragt sie, vielleicht ein bisschen provokant. Kimmy senkt den Blick und nickt ganz sanft.
„Ich…“ Kimmy zieht einen Fuß an und setzt sich darauf, bevor sie wieder auf das Haargummi in ihren Händen sieht. „Jez geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Und es fühlt sich so falsch an, Romy bei ihm zu sehen.“ Kimmy hebt die Hände und lässt sie wieder auf ihre Beine fallen. „Weißt du, was ich meine?“ Erst jetzt sieht sie Betty wieder in ihre hellen Augen. Ihre Freundin nickt sanft.
„Vielleicht willst du es dir ja nicht eingestehen, aber du bist auf Romy eifersüchtig, weil dir mehr an Jez liegt.“ Betty ist sich im Klaren, dass das genau das Falsche sein könnte, was sie gerade sagt, aber eine andere Möglichkeit kommt ihr in der Kürzer der Zeit nicht in den Sinn. Vielleicht ist es ja nur das Beste, Kimmy mit ihren Gefühlen zu konfrontieren. Zu Bettys Überraschung protestiert Kimmy nicht. Vor wenigen Tagen hat sie Kimmy für einen Kommentar, der nur minimal darauf angespielt hat, dass sie doch auf Jez und nicht auf Finn steht, fast zur Weißglut gebracht.
„Ich meine…“, murmelt Kimmy und bricht ab. Sie betrachtet das Haargummi zwischen ihren Fingern und seufzt leise. „…es ist unfair, wenn ich Finn noch weiter anlüge, aber…“
„Kein Aber, Kimmy!“, unterbricht Betty ihre Freundin ein bisschen forsch. Gezwungenermaßen hebt Kimmy den Blick und sieht Betty an. „Du kannst ihn nicht weiter verarschen! Wenn du es ihm sagst, dann wird er zwar wütend und enttäuscht sein, aber wenn er es durch jemand anderen herausfindet, dann wird alles nur noch schlimmer!“ Kimmy lehnt sich gegen die Wand und seufzt, bevor sie den Blick senkt und die Augen schließt.
„Und dann stehe ich ganz alleine da…“ Verwirrt zieht Betty die Stirn in Falten und mustert Kimmy. „Finn hasst mich, weil ich ihn verarscht habe. Romy hasst mich, weil sie auf Finn steht und ich ihn verarscht habe. Und Jez hasst mich, weil ich ihm Sachen unterstellt habe, die so in Wirklichkeit nie passiert sind.“ Betty erhebt sich von Kimmys Schreibtischstuhl und setzt sich vorsichtig neben sie auf die lilafarbene Bettdecke.
„Kimmy…“, murmelt sie leise und stubst mit dem Finger gegen die Schulter ihrer Freundin. Diese lässt sich leise murrend zur Seite auf ihr Kissen sinken.
„Ich habe es bei allen doch selbst verbockt!“ Seufzend lehnt Betty sich über ihre Freundin, legt eine Hand auf ihre Schulter und zieht sie ein bisschen unsanft wieder in eine aufrechte Position.
„Ja, du hast es bei Finn verbockt. Aber wenn du es ihm nicht sagst, hast du es drei Mal mehr verbockt!“ Bettys Augen funkeln selbstbewusst. Sie setzt sich genau vor Kimmy und zwingt sie so dazu, ihr in die Augen zu schauen. „Und bei Romy und Jez - ich glaube, Romy kann dir verzeihen. Sie ist selbst gerade nur eifersüchtig auf dich und ja, vielleicht auch ein bisschen sauer, weil du Finn von vorne bis hinten verarschst, aber irgendwann wird sie dir verzeihen können. Und Jez…“ Bettys energische Tonlage wird ein bisschen sanfter. „…ich glaube, du hast ihn schon verletzt. Und schlecht dargestellt. Aber so wie ich ihn bisher kenne, ist er nicht nachtragend. Weil das da…“ Mit dem Finger tippt sie auf Kimmys Brustkorb. „… bei ihm gerade auch so verrücktspielt wie bei dir. Weil kann nicht anders, er muss dir verzeihen!“ Kimmy will den Blick senken, aber Betty hält sie davon ab, indem sie weiterspricht. „Aber dazu musst du die Sache mit Finn so schnell wie möglich beenden. Und wenn du es ihm heute Abend noch sagst! Je länger du die Sache durchziehst, umso mehr stehen du und deine Angst, dass die anderen dir nicht verzeihen können, dir im Weg!“ Leise saugt Betty die warme Luft in Kimmys Zimmer ein. Auch wenn sie es nicht zugeben würde, der Vortag gerade hat sie von sich selbst nicht erwartet. Kimmy sieht auf ihre Hände. Ihre Haare fallen über ihr Gesicht, als sie den Kopf senkt und verdeckt es für einen Moment, bis Betty ihre Hand hebt und Kimmys Haare aus ihrem Gesicht streicht.
„Ich sage es ihm. Morgen. Okay?“ Leise seufzt Betty. Am liebsten wäre es ihr, wenn Kimmy jetzt sofort mit Finn reden würde. Auch ihm zuliebe.
„Versprochen?“ Kimmy hebt den Kopf wieder und sieht Betty in die Augen.
„Versprochen. Und wenn ich es morgen nach der Schule noch nicht gemacht habe, dann musst du mich höchst persönlich zu ihm bringen, dass ich es ihm sagen muss, okay?“ Betty beginnt zu lächeln und nimmt Kimmy in den Arm.
„Ich hoffe ja nicht, dass ich das machen muss“, flüstert sie in Kimmys Ohr, während sie sich noch immer in den Armen liegen.
„Betty?“, fragt Kimmy nach einigen Sekunden leise. Langsam löst sie sich aus der Umarmung ihrer Freundin und sieht sie zögerlich an. „Kannst du mir eigentlich verzeihen?“ Fast ein bisschen erleichtert lacht Betty auf.
„Denkst du ich wäre gekommen, wenn ich dir nicht verzeihen könnte?“ Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, das sich auch auf Kimmys überträgt, deren braune Augen erleichtert glänzen.
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Als Betty nach mehr als zwei Stunden wieder bei ihrem Freund klingeln will, öffnet seine kleine vierzehnjährige Schwester, mit Kopfhörern in den Ohren, die Haustür und lässt Betty herein, bevor sie aus dem Haus verwindet. Leise läuft Betty die steinerne Wendeltreppe in dem modern gebauten Haus hinauf und drückt mit dem Fuß die nur angelehnte Tür zum Zimmer ihres Freundes auf. Max, Jez und Romy sitzen je mit einem xBox-Controller in den Händen auf dem blauen Teppich vor Max Bett, sind aber dafür, dass sie gerade ein Fifa-Match gegeneinander spielen, ziemlich schweigsam. Noch bevor Betty einen Ton von sich geben kann, ist Max aufgesprungen.
„Endlich…“, murmelt er, als er seiner Freundin zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn gibt.
Keine Minute später sitzen sie, wie vor nicht einmal zweieinhalb Stunden, auf dem kleinen Balkon und Betty berichtet den anderen, ohne das ein oder andere Detail, von dem Gespräch mit Kimmy.
„Kimmy hat endlich eingesehen, dass sie die Sache mit Finn einfach nur noch so schnell wie möglich beenden sollte. Wenn sie bis morgen nach der Schule noch nicht mit Finn geredet hat, hat sie gesagt, soll ich sie höchstpersönlich zu ihm bringen.“ Als hätte Betty nur zu Jez gesprochen, sieht sie ihn einige Sekunden lang an. „Ich habe mir gedacht, dass es vielleicht“, sie hebt die Hände und imitiert Gänsefüßchen in die Luft „besser wäre, wenn du sie dann mehr oder weniger dazu bringen würdest.“ Fragend hebt Jez die Augenbrauen.
„Andererseits ist die Gefahr, dass Finn dann austickt viel größer. Ich meine, es ist doch nochmal schlimmer, wenn deine Freundin oder dein Freund Schluss macht und die Person, die der Grund dafür ist, daneben steht.“ Betty mustert Romy einige Momente lang. Daran hat sie selbst noch gar nicht gedacht.
„Denkst du, Finn ist einer, der das nicht wegstecken kann?“ Die Frage von Max an Romy war eigentlich nicht wirklich ernst gemeint, aber Romy antwortet dennoch.
„Wenn Betty Schluss machen würde, weil sie beispielsweise auf Jez stehen würde…“ Romy lässt sich auch durch Bettys giftigen Blick nicht beeindrucken. „…und er würde daneben stehen, dann würdest du ihm doch auch nicht um den Hals fallen, oder?“ Max seufzt leise.
„Nicht wirklich…“ Sein Blick wandert zu Jez, der mit den Augen einen Marienkäfer fixiert, der über den Tisch krabbelt. Seufzend hebt Jez den Blick und sieht Max zweifelnd an. „Es ist trotzdem deine Entscheidung…“ Mit einer Hand fährt sich Jez durch sein dunkles Haar. Endlich! Endlich hat Kimmy es ausgesprochen. Dass sie nicht mehr daran glaubt, dass er sie nur ausgenutzt haben soll. Und jetzt? Jetzt steht er vor dem nächsten Problem.
„Keine Ahnung - mehr als schiefgehen kann’s nicht.“ Romy seufzt nicht ganz überzeugt.
„Und dann bekommst du was ab und gebracht hat es am Schluss auch nichts.“ Zum ersten Mal im gesamten Gespräch huscht ein deutliches Grinsen über Jez Lippen.
„Ich habe fast siebzehn Jahre lang in einer Großstadt gewohnt und war auf einem Gymnasium, dessen Unterstufentrakt so groß war, wie das gesamte Schulzentrum hier und an dem nicht nur zehn gruselige Gestalten rumgerannt sind. Denkst du, da gab es keine Schlägereien?“ Auch wenn es Jez Antwort nicht direkt herauszuhören ist, er findet es total lieb von Romy, dass sie sich um ihn sorgt. Seufzend verdreht Romy die Augen, bevor sie den Blick abwendet und Betty eine Weile ansieht. Diese zuckt die Schultern.
„Jungs…“ Sie grinst erleichtert, als Romy leise zu lachen beginnt und auch Betty ansteckt, als sie die gespielt beleidigten Gesichtern von Jez und Max sehen.
Sosehr Kimmy sich auch immer wieder selbst ermutigt, sie schafft es einfach nicht, Finn schon in der Pause zu erklären, dass sie ihn nie wirklich geliebt hat. Immer wieder versucht sie sich selbst dazu zu zwingen, sich zu Finn zu wenden und es ihm einfach zu sagen, aber sie bringt es einfach nicht übers Herz. Hilfesuchend wendet Kimmy den Kopf von Finn ab und sucht mit den Augen nach der Clique. Betty steht so, dass sie sie die ganze Zeit im Blick hat und kann auch aus zwanzig Meter Entfernung Kimmys hilfesuchenden Gesichtsausdruck erkennen. Sie lächelt sanft, was Kimmy zwar nicht ermutigt, aber sie trotzdem irgendwie beruhigt. Und wenn ich es bis heute Mittag noch nicht gemacht habe, dann muss sie Betty eben dazu zwingen! Erleichtert, dass es endlich klingelt, lächelt Kimmy Finn noch kurz zu, dann verschwindet sie, ohne einen Abschiedskuss, in das Schulhaus.
Jez lehnt sich mit dem Arm auf die eigentliche Rückenlehne seines Stuhls und lässt sein Blick über Betty und Max, bis hin zu Kimmy wandern. Sie lehnt über ihrem Block und schreibt die Verbesserung der letzten Englischklausur mit. Eigentlich sollte Jez es ihr gleichtun, denn, auch wenn die Klasse die Klausur noch nicht zurückbekommen hat, weiß Jez, dass er nicht wirklich gut abgeschnitten hat. Seufzend sucht er einen Kuli aus seinem Mäppchen und beginnt dann doch mitzuschreiben, auch wenn er nicht wirklich bei der Sache ist.
Kimmy hat noch nicht Schluss gemacht… Wenn sie es bis heute Mittag noch nicht gemacht hat - soll er Bettys Bitte eingehen? Oder soll er es doch lieber Betty machen lassen und so kein Risiko eingehen? Schon den gesamten Vormittag grübelt er darüber und entscheidet sich immer wieder um. Einerseits - Kimmy steht dann wieder unter Druck. Sie würde sich wieder bedrängt oder eingeengt fühlen und die Gefahr, dass Finn austickt, wenn sie sagt, dass sie keine Gefühle für ihn hat, sondern dass sie Gefühle für ihn hat und deshalb einfach nicht mit ihm zusammen sein kann, ist viel höher. Und andererseits - egal wie hartnäckig Betty ist, Kimmy könnte trotzdem einen Rückzieher machen. Finn würde Betty, wenn sie ihm sagen würde, dass Kimmy ihn nicht liebt, nicht glauben. Klar, wo sie doch auf seiner Seite steht…
Jez setzt sich wieder aufrechter hin und sieht kurz nach vorne an das Whiteboard, lässt sein Blick dann aber wieder zu Kimmy wandern. Ihre braunen Haare, die sie in einen Zopf zusammengebunden hat, haben heute irgendwie nicht den so gleichmäßig, natürlichen Schwung. Sie sehen eher aus, als wären sie geglättet – was Emelina auch manchmal mit ihren Haaren macht, obwohl jeder sagt, dass ihre Locken ihr viel besser stehen. Irgendwie nimmt Kimmys Haaren das aber ein wenig den Zauber. In der Sonne, die in das Klassenzimmer strahlt, glänzen sie zwar, aber dennoch fehlt irgendetwas. Kimmys Lippen schimmern in einem zarten, natürlichen Rosa, auch, als sie sich aufrichtet und beginnt an der Rückseite des korallenfarbigen Füllers zu knabbern. Um ihren Hals liegt eine dünne, silberne Kette. Nicht zu auffällig, aber dennoch schmeichelt sie ihren oberen Rippenknochen. Erst, als Max ihm unsanft gegen den linken Arm stößt, wodurch Jez einen Kulistrich über die gesamte Breite des karierten Blattes macht, merkt er, wie sehr er Kimmy angestarrt haben muss. Belustigt grinst Max, bevor er den Kopf wieder nach vorne wendet. Nur schwer kann Jez sich ein Aufseufzen unterdrücken. Warum hat er sich, seit er hier ist und Kimmy kennt, so wenig unter Kontrolle? Das kann doch nicht nur an ihr liegen! Oder etwa doch? Bevor Jez überhaupt die Möglichkeit hat, weiter zu denken, beginnt die Englischlehrerin, die Klausuren auszuteilen.
***
„Ich pack das nicht, Betty!“, murmelt Kimmy leise, als sie nach der Schule neben ihrer Freundin an ihrem Schließfach steht und sich mental darauf vorbereitet, mit Finn Schluss zu machen. Auch wenn sie so lange Zeit hatte, um sich etwas Gutes auszudenken, oder wenigsten die Sätze zurechtzulegen, hat sie es nicht zu Stande gebracht, was bestimmt gleich bitterböse bestraft wird. Betty drückt die Tür des Fachs zu und lehnt sich daneben gegen die anderen Schließfächer.
„Musst du aber! Kein anderer kann das für dich erledigen! Und außerdem…“ Sie spricht den Satz nicht aus, aber Kimmy weiß selbst, was Betty sagen möchte. ‘Und außerdem hast du dich selbst in die Lage gebracht.‘ Ja, hat sie. Und ja, sie bereut es. Aber verdammt nochmal, woher soll sie denn wissen, wie schwer es ist, mit einer Person Schluss zu machen, obwohl man sie nicht einmal liebt?! Mit der Schulter stößt sich Betty von den Schließfächern ab und klemmt sich ihren Gesamtordner unter den Arm. Seufzend tut Kimmy es ihr gleich und sieht auf die Schuhspitzen ihrer schwarzen Nike-Schuhe.
„Ich weiß…“, murmelt sie und hebt dann entschlossen den Kopf. Betty lächelt ihr aufmunternd zu, dann folgt sie Kimmy aus dem Schulhaus.
Betty lässt ihren Blick über den fast menschenleeren Schulhof- und Parkplatz wandern. Bis auf Kimmy und sie kann sie nur noch Finn auf dem Parkplatz erkennen. Und Jez. Unauffällig sieht Betty Kimmy von der Seite an. Sie hat den Blick auf den Boden gerichtet und blinzelt ein paar Mal, bevor sie den Blick hebt und Betty entschlossen ansieht. Diese lächelt aufmunternd und setzt sich dann – natürlich nur rein zufällig – auf eine der kleinen Mauern, von der aus sie den Motorrad- und Rollerparkplatz gut im Blick hat und hoffentlich auch das ein oder andere Wort versteht. Weder Max noch Romy oder ihr hat Jez gesagt, ob er dazu beitragen will, dass Kimmy Schluss macht, aber momentan sieht es eher so aus, als würde er den Parkplatz bald verlassen.
Entschlossen steuert Kimmy, mehr ungewollt wie gewollt, mit Tunnelblick auf Finn zu, der lässig an einem der Pfosten der riesigen Überdachung des Parkplatzes lehnt und ihr schon von Weitem zulächelt. Nein, Kimmy! Du lässt dich jetzt nicht von diesem glücklichen Lächeln wieder von deinem Vorhaben abbringen! Du musst es jetzt machen! Jetzt sofort! Sonst ist alles vorbei! Eigentlich hat Kimmy Finn gesagt, dass er sie heute nicht nach Hause bringen soll, weil sie erstens noch Training hat und es zweitens ziemlich unangebracht wäre, sich von ihm heim bringen zu lassen und dann Schluss zu machen, aber er hat ihr, zu ihrem Glück, geschrieben, dass er trotzdem auf sie wartet. Als Kimmy fast bei Finn angekommen ist, macht er Anstalten auf sie zuzukommen und sie küssen zu wollen. Seine rechte Hand berührt schon fast Kimmys Hüfte, als sie sie sanft aber bestimmt wegdrückt und Finn aus ihren braunen Augen heraus ansieht. Fragend runzelt er die Stirn, gibt aber kein Wort von sich.
„Ich muss dir was sagen.“ Finns blaue Augen funkeln im warmen Sonnenlicht, sodass Kimmy sich dazu zwingen muss, den Blick nicht zu senken.
„Was denn?“, fragt Finn leise und sieht Kimmy nun mehr ernst als fragend an, was sie noch mehr verunsichert. Leise seufzt sie und sieht einen Moment an Finn vorbei, in der Hoffnung, wieder einen normalen, klaren Gedanken fassen zu können. Sag es einfach! Jetzt gibt es kein Zurück mehr! ‘Ich liebe dich nicht! Ich habe dich nur ausgenutzt! Ich habe nie etwas für dich empfunden!‘, oder so etwas Ähnliches.
„Ich…“, beginnt Kimmy und sieht Finn wieder an. Tu es für Jez! Er ist der, den du willst! Und vielleicht bist du die, die er will! Also sage es endlich! Stell dich nicht so an! Zu Kimmys eigener Verwunderung machen ihr die eigenen Gedanken wieder ein bisschen Mut. Durch das ratschende Geräusch eines Reisverschlusses wird sie jedoch abgelenkt. Kimmy wendet den Kopf von Finn zur Seite ab und entdeckt, keine drei Meter neben sich, Jez, der neben seinem gelben Motorrad steht und gerade den Klettverschluss an seiner Motorradjacke zumacht. Er hebt den Kopf und sieht sie mit einem nicht ganz definierbaren Gesichtsausdruck an.
„Du?“, fragt Finn, als wollte er nicht, dass Kimmy die Tatsache, dass Jez gerade seine Jacke angezogen hat, mehr interessiert, wie das, was sie eben gerade noch zu ihm sagen wollte.
„Ähm…“, macht Kimmy leise, als sie den Kopf wieder zu Finn dreht und zu ihm aufschaut. Was soll sie jetzt machen?! Sie kann doch Finn schlecht sagen, dass sie wegen Jez Schluss macht, wenn er direkt neben ihr steht! Oder etwa doch? „Ich kann das nicht mehr…“ Das. Die Vorspielerei von Gefühlen. Das Unterdrücken ihrer wahren Gefühle. Die ganze Lügerei.
„Was?“, fragt Finn leise, deutlich verwirrt.
„Das alles…“ Kimmy weiß, dass sie Finns Frage natürlich nicht beantwortet hat, aber so hofft sie ein wenig Zeit zu gewinnen, in der Jez verschwinden könnte.
„Was alles?!“ Finns Stimme klingt, als würde er ahnen, was sie meint. Aufgebracht und verletzt, irgendwie.
„So zu tun, als ob ich dich liebe“, flüstert Kimmy und senkt beschämt den Blick. Jetzt ist es raus! Jetzt weiß Finn, dass sie ihn nie geliebt hat. Dass sie ihn nur ausgenutzt hat. Und das alles nur, weil sie diese acht Wörter ausgesprochen hat…
„Was?“ Ohne es zu wollen, hat Kimmy plötzlich das Bedürfnis, Finn in den Arm zu nehmen und die Zeit zurück zu drehen. Alles Gesagte wieder zu verschlucken. Hauptsache, er sieht sie nicht mit diesem enttäuschten, verletzten Gesichtsausdruck an.
„Ich mag dich, Finn, aber ich…“ Erschrocken schnappt Kimmy nach Luft, als Finn sie am Handgelenk packt und sie zwei Schritte nach hinten drängt.
„Es ist wegen ihm, oder? Du wolltest nur ihn eifersüchtig machen, oder?“ Die freie Hand deutet auf Jez, der ganz ruhig neben seinem Motorrad steht und sie aus seinen grünen Augen mustert. Ja, Jez hat das Recht sie anzusehen, wie man eine Bestie ansehen muss. Sie ist doch eine! Sie hat alle Menschen um sich herum zu ihrem eigenen Wohl manipuliert und ausgenutzt!
„Ja…“, flüstert Kimmy und spürt, wie ihr die Tränen, die sie sonst, gerade in der Anwesenheit von anderen, so gut im Griff hat, in ihre Augen steigen und Finn verschwimmen lassen.
„Und daran gedacht, dass ich es ernst gemeint habe, hast du nicht, oder?“ Kimmy deutet wie in Trance ein Kopfschütteln an und will sich Finns Hand entziehen, doch er lässt ihr Handgelenk nicht los.
„Finn, es…“ So sehr Kimmy sich bemüht, sie kann nicht weitersprechen.
„Lass sie los!“ Verschwommen kann Kimmy erkennen, wie Finn den Kopf von ihr abwendet und ihr Handgelenk loslässt.
„…tut mir leid“, flüstert Kimmy noch, obwohl sie weiß, dass Finns Aufmerksamkeit nicht mehr ihr gilt.
„Du kleiner…“ Finn zischt die Beleidigung gegen Jez, die ihm förmlich auf den Lippen liegt, nicht zu Ende. Stattdessen macht er zwei große Schritte auf Jez zu und gibt ihm einen Stoß gegen die linke Schulter, wodurch er zwei Schritte zurücktaumelt.
„Ich kleiner was?!“ Jez verleiht seiner Stimme eine unheimliche Ruhe.
„Finn, bitte!“, versucht es Kimmy noch einmal. Schnaubend dreht Finn sich tatsächlich zu Kimmy um.
„Glaubst du, dass ich mit ihm jetzt auf bester Freund machen kann, obwohl er mir mein Mädchen ausspannt?!“ Vor Kimmys Augen verschwimmen sowohl Finn als auch Jez immer mehr, als sie den Mund öffnet um etwas zu sagen, doch Jez kommt ihr zuvor.
„Ausgespannt?! Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie Schluss machen soll!“ ‘Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie Schluss machen soll!‘ Also doch. Also liebt er sie doch nicht! Jetzt hat sie alles verloren! Jetzt ist alles vorbei! Wie in Trance dreht Kimmy sich um und läuft tränenblind quer über den Parkplatz auf den Schulhof. Betty springt von der Mauer und folgt ihrer Freundin, die einfach weiterläuft.
Einen Moment sieht Finn Kimmy nach, dann dreht er sich mit geballten Fäusten zu Jez um. Seine blauen Augen funkeln aggressiv, als er wie in Zeitlupe zwei Schritte auf Jez zumacht und ihm noch einmal einen Stoß gegen die Schulter gibt. Diesmal macht Jez nicht einmal einen Schritt zurück. Seine Augen funkeln jetzt aber, genau wie die von Finn, aggressiv. Aggressiv, weil Finn nicht das Recht hat, ihn anzugreifen, egal, wie verletzt er gerade ist.
„Ohne Grund macht sie bestimmt nicht Schluss!“ Gereizt kneift Jez die Lippen aufeinander.
„Habe ich das jemals behauptet?!“ Ihm ist bewusst, wie sehr er Finn provoziert, aber das, was Finn macht, muss er sich nicht gefallen lassen! Anstatt zu Antworten springt Finn förmlich auf Jez zu, packt ihm am Kragen seiner Jacke. Dieser hat mit allem gerechnet, aber irgendwie nicht damit. Finn ballt die linke Hand zur Faust und schnaubt aggressiv. „Komm schon, schlag zu! Wenn du denkst, sie kommt dann zurück!“ Auch wenn Jez sich in Köln schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden hat und auch, wenn er es nach außen hin nicht zeigt, er hat Angst. Angst davor, dass Finn wirklich zuschlägt.
Der Moment, in dem Finn Jez einfach nur aus seinen funkelnden, blauen Augen ansieht, kommt ihm vor, wie eine Ewigkeit. Als ob die Zeit plötzlich eingefroren sei.
„Du bist es nicht wert, geschlagen zu werden!“ Mit diesen Worten löst Finn den Griff um Jez Kragen und stößt ihn nach hinten weg, sodass Jez ein paar Schritte nach hinten taumelt. Ohne ein weiteres Wort dreht Finn sich um, zieht seinen Motorradhelm über den Kopf und zieht sein Motorrad mit einem Ruck von dem Ständer. Schon allein an seinen angespannten Muskeln kann man erkennen, dass es ihm schwergefallen sein muss, Jez einfach gehen zu lassen. Leise pustet dieser die angehaltene Luft zwischen den Lippen heraus und folgt mit den Augen noch, wie Finn von dem Parkplatz fährt, bevor er kurz die Augen schließt. Kimmy hat es getan! Und sie hat zugegeben, dass sie wegen ihm Schluss gemacht hat… also muss sie auf irgendeine Weise auch verstanden haben, dass sie mit ihrem Bild von ihm falsch lag! Auch wenn das eigentlich ein Grund zur Freude für Jez wäre, huscht nicht einmal ein Lächeln über seine Lippen.
***
„Ich glaub das nicht, Kimmy!“ Kimmy sieht Betty aus tränennassen Augen an.
„Er hat es aber gesagt!“ Die beiden Mädchen sitzen hinter der Ortenauhalle in der Sonne. Auch wenn das nicht der perfekte Ort ist und auch wenn Kimmy nicht genau weiß warum sie, nachdem sie mit Finn Schluss gemacht hat, hier her geflohen ist, ihr ist gerade alles egal. Alles, bis auf die Tatsache, dass Jez gesagt hat, dass es ihm egal ist, ob sie noch mit Finn zusammen wäre oder nicht.
„Es ist doch klar, dass er sich verteidigt! Und schließlich hat er ja recht. Er hat zu dir nicht gesagt, dass du Schluss machen sollst!“ Kimmy senkt den Blick und nimmt das Taschentuch, das Betty ihr entgegenhält, an.
„Ja also…“, murmelt sie und merkt gar nicht, dass sie Bettys Worte total falsch interpretiert.
„Nein Kimmy!“ Mit den Händen stützt Betty sich ab, als sie sich genau vor Kimmy setzt und nach den Händen ihrer Freundin greift. „Er hat es nicht zu dir gesagt. Aber denkst du, er wöllte, dass du mit einem anderen zusammen bist, obwohl er dich liebt?“ Kimmy entzieht die Hand mit dem Taschentuch Bettys und dreht den Kopf zu Seite weg.
„Liebt?!“ Ihre Stimme klingt fast ein bisschen belustigt, als würde sie sich über das Wort ‚liebt‘ lustig machen. Leise seufzt Betty. Sie versteht einfach nicht, warum Kimmy in letzter Zeit alles, wirklich alles ins Negative interpretiert.
„Es ist doch klar, dass er dir keine Liebeserklärung macht, wenn du gerade mit Finn Schluss gemacht hast oder besser gesagt Schluss machst! Das würde mich, wenn ich Finn wäre, auch aggressiv machen…“ Kimmys Augen glänzen glasig, als sie ihre Freundin einen Moment mustert.
„Glaubst du, er ist auf Jez losgegangen?“ In ihrem Inneren spürt Kimmy plötzlich eine Angst hinaufkriechen. Eine Angst, die nicht zu ihrem eigenen Wohl entsteht. Es ist eine Angst, die entsteht, wenn das Wohl einer anderen, wichtigen Person gefährdet ist. Betty deutet ein ganz vorsichtiges Schulterzucken an.
„Ich weiß es nicht…“, murmelt sie leise und sieht ihre Freundin einen Moment lang an. „Aber ich glaube, dass Jez, wenn es so wäre, weiß, wie er sich verteidigen muss.“ Sie lächelt Kimmy aufmunternd zu. „Und ich glaube, dass du langsam kapieren solltest, dass er wirklich etwas für dich empfindet. Ja, er hat gesagt, dass er dir nicht gesagt hat, dass du Schluss machen sollst. Aber hat er das irgendwann mal wortwörtlich zu dir gesagt?“ Fragend sieht Kimmy Betty an.
„Naja… nicht wirklich - eigentlich nie.“ Erst jetzt versteht Kimmy, was ihre Freundin ihr sagen will.
„Du hast von dir aus Schluss gemacht.“ Wie am Vortag hebt Betty eine Hand und tippt ihrer Freundin auf den Brustkorb. „Weil das da dir gesagt hat, was richtig und was falsch ist.“ Kimmy senkt den Blick auf Bettys Schuhe, bevor sie leise seufzt und den Kopf wieder hebt.
„Danke Betty…“, murmelt sie und lässt sich von Betty in den Arm nehmen.
***
Nachdenklich sitzt Jez am Ufer des Sees und lässt seinen Blick über das klare Wasser wandern. Kimmy hat es wirklich gemacht. Sie hat mit Finn Schluss gemacht und zugegeben, dass er der Grund dafür ist. Mit zwei Fingern schnippt Jez einen der Steine von seinen blauen Turnschuhen, als er leise seufzt. Aber, wenn Kimmy Schluss gemacht hat, weil sie Gefühle für ihn hat… wieso hat sie sich dann so schwergetan? Wieso hat es sie so fertiggemacht, zu sehen, wie Finn leidet? War es vielleicht einfach nur das Wissen, dass er nur wegen ihr und wegen ihrer Schauspielerei so leidet? Oder mag sie ihn vielleicht doch irgendwie und die Gefühle für ihn selbst hat sie sich nur eingebildet?
Jez hebt den Blick, als das Geräusch von über die Steine rutschenden Schuhen zu hören ist. Max kommt die kleine Bucht nach unten gelaufen und lässt sich neben Jez auf die Steine fallen. Jez hat ihm, nachdem er zu Hause angekommen ist, geschrieben, dass er nach dem Training hierherkommen soll. Irgendwie braucht er jetzt einfach jemanden, der seine unzähligen Fragen wenigstens anhören kann. Immer noch nachdenklich lässt Jez seinen Blick wieder über das klare Wasser wandern. Einige Momente lang spürt er, wie Max ihn von der Seite einfach nur ansieht, bevor er es ihm gleichtut und über den See hinwegsieht. Erst nach einiger Zeit bricht Max das Schweigen.
„Hat sie von alleine Schluss gemacht?“ Er sieht Jez wieder von der Seite an und runzelt die Stirn, als dieser die Schultern zuckt.
„Keine Ahnung.“ Ein Lächeln huscht über Max Lippen, als Jez sich zu ihm wendet.
„Hast du von Finn eine auf den Deckel bekommen, dass du es nicht mehr weißt?“ Lachend hebt er beide Hände und dennoch schafft Jez es, ihm, wegen diesem Kommentar, unsanft gegen die Schulter zu boxen.
„Du bist mies.“ Für den einen Moment liegt auch auf Jez Lippen ein Grinsen, bevor er sich räuspert und leise seufzt.
„Nein, aber jetzt ehrlich.“ Max sieht Jez von der Seite ernst an.
„Ja, keine Ahnung. Ich glaube, Kimmy hat mich am Anfang gar nicht gesehen. Und, als sie mich dann gesehen hat, hat sie Finn schon so viel gesagt gehabt, dass sie sowieso nichts anderes mehr tun konnte, außer Schluss zu machen.“ Mit der linken Hand zieht Jez einige Grashalme, die zwischen den Steinen hervorsprießen, aus dem Boden und dreht sie zwischen den Fingern. „Finn hat sie dann gefragt, ob sie wegen mir Schluss macht…“
„…und sie hat ja gesagt?“ Jez deutet ein Nicken an und seufzt noch einmal.
„Irgendwie - Kimmy ist dann abgehauen. Und ich habe Finn, als er auf mich losgehen wollte, gefragt, ob er denkt, dass sie zurückkommt, wenn er eben auf mich losgeht. Ich hatte echt Schiss, dass es ihm scheißegal ist, ob sie dann zurückkommen würde oder nicht.“ Konzentriert starrt Jez auf den Grashalmmatsch, den er mittlerweile produziert hat und lässt diesen zu Boden fallen. Sanft gibt Max ihm mit der Schulter einen Stoß gegen seine Schulter.
„Ist es nicht menschlich mal Schiss vor irgendwas zu haben?“ Fast ein bisschen überrascht von Max Frage hebt Jez den Kopf. Ein schiefes Lächeln liegt auf seinen Lippen, als er dennoch leise seufzt.
„Ich habe einfach nur Angst davor, dass wieder so ein beschissenes Gerücht rumgeht…“ Konzentriert sieht Jez an die schwappende Uferkante.
„Denkst du, dass Kimmy erst einen Schritt zurück macht nur um dann wieder zwei in die falsche Richtung zu machen?“ Als Antwort auf Max Frage zuckt Jez nur die Schultern. „Ich kenne sie. Ich glaube einfach nicht, dass sie einen Fehler zweimal hintereinander in so kurzer Zeit macht.“ Seufzend wendet Jez den Kopf zu Max.
„Und warum hat sie den Fehler dann überhaupt gemacht?“ Max seufzt leise und dreht einen der Steinchen zwischen den Fingern.
„Sie ist auch nur ein Mensch. Und ich glaube, sie ist mit der Situation, dass sie nicht mehr wusste, was passiert ist, einfach nicht klargekommen. Klar, hätte sie es schlauer machen können und einfach keinem etwas davon erzählen können. Aber irgendwie wäre es dann trotzdem rausgekommen…“ Einen Moment stockt Max. „…und in dem Fall warst eben du der Leidtragende.“
***
Es ist schon fast Mitternacht, als Kimmy sich die Tränen von den Wangen wischt und leise von ihrem Bett aufsteht. Sie kann einfach nicht mehr! Musste Neah ihr unbedingt vor allen im Training so klarmachen, was für einen Mist sie gebaut hat und wie sehr sie Finn verletzt hat? Konnte sie es nicht wenigstens so lange zurückhalten, bis maximal noch Lydia in der Nähe war? Leise, um ihre Eltern nicht zu wecken, schleicht Kimmy durch ihr Zimmer zum Kleiderschrank, zieht eine Jeans und einen dicken Kapuzenpulli heraus und tauscht diese gegen das weite Schlaf-T-Shirt und die Shorts. Vorsichtig schließt sie den Kleiderschrank wieder, schlüpft in die hellblauen Vans, die schon eine halbe Ewigkeit in ihrem Zimmer stehen, und geht dann zum Fenster. Zögernd bleibt Kimmy davorstehen. Ob das wirklich was bringt? Auf den Friedhof zu gehen? Jetzt?! Sie unterdrückt ein Seufzen, bevor sie das Fenster öffnet, auf die äußere Fensterbank klettert und sich mit einem Fuß bis auf das Vordach tastet, bevor sie das Fenster soweit es geht hinter sich zuzieht. Vorsichtig geht Kimmy in die Hocke und hält sich an der Dachrinne fest, bevor sie sich auf dem Dach dreht und sich mit beiden Füßen gleichzeitig abstößt.
Als ihre Füße den Boden berühren, geht sie wieder in die Hocke und hofft, so das Geräusch, das die zur Seite springenden Steinchen produzieren, so ein bisschen eindämpfen kann. Zwei Sekunden verharrt Kimmy in der Position, dann erhebt sie sich, sieht sich noch einmal um und läuft langsam, mit gesenktem Kopf, los.
Zögerlich bleibt Kimmy vor dem Tor des Friedhofes steht, das ein Stück weit steht. Normalerweise ist das Tor doch immer zu. Was, wenn jemand, den sie kennt, auf dem Friedhof ist? Zögernd macht sie zwei Schritte darauf zu und berührt den kühlen Stahl mit zwei Fingern. Im Stillen ermahnt sie sich selbst, dass sie sich nicht wegen jeder Kleinigkeit einen Kopf machen soll, bevor sie durch den kleinen Spalt des geöffneten Tors schlüpft.
Wie immer ist der Friedhof in totale Finsternis gelegt, nur die kleinen Grablichter, die vereinzelt auf den Gräbern flackern, erhellen den Boden ein bisschen. Kimmy schiebt beide Hände in die Tasche des Kapuzenpullis. Unbewusst verlangsamt sie ihre Schritte, als sie dem Grab ihres Bruders näherkommt. Warum hat es sie eigentlich ausgerechnet hierhergeführt? Nur, weil Lennard hier beerdigt wurde? Leise lässt sich Kimmy in das nasse Gras neben dem Grabstein ihres Bruders sinken und schließt für einen Moment die Augen.
***
Seufzend kippt Jez sein Zimmerfenster und sieht für einen Moment noch auf die von den Straßenlaternen erhellte Straße. Er ist schon dabei sich umzudrehen, da nimmt er aus dem Augenwinkel eine Bewegung draußen wahr, welche ihn zwingt, wieder aus dem Fenster zu schauen. Einen Moment brauchen seine Augen, um sich an die Dunkelheit und an die Entfernung zu gewöhnen, dann öffnet er überrascht den Mund.
Entweder träumt er gerade oder Kimmy klettert gerade wirklich aus ihrem Zimmerfenster! Einen Moment beobachtet Jez das, was Kimmy gerade macht und braucht einige Sekunden, bevor er sich aus seiner Starre löst und ohne wirklich zu wissen was und warum er das tut, in die nächstbeste Jeans schlüpft und die blaue Trainingsjacke, die zum seinem Trainingsanzug von seinem alten Verein, dem VfL Köln, gehört, hineinzuschlüpfen.
Noch einmal sieht Jez nach draußen, bevor er nach seinem Handy und dem Schlüssel greift und die Treppe herunterspringt. Zu seinem Glück hat seine Mutter heute Nachtschicht, weshalb sie ihn auch jetzt nicht aufhalten kann. Direkt neben der Treppe stehen seine blauen Turnschuhe, die eigentlich noch komplett durchweicht sind, da er und Max, nachdem sie ewig lang einfach nur am Ufer des Sees gesessen haben, noch ein bisschen Mist gemacht haben und er dabei fast im See baden gegangen wäre. Auch wenn von den Schnürsenkeln Wassertröpfchen perlen, Jez schlüpft trotzdem in die Turnschuhe, bevor er die Haustür leise aufmacht und das Haus verlässt.
Kühle Nachtluft schlägt ihm entgegen, bringt ihn aber nicht zum frösteln. Einen Moment verharrt Jez in der Position und lässt seinen Blick über die leere Straße wandern, solange, bis er den dunklen Schatten erkennt, der schnell auf dem Gehweg entlang huscht. Mit einer Hand zieht Jez den Reisverschluss seiner Jacke ganz zu, bevor er sich, so leise er kann, in Bewegung setzt und Kimmy folgt.
Schon nach nicht einmal mehr fünf Metern bereut Jez die Turnschuhe angezogen zu haben. Erstens, es ist total unangenehm, nasse Schuhe zu tragen und zweitens quietschen sie bei jedem Schritt, weshalb er mit mindestens zehn Metern mehr Sicherheitsabstand zu Kimmy halten muss. Anders als heute Morgen fallen ihre Haare wieder natürlich gewellt über ihre Schultern und werden von dem leichten Wind immer wieder erfasst und durch die Luft geweht.
Die Glocken der Kirche beginnen zu läuten, als Kimmy den leichten Anstieg nach oben gelaufen ist und vor dem Tor des Fautenbacher Friedhofes stehen bleibt.
Im Schatten eines riesigen Baumes bleibt Jez stehen und heftet seinen Blick wieder auf Kimmy. Er kann ihr Gesicht, als sie sich durch das halb geöffnete Tor schiebt, nicht richtig in der Dunkelheit erkennen, aber eine Antwort darauf, was Kimmy um Mitternacht auf dem Friedhof will, hätte er so auch nicht bekommen. Zögerlich verharrt Jez hinter dem Baum. Soll er Kimmy wirklich weiter folgen? Ob er dann vielleicht eine Antwort auf seine Frage bekommt? Aber was, wenn sie ihn sieht und er den Schritt, den sie zurück gemacht hat, sofort wieder zerstört? Einen Moment zögert Jez noch, dann setzt er sich leise, von der Neugier getrieben, in Bewegung. Mit einer Hand drückt er vorsichtig gegen das Tor, sodass es weiter aufgeht, doch anders, als er erwartet hat, quietscht es ohrenbetäubend laut in die Nacht hinein. Wie vom Blitz getroffen verharrt Jez in der Position und traut sich nicht einmal zu atmen. Kurz schließt er die Augen und hat schon das Gefühl, dass die Schritte, die von Kimmy ausgehen, wieder lauter werden, doch nach einer gefühlten Ewigkeit verstummen sie plötzlich. Langsam öffnet Jez die Augen und atmet erleichtert aus, als Kimmy nicht vor ihm steht. Ganz vorsichtig schiebt er sich durch das Tor und lässt seinen Blick über den fast stockdunklen Friedhof wandern.
Nur einige rötliche Grablichter erhellen das Gras oder die Erde darum, spenden aber nicht einmal genug Licht, dass er den Boden vor seinen Füßen sehen kann. Jez kneift die Augen ein wenig zusammen und lässt seinen Blick ein weiteres Mal über seine Umgebung wandern, bis er eine Bewegung in mindesten fünfzehn Meter Abstand von ihm wahrnimmt. So leise es geht, setzt sich Jez wieder in Bewegung.
Durch die Baumkronen über ihm pfeift der Wind und lässt sie irgendwie gruselig rauschen. Jez legt den Kopf in den Nacken und sieht zwischen den Bäumen hindurch in den schwarzen, klaren Himmel. Von hier aus kann man die vielen, kleinen Sterne deutlich sehen. Erschrocken zuckt er jedoch zusammen, als etwas sein Bein streift. Nur schwer kann er einen erschrockenen Laut unterdrücken. Was genau gerade sein Bein gestreift hat, weiß er nicht, aber um ehrlich zu sein will er es auch nicht unbedingt wissen. Er schließt die Augen wieder und atmet einmal tief ein und aus. Er hat nie verstanden, was manche Menschen so gruselig an dunklen Friedhöfen finden, aber jetzt gerade fühlt er sich auch nicht wirklich wohl. Deshalb öffnet er Augen schnell wieder und will schon wieder loslaufen, bleibt aber doch stehen. Stattdessen macht er wieder einen Schritt zurück und sieht vorsichtig um den riesigen Baumstamm herum. Ja, er hat gedacht, er hat mit allem gerechnet. Aber nicht damit, dass Kimmy sich einfach neben ein Grab setzt und gar nichts macht. Ein Grablicht flackert auf dem Grab, neben dem Kimmy sich niedergelassen hat, und spenden genug Licht, dass Jez den Namen und die beiden Daten, die auf dem Grabstein stehen, deutlich lesen kann.
Lennard Beck
5. September 1997 – 21. Mai 2009
Kimmys Bruder. Eine unangenehme Gänsehaut kriecht über Jez Haut. Wie man sich wohl fühlen muss, wenn man neben dem Grab seines eigenen Bruders sitzt? Er macht einen kleinen Schritt zurück und schließt die Augen. Allein die Frage kommt ihm so unrealistisch vor. Wie man sich wohl fühlt, wenn man seinem eigenen Bruder beim Sterben zusehen muss und jeden Tag daran erinnert wird?
Jez öffnet die Augen wieder. Er sieht, wie Kimmy die Kapuze des dunkeln Kapuzenpullis über den Kopf zieht, die Arme um die angezogenen Beine legt und den Kopf darauf bettet. Auch wenn Jez nur ihre Silhouette erkennen kann, sieht er, wie sie sanft zittert, als würde sie weinen. Als würde sie weinen… Klar, dass sie weint! Sie sitzt neben dem Grab ihres Bruders und hat ihrem Bruder beim Sterben zusehen müssen! Die Gänsehaut, die bis eben noch nur auf Jez Haut gelegen hat, verbreitet sich, so fühlt es sich jedenfalls an, auch im Inneren seines Körpers und lässt ihn fröstelnd die Schultern hochziehen. Allein die Vorstellung, dass Jeremy irgendetwas passieren würde… Jez will den Gedanken gar nicht erst zu Ende denken. Oder bessergesagt, er kann nicht. Niemand kann sich dieses Gefühl vorstellen. Dieses Gefühl, jemandem nah zu sein und ihn trotzdem für immer verloren zu haben. Nicht nur für einige Zeit. Sondern für immer. Leise macht Jez noch einen weiteren Schritt zurück und lehnt sich seitlich gegen den großen Baumstamm. Er schließt die Augen und saugt die kühle Luft ein. In der Hoffnung, dass diese das beklemmende Gefühl in ihm ein wenig löst.
Als er die Kirchenglocken sechsmal läuten hört, stößt sich Jez leise von dem Baumstamm ab und sieht um den Stamm herum. Schon seit einer halben Stunde lehnt er jetzt an dem Baum und beobachtet Kimmy nachdenklich. Nach nicht einmal fünf Minuten hat sie, soweit es Jez erkennen konnte, aufgehört zu zittern. Seitdem sitzt sie einfach nur ganz ruhig neben dem Grabstein ihres Bruders. Sie hat den Kopf so gedreht, dass Jez erkennen kann, wie sie ihre Augen geschlossen hält, als würde sie schlafen. Hat Kimmy wirklich vor, auf dem Friedhof zu übernachten? Jez braucht gar nicht weiter darüber nachzudenken, schließlich beantwortet das, was er vor drei Wochen gesehen hat, dass Kimmy wirklich erst morgens wieder nach Hause gekommen ist, seine Frage. Wenn Kimmy hier bleiben will, soll er sie vielleicht wecken? Aber was sollte er ihr dann sagen? Oder fragen? Warum sie auf dem Friedhof übernachtet? Ihr sagen, dass sie nach Hause in ihr Bett gehen soll? Nein!
Um ehrlich zu sein hat Jez nicht vor, die ganze Nacht auf dem Friedhof zu verbringen. Ersten, schon jetzt, nach der halben Stunde hier, spürt er die Kälte langsam unter die dünne Jacke kriechen, zweitens, er könnte hier sowieso kein Auge zutun und drittens, er würde morgen verschlafen, falls er dann doch irgendwann einschlafen würde! Zögernd sieht Jez zu Kimmy herüber, dreht sich um, um zu gehen und bleibt doch stehen. Irgendetwas bewegt ihn dazu, noch etwas zu tun. Langsam dreht Jez sich wieder in Kimmys Richtung. Sich einfach neben sie setzten. Sie in den Arm nehmen. Ihre Nähe spüren. Genau das würde Jez jetzt gerne tun. Aber er weiß, dass er es nicht machen sollte. Seufzend lässt er den Blick auf den Boden sinken, schiebt die Hände in die Hosentasche und will sich schon wieder umdrehen, um zu gehen, da fällt ihm doch noch etwas ein. Etwas, was die Bedürfnisse in ihm vielleicht doch ein wenig stillen kann.
Vorsichtig – dass er nicht über die Rasenkante stolpert, die mindestens zehn Zentimeter höher ist als der Weg aus winzigen Steinchen – macht er einen großen Schritt und öffnet noch während er langsam zu Kimmys kauernder Gestalt herüber geht seine blaue Jacke. Er schlüpft aus den Jackenärmeln, bevor er schweigend neben Kimmy in die Hocke geht. Spätestens jetzt weiß er, dass sie wirklich schläft, sonst wäre sie wohl nicht einfach still sitzen geblieben. Jez rückt näher an Kimmy heran, bevor er seine Jacke vorsichtig um ihre Schultern legt. Als er seine Hand wegziehen will, streift sie Kimmys Haar. Seine Finger beginnen zu kribbeln, auch wenn ihre Haare seine Finger schon längst nicht mehr berühren. Ein so angenehmes Kribbeln, dass Jez seine Hand noch einmal aussteckt und sanft über Kimmys Locken streicht. Erschrocken zieht er sie jedoch zurück, als Kimmy sich plötzlich zu bewegen beginnt. Sie zieht die Schultern hoch, zieht an den Ärmeln von Jez Jacke, die um ihre Schultern liegt, und lehnt den Kopf dann wieder gegen den Grabstein neben sich. Wie in einer Schockstarre hockt Jez neben ihr und hält die Luft an. Spätestens morgen früh, wenn Kimmy aufwacht, wird sie aufgrund seiner Jacke zwar sowieso merken, dass er hier gewesen sein muss, da er niemand anderen in der näheren Umgebung hier kennt, der eine VfL Köln Trainingsjacke besitzt, aber wie sie darauf reagiert, will Jez sich jetzt eigentlich gar nicht ausmalen. Einen Moment verharrt er noch neben Kimmy, dann erhebt er sich langsam und verlässt keine Minute später den Friedhof.
***
Als sie ersten Sonnenstrahlen über die Baumwipfel blitzen, beginnt Kimmy zu blinzeln. Sie hebt den Kopf und stöhnt leise auf, als sie den Kopf drehen will und ein unangenehmer Schmerz durch ihren Nacken zieht.
„Aua…“, murmelt sie verschlafen und schiebt mit einer Hand die Kapuze vom Kopf, bevor sie mit einer Hand über ihren verspannten Nacken fährt. Langsam setzt sie sich auf und gähnt einmal, bevor sie mit der freien Hand über die Augen reibt und sich dann einmal streckt. Bei der Bewegung rutscht ihr irgendetwas von den Schultern. Irritiert hält Kimmy in der Bewegung inne und dreht sich ein wenig, sodass sie das, was von ihren Schultern gerutscht ist, in Augenschein nehmen kann. Verwirrt hebt sie die Augenbrauen, als sie eine dunkelblaue Jacke erkennt, die, so wie sie aussieht, zu einem Trainingsanzug gehört. Mit der linken Hand greift Kimmy danach und dreht sie, sodass die die Aufschrift auf dem Rücken der Jacke erkennen kann. VfL Köln. Auch ohne den Namenaufdruck auf dem rechten Ärmel zu lesen, weiß Kimmy, wem die Jacke gehört. Jez… Kimmy lässt sie Hand sinken und hebt den Blick. Warum hatte sie eine Jacke von Jez über den Schultern liegen? Er war doch nicht etwa…? Kimmy braucht den Gedanken gar nicht erst zu Ende denken. Klar war er da! Wer sonst könnte eine Jacke von einem Kölner Verein besitzen? Einen Moment schließt Kimmy beide Augen. Er war da. Und er hat sie mit seiner Jacke zugedeckt. Er hat sich Sorgen gemacht! Abrupt öffnet Kimmy die Augen wieder und sieht auf den weißen Flock auf der Jacke. Jez hat sich Sorgen um sie gemacht… Dann muss sie ihm doch wirklich etwas bedeuten, oder? Noch bevor Kimmy sich die Frage selbst beantworten kann, beginnen die Kirchenglocken zu läuten und erinnern sie daran, dass es Zeit wird zu gehen. Einmal sieht Kimmy noch auf die Jacke in ihren Händen, dann erhebt sie sich langsam aus dem nassen Gras.
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Die Augen auf sein Zimmerfenster gerichtet verreibt Jez das Haargel zwischen den Fingern. Schon die ganze Zeit, die er wach ist, wandert sein Blick zu seinem Zimmerfenster, in der Hoffnung, irgendwann Kimmy zu sehen. Zu sehen, wie sie wiederkommt. Was sie, nachdem sie seine Jacke bestimmt schon gefunden haben muss, macht. Und vielleicht auch, um zu sehen, ob es ihr gut geht. Seufzend wendet Jez sich von seinem Zimmerfenster ab und fährt mit den Fingern solange durch seine Haare, bis sie liegen, wie er es sich vorgestellt hat.
Mit einer Hand sammelt er die Klamotten, die er heute Nacht einfach an Ort und Stelle fallen gelassen hat, ein und will sein Zimmer gerade verlassen, wird dann aber von dem Zwang noch einmal aus dem Fenster zu gucken, aufgehalten. Von Zufall, dass Kimmy in diesem Moment, in dem Jez aus den Fenster sieht, wirklich gerade den Hof ihres Elternhauses betritt, kann man eigentlich nicht reden, da Jez wohl mehr Zeit mit aus dem Fenster schauen verdattelt hat, als er für alle anderen Sachen zusammen heute Morgen gebraucht hat. Kimmy hat Jez Jacke über ihren Pulli gezogen, sodass nur noch die graue Kapuze des Pullis herausguckt. Heute sieht sie sich anderes als beim letzten Mal nicht einmal um. Sie nimmt Anlauf, springt ab und zieht sich, nachdem sie die Kante des Vordachs zu fassen bekommen hat, einfach daran hoch, bevor sie darauf klettert, das Fenster aufdrückt und hindurch verschwindet. Sie hat seine Jacke einfach angezogen… Also ist sie nicht sauer auf ihn? Seufzend wendet Jez sich vom Fenster ab und bückt sich, um das T-Shirt, das er bis gerade noch in dem Stapel Klamotten festgehalten hat, wieder aufzuheben, da es sich selbstständig gemacht hat. Wird sie ihn später, nach der Schule vielleicht darauf ansprechen? Seufzend schiebt Jez all seine Gedanken beiseite. Vielleicht ist es ja besser, wenn er sich jetzt keine Gedanken darüber macht…
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Leise stöhnt Kimmy auf, als sie ihren Rucksack auf den Küchenstuhl fallen lässt und ein erneuter Schmerz durch ihren Nacken fährt, der sich mittlerweile auf einen bleibenden Kopfschmerz ausgeweitet hat. „Alles okay?“ Kimmys Mutter dreht sich zu ihrer Tochter und sieht sie mit besorgtem Blick an. So vorsichtig es geht dreht Kimmy sich zu ihrer Mutter und hofft, dass diese kleine Bewegung zur Ausnahme mal nicht wehtut, was natürlich nicht der Fall ist. Sie verzieht das Gesicht und unterdrückt ein leises Stöhnen. Kimmys Mutter sieht das wohl als Antwort an, denn die schiebt, ohne die Einwilligung ihrer Tochter deren Jacke im Nacken ein wenig nach unten und tastet Kimmys Nacken ab. Leise seufzt sie und zieht die Jacke wieder über die Schultern ihrer Tochter.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du heute zu Hause bleibst.“ Sie sieht Kimmy einen Moment lang in die Augen. „Ich würde mal auf eine Genickstarre tippen. Da ist es besser, wenn du dich nicht den halben Tag in die Schule setzt.“ Überrascht sieht Kimmy ihre Mutter an. Normalerweise schickt sie sie auch dann in die Schule, wenn es nicht allzu gut geht. ‚Ich bin Ärztin, ich weiß, wie ich so etwas einschätzen muss!‘ Damit begründet ihre Entscheidung immer. Was leider auch heißt, dass Kimmy niemals auf die Idee kommen könnte, eine Krankheit vorzuspielen… „Außer, du schreibst heute irgendeine Klausur.“ Fast ein bisschen zu schnell schüttelt Kimmy den Kopf und hebt seufzend eine Hand, als ihre Nacken sich wieder mit dem unangenehmen Schmerz meldet.
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Betty zieht Max als Sichtschutz vor sich, sodass die Pausenaufsicht nicht sieht, wie sie ihr Handy aus der Tasche zieht und Kimmys Nummer in ihren Kontakten sucht. Nachdem weder Max oder Jez noch Romy etwas von Kimmy wussten, hätte sie ihre Freundin am liebsten augenblicklich angerufen, was sie aber leider nicht machen konnte, da Herr Renner mündliche Noten in den ersten beiden Stunden verteilt hat und er Betty auch nach mehrmaligen Betteln nicht aufs Klo gelassen hat. Ungeduldig tippt Betty mit der Fußspitze immer wieder auf das Pflaster, während sie sich das Handy ans Ohr hält und an ihrem Freund vorbeilugt. Zu ihrem Glück ist der Lehrer, der gerade Aufsicht hat, voll und ganz damit beschäftigt, ein Streit zwischen zwei Fünftklässlern zu schlichten.
„Ja?“, fragt Kimmys Stimme am anderen Ende der Leitung, als sie endlich an ihr Handy geht.
„Kimmy?“ Natürlich ist Betty klar, dass Kimmy den Anruf angenommen hat, aber einfach ‘Hallo Kimmy, wie geht es dir? Warum bist du nicht in der Schule?‘ ist ihr auch irgendwie zu doof.
„Hmm?“
„Warum hast du nicht geschrieben, dass du krank bist? Ich habe mir Sorgen gemacht!“ Betty lässt ihren Blick von dem Lehrer zurück wandern, bis sie von unten hinauf Jez mustert, der als Einziger neben ihr und Max steht und sie bis gerade noch abwartend angesehen hat. Jetzt hebt er fragend die Augenbrauen und schiebt die Hände in die Hosentaschen.
„Sorry Betty…“, erst jetzt fällt Betty auf, dass sich Kimmy wirklich nicht gesund anhört. Entweder sie ist richtig krank oder sie hat bis gerade geschlafen und sie hat sie mit ihrem Anruf aufgeweckt. „Ich bin heute Morgen gar nicht aufgestanden und habe nicht daran gedacht, dir zu schreiben.“ Betty wendet sich zu Max, legt eine Hand auf seinen Arm und pustet langsam die Luft zwischen den Lippen hindurch. Sie weiß nicht wirklich, was sie sagen soll. Was hat sie auch erwartet? Dass Kimmy schwänzt, weil sie denkt, dass Jez sie nicht liebt?
„Oh…“, murmelt Betty leise und greift ein wenig in Gedanken nach Max Hand.
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Leise lehnt Jez sich auf seinem Stuhl zurück und lässt seinen Blick über den dreckigen, grauen Linoleumboden wandern. Mal wieder sitzt er zusammen mit all den anderen, die Latein gewählt haben, im Klassenzimmer des Lateinlehrers, der sich am heutigen Tag allerdings krankgemeldet hat, was für die Klassenmischung heißt, dass sie die jetzige Doppelstunde mit Stillarbeit verbringen müssen. Leise seufzt Jez auf, als sein Blick auf die Wanduhr fällt und ihm verrät, dass von den neunzig Minuten gerade einmal fünfzehn vergangen sind. Florian, der neben ihm sitzt und bis gerade den Eindruck gemacht hat, dass er schläft, öffnet die Augen und folgt Jez Blick. Als er die Uhr erblickt, seufzt auch er, lässt den Kopf wieder in die Arme sinken und schließt die Augen. Ein Lächeln huscht über Jez Lippen.
Irgendwie bewundert er die Menschen, die einfach überall schlafen können. Leider gehört er nicht zu ihnen. Gerade, wenn die Lehrer der Klasse Film zeigen, die so sinnlos und langweilig sind, wäre er gerne einer ihnen. Das Lächeln huscht, genauso schnell wie es gekommen ist, wieder aus Jez Gesicht. Jetzt, in diesem Moment, würde er sich nichts sehnlicher wünschen, als einfach schlafen zu können. Einerseits, um den verlorenen Schlaf der letzten Nächte nachzuholen und andererseits, um seinen Gedanken zu entfliehen.
Warum hat Kimmy Betty angelogen? Sie ist heute Morgen gar nicht aufgestanden… Jez unterdrückt sich ein weitern Seufzer und beginnt die Vorderseite seines Blocks zu bemalen. Sie ist nicht aufgestanden, weil sie gar nicht in ihrem Bett geschlafen hat! Jez hebt den Blick von seinem Block. Wie sie wohl reagiert hat, als sie seine Jacke bemerkt hat? Ja, sie hat sie angehabt, als sie durch das Fenster in ihr Zimmer geklettert ist, aber was, wenn sie sie nur übergezogen hat, weil sie sie nicht einfach liegen lassen wollte und sie keine andere Lösung sah, um sie mit in ihr Zimmer zu transportieren? Nachdenklich beginnt Jez wieder, kleine Kreise auf seinen Block zu malen. Stellt Kimmy sich vielleicht krank, weil sie Angst hat, mit ihm zu reden? Sie wird schließlich gerne wissen wollen, warum er ihr gefolgt ist und was er denkt. Davon, dass er von ihrem Bruder weiß, hat sie ja keine Ahnung…
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Mit dem Wärmekissen im Nacken lehnt sich Kimmy gegen ihr Kissen und hält Jez Jacke in den Händen. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit grübelt sie darüber, warum Jez ihr gefolgt ist, was er über sie denkt und ob Betty vielleicht Recht hat, dass er sie, trotz seines Kommentares, als Finn ihm unterstellt hat, sie dazu gebracht zu haben, Schluss zu machen, liebt, aber irgendwie ist sie immer noch auf kein zufriedenstellendes Ergebnis gekommen.
Leise seufzt Kimmy und hebt die Hände mit der Jacke darin. Einen Moment zögert sie, dann schlüpft sie, auch wenn ihr Nacken sich beschwert, in die blaue Jacke mit dem weißen Aufdruck. Mit den Fingern streicht sich langsam über den Stoff, bevor sie trotz der Schmerzen die Schultern hochzieht und das Gesicht in dem weichen Stoff vergräbt. Kimmy schließt die Augen, als sie den angenehmen Geruch der Jacke wahrnimmt. Für einen klitzekleinen Moment will sich die Frage, was sie gerade überhaupt tut, in ihre Gedanken schleichen, aber Kimmy verbannt sie. Sie weiß selbst nicht warum, aber sie will dieses geborgene Gefühl, das sie gerade verspürt, nicht von einer sinnlosen Frage vertreiben lassen.
***
Weil Jez auch mit roher Gewalt die Schulbücher, die er für den nächsten Tag benötigt, nicht alle in seinem Schulrucksack verstaut bekommen hat, sieht er jetzt zwischen dem Englisch- und Erdkundebuch hin und her und überlegt, welches er eher braucht.
Nachdem er den ganzen Nachmittag nichts zu Stande gebracht hat und einfach nur dasaß und nachgedacht hat, musste er zwangsläufig alle Hausaufgaben, die er für den nächsten Tag braucht, noch jetzt, am Abend, machen, obwohl er liebend gerne in seinem Bett liegen und schlafen würde, um einerseits den Schlaf der vergangenen Nächte nachzuholen und andererseits einfach nur, um vor seinen Gedanken zu flüchten. Den Fragen, was Kimmy wohl jetzt denkt. Den Fragen, wie es Jeremy und all seinen Freunden aus Köln geht. Und der Frage, warum Kimmy nicht zur Schule gekommen ist. Seufzend stellt Jez das Erdkundebuch wieder zurück ins Regal und quetscht das Englischbuch zwischen die anderen Bücher in seinen Rucksack. Mit einer Hand stellt Jez den Rucksack auf den Boden und dreht sich dann um, um sein Handy von dem Verstärker seiner Boxen abzustecken und so die Musik zu stoppen. Auf dem Sperrbildschirm werden einige neue WhatsApp-Nachrichten aus der WhatsApp-Gruppe der Handballmannschaft vom SuS angezeigt, eine Nachricht von Manda und zwei WhatsApp-Nachrichten von Emelina. Jez sieht für einen Moment auf das Handy in seiner Hand, dann legt er es, ohne eine der Nachrichten durchgelesen zuhaben, auf den Nachttisch und verschwindet ins Bad.
Keine zehn Minuten später liegt Jez in seinem Bett und kontrolliert nochmal den Wecker an seinem Handy, bevor er es zur Seite legt und sich in seine Decke rollt. Fast augenblicklich schleichen sich die vielen Fragen, die er bis eben noch verdrängen konnte, wieder in sein Gehirn zurück und hindern ihn daran, sich gemütlich in sein Bett zu kuscheln und einfach einzuschlafen. Leise seufzt er und dreht sich auf die Seite, bevor der eine Hand unter den Kopf schiebt und in die Dunkelheit starrt. Soll er Kimmy vielleicht darauf ansprechen? Warum sie nicht zur Schule gekommen ist. Was sie gedacht hat, als sie seine Jacke bemerkt hat. Vielleicht auch, was sie an sich über ihn denkt. Ob sie immer noch denkt, dass er die ausgenutzt hat. Jez schließt die Augen und seufzt ein weites Mal. Eigentlich gibt es da ja eine Frage, deren Antwort ihn mehr interessiert als alle anderen zusammen. Aber egal, wie sehr Jez sich versucht dazu zu ermutigen, allein der Gedanke, Kimmy diese Frage zu stellen, lässt ihn irgendwie wieder das Gefühl haben, ein kleiner Junge zu sein, der vor etwas Angst hat und sich in den Armen seiner Mutter versteckt. Jez öffnet die Augen wieder und setzt sich auf. Auf seinem Nachttisch liegt unter der Lektüre, die seine Klasse gerade in Englisch liest, das Bild, dass er von seiner Oma mitgenommen hat. Mit einer Hand stützt Jez sich ab, als er die Nachttischlampe anknipst und das Bild unter dem Buch hervorzieht. Langsam lässt er sich, noch während er sich auf den Rücken dreht, wieder in sein Kissen sinken. Mit beiden Händen hält er das Bild fest. Schon der Gedanke daran, dass er sich in ein Mädchen verliebt, mit dessen Bruder er früher immer gespielt hat und der seit fast fünf Jahren nicht mehr am Leben ist, ist irgendwie absurd. Aber das Bild, also der Beweis dafür, dass der Gedanke wirklich real ist, ist noch absurder. Leise seufzt Jez. Jetzt, nachdem er eine ganze Weile immer wieder darüber nachgedacht hat, sind ihm wieder viele Erinnerungsstücke bildlich eingefallen, die er im Laufe der Zeit irgendwann einfach vergessen hat. In den Sommerferien, als er zwölf Jahre alt war, wollten Jeremy und er zu ihren Großeltern nach Fautenbach, so, wie sie es in jeden Sommerferien gemacht haben, aber in diesem Jahr haben ihre Eltern sie nicht gehen lasse. Einen Grund haben sie ihm nie genannt. In den darauffolgenden Sommerferien war er auch nicht hier, warum, weiß er nicht mehr. Erst, als er vierzehn Jahre alt war, also drei Jahre nach dem Final Four – zu dem er Lennard eigentlich auch hätte erwarten müssen -, war er in den Sommerferien hier. Und ja, er weiß noch ganz genau, dass er seinen Opa nach Lennard gefragt hat. Was er gesagt hat, weiß er nicht mehr, das Einzige, was er weiß, ist, dass er selbst danach nicht mehr nach ihm gefragt hat. Langsam lässt Jez das Bild auf seine Bettdecke sinken.
Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange er die Zeit ab seinem vierzehnten Lebensjahr empfunden hat. Mit vierzehn hat er sich in Manda verliebt. Jez lehnt sich zur Seite, legt das Bild wieder auf den Nachttisch und knipst das Licht aus. Wüsste er es nicht und ihm würde heute einer sagen, dass er erst vierzehn Jahre alt war, als er seine erste Beziehung begonnen hat und dass diese Beziehung fast zwei Jahre gehalten hat, er würde dieser Person einen Vogel zeigen. Mit vierzehn weiß man nicht, was wahre Liebe ist. Kindergartenbeziehungen. Ja, so würde er selbst heute denken. Aber es war keine Kindergartenbeziehung. Jez dreht sich wieder auf die andere Seite. Ja, es war keine Beziehung, wie er sie jetzt führen würde. Es war eine Beziehung, die Freundschaft und Liebe irgendwie vereint hat. Aber bei der die Liebe trotzdem – genau andersherum wie bei Emelina und ihm – im Vordergrund stand. Entschlossen öffnet Jez die Augen wieder, setzt sich auf, greift nach seinem Handy und tippt auf die Benachrichtigung von Manda. Nicht, weil er hofft, das Gefühl, dass er bei ihr immer verspürt hat, wieder zu finden, denn er weiß, dass das nicht möglich ist. Er liebt sie nicht mehr. Er liebt Kimmy. Aber das Gefühl der Vertrautheit, das hofft er wiederzufinden. Obwohl er es sich selbst nicht eingestehen würde.
Grübelnd liegt Jez unter seiner Bettdecke und starrt durch das Dachfenster über sich. Es ist Samstagmorgen und schon fast um elf, also könnte er theoretisch aufstehen, aber irgendwie halten ihn seine Gedanken in seinem Bett gefesselt. Graue, fette Regenwolken bedecken den Himmel - soweit es Jez aus seinem Dachfenster hinaussehen kann – und lassen dicke Regentropfen fallen, die ungleichmäßig auf das Glas des Fensters trommeln. Ein weiterer Grund nicht aufzustehen.
Leise seufzt Jez auf. Kann es vielleicht sein, dass Kimmy doch wirklich krank ist? Nachdem sie auch gestern nicht in der Schule war… Oder schwänzt sie einfach und hofft, dass die Gerüchte, dass sie mit Finn Schluss gemacht hat, nachdem die beiden das Eine getan haben, nicht wieder neu gereizt werden, wenn sie am Montag wieder in der Schule ist. Jez schiebt die Decke von seinen Armen und schließt für einen Moment die Augen. Die Gerüchte… Ohne zu wissen warum, Jez ist sich sicher, dass es nur Gerüchte sind. Er kann sich nicht vorstellen, dass Kimmy einerseits so verletzt reagiert, als sie dachte, er hätte mit ihr geschlafen und andererseits mit einem Jungen ins Bett geht, dem sie nur etwas vorspielt. Jez seufzt ein weiteres Mal leise auf und dreht sich dann auf die Seite. Vielleicht sollte er einfach zu Kimmy gehen… Ihr sagen, dass er nicht an die Gerüchte glaubt und ihr noch einmal ganz von vorne erklären, was am Big Blöpp passiert ist und dass der Kuss mit Romy keine Bedeutung hat. Vielleicht glaubt sie ihm ja jetzt, wo sie selbst den Schritt zurück gemacht hat. Jez zieht die Decke enger um sich. Vielleicht… Aber was, wenn sie ihm nicht glaubt? Wenn sie vielleicht eingesehen hätte, dass er nicht mit ihr geschlafen hat, bevor sie begonnen hat zu denken, dass da irgendetwas zwischen ihm und Romy laufen würde und jetzt wieder so verletzt ist, dass sie sich einredet, dass er doch mit ihr geschlafen hat? Nachdenklich streicht Jez mit einer Hand über den blauen Bezug seiner Decke, bevor er sie zur Seite schiebt und sich aufsetzt. Hör auf so etwas zu denken!, ermahnt Jez sich im Stillen selbst, bevor er sich aus seinem Bett erhebt und barfuß ins Bad tapst. Du gehst heute zu ihr! Und du redest mit ihr! Diesmal gibt es niemand mehr, der dich irgendwie davon abhalten kann!
***
Erleichtert seufzt Kimmy, als sie die letzte Seite für ihren GFS-Ordner ausdruckt. Den gesamten Morgen konnte sie sich damit ablenken, aber jetzt, wenn sie endlich all die Geschichtsdaten, die sie für das Projekt wissen muss, für einige Tage aus ihrem Gehirn verbannen kann, finden all die Fragen, die sie sich in den letzten beiden Tagen vermehrt begonnen hat zu stellen und die Gerüchte, die an der Schule über sie und Finn herumgehen und von denen Betty ihr berichtet hat, wieder Platz. Von wegen, sie hätte mit Finn geschlafen! Kimmy erhebt sich von ihrem Stuhl und nimmt die ausgedruckten Blätter aus dem Drucker. Einzeln schiebt sie sie in die Klarsichthüllen und heftet sie in den roten Ordner ein. Wie können eigentlich so viele Menschen an dieses Gerücht glauben?! Erstens, mehr als die Hälfte der Schule kennt sie vielleicht gerade mal vom Sehen her und zweitens, nach der Geschichte, dass Jez sie abgefüllt hat, nur, um danach mit ihr zu schlafen und sie ihm dafür einen Korb gegeben hat, müsste man doch eigentlich eins und eins zusammenzählen können, dass sie garantiert nicht dem einen Jungen einen Korb gibt und keine zwei Wochen später mit einem anderen ins Bett geht, nur, um diesem danach genauso wie dem anderen einen Korb zu geben! Enttäuscht über die Dummheit der Anderen, die sie selbst, obwohl sie die letzten beiden Tage zu Hause verbracht hat, teilweise sogar persönlich zu spüren bekommen hat, seufzt Kimmy leise auf, bevor sie beginnt die ganzen Sachen, die auf ihrem Schreibtisch herumliegen, einzusammeln. Nicht nur Neah und Romy haben sie darauf angeschrieben – wozu man sagen muss, dass Romy nicht direkt gefragt hat, ob das Gerücht stimmt, sondern Kimmy erst noch einmal erklärt hat, dass der Kuss, den es zwischen ihr und Jez gegeben hat, keine Bedeutung hat und dass sie mit ihrer Anschuldigung, dass sie teilweise auch zu ihrem eigenen Wohl das Ende von Kimmys und Finns Beziehung wollte, nicht ganz falsch lag – sondern auch zwei Mädchen aus ihren Parallelklassen, die sie eigentlich nur vom Sehen her kennt. Leise stellt Kimmy das Geschichtsbuch wieder zurück in das Regal und schiebt den Laptop zurück auf seinen Platz, bevor ihr Blick die blaue Jacke streift, die auf ihrem Bett liegt.
Kimmy kann sich ein weiteres Seufzen einfach nicht unterdrücken, als sie sich auf die Kante ihres Bettes fallen lässt und nach Jez Jacke greift. Der Stoff fühlt sich rau und gleichzeitig weich zwischen ihren Fingern an. Langsam rutscht Kimmy nach hinten, bis sie sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnen kann. Einen Moment sieht sie noch auf die Jacke in ihren Händen, dann hebt sie sie und vergräbt das Gesicht darin. Ein vertrauter und gleichzeitig fremder Geruch umhüllt sie und bringt Kimmy dazu, die Augen zu schließen. Leise seufzt sie, diesmal aber nicht, weil ihre Gedanken sie belasten, sondern einfach, weil sie sich für einen klitzekleinen Moment geborgen fühlt. Langsam lässt Kimmy die Jacke wieder sinken und öffnet die Augen. Geborgen? Kann es vielleicht sein, dass sie Lennard nur dann für eine Weile vergessen kann, wenn sie sich geborgen fühlt? Abgesehen von den Tagen, an denen sie mehr mit den Problemen namens Jez und Finn beschäftigt war. Nachdenklich streicht Kimmy über den weichen Stoff der Jacke und seufzt leise. Kann es vielleicht sein, dass sie sich geborgen fühlt, wenn sie irgendetwas Positives mit Jez verbinden kann? Kimmy sieht auf die Jacke in ihren Händen. Ja, sie ist irgendetwas Positives. Weil Jez sie nicht ohne Grund über ihre Schultern gelegt hat. Weil er sich Sorgen gemacht haben muss. Langsam lässt Kimmy sich seitlich auf ihr Kissen sinken. Hat sie vielleicht deshalb auch nicht von Lennard träumen müssen, als sie nach dem Big Blöpp neben Jez in seinem Bett geschlafen hat? Oder bildet sie sich das vielleicht nur ein und es lag einzig und allein am Alkohol? Kimmy setzt sich auf, lässt die Jacke neben sich auf das Bett sinken und erhebt sich dann von ihrem Bett. Auch wenn sie jetzt schon mehr als zwei Wochen Zeit hatte darüber nachzudenken, die Idee, dass dieses ‚Nicht-Traum-Dasein‘ an Jez liegen könnte, ist ihr bisher nur einmal gekommen und da war so sie sauer auf ihn, dass sie sie sofort beiseitegeschoben hat. Aber andererseits… auch wenn sie Jez auf irgendeine Art und Weise liebt… gibt es diese übernatürlichen Phänomene überhaupt? Dass man, wenn man dieser Person nahe sein darf, etwas anderes träumt? Mit den Fingern dreht Kimmy nachdenklich eine Locke auf und tigert durch ihr Zimmer. Dicke Regentropfen prassen an ihr Fenster und kullern daran herunter. Kimmy seufzt leise, bevor sie die teppichartige Decke, die auf der breiten Fensterbank liegt, in die Hand nimmt und öffnet. Vorsichtig breitet Kimmy sie auf der Fensterbank aus, die breiter ist als alle anderen im Haus, sodass man darauf sitzen kann, aber nicht so ausgebaut ist, wie die von Romy. Kimmy setzt sich langsam auf die ausgebreitete Decke und wickelt sie um ihre Beine, bevor sie sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnt und leise seufzt. Unruhig lässt Kimmy ihren Blick durch ihr Zimmer huschen, bevor sie zwei Regentropfen an der Fensterscheibe beobachtet, die sich ein Wettrennen leisten, so, wie es wohl jeder einmal als Kind getan hat. Sollte sie es vielleicht einfach ausprobieren? Zu Jez gehen und ihm alles erzählen… Sofort wischt Kimmy den Gedanken beiseite. Was sollte sie zu ihm sagen?! Das sie Albträume hat und sie will, dass er sich neben sie legt, dass sie herausfinden kann, ob er etwas damit zu tun hat, dass sie in dieser einen Nacht nicht von Lennard geträumt hat? Auch wenn Kimmy das nur gedacht hat, irgendwie ist ihr der Gedanke schon peinlich. Und außerdem müsste sie Jez dann sowieso erst alles erzählen. Von Lennard und davon, dass sie sich selbst die Schuld an seinem Tod gibt. Das Wissen, dass Jez ihr auf den Friedhof gefolgt ist und so auch gesehen haben muss, dass sie neben einem Grab saß, auf dessen Grabstein ihr Nachname und ihr Geburtsdatum steht, verdrängt Kimmy für diesen einen Moment. Stattdessen fängt sie an darüber zu grübeln, ob es vielleicht eine gute Idee wäre, die ganze Sache einfach andersherum aufzuziehen. Dass sie nicht mithilfe von Jez testet, ob es nun an ihm oder an dem Alkohol lag, sondern einfach mithilfe von Alkohol.
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Nachdenklich dreht Kimmy den Deckel der Whiskyflasche zwischen Daumen und Zeigefinger. Auch wenn sie sich in den letzten vier Stunden dazu gezwungen hat, über ihr Vorhaben nicht mehr nachzudenken, beschleicht sie jetzt, wo die offene Alkoholflasche vor ihr steht, wieder das Gefühl, sich selbst damit am meisten zu schaden. Alleine der Gedanke daran, dass sie vielleicht, wie am Big Blöpp, ein bisschen zu viel davon trinkt und dass es ihr danach wieder so schlecht geht, lassen immer wieder den Gedanken in ihr aufkommen, den ganzen Dreck einfach zu lassen und doch ihren inneren Schweinehund zu überwinden, um zu Jez rüber zu gehen und ihm einfach alles zu erzählen. Kimmy schließt für einige Sekunden die Augen und zwingt sie dazu, einmal tief ein- und auszuatmen und dann die endgültige Entscheidung zu treffen, welche der beiden Möglichkeiten sie wählt.
Es ist erst kurz nach sieben Uhr Abend, also ist die Gefahr, dass irgendjemand noch klingeln könnte relativ groß, aber weiter nach hinten könnte sie die Sache mit dem Alkohol sowieso nicht verschieben, schließlich kommen ihre Eltern heute Nacht noch von dem Konzert nach Hause, zu dem sie vor ein paar Stunden aufgebrochen sind. Entschlossen lehnt sich Kimmy nach vorne, um sich ein bisschen von dem Whisky in das Glas zu gießen. Sie kann einfach nicht zu Jez gehen! Es geht einfach nicht!
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Nachdenklich und nervös zugleich greift Jez nach seinem Schlüssel und schiebt ihn zusammen mit seinem Handy in die Hosentasche seiner schwarzen Jeans. Zwar hat er die letzte Stunde damit verbracht, sich die Sätze, die er jetzt brauchen wird, irgendwie zurechtzulegen, aber die Angst davor, dass die Bedeutung der Worte für Kimmy vielleicht nicht wichtig sind und sie trotzdem noch sauer auf ihn ist, lastet trotz seines Beschlusses noch immer schwer auf ihm. Jez öffnet schnell, dass er keinen Rückzieher mehr machen kann, die Haustür und verlässt das Haus.
Auch wenn es schon nach acht Uhr abends ist und jetzt vielleicht nicht die perfekte Zeit ist, um Kimmy einfach zu überraschen, hat Jez es, aus welchem Grund auch immer, erst jetzt geschafft, sich wirklich dazu zu zwingen, zu ihr zu gehen. In diesem Moment wünscht er sich einerseits, dass der Weg über die Straße vielleicht ein bisschen länger sein könnte, einfach, dass das, was ihm bevorsteht und was er selbst ausgelöst hat, noch ein paar Minuten auf ihn warten kann, aber andererseits ist er auch heilfroh, dass der Weg nur so kurz ist, so ist die Gefahr, dass die Angst und die Sorgen die Entschlossenheit überwältigen, ein bisschen geringer.
Jez hat das Gefühl, dass man sein Herz noch schlagen spüren könnte, wenn man eine Hand auf seine Brust legt, sosehr pocht es vor Aufregung, als er den Finger auf den Klingelknopf legt und wartet, bis jemand die Tür öffnet. Darüber Gedanken gemacht, was er sagen könnte, wenn Kimmys Eltern die Tür aufmachen, hat Jez sich nicht, aber zu seinem Glück passiert das auch nicht. Kimmy öffnet die Tür und sieht ihn mehr als überrascht an. Sie trägt eine schwarze Sportleggings und ein rotes T-Shirt mit einem goldenen Coca-Cola Aufdruck. Ihre Haare fallen als Wellen über ihre Schultern und umspielen ihr Gesicht wunderbar.
„Ich…“, beginnt Jez und bricht ab. Dass Kimmy ihn so dermaßen aus dem Konzept bringen kann, hat selbst er nicht erwartet. Kimmy hebt fragend eine Augenbraue und sieht ihn aus schimmernden Augen an. „…muss mit dir reden.“ Jez erwidert Kimmys Blick. „Bitte.“ Der Moment, den Kimmy ausdruckslos in der Tür steht und ihn einfach nur ansieht, kommt Jez wie eine Ewigkeit vor und die Angst, sie könnte ihm schon hier einen Korb geben, kriecht langsam wieder durch seinen Körper.
„Okay.“ Kimmy drückt die Haustür weiter auf und lässt Jez herein. Er folgt ihr ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das Sofa fallen lässt, die Beine auf die Sitzfläche zieht und ihn erwartungsvoll ansieht. Jez lässt sich neben ihr langsam auf das Sofa sinken und sieht sie einfach nur an. Kimmy nickt ihm auffordernd zu, dass er endlich anfängt zu reden.
„Ich glaube du weißt, dass das nach dem Big Blöpp anders gelaufen ist, als du am Anfang dachtest.“ Jez sieht Kimmy aus seinen grünen Augen an und wartet auf irgendeine Reaktion bei ihr. Leider vergeblich. Sie sieht ihn einfach nur an und wartet darauf, dass er weiterredet. „Ja, wir haben uns geküsst. Und ja, ich weiß, dass ich derjenige war, der gleich hätte sagen sollen, dass es nicht gut ist, aber…“ Jez bricht ab und starrt für einen Moment auf den grauen Stoff des Sofas, als würde es ihm schwerfallen, weiterzusprechen. „…ich konnte nicht. Irgendwie.“ In seinen grünen Augen ist die Nervosität deutlich zu erkennen. „Als du mir am nächsten Morgen dann die Vorwürfe gemacht hast - am Anfang konnte ich es nicht verstehen, aber jetzt im Nachhinein…“
„Jez?“ Fragend sieht Jez Kimmy in die Augen, als sie ihn so plötzlich unterbricht. Ihre Augen schimmern glasig, als wäre sie krank oder als hätte sie irgendetwas getrunken. „Ich muss dir was sagen.“ Kimmy greift nach Jez Handgelenk, als dieser Luft holt, um ihr zu sagen, dass er ihr zuerst alles zu Ende erklären möchte. „Bitte.“ Ihre braunen Locken liegen auf ihrer Schulter auf, als Kimmy den Kopf ein wenig schief legt und Jez ansieht. „Vielleicht hat es dir Max ja schon erzählt - oder du hast einfach vorgestern Nacht ein bisschen nachgedacht“, Kimmy sieht Jez in die Augen und schweigt, „Frag jetzt bitte nicht, warum ich dir das erzähle. Am Schluss verstehst du dann vielleicht, warum.“ Ihre Haare liegen noch immer auf ihrer Schulter auf und wecken in Jez das Bedürfnis, seine Hand, um dessen Handgelenk noch immer Kimmys Finger liegen, zu heben und sie ihr von der Schulter zu streichen. „Ich habe einen Zwillingsbruder.“ Kimmy senkt den Blick und löst ihre Finger von Jez Arm. „Ober bessergesagt, hatte. Er ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall gestorben.“ Kimmy schließt die Augen und atmet einmal tief ein, bevor sie die Augen schnell wieder öffnet, als hätte sie die Erinnerung daran bildlich vor ihrem inneren Augenlid gesehen. „Ich weiß, dass klingt jetzt, wie aus den klischeehaftesten Liebesromanen, deren Hauptperson ein verstörtes Mädchen ist, das am Tod eines anderen Schuld ist, aber…“ Kimmy hebt den Blick und sieht Jez in die grünen Augen. Auch in dem nicht allzu gut beleuchteten Raum kann Jez erkennen, dass Kimmys Augen schimmern. Jetzt kann er sich gut vorstellen, dass es Tränen sind. Alleine die Vorstellung sich in ihrer Position zu befinden, könnte Jez die Tränen in die Augen treiben. „…es ist leider so.“ Mit zwei Fingern streicht sich Kimmy über den Handrücken der anderen Hand. „Ich war dabei und seitdem muss ich einfach immer wieder an ihn denken. Daran, dass er wegen mir sterben musste. Weil ich unbedingt wollte, dass er mit mir kommt.“ Leise seufzt Kimmy. „Ich träume seitdem jede Nacht davon. Jede Nacht sehe ich aufs Neue, wie er stirbt.“ Sie senkt die Augenlider für einen Moment, bevor sie entschlossen den Blick hebt und Jez lange ansieht. „Nur einmal habe ich nicht von ihm geträumt…“ Jez hat für einen Moment das Gefühl, dass Kimmy sich selbst ermahnen muss, jetzt weiterzusprechen und nicht einfach den Mund zu halten. „Nach dem Big Blöpp. Ich weiß nicht, ob es am Alkohol lag oder an dir.“ Für einen Moment sieht Jez Kimmy überrascht an. Dann hebt er die Hand, und streicht ihr die Haare von der Schulter.
„Kimmy…“ Weiter kommt er nicht. Kimmy greift nach seiner linken Hand, die er gerade wieder zurückziehen will und schüttelt ganz sachte mit dem Kopf.
„Ich hatte Angst davor, es dir zu sagen. Angst davor, dass du mich für gestört erklärst oder so - was ich ja irgendwie auch bin - aber…“ Kimmy hebt den Blick und sieht Jez aus ihren braunen Augen heraus an. „…ich wollte wissen ob es an dir liegt, oder an dem Alkohol. Deshalb habe ich es ausprobiert.“ Fragend runzelt Jez die Stirn. Er versteht nicht, was Kimmy ihm sagen will. „Aber weil ich eben zu viel Angst hatte, es mit dir auszuprobieren, habe ich es mit dem Alkohol probiert.“ Sie senkt fast ein bisschen beschämt den Blick. Auch wenn immer noch nicht alle Bilder von der Nacht des Big Blöpp zurück in ihr Gehirn gekommen sind, sie kann sich wieder deutlich daran erinnern, wie er zu ihr gesagt hat, dass er von ihr nicht erwartet hat, dass sie so viel trinkt. Erst, als Kimmy spürt, wie Jez näher an sie heranrückt und sie in den Arm nimmt, hebt sie den Blick ein wenig und kuschelt sich dann in seine warmen Arme.
„Wann?“, fragt er leise und streicht mit den Fingern sanft über ihren Hinterkopf. Kimmy drückt das Gesicht gegen Jez rechte Schulter und atmet denselben Geruch ein, wie sie auch aus seiner Jacke kennt.
„Heute…“, murmelt sie leise und hat schon das Gefühl, dass Jez sich von sich drückt, was aber nicht passiert. Stattdessen hält er sie noch fester in den Armen. Eine ganze Weile schweigt er, bevor ganz langsam seine Arme um sie lockert und sich aus der Umarmung löst.
„Und du bist sicher, dass du nicht wieder betrunken bist?“ Auf Jez Lippen liegt ein sanftes und zugleich besorgtes Lächeln. Kimmy zuckt kaum sichtbar die Schultern.
„Vielleicht.“ Ein Lächeln huscht über ihre Lippen, verschwindet aber genauso schnell auch wieder. Fragend sieht Jez sie an. „Wenn einem nur schlecht ist, wenn man betrunken ist, dann bin ich es.“ Immer noch lächelnd hebt Jez eine Hand und streicht Kimmy noch einmal durchs Haar. Auch wenn er ihr nicht mal bis zur Hälfte seiner Erklärung gekommen ist, er hat das Gefühl, Kimmy hätte ihm nicht von ihrem Bruder erzählt, wenn sie ihm nicht schon verziehen hätte.
„Willst du dich ein bisschen hinlegen?“ Kimmy sieht Jez einen Moment an, dann nickt sie und lässt sich von ihm sanft vom Sofa ziehen. Auch wenn sie vor nicht einmal zehn Minuten noch alleine ohne Probleme gerade laufen konnte, jetzt fühlen sich ihre Beine irgendwie wackelig an, sodass sie sich lieber an Jez festhält. Sie spürt schon nach den paar Sekunden das Schwindelgefühl aufkommen.
Auf der Treppe legt Kimmy eine Hand auf den Bauch und verzieht das Gesicht.
„Verdammt…“, murmelt sie leise, bevor sie sich eilig aus Jez Armen windet, die letzten Stufen der Treppe hinauf stolpert und ins Bad läuft. Wie angewurzelt bleibt Jez stehen und folgt Kimmy dann keine zwei Sekunden später ins Bad.
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Fünf Minuten später lehnt Kimmy neben dem Klo an der kühlen Badezimmerwand und schließt die Augen. Nachdem der Brechreiz endlich nachgelassen hat und sie gefühlt das Doppelte der Menge Mageninhalt, den sie eigentlich besessen hat, wieder losgeworden ist, zittert sie am ganzen Körper. Jez hockt neben ihr und sieht sie besorgt an.
„Warum sind eigentlich immer die Jungs die, die den Mädchen beim Kotzen zugucken müssen?“ Kimmy sieht Jez mitleidig an. Ein erleichtertes Lächeln huscht über seine Lippen, als Kimmy ihm diese eher rhetorisch gemeinte Frage stellt, bevor er mit den Schultern zuckt und Kimmy die Hände entgegenstreckt, um ihr aufzuhelfen. Noch während Jez sie hochzieht, versucht sie sich irgendwie selbstständig an ihm festzuhalten, was aber gar nicht nötig ist. Erst, als Kimmy mit einer Hand nach dem Waschbeckenrand greifen kann, lässt Jez sie los. Er sieht ihr dabei zu, wie sie den Wasserhahn aufdreht, das Wasser in ihre Hände laufen lässt und erst einmal den Mund ausspült, bevor sie sich einmal das Gesicht – und das komplette T-Shirt dazu – wäscht. Als Kimmy an sich heruntersieht, kann sich Jez ein leises Lachen nicht verkneifen. Kimmy sieht ihn böse an und wischt sich das Gesicht an einem Handtuch ab, bevor sie sich wieder an Jez festhält. Dieser legt seine Arme um sie und bringt sie dann in ihr Zimmer.
Erleichtert, sich wieder hinsetzen zu können, lässt Kimmy sich von Jez auf ihr Bett setzten. Sie lässt sich in ihr Kissen sinken und schließt die Augen. Erst, als sie merkt, wie Jez sich neben ihr auf die Bettkante setzt, öffnet sie die Augen wieder. Ein sanftes Lächeln liegt auf seinen Lippen und überträgt sich sofort auf Kimmys Lippen.
„Willst du dir nicht etwas anderes anziehen?“ Mit dem Kopf deutet Jez auf ihr nasses T-Shirt, das an ihrem Oberkörper klebt. Kimmy sieht an sich herunter, bevor sie den Blick wieder zu Jez wendet und ganz leicht nickt.
„Wenn du mir hilfst?“ Sie setzt sich auf und hebt beide Arme. „Ich verspreche dir auch, dass ich dich nicht wieder küssen werde“, fügt sie schnell hinzu, als sie Jez hin und her gerissenen Blick bemerkt.
„Versprochen?“ Ein Lächeln huscht über Kimmys Lippen, als Jez sie das fragt. Auch wenn sich der Alkohol ziemlich auf ihren Gleichgewichtssinn und leider auch auf ihren Magen ausgebreitet hat, sie kann noch klar denken. Klar genug, um sich innerlich darüber freuen zu können, dass Jez diese Reaktion gezeigt hat. Dass es ihm wirklich wichtig ist, dass alles, was sie bisher zum Streiten gebracht hat, aus dem Weg geschafft ist und dass er auch keinen neuen Stein mehr in den Weg legen will.
„Versprochen!“ Kimmy hebt die Arme wieder und lässt sich von Jez das T-Shirt über den Kopf ziehen. Seine Finger streifen ihre nackte Haut am Rücken und hinterlassen warme, kribbelnde Spuren. So angenehm warme, kribbelnde Spuren, dass Kimmy Jez am liebsten an sich heranziehen würde, sodass er ihre Haut noch einmal berührt und sie dieses wunderbare Kribbeln noch intensiver spüren kann. Aber sie tut es nicht. Alleine schon aus dem Grund, weil sie dann das Versprechen, ihn nicht zu küssen, irgendwie doch brechen würde.
Im Licht der Nachttischlampe, die die einzige Lichtquelle ist, welche Kimmys Zimmer ein bisschen erhellt, funkeln Jez grüne Augen, als er Kimmy in die Augen sieht und sich von der Bettkante von ihrem Bett erhebt. Ein Lächeln huscht über Kimmys Lippen, als Jez ihr T-Shirt über die Lehne des Schreibtischstuhls hängt. Auch wenn sie glaubt, dass es keine Absicht von Jez ist, dass er es so deutlich zeigt, aber er versucht sie nicht anzusehen. Bestimmt aus dem Grund, weil sie nur noch ihren BH obenherum trägt. Ohne Kimmy anzusehen, öffnet Jez eine der Türen von Kimmys Kleiderschrank und lässt seinen Blick über die vielen Stapel von Oberteilen wandern. „Ganz unten.“ Als Jez Kimmy neben der Tür vorbei einen undefinierbaren Blick zuwirft, kann sie sich nur schwer ein Grinsen verkneifen. Sie beobachtet Jez dabei, wie er in die Hocke geht und sich gerade mit der Entscheidung, welchen der beiden Stapel im untersten Fach Kimmy gemeint hat, beschäftigt.
„Irgendwelche Wünsche?“, fragt er und versucht sich ein Grinsen zu unterdrücken, als er zu Kimmy herübersieht. Diese überlegt einen Augenblick, bevor sie ihm antwortet.
„Nicht das obere.“ Leise lacht Jez auf, bevor er das zweite T-Shirt vom rechten der beiden Stapel nimmt, die Türe des Schranks zumacht und sich dann wieder neben Kimmy auf die Bettkante setzt.
„Warum nicht das obere?“ Kimmy setzt sich wieder aufrecht hin, hebt die Arme und lässt sich das T-Shirt von ihm über den Kopf ziehen.
„Weil es doch heißt, Jungs sind immer nur so schnell bei der Entscheidung, was sie anziehen, weil sie von jedem Stapel das Obere nehmen.“ Jez lächelt, als er Kimmys Haare vorsichtig aus dem T-Shirt zieht und sie vielleicht einen Moment länger als nötig durch seine Finger gleiten lässt.
„Das denkst aber auch nur du.“ Das sanfte Lächeln, das sein Gesicht in letzter Zeit nicht allzu oft geziert hat, liegt auf seinen Lippen.
„Und dreieinhalb Milliarden andere Frauen auf dieser Welt.“ Kimmy lacht leise, als Jez das Gesicht verzieht, weil er kein Gegenargument mehr parat hat. Langsam lässt Kimmy sich zurück in ihr Kissen sinken, wendet den Blick aber nicht von Jez ab. „Legst du dich zu mir?“ Noch bevor er überhaupt die Möglichkeit hat, irgendetwas darauf zu erwidern oder zu tun, fügt Kimmy noch: „Das Versprechen gilt auch für jetzt noch.“ hinzu. Einen Moment hat Kimmy das Gefühl, Jez würde trotzdem zögern, doch dann erhebt er sich von der Bettkante, zieht sein Handy und seinen Schlüssel aus der Hosentasche, legt beides auf Kimmys Nachttisch und schlüpft aus seinen Turnschuhen, bevor er sich ans Fußende von Kimmys Bett lehnt und sie mit ihrer Bettdecke zudeckt. Die Enttäuschung, dass Jez sich nicht zu ihr legen will, weil er ihr nicht vertraut, überkommt Kimmy schon fast, als er ihr die Decke sanft über den Körper legt. Erst, als er sich neben sie auf die Bettkante setzt, die Beine dicht neben sie legt und darauf wartet, dass sie ein Stückchen zur Seite rutscht, merkt sie, dass die Enttäuschung sie viel zu schnell überkommen wollte. Sie setzt sich auf, sodass Jez sich mit dem Rücken gegen ihr Kissen lehnen kann, bevor er den rechten Arm hebt, dass sie sich an ihn kuscheln kann. Kimmy schließt die Augen, als sie seine Körperwärme durch ihr T-Shirt und Jez dünnes Langarmshirt hindurch spürt. Sie kann einfach nicht anders, sie muss ihr Gesicht in dem weichen Stoff des dunklen Shirts vergraben und seinen Geruch tief einatmen. Erst, als sie Jez Hand in ihrem Haar spürt, löst sie das Gesicht aus seinem Shirt und legt sie Wange auf seine Brust. Sie schließt die Augen, als sie den gleichmäßigen Rhythmus seines schlagenden Herzes am linken Ohr wahrnimmt. Die Tatsache, dass es maximal einundzwanzig Uhr sein kann, ignoriert sie.
Als Jez aufwacht, braucht er erst einmal einen Moment, um zu realisieren, dass das dunkle Zimmer, in dem er sich befindet, wirklich Kimmys Zimmer ist und dass sie der Grund ist, warum sein Arm eingeschlafen ist und wie verrückt kribbelt. Vorsichtig, um Kimmy nicht zu wecken, setzt Jez sich auf und bettet ihren Kopf sanft auf ihrem Kissen. Ihre braunen Haare fallen Kimmy ins Gesicht. Sachte streicht Jez sie ihr zur Seite und mustert sie dabei. Ihre Wimpern sind auch ungeschminkt lang und geschwungen und bilden zu ihrer hellen Haut einen angenehmen Kontrast. Genau wie ihre schmalen, definierten Augenbrauen. Langsam erhebt Jez sich von Kimmys Bett, schüttelt den eingeschlafenen Arm und geht quer durch das Zimmer zu Kimmys Fenster.
Bevor er eingeschlafen ist, hat er noch lange darüber nachgedacht, ob das, was er getan hat, richtig war. Einerseits hat er Angst davor, dass Kimmy morgen vielleicht nichts mehr weiß und wieder beginnt, sich irgendetwas einzureden, was ihn im falschen Licht dastehen lässt, aber andererseits, wenn sie morgen früh aufwacht, weiß was passiert ist und er vielleicht gegangen wäre, was hätte sie dann denken sollen? Das Licht der Straßenlaterne fällt in Kimmys Zimmer und blendet Jez ein wenig. Er wendet das Gesicht ab, bevor er weiter ans Fenster tritt und auf die Straße hinaussieht. Bis auf eine Katze, die über den Asphalt stolziert, schläft die gesamte Nachbarschaft. Leise seufzt Jez, bevor er sich umdreht und gegen die Fensterbank lehnt. Sein Blick fällt auf Kimmy. Sie hat sich auf den Bauch gerollt und die Decke, mit der er sie vor einigen Stunden zugedeckt hat, von den Beinen gestrampelt. Ein Lächeln huscht über Jez Lippen. Irgendwie bringt Kimmys Anblick ihn immer wieder zum Lächeln. Gerade jetzt sieht sie so entspannt und zufrieden aus, wie ein kleines Hundebaby, das gerade gefüttert und am Bauch gekrault wurde. Mit beiden Händen drückt Jez sich von der Fensterbank ab und geht wieder quer durchs Zimmer auf Kimmy zu. Ganz vorsichtig, um Kimmy nicht zu wecken, zieht er die Bettdecke unter ihrem Körper heraus und deckt sie wieder sanft damit zu. Leise setzt Jez sich neben Kimmy auf die Bettkante. Dem Drang, sich wieder neben sie zu legen, wiedersteht er aus dem einfachen Grund, weil er sie nicht wecken will. Stattdessen streicht er mit zwei Fingern ganz sanft über die Innenseite ihres rechten Unterarms. Als würde die Berührung sie auch im Schlaf kitzeln, zieht Kimmy den Arm ein wenig näher an den Körper, bevor sie ihn langsam wieder aussteckt und mit der Hand nach Jez Zeigefinger greift. Jez beginnt zu lächeln. Er weiß nicht, ob er Kimmy gerade geweckt hat und ob sie einfach nur die Augen noch nicht geöffnet hat oder ob sie tatsächlich noch schläft. Sanft schließt er seine Hand um Kimmys und legt den Kopf ein wenig schief. Die Angst, dass auf immer etwas zwischen den beiden stehen wird, ist in den vergangenen Stunden fast vollkommen abgeebbt. Vorsichtig entzieht Jez seine Hand Kimmy und streicht ihr noch einmal sanft über den Arm, bevor er seine Hand wieder an sich zieht und Kimmy einfach nur beobachtet.
Lange sitzt Jez einfach regungslos auf der Bettkante neben Kimmy und beobachtet diese beim Schlafen. Erst, als es in Kimmys Zimmer plötzlich ein bisschen heller wird, setzt sich Jez wieder aufrecht hin und sieht sich verwirrt um. Sein Blick wandert durch das Zimmer, bis er an dem schmalen Spalt der angelehnten Tür hängen bleibt. Blendendes Licht fällt durch den Spalt und erhellt den Raum. Irritiert runzelt Jez die Stirn, erhebt sich von der Bettkante und geht langsam auf die Tür zu. An der Tür bleibt er stehen, hält die Luft an und lauscht angestrengt. Und auch, wenn er sich nicht halb so sehr anstrengen würde, er würde die leisen Stimmen trotzdem hören. Einen Moment überlegt Jez, bis ihm einfällt, dass das nur Kimmy Eltern sein können. So leise es geht, drückt er Kimmys Zimmertür zu und dreht sich um. Jetzt erhellt nur noch das Licht, dass durch das Zimmerfenster fällt und von der Straßenlaterne ausgeht, Kimmys Reich. Was soll er jetzt machen? Sich neben Kimmy legen und so tun als ob er schläft? Aber was, wenn sie morgen früh aufwacht, von den vergangenen Stunden nichts mehr weiß und er sich dann irgendwie vor ihr und auch noch vor ihren Eltern rechtfertigen muss? Angespannt lässt Jez seinen Blick durch das dunkle Zimmer wandern. Oder soll er versuchen abzuhauen? Einen Moment zögert er, dann schlüpft Jez leise in seine Turnschuhe, die er glücklicherweise erst hier ausgezogen hat und greift nach seinem Schlüssel, der auf Kimmys Nachttisch liegt. Als der Haustürschlüssel und entweder sein Motorradschlüssel oder der Schließfachschlüssel leise klimpernd aneinanderschlagen, beginnt Kimmy sich in ihrem Bett zu bewegen, als hätte dieses kleine Geräusch sie geweckt. Langsam lehnt Jez sich zu Kimmy und zieht ihr mit beiden Händen die Decke über die Schulter.
„Schlaf weiter, Kimmy“, flüstert er leise und ist fast erstaunt, als diese mit einer Hand an der Decke zieht und sich dann darin einkuschelt. Schnell und leise zugleich richtet Jez sich wieder auf, dreht sich um und huscht zu Kimmys Zimmerfenster. Leise öffnet Jez das Fenster. Die Idee, einfach, wie er bei Kimmy schon zweimal beobachtet hat, aus dem Fenster zu klettern, ist vielleicht gar nicht so komisch. Viel komischer ist, dass er vor dem Mädchen, das er liebt, wegläuft. Leise dreht Jez sich auf der Stelle wieder um und sieht zu Kimmy, die sich keinen Millimeter gerührt hat, eingekuschelt in ihrem Bett liegt und total friedlich aussieht. Den Drang, sich der Angst zu stellen und sich einfach wieder neben Kimmy zu legen, um ihre Nähe zu spüren, um ihre Körperwärme zu spüren und um ihren Geruch wahrnehmen zu dürfen, wächst immer weiter an und wird erst durch das Geräusch von Schritten auf einer Holztreppe gebändigt. Was machst du, Jez?! Hau endlich ab! Geh morgen noch einmal zu Kimmy und rede mit ihr! Besser, als dich jetzt von ihren Eltern erwischen zu lassen! Und das macht Jez auch. Er dreht sich um, klettert auf die Fensterbank und von dieser aus auf das Vordach. Auch wenn er es nur aus zwanzig Metern Entfernung gesehen hat und eigentlich noch viel zu verschlafen war, irgendwie sah das bei Kimmy viel eleganter und einfacher aus. Langsam lässt Jez sich bis ans untere Ende des Daches rutschen, bevor er sich umdreht, mit beiden Händen an der Dachrinne festhält und mit beiden Füßen abdrückt. Noch während Jez die Hände von der Dachrinne löst, spürt er den stechenden Schmerz im linken Schlüsselbein, den er auch verspürt hat, als er es sich gebrochen hat. Er verzieht für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht, dann berühren seine Füße schon den Kiesboden und lassen die kleinen Steinchen zur Seite wegspritzen. Leise erhebt sich Jez aus der Hocke, hält sich mit der rechten Hand das linke Schlüsselbein und hält für einen Moment inne, bevor er quer über die Straße nach Hause läuft.
***
Als Kimmy aufwacht, scheint die Sonne hell und fröhlich durch ihr Zimmerfenster herein und blendet sie. Leise stöhnend dreht Kimmy sich auf den Bauch, vergräbt das Gesicht in ihrem Kissen und zieht sich die Decke über die Schultern. Ihr Hals ist staubtrocken und ihn ihrem Kopf hämmert ein unangenehmer Schmerz. Einen Moment verweilt Kimmy in dieser Position, dann dreht sie sich auf die Seite, nur um sich keine Sekunde später aufzusetzen. Bei dem Gedanken, was am vergangenen Abend vorgefallen ist, ist sie plötzlich hellwach. Kimmy lässt ihren Blick durch ihr Zimmer wandern, bevor sie sich ein wenig enttäuscht zurück in ihr Kissen sinken lässt. Er ist weg! Einfach abgehauen! Mit beiden Händen fährt sie sich durch das Gesicht. Die Enttäuschung darüber, dass Jez einfach, während sie geschlafen hat, gegangen ist, kriecht wie ein seelischer Schmerz durch ihren Körper und umschlingt ihr Herz mit seinen vielen, eiskalten Tentakeln. Aber warum? Warum kommt er erst zu ihr, um sich bei ihr zu entschuldigen, lässt sich von ihr erzählen, dass sie ihn braucht, sieht ihr dabei zu, wie der ganze Alkohol, den sie gestern getrunken hat, auf die nicht so tolle Art und Weise wieder rauskommt, bringt sie ins Bett, legt sich neben sie und haut dann einfach ab? Warum hat er sie nicht einfach geweckt, als er gegangen ist? Leise seufzend dreht Kimmy sich auf die Seite und starrt enttäuscht auf den Teppich vor ihrem Bett. Hat sie sich schon wieder in Jez getäuscht? Augenblicklich schiebt Kimmy den Gedanken beiseite. Nein! Nein, ihre Angst soll nicht schon wieder der Grund sein, warum sie Jez nicht nahe sein kann! Sie muss sie endlich hinter sich lassen! Langsam setzt Kimmy sich auf. Darüber, dass sie nur aus Angst Jez immer wieder mehr oder weniger zurückweist, hat sie sich noch nie wirklich Gedanken gemacht. Aber jetzt… Ja, sie hat Angst. Angst davor, ihn zu verlieren. Genauso, wie sie Lennard verloren hat. Vorsichtig setzt Kimmy sich auf, bevor sie aufsteht und langsam quer durch ihr Zimmer zu ihrem Fenster läuft. Die Decke, die sie gestern Nachmittag unordentlich auf der Fensterbank zurückgelassen hat, liegt vor dem Fenster als Knäul auf dem Boden. Kimmy bückt sich danach, schüttelt sie auf, greift nach Jez blauer Jacke, die auf der Fensterbank liegt und breitet die Decke darauf aus. Langsam setzt Kimmy sich auf die Fensterbank, legt die Beine hoch und schlüpft mit den nackten Armen in die Jacke. Sie vergräbt die Nase in dem weichen Stoff und hofft darauf, den angenehmen und zugleich beruhigenden Geruch von Jez wahrnehmen zu können. Langsam hebt sie den Kopf wieder und öffnet die Augen. Ja, die Jacke riecht noch nach Jez, aber nicht so intensiv, wie sie es gestern wahrnehmen durfte. Leise seufzt Kimmy, bevor sie sich tief in die Jacke einkuschelt und ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen lässt. Auch wenn sie gestern genug Alkohol im Blut hatte, sie weiß noch ganz genau, was alles passiert ist. Wie die Enttäuschung sie überkommen wollte, als Jez sein Handy und seinen Schlüssel auf ihren Nachttisch gelegt hat, bevor er sie zugedeckt hat. Weil sie dachte, er legt sich nicht zu ihr. Kimmys Blick fällt auf ihren Nachttisch, auf den Jez gestern seine Sachen gelegt hat. Einen Moment denkt sie, sie würde sich täuschen, doch sie kann den kleinen Gegenstand neben ihrem Handy deutlich erkennen. Zögerlich erhebt Kimmy sich und geht neugierig auf ihren Nachttisch zu. Als sie erkennt, dass das, was auf ihrem Nachttisch liegt, nichts Geringeres als Jez schwarzes iPhone ist, runzelt sie überrascht die Stirn. Kimmy greift danach und dreht es einen Moment in ihrer Hand, bevor sie wieder zum Fenster zurückgeht und sich auf die Decke fallen lässt. Sie drückt auf den Sperrknopf des Handys und streicht mit dem Daumen über das matte Display. Klar, Jez hat sein Handy mit Pin gesperrt. Nachdenklich lässt Kimmy die Hand mit dem Handy darin sinken und legt grübelnd den Kopf in den Nacken. Wie schafft sie es, Jez Pin herauszufinden? Kimmy hebt die Hand mit dem Handy wieder und dreht es so lange, bis die Sonne auf das Display scheint. Sie hofft darauf, irgendwelche Fingerabdrücke zu finden. Leider vergeblich. Noch einmal drückt Kimmy auf den Sperrknopf, wischt aber diesmal nicht direkt über das Display, sondern lässt ihren Blick einen Moment über die Benachrichtigungen wandern, die es auf dem Sperrbildschirm anzeigt. Natürlich ist ihr klar, dass es Jez bestimmt nicht unbedingt gefallen würde, wenn er mitbekommt, dass sie seine Nachrichten liest, aber er muss es ja nicht mitbekommen. Nachdenklich legt Kimmy den Kopf wieder in den Nacken. Haben Jungs nicht immer total einfache Passwörter oder Pins? Das eigene Geburtsdatum oder so? Auch wenn es absurd klingen mag, Kimmy weiß Jez Geburtsdatum von dem Tag an, an den er ihr auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt hat, in und auswendig. Mit flinken Fingern gibt sie die Zahlen 0602 ein und hofft darauf, dass das Handy sich entsperrt. Was leider nicht der Fall ist. Leise seufzt Kimmy, bevor sie die Standardpins ausprobiert. 1234. 9876. 2480. Fast ein bisschen überrascht hebt Kimmy die Augenbrauen, als sich das Handy bei dem Pin 2480 entsperrt, bevor sie sich ein Grinsen nicht unterdrücken kann. Egal, wie selten sie Zeit mit Jez verbracht hat, schon an dem ersten Tag, an dem sie mit ihm zusammen das zwangsläufige Musikprojekt machen musste, hat sie gemerkt, dass er sich Zahlenfolgen keine zwei Sekunden merken kann. Deshalb bestimmt auch dieser einfache Pin. Einen Moment zögert Kimmy, bevor sie mit dem Daumen langsam auf das WhatsApp-Icon tippt und ihren Blick über die Namen der Chatpartner wandern lässt. Ohne groß darüber nachzudenken, tippt Kimmy auf den ersten der drei grünen Namen.
Niklas: Und?
Niklas: Was hat sie gesagt?
Fragend runzelt sie die Stirn, als sie die beiden letzten Nachrichten von diesem Niklas liest. Sie? Einen Moment zögert Kimmy wieder, dann scrollt sie langsam den Chat hoch. Ist mit ‚sie‘ vielleicht sie selbst gemeint? Oder wer soll sonst was gesagt haben? Die Uhrzeit, die klein neben den Nachrichten steht, verrät ihr, dass Jez noch kurz bevor er zu ihr gekommen ist mit diesem Niklas geschrieben haben muss. Kimmys Blick bleibt an einer ewig langen Nachricht hängen, die Jez empfangen hat. Anstatt sich den ganzen Taxt durchzulesen, wendet Kimmy sich lieber direkt Jez Antwort zu.
Jez: Jetzt ehrlich. Sie merkt doch gleich, dass ich das nicht geschrieben habe… Außerdem glaube ich, dass es sowieso besser ist, wenn ich persönlich mit ihr rede.
Mein Jez mit ‚sie‘ vielleicht wirklich sie? Langsam lässt Kimmy die Hand mit dem Handy darin sinken und hebt sie augenblicklich wieder, um die nächsten Nachrichten durchzulesen.
Jez: Und außerdem… wetten das hast du sowieso nicht geschrieben? :D
Jetzt ist Kimmy doch neugierig, was dieser Niklas angeblich nicht geschrieben haben soll, deshalb scrollt sie langsam bis an den Anfang der Nachricht und beginnt zu lesen. Schon nach den ersten zehn Wörtern huscht ein Lächeln über Kimmys Lippen. Klar hat Jez recht, dass eine persönliche Entschuldigung um einiges besser ist als eine WhatsApp-Nachricht, aber so, bis jetzt müsste sie zugeben, dass die Nachricht wirklich süß ist, wenn man nicht weiß, dass Jez sie nicht selbst geschrieben hat. Kimmy lässt ihren Blick über die nächsten Sätze wandern. Der Anfang klingt so, als hätte Jez, oder zumindest ein Junge die Zeilen geschrieben, aber die nächsten Sätze wirken, allein von der Wortwahl, eher so, als hätte sie ein Mädchen verfasst.
Nachdem sie die letzten Worte der ellenlangen Nachricht gelesen hat, legt Kimmy den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Erst jetzt wird ihr wirklich bewusst, wie sehr sie Jez verletzt und gekränkt haben muss, als sie ihm vorgeworfen hat, mit ihr geschlafen zu haben. Wenn sie Jez egal wäre, dann hätte er nicht mit diesem Niklas über sie geschrieben. Oder jedenfalls nicht so, dass Jez ihm sagt, dass es sie liebt und dass er nicht weiß, wie er sich bei ihr entschuldigen soll. Schnell öffnet Kimmy die Augen wieder. Das Jez wegen ihr leiden musste, lässt in ihr wieder die Enttäuschung aufkeimen. Die Enttäuschung über sie selbst. Schnell schiebt Kimmy den Gedanken, wie sehr sie Jez verletzt hat, zur Seite und sieht wieder auf das Handy. Mit dem Finger bewegt sie die Nachrichten langsam nach oben, sodass sie die nächsten Nachrichten lesen kann.
Jez: Und außerdem… wetten das hast du sowieso nicht geschrieben? :D
Ein Lächeln huscht über Kimmys Lippen, bevor sie weiterliest.
Niklas: Naja… hatte vielleicht bisschen Hilfe… :3
Jez: Von?
Niklas: Tja…
Noch bevor Kimmy die Antwort von Jez liest, verdreht sie die Augen. Wie kann man in so einem Moment noch solche Witze machen?
Jez: …Egal. Ich geh jetzt zu ihr.
Kimmy ist fast ein bisschen enttäuscht, dass dieser Niklas nicht geschrieben hat, wer die Nachricht verfasst hat, bis sie feststellt, dass sie sich getäuscht hat.
Niklas: Viel Glück! Und… es war Solene, die „mir geholfen“ hat…
Kimmy hebt die Augenbrauen, verlässt den Chat und scrollt langsam durch Jez WhatsApp Kontakte, doch die letzten drei Mädchen, mit denen Jez in den letzten Tagen Kontakt hat, haben die Namen Emelina, Manda und Romy. Eine Solene findet sie nicht. Seufzend legt Kimmy Jez Handy neben sich auf die Fensterbank und steht auf, um ihr eigenes Handy zu holen, während sie versucht sich selbst klarzumachen, dass der Chat zwischen Romy und Jez laut Romy ein rein freundschaftlicher Chat ist. Mit flinken Fingern entsperrt Kimmy ihr eigenes Handy, öffnet Facebook, geht auf Jez Profil und gibt unter Jez Freunden den Namen ‚Solene‘ ein. Zu ihrem Glück ist Jez nur mit einer Solene befreundet. Warum genau sie überhaupt guckt, wie diese Solene wohl aussieht, weiß Kimmy selbst nicht, macht es aber trotzdem. Mit dem Finger tippt sie auf das Profilbild des Mädchens, das sie in einer dunkelroten Uniform eines Orchesters zeigt. In ihrer Hand glänzt eine silberne Querflöte, ihre blonden Haare liegen glatt über ihre Schultern, nur die Haare vorne hat sie auf beiden Seiten zurückgesteckt, sodass ihr schmales Gesicht noch mehr betont wird. Kimmy legt den Kopf ein wenig schief, bevor sie ihr Handy sinken lässt und wieder nach Jez Handy greift. Mit schnellen Fingern gibt sie den Pin ein und liest noch einmal die letzte Nachricht von Niklas durch, bevor sie weiterliest.
Jez: Du hast es ihr gesagt?
Kimmy runzelt irritiert die Stirn. Warum will Jez nicht, dass seine Freunde in Köln von ihr wissen? Für einen Moment hat Kimmy das Bedürfnis, Jez Handy einfach wegzulegen, seine Jacke auszuziehen, sich in die Decke zu kuscheln und einfach nur die Enttäuschung darüber, dass sie Jez irgendwie peinlich sein muss, herauszulassen. Aber sie widersteht dem Bedürfnis. Einfach aufgrund des Gefühls, das ihr sagt, dass sie sich schon wieder ein Urteil über ihn bilden würde und ihn so vielleicht wieder ins falsche Licht rücken würde.
Niklas: Jaaa…?
Kimmy lässt ihren Blick weiter über die Nachrichten wandern. Und fast augenblicklich schwingt das Gefühl der Enttäuschung in das Gefühl des Verständnisses um.
Jez: Ich will nur nicht, dass es morgen die ganze Schule weiß… dass es gerade nicht so gut läuft…
Ja, Kimmy weiß selbst, wie es ist, wenn Gerüchte über einen an der Schule herumgehen und wie unangenehm das sein kann. Und genau aus diesem Grund fasst sie den Entschluss, jetzt zu Jez zu gehen und mit ihm noch einmal zu reden. Ohne Alkohol.
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Jez verzieht schmerzerfüllt das Gesicht, als er mit der rechten Hand vorsichtig auf sein linkes Schlüsselbein drückt. Im Spiegel kann er deutlich erkennen, dass es sich in den letzten Stunden wieder deutlich ins Bläuliche verfärbt hat. Seufzend lässt er den rechten Arm sinken, bevor er nach dem Rucksackverband greift und ihn versucht überzuziehen. Was ihn sofort mit einem stechenden Schmerz bestraft. Mit angespanntem Gesicht lässt Jez den Rucksackverband wieder sinken, greift nach seinem Shirt, das er über die Badewannenrand gehängt hat und verlässt das Bad.
Mit seinem T-Shirt in der einen und dem Rucksackverband in der Hand geht Jez die Treppe hinunter in die Küche, wo seine Mutter am Küchentisch sitzt, ihren Kaffee trinkt und in der Zeitung blättert. Sie runzelt fragend die Stirn, als sie ihren Sohn in der Küchentür, mit nacktem Oberkörper und dem Rucksackverband in der Hand, erblickt.
„Hilfst du mir?“ Jez hebt die Hand mit dem Rucksackverband ein wenig und lächelt schief. Seine Mutter sieht ihn einen Moment noch an, dann stellt sie ihre Tasse auf den Tisch, erhebt sich und nimmt ihrem Sohn die Schiene aus der Hand. Anstatt diese ihm aber um die Schultern zu legen, legt sie sie auf den Küchentisch und greift nach Jez Arm, um ihn so ins Licht zu drehen, dass sie sein Schlüsselbein richtig sehen kann.
„Sag mal, hast du Handball gespielt oder so?“ Fragend hebt Jez die Augenbrauen und schüttelt dann den Kopf. Als seine Mutter ihn aus ihren grünen Augen durchdringlich mustert, entzieht er den Arm der Hand seiner Mutter und erwidert ihren Blick.
„Ehrlich nicht! Warum auch?“ Leise seufzt seine Mutter, bevor sie ihm sanft mit ihren kühlen Fingern auf die blaue Stelle drückt, was natürlich sofort einen stechenden Schmerz auslöst, bevor sie zu reden beginnt.
„Weil du es schon einmal mit abgerissenen Bändern im Fuß angefangen hast, Handball zu spielen.“ Sie sieht zu ihrem Sohn hinauf und sieht ihn streng an. Gerade als Jez Luft holt, um seiner Mutter zu wiedersprechen, spricht sie weiter. „Und du brauchst mir jetzt nicht sagen, dass du da ‚erst dreizehn‘ wahrst.“ Sie legt ihrem Sohn den Rucksackverband um die Schultern und hilft ihm dabei, das Shirt über den Kopf zu ziehen. „In dem Alter weiß man, dass Sportverbot Sportverbot heißt.“ Jez verdreht die Augen. Dass Eltern einem immer wieder Sachen vorhalten, die man gemacht hat, als man noch Jahre jünger war!
„Ich habe trotzdem kein Handball gespielt!“, murmelt Jez und will sich schon an seiner Mutter vorbei schieben, doch sie hält ihn am Arm zurück. Fragend sieht er sie an, als sie ihren Griff um seinen Arm auch nach einigen Sekunden nicht löst.
„Ich denke es wäre gut, wenn du nochmal ins Krankenhaus gehst.“ Bevor Jez noch fragender dreinschauen kann, beantwortet seine Mutter ihm seine Frage. „Ich bin schon lange genug im Ambulanzbereich, das ich weiß, dass es nicht normal ist, wie dein Schlüsselbein aussieht.“ Sie sieht ihren Sohn einen Moment an, dann lächelt sie. „Ich fahr dich auch hin.“ Jez seufzt leise, ist aber insgeheim froh, dass seine Mutter ihm den Vorschlag gemacht hat. Nachdem er, als er aus Kimmys Fenster geklettert ist, den Schmerz im Schlüsselbein verspürt hat, nach Hause gegangen ist und seiner Mutter erzählt hat, dass er sich noch mit Max und einigen anderen Jungs aus der Handballmannschaft getroffen hat, ist er sofort ins Bett gegangen und konnte einerseits aus dem Grund, weil Kimmy ihm lange im Kopf herum gegeistert ist nicht schlafen und andererseits, weil in seinem Schlüsselbein wieder dieser ununterbrochene, stechende Schmerz zu spüren war.
„Okay“, murmelt er, bevor er nach oben geht, seine Jogginghose gegen eine Jeans tauscht und seinen Geldbeutel in eine der Hosentaschen schiebt. Er hat sein Zimmer schon fast wieder verlassen, da fällt ihm ein, dass er sein Handy gar nicht eingesteckt hat. Jez lässt seinen Blick durch sein Zimmer wandern und bleibt am Nachttisch hängen, auf den er sein Handy nachts eigentlich immer legt, da dort einerseits das Ladekabel in der Steckdose steckt und da sein Handy andererseits auch sein Wecker ist und er es so morgens einfach stummschalten und den Wecker so zum Schweigen bringen kann. Irritiert macht Jez zwei Schritte drauf zu, als er von Weitem sein dunkles Smartphone nicht entdecken kann. Als er auch von Nahem sein Handy nicht entdecken kann, dreht Jez sich langsam einmal im Kreis und lässt sein Blick durch sein Zimmer wandern. Wo hat er sein Handy zuletzt gesehen? Zuletzt hat er mit Niklas geschrieben, das weiß Jez noch genau. Er hat ihm alles, was mit Kimmy vorgefallen ist, erzählt und dass er Angst davor hat, zu ihr zu gehen und mit ihr zu reden. Ein Lächeln huscht über Jez Lippen, als er daran denkt, mit was für einem einfachen Mittel Niklas ihn eigentlich dazu gebracht hat, zu Kimmy zu gehen. Einen Moment überlegt Jez noch, dann fällt ihm ein, wo sein Handy ist. Leise seufzt er, bevor er sich mit einer Hand durchs Haar fährt. Er hat sein Handy bei Kimmy liegen lassen. Einen Moment überlegt Jez, dann geht er, natürlich ohne sein Handy, die Treppe hinunter.
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Noch einmal sieht Kimmy in den Spiegel, bevor sie die Schultern strafft und in ihre blauen Vans schlüpft. Nachdem sie noch geduscht und sich ein bisschen geschminkt hat, zeigt die Uhr im Wohnzimmer mittlerweile schon zehn nach zwölf an. Nervös streicht sie sich noch einmal das Haar aus dem Gesicht, dann verlässt sie, mit Jez Handy in der Hand, das Haus.
Draußen schlägt ihr wärmere Luft entgegen, als sie erwartet hat. Sie zögert, als ihr Blick auf das Haus gegenüber fällt. Ob es Jez auch so schwergefallen ist, einfach zu ihr zu gehen? Langsam geht Kimmy die beiden steinernen Treppenstufen hinunter. Der Kies knirscht unter den dünnen Sohlen ihrer Schuhe, als sie langsam die zwei, drei Meter bis zum Gehweg geht. Hat sich Jez auch so viele Gedanken gemacht? Wie sie reagieren könnte? Was er zu ihr sagen könnte? Vorsichtig kickt Kimmy einen der Steine vor sich her, als sie über die dunkle, glatt asphaltierte Straße geht und nun nur noch zwei Häuser weiterlaufen muss, bevor sie vor dem hellen Haus stehen bleiben und ein weiteres Mal zögern kann. Irgendwie schleicht sich die Angst vor den Momenten, in denen keiner weiß, was er sagen soll, in ihren Körper und bringt sie dazu, fast einen Rückzieher zu machen. Ihr Problem ist es ja nicht, Jez sein Handy wieder zu geben, ihr Problem ist es, vor ihm zu stehen und mit ihm zu reden. Einfach alles, was am vergangenen Tag passiert ist noch einmal zu wiederholen und vielleicht noch ein bisschen mehr darüber zu reden. Für einen Moment schließt Kimmy die Augen und atmet einmal tief ein und aus, bevor sie ohne noch einmal zu zögern, auf die Haustür zugeht und auf den Klingelknopf drückt.
Nervös dreht Kimmy Jez schwarzes Handy in der rechten Hand, als sie ihr Herz vor Aufregung förmlich in ihrem Brustkorb schlagen spüren kann. Die ganzen Sachen, welche sie zu Jez sagen könnte und die sie sich vorhin überlegt hat, kommen ihr auf einmal so dumm vor, dass ihr der Gedanke daran schon peinlich ist. Weiter zögern kann Kimmy nicht, denn die Haustür öffnet sich. Aber anders als sie erwartet hat, ist es nicht Jez, der im Türrahmen steht, sondern seine Mutter, die ihr schon einmal geöffnet hat, als sie Jez Handy von Herrn Weiler zurückgeholt hat, woraufhin die beiden zusammen ihr Zwangsprojekt im Musikunterricht machen mussten. Mit demselben herzlichen Lächeln, wie es auch Jez oftmals im Gesicht trägt, begrüßt sie Kimmy.
„Ist Jez da?“ Kimmy braucht einen Moment, bis sie den Satz in dieser Konstellation in ihrem Kopf überhaupt zusammengestellt hat und lächelt jetzt ein wenig unsicher, in der Hoffnung, dass Jez Mutter das nicht bemerkt hat. Diese lächelt noch immer, schüttelt aber beinahe entschuldigend den Kopf.
„Nein, tut mir leid. Soll ich ihm irgendetwas sagen?“ Nur schwer kann Kimmy sich ein Seufzen unterdrücken. Ob ein positives Seufzen, weil die Angst trotzdem noch in ihr herrscht und sie dazu zwingt, oder ein negatives Seufzen, weil sie liebend gerne jetzt mit Jez gesprochen hätte, weiß sie nicht. Sie will schon den Kopf schütteln und sich bei Jez Mutter bedanken, da fällt ihr ein, dass sie Jez Handy in ihrer Hand vielleicht schon erblickt hat und sie für zu dämlich hält, das Handy einfach ihr zu geben.
„Ich habe Jez Handy gefunden. Ich wollte es ihm eigentlich nur geben.“ Kimmy hebt die Hand mit dem Handy darin und hofft, dass sie glaubwürdig rüberkommt. Zaghaft lächelt sie, als Jez Mutter zwar einen Moment die Stirn runzelt, das Handy dann aber entgegen nimmt und sich bei Kimmy bedankt. Sie lächelt Kimmy zum Abschied zu und schließt dann die Tür. Leise seufzt Kimmy, bevor sie sich umdreht und langsam über die Straße geht. Jetzt hat sie schon einmal allen Mut zusammengenommen und dann ist Jez nicht zu Hause…
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Nachdenklich und gelangweilt zugleich sitzt Jez im Wartebereich der Ambulanz im Ortenauklinikum in Achern und wartet darauf, dass er endlich aufgerufen wird. Nachdem seine Mutter ihn hierhergefahren hat, hat er sie gebeten, wieder nach Hause zu fahren, da der Wartebereich bis auf den letzten Platz belegt ist und er erstens der Meinung ist, dass er schon alt genug ist, um sich alleine hier zurechtzufinden und zweitens, weil er weiß, dass seine Mutter am Mittag noch einen für sie wichtigen Termin hat und sie deshalb bestimmt wenig Lust und Zeit hat, noch Stunden im Krankenhaus zu warten.
Durch das riesige Fenster fällt helles Sonnenlicht in den Wartebereich und erhellt einige der Stühle – auch den von Jez – weshalb er sich mit der rechten Hand über die glühenden Wangen fährt. Die Wärme macht ihn müde. Nur schwer kann Jez sich ein Seufzen unterdrücken. Was, wenn Kimmy sein Handy gefunden hat, aber nichts mehr von der letzten Nacht weiß? Und sich vielleicht wieder so etwas zusammenreimt, wie am Big Blöpp? Jez blinzelt gegen die Sonne und kann ein leises Seufzen einfach nicht mehr unterdrücken. Früher hat er immer gedacht, dass es besser ist, wenn man wenigstens etwas hat, über das man nachdenken kann, anstatt Langeweile zu schieben, aber jetzt, in diesem Moment, würde er sich nichts sehnlicher wünschen, als dass das, was ihn gerade beschäftigt, ein für alle Mal aus der Welt geschafft ist und er jetzt einfach nur Langeweile habe könnte.
Jez Blick fällt auf einen kleinen Jungen, der ihm gegenüber auf einem der Stühle sitzt und einen Kühlakku auf seinen rechten Unterarm hält. Schon seit einigen Minuten hat Jez das Gefühl beobachtet zu werden und jetzt weiß er auch, dass sein Gefühl ihn nicht getäuscht hat. Der kleine Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, mustert ihn aus seinen auffällig dunklen Augen heraus. Und ihn scheint es auch nicht zu stören, dass Jez bemerkt hat, dass er ihn mustert. Automatisch senkt Jez die Augenlider und sieht konzentriert auf den blauen Linoleumboden. Warum er das macht, weiß er selbst nicht. Vielleicht, weil er es selbst als unhöflich ansieht, jemanden ununterbrochen zu mustern, vielleicht aber auch, weil er sich immer fühlt, als würde er bei etwas Falschem erwischt werden, wenn die Person, die er gerade mustert, seinen Blick bemerkt.
Leise seufzt Jez ein weiteres Mal und sieht durch das dreckige Glas des großen Fensters nach draußen. Manchmal wäre es schon schön, wieder klein zu sein… Wenn man einfach alles machen kann, ohne darüber nachdenken zu müssen, was für Folgen das Handeln hat. Jez wendet seinen Blick von dem Fenster auf seine Schuhspitzen. Ja, manchmal würde er gerne wieder klein sein. So klein, dass er Kimmy einfach mustern könnte, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass sie seinen Blick wahrnimmt und sich ihren Teil dazu denkt. Fast ein bisschen überrascht, dass er – bei dem überfüllten Wartezimmer – doch so schnell an die Reihe kommt, hebt Jez den Kopf, als eine ältere Arzthelferin ihn aufruft.
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Am Nachmittag sitzt Kimmy mit ihren kleineren Cousinen und Cousins im Wohnzimmer von ihrer Tante auf dem Boden und spielt schon die gefühlt tausendste Runde UNO. Aber um ehrlich zu sein, kommt ihr diese Beschäftigung in diesem Moment mehr als entgegen, da sie so keine Zeit hat, darüber zu grübeln, wo Jez heute Mittag, als sie mit ihm reden wollte, gewesen sein könnte und ob er nicht selbst bemerkt hat, dass er sein Handy bei ihr vergessen hat. Nachdenklich sieht Kimmy auf die bunt zusammengewürfelten Winni Puh UNO-Karten in ihrer Hand und will schon eine davon herausziehen, doch ihr kleiner, zweijähriger Cousin Levi, der auf ihrem Schoß sitzt und sich bis gerade noch mit ihren Haaren beschäftigt hat, streckt jetzt eines seiner kurzen Ärmchen aus und tippt mit seiner kleinen Hand auf eine andere Karte. Kimmy lächelt, als sie dem kleinen Jungen über den Hinterkopf streichelt und die Karte, auf die er gezeigt hat und die wirklich angebrachter ist jetzt zu spielen, aus ihrer Hand zieht und auf den Kartenstapel legt. Sie hat die Karte gefühlt noch nicht einmal abgelegt, da ist sie schon wieder an der Reihe, so schnell und begeistert sind die anderen bei dem Spiel. Leise seufzt Kimmy, als sie auf den Stapel Karten in ihrer Hand sieht und das freche und vielleicht auch ein bisschen schadenfrohe Lachen von ihrer kleinen zehnjährigen Cousine Delia und ihrem siebenjährigen Cousin Yves wahrnimmt, gegen die sie ein ‚Nimm-2-Karten‘-Match verloren hat und vierzehn Karten ziehen musste. Kimmy hebt den Blick von ihren Karten und lächelt den beiden zu. Irgendwie macht es glücklich, wenn sie glückliche Kinder sieht. Sie lässt Levi wieder eine Karte aussuchen, die sie dann auf den Stapel legt. Delia wirft ich letzte Karte auf den Stapel, springt auf und ruft:
„UNO-UNO! Ich habe gewonnen!“ Kimmy lässt lächelnd ihre Karten auf den Teppich vor sich sinken, bevor ihr Blick weiter zu Yves wandert.
„Nochmal! Aber Jonas muss mitspielen!“ Jonas ist Kimmys dritter Cousin. Er ist vierzehn Jahre alt und geht auf die Realschule Achern, die genau wie das Einsteingymnasium zum Schulzentrum Achern gehört. Bis gerade saß er mit seiner Hündin auf dem Teppich hat mit ihr gespielt, jetzt hebt er den Kopf und verzieht das Gesicht, bevor er sich erhebt.
„Ich muss noch mit Mika raus.“ Die Jack-Russel-Terrier-Dame springt sofort auf, als Jonas ihren Namen ausspricht. Kimmy weiß augenblicklich, dass es nur eine Ausrede ist, aber um ehrlich zu sein kann sie Jonas verstehen. Da Delia, Yves und Levi alle drei seine jüngeren Geschwister sind, bleibt oftmals gerade die Beschäftigung von Delia und Yves an ihm hängen. Levi hält sich an Kimmys Schulter fest, als er aufsteht, durch das Wohnzimmer auf die Hündin zuläuft und mit den Armen winkt.
„Mit! Levi mit!“ Der kleine, blonde Junge streckt seine Arme zu seinem großen Bruder aus und sieht ihn freudig und bittend zugleich an. Dieser hebt ihn hoch und drückt ihn sanft an sich, bevor er sich zu seiner Mutter und gleichzeitig Kimmys Tante umdreht und sie fragend ansieht, worauf diese den Kopf schüttelt.
„Ich lass dich nicht alleine mit dem Hund und Levi raus.“ Auch wenn Kimmy Jonas Gesicht nicht sehen kann, sie weiß, dass er gerade die Augen verdreht hat, so wie er es immer tut, wenn er etwas nicht machen darf oder er etwas machen muss, worauf er keine Lust hat.
„Ich kann mitkommen.“ Kimmy lächelt, als ihre Tante sie für einen Moment mustert, bevor sich ihr Gesicht erhellt und sich nickt.
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Kimmy ist mit Levi an der Hand neben Jonas, der Mika an der Leine hält, noch keine zweihundert Meter gelaufen, da bleibt der kleine Levi stehen und streckt beide Ärmchen nach Kimmy aus. Leise seufzt Kimmy, bevor sie sich nach unten lehnt und ihren kleinen Cousin auf den Arm nimmt. Fast augenblicklich greift er mit einer Hand nach ihren Haaren und beginnt die sanften Wellen zu drehen. Für einen Moment verzieht Kimmy das Gesicht, als Levi ein wenig unsanft an ihren Haaren zieht, dann schließt sie die Augen und hält das Gesicht in die warme Mai-Sonne. Das ein bisschen dickere, enge, graue T-Shirt mit den halblangen Ärmeln und die dünne Jacke darüber, reicht heute allemal, so warm und angenehm ist es. Erst, als Mika zu bellen beginnt, öffnet Kimmy die Augen und sucht mit ihrem Blick den Weg vor ihr nach der kleinen, hellen Hündin ab. Sie springt aufgeregt herum und zieht an der Leine in Richtung des kleinen Grabens, der neben dem Feldweg entlangführt, den sie gerade entlanggehen. Jetzt weiß Kimmy auch, warum ihre Tante nicht will, dass Jonas alleine mit Levi und Mika rausgeht. Auch wenn Mika einen so süßen Eindruck macht, dass sie an der Leine ziehen kann, beweist sie gerade voll und ganz. Dass Jonas sie unter Kontrolle hat, zeigt er aber auch. Er ruft nur einmal ihren Namen, dann konzentriert Mika sich wieder voll auf ihn und läuft erwartungsvoll, mit dem Blick auf ihr Herrchen gerichtet, neben dem Jungen her. Dieser gibt ihr ein Leckerli und wendet den Kopf dann zu Kimmy.
„Sag mal, stimmt die Geschichte, dass du Schluss gemacht hast, weil Finn im Bett zu schlecht ist?“ Auf einen Schlag verschwindet das sanfte Lächeln aus Kimmys Gesicht. Sie hat mit allem gerechnet, aber bestimmt nicht damit, dass ihr jüngerer Cousin sie auf Finn anspricht. Und wohl noch weniger auf dieses Thema. Dass er von der Sache überhaupt mitbekommen hat, ist für Kimmy schockierend, da die Schule auf die er geht zwar zum Schulzentrum gehört, aber eben nicht ihre Schule ist!
„Was?“ Mehr als dieses erstaunte und schockierte Wort zugleich, bekommt Kimmy nicht heraus. Sie sieht ihren Cousin von der Seite an, der zu Mika herunter guckt, aber vom Gesichtsausdruck kein Stück so aussieht, als wäre ihm die gestellte Frage irgendwie peinlich oder unangenehm. Er zuckt nur die Schultern, dreht den Kopf zu Kimmy und beginnt zu grinsen, als er ihren Gesichtsausdruck sieht. „Nein, habe ich nicht.“ Langsam fängt sich Kimmy wieder. „Glaub die ganzen Gerüchte, die momentan an der Schule über mich rumgehen nicht.“ Kimmy wendet das Gesicht von Jonas ab. Er muss nicht merken, wie sehr es sie verletzt, dass auch er einer von denen ist, die dieser Geschichte Glauben schenken.
„Also soll ich der Geschichte, dass der Neue aus deiner Klasse dich abgefüllt hat, um dich flachzulegen, auch nicht glauben?“ Warum muss Jonas ausgerechnet jetzt mit Jez anfangen?! Jetzt, wo sie ihn mal für zwei Stunden aus ihrem Kopf verbannt hatte!
„Gibt es an der Schule kein interessanteres Thema?“ Ganz so viel Sarkasmus, wie Kimmy gehofft hat, kann man in ihrer Stimme nicht erkennen, aber auch wenn ihre Stimme vor Sarkasmus triefen würde, Jonas würde diesen trotzdem gekonnt ignorieren.
„Also ja?“ Er grinst frech, als er Kimmy diese Frage stellt. Aber so schnell, wie das Grinsen in sein Gesicht gelang ist, verschwindet es auch wieder, als Kimmy ihn sauer und verletzt zugleich anzischt.
„Nein, hat er nicht, okay!“ Sie widmet sich Levi, der von dem Gespräch vielleicht etwas aufgeschnappt hat, aber da er den Zusammenhang der Wörter sowieso nicht versteht, macht Kimmy sich keine Sorgen um ihn. Viel mehr versucht sie sich jetzt darauf zu konzentrieren, dass sie sich Sorgen macht, dass er seine nasse Hand, die er bis eben zur Faust geballt komplett in den Mund gestopft hatte, wieder in ihren Haaren versenken will. Um das zu vermeiden, greift sich nach seinem kleinen Oberarm und wischt ihm mit dem Ende seiner dünnen Jacke die Sabber von der Hand, bevor sie zulässt, dass er sich in ihren Haaren festhält.
„Und dem Gerücht, dass du in spätestens drei Tagen sowieso mit diesem Typen zusammen bist, sollte ich dann auch nicht glauben?“ Kimmy dreht den Kopf überrascht zu Jonas. Ist es wirklich so eindeutig sichtbar, dass sie Gefühle für Jez hat, dass selbst ihr Cousin Jonas, mit dem sie eigentlich kaum etwas zu tun hat, merkt, dass diese Gefühle existieren? Zu Kimmys Glück deutet Jonas ihren Blick falsch und grinst amüsiert. „Wusstest du von dem Gerücht echt nicht?“ Automatisch schüttelt Kimmy den Kopf, bevor sich sanft mit einer Hand über Levis Hinterkopf streichelt.
„Nein, wusste ich nicht. Und nein, du sollst dem Gerücht nicht glauben.“ Kimmy sieht ihren Cousin immer noch nicht an, hofft aber, dass sich das Thema für ihn jetzt endlich erledigt hat.
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Nachdem Jez noch eine halbe Stunde gewartet hat, bis der nächste Bus von Achern nach Fautenbach gefahren ist, geht er jetzt – mit einer Sportkrankschreibung für die Schule in der Hand – den Gehweg von der Haltestelle Kirche entlang und seufzt leise. Die Kirchturmuhr verrät ihm, dass es schon nach zwei Uhr mittags ist, was er aber auch ohne die Uhr gewusst hätte, da sein Magen schon seit gefühlten Stunden knurrt. Jez lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen, als er um die Ecke biegt und noch einmal leise seufzt. Er hat, während er im Krankenhaus gewartet hat, lange überlegt, ob er vielleicht noch einmal zu Kimmy gehen und mit ihr reden soll. Auf ein Ergebnis ist es aber nicht gekommen.
Jez lässt seinen Blick, während er seinen Schlüssel aus der Tasche zieht, über die Straße wandern. Ein letztes Mal seufzt er, bevor er den Hof überquert und die Haustür aufschließt. Eigentlich möchte er schon noch einmal mit Kimmy reden. Ein für alle Mal alles klären – im besten Fall ohne Alkohol – und um ehrlich zu sein hätte Jez sein Handy schon gerne wieder. Nicht, dass er Entzugserscheinungen bekommen würde, aber er hasst es wie jeder andere Jugendlicher, nicht mehr erreichbar zu sein.
Noch bevor Jez aus seinen Schuhen geschlüpft ist, kommt seine Mutter in den Flur, nimmt ihre Jeansjacke von der Garderobe und schlüpft hinein, bevor sie sich ihrem Sohn zuwendet und ihn fragend ansieht.
„Zwei Wochen länger…“, murmelt Jez leise und will sich schon zur Treppe wenden, doch seine Mutter hält ihn zurück.
„Und du bist dir sicher, dass du kein Handball gespielt hast?“ Jez seufzt – diesmal so, dass seine Mutter deutlich merkt, dass sie ihn mit dieser Frage langsam nervt – bevor er den Kopf schüttelt.
„Ich verspreche es dir hoch und heilig, dass ich es nicht gemacht habe.“ Jez Mutter lächelt sanft, als ihr Sohn sie mit diesem Blick ansieht, den man mit einer Mischung aus dem typischen Kleinkinderblick Ich-habe-nichts-gemacht und dem Teenager-Alles-was-meine-Eltern-sagen-nervt-mich-Blick vergleichen kann. Leise seufzt Jez ein letztes Mal, bevor er sich umdreht und nun endlich die Treppe hinaufgehen will, was ihm aber wieder nicht gelingt, da ihn seine Mutter ein weiteres Mal zurückhält.
„Ach übrigens, Kimberly hat vorhin dein Handy vorbeigebracht. Du hattest es verloren.“ In dem zweiten Satz kann Jez, obwohl er seiner Mutter noch immer den Rücken zugewendet hat, deutlich den Vorwurf erkennen. Viel mehr als über den Vorwurf wundert er sich aber über das, was seine Mutter zu ihm gesagt hat. ‘Kimberly hat vorhin dein Handy vorbeigebracht.‘ Kann es vielleicht sein, dass sein Handy nur eine Ausrede war und diesmal sie den ersten Schritt machen und auf ihn zugehen wollte? Schnell, dass seine Mutter nicht merkt, dass ihn seine Gedanken mehr beschäftigen als sein Handy, dreht Jez sich um.
„Ups.“ Mehr fällt Jez nicht dazu ein. Er nimmt sein Handy entgegen, das seine Mutter ihm entgegenhält. Bevor sich ihre Finger von dem Gerät lösen, sieht sie ihren Sohn noch einmal streng an.
„Noch ein Neues bezahlen wir dir nicht.“ Dass sie bei dem ‚wir‘ selbst ein wenig überrascht und gleichzeitig traurig aussieht, entgeht Jez nicht. Auch wenn er in den letzten zwei, drei Wochen mehr mit sich selbst beschäftigt war, ist ihm natürlich nicht entgangen, dass seine Mutter unter der Trennung von seinem Vater noch immer leidet. Jez senkt den Blick und murmelt ein unverständliches: „Ich weiß“, bevor er sich umdreht und die Treppe nach oben geht.
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Leise summt Kimmy das Lied ‘Wanted‘ von Hunter Hayes, das sie leise über ihren Laptop laufen lässt, den sie mit ihren Musikboxen verbunden hat, mit. Eigentlich genau eins der falschen Lieder, da es ein perfektes Lied ist, um einfach nur nachzudenken. Langsam sammelt Kimmy die Schulbücher, die sie für den nächsten Tag braucht, aus ihrem Regal heraus und verstaut sie in ihrem Rucksack. Mittlerweile sind die vielen Fragen und Gedanken, die sich bisher nur um Jez gedreht haben, ein wenig in den Hintergrund gerückt. Viel mehr beschäftigt Kimmy es, dass sie in den letzten paar Wochen kaum noch an Lennard gedacht hat, obwohl es morgen schon fünf Jahre her ist. Fünf Jahre, dass er nicht mehr lebt. Leise seufzt Kimmy, als sie ihren karierten Block in ihren Rucksack steckt und sich dann langsam auf die Bettkante sinken lässt. Fünf Jahre! Und sie hat kaum noch an ihn gedacht. Ein drückendes Gefühl lastet seit den letzten Stunden wieder auf Kimmy, ist aber nicht das ihr altbekannte Gefühl von Trauer. Es ist ein anderes Gefühl. Das Gefühl von Scham, weil sie ihn einfach vergessen hat. Vergessen, für ganze Tage. Kimmy richtet ihren Blick auf den Teppich vor ihrem Bett, bevor sie noch einmal leise seufzt, den Kopf hebt und mit einer Hand nach dem gerahmten Kinderbild auf ihrem Nachttisch greift. Morgen ist es wirklich schon fünf Jahre her. Fünf Jahre! Das Wissen, dass sie ihren Bruder vor fünf Jahren das letzte Mal im Arm halten durfte, das letzte Mal von ihm einen Anschiss kassiert hat, weil sie wieder einmal unüberlegt gehandelt hat, ihm das letzte Mal ‚Gute Nacht‘ gesagt hat und die letzten Stunden seines Lebens mit ihm verbracht hat, überkommt sie plötzlich wie eine Welle und überrollt sie. Ganz sanft streicht Kimmy mit ihrem rechten Daumen über das Glas des Bilderrahmens, bevor sie die Augen schließt und versucht, die Tränen, die in ihren Augen zu brennen beginnen, zurückzuhalten, was ihr nur für einen kurzen Moment gelingt. Dann spürt sie, wie die warmen Tropfen aus ihren Augenwinkeln quellen und sich langsam ihren Weg über ihre Wangen suchen.
Während Jez die Treppe heruntergeht, tippt er mit dem Daumen auf Kimmys WhatsApp Kontakt.
Jez: Danke wegen meinem Handy :)… Können wir morgen vielleicht nochmal reden?
Leise seufzt Jez, als er sieht, dass sich Kimmys Onlinestatus immer noch nicht geändert hat. Zuletzt online gestern um 20:48. Sie hat seine Nachricht immer noch nicht gesehen… Mittlerweile ist Jez in der Küche angekommen. Er stellt seinen Rucksack auf einen der Küchenstühle, bevor er sein Handy in der Hosentasche seiner Jeans verschwinden lässt und eine Flasche Wasser von der Arbeitsfläche nimmt, um sie in seinem Rucksack zu verstauen. Er hat ihr gestern Abend um kurz nach zehn geschrieben und sie hat seine Nachricht immer noch nicht gesehen… Die Idee, dass Kimmy vielleicht wieder auf dem Friedhof gewesen sein könnte, ist Jez natürlich auch schon gekommen, aber egal wie oft er aus dem Fenster geschaut hat, Kimmy hat er nicht gesehen. Jez unterdrückt sich ein zweites Seufzen – erstens, dass seine Mutter nicht sofort merkt, dass ihn etwas beschäftigt und zweitens, weil es sich irgendwie immer negativ auf seine Laune auswirkt – bevor er mit seinen Gedanken weiterwandert. Er hasst es, wenn er jemandem etwas für ihn persönlich Wichtiges schreibt und diese Person seine Nachricht erst nach Stunden liest.
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Eilig, da er schon relativ spät dran ist, verlässt Jez das Haus in Richtung Bushaltestelle. Da er die Diskussion gegen seine Mutter, die dem Thema Motorradfahren mit gebrochenem Schlüsselbein galt, verloren hat und er auch mit dem Argument, dass er die letzten paar Wochen auch mit dem Motorrad zur Schule gefahren ist, nicht weit gekommen ist, hat er sich geschlagen geben müssen, auch wenn er Busfahren mehr hasst als alles andere.
Auch wenn Jez spät dran ist, verlangsamt er seine Schritte, als er die Kopfhörer seines Handys unter seiner Jacke hindurch zieht, sodass ihn das Kabel beim Musik hören nicht stört. Mit einer Hand zieht er sich die schwarzen Kopfhörer über den Kopf, bevor er das Lied ‚Summer‘ von Calvin Harris startet. Eigentlich ein Lied, bei dem er, bevor er hierhergezogen ist und Kimmy wieder aufs Neue kennengelernt hat, einfach abgeschalten hätte. Jetzt ist es eins der Lieder, das vom Text her irgendwie schon zu seiner Situation passt und ihn zum Nachdenken bringt. When I met her in the summer, took my heart a beat sound. We fell in love… Als ich sie im Sommer traf, zum Schlag meines Herzens, verliebten wir uns… Leise seufzt Jez, als ihm der übersetzte Text durch den Kopf geht und ihn wieder einmal so sehr an seine eigene Situation erinnert. Als Jez den Bus schon von Weitem sieht, verschnellert er seine Schritte jedoch und verdrängt seinen Gedanken, da es hier den ein oder anderen Busfahrer gibt, der einfach wegfahren, obwohl er sieht, dass noch Schüler einsteigen wollen. Schnell springt Jez in den Bus, bevor er das Kleingeld, das in seiner Hosentasche herumfliegt, dem Busfahrer gibt und die Busfahrkarte entgegennimmt.
Zu Jez Verwunderung sind ausnahmslos alle Sitzplätze im Bus belegt, was ihn dazu zwingt, stehen zu bleiben, womit er eigentlich kein Problem hat, was aber bei dem Wissen, dass noch vier Haltestellen kommen, bei denen noch viele Schüler einsteigen werden, zu einem kleinen Problem wird, da er überfüllte Busse genauso hasst wie überfüllte U- und S-Bahnen, obwohl er seit der fünften Klasse an ausnahmslos jedem Tag mit der U- oder S-Bahn zur Schule gefahren ist. Leise seufzt Jez, bevor er sich durch den schmalen Gang bis in die Mitte des Linienbusses schiebt, sich gegen die Buswand lehnt, sein Handy aus der Tasche zieht und die Musik auf volle Lautstärke stellt.
Als der Bus losfährt, hält Jez sich mit einer Hand an einer der Stangen fest und lehnt den Kopf nach vorne, bevor er die Augen schließt und ein weiteres Seufzen unterdrückt.
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Langsam dreht Kimmy ihr Handy in den Händen und hebt den Blick. Auch wenn sie es nicht absichtlich macht, sie sieht schon zum dritten Mal in nicht einmal einer Minute zu Jez herüber, der mit schwarzen Kopfhören auf den Ohren den Bus betreten hat und obwohl er sie per WhatsApp gebeten hat, dass sie heute noch einmal mit ihm redet, ist er einfach an ihr vorbeigelaufen ist. Ob er sie nicht gesehen hat, oder einfach nicht im Bus, inmitten von gefühlt hunderten anderen Schülern, mit ihr reden möchte, weiß Kimmy nicht, aber um ehrlich zu sein, hat sie heute nicht wirklich Lust, mit Jez darüber zu reden, was zwischen ihnen passiert ist und was nicht. Nicht heute. Nicht an dem Tag, der vor fünf Jahren zum schlimmsten ihres Lebens geworden ist. Traurig senkt Kimmy den Blick wieder und lehnt den Kopf gegen die Busfensterscheibe. Mit einer Hand steckt sie sich die Kopfhörer ihres Handys in die Ohren und tippt einfach auf irgendein Lied. Ein Klavierstück von Yiruma namens ‚May Be‘ startet. Sie schließt die Augen. Vor ihrem inneren Augenlid beginnen Erinnerungen wie ein zusammengeschnittener Film durchzulaufen. Wie sie mit ihrem Bruder zusammen in irgendeinem Zoo auf einen steinernen Löwen geklettert ist und Lennard seine Arme um sie gelegt hat, dass sie nicht einfach zur Seite herunterfällt. Danach, wie sie und Lennard zusammen mit Betty, Max und einem weiteren Jungen über die große Wiese am See gejagt sind. Wie sie und ihren Eltern auf der Terrasse gesessen sind und ‚Mensch ärgere dich nicht‘ gespielt haben. Wie sie in der vierten Klasse im Landschulheim zusammen mit Betty heimlich aus der großen Zwölfbetthütte der Mädchen geschlichen und durch das offene Fenster in die Zwölfbetthütte der Jungs geklettert ist, wo sie zusammen mit Lennard, Max und den ganzen anderen Jungs auf den Betten gesessen und so viele Süßigkeiten gegessen haben, bis allen schlecht war. Und, wie sie zusammen mit ihrem geliebten Bruder auf den großen Kirschbaum im Garten geklettert ist und sie sich gegenseitig mit den Kirschen abgeworfen haben.
Energisch zieht Kimmy die Kopfhörer aus den Ohren, öffnet die Augen und setzt sich aufrecht hin. Wenn sie weiter solche Erinnerungen vor sich sieht, schafft sie es nicht, ihre so lange aufgebaute und antrainierte Emotionslosigkeit nach außen hin aufrecht zu erhalten!
Leise seufzt Kimmy, bevor sie den Kopf wieder gegen die Fensterscheibe lehnt und ihren Blick ein weiteres Mal unbewusst zu Jez wandern lässt. Noch immer lehnt er mit dem Rücken an der Buswand, hält sich mit einer Hand locker an einer der Stangen fest und hat den Kopf gesenkt. Ein Lächeln huscht über Kimmys Lippen, als die Sonne auf sein dunkles Haar scheint und es aussieht, als würden sie leuchten.
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Jez blinzelt gegen die Sonne, als er Max und einigen anderen Jungs gegenüber auf der kleinen Mauer auf dem Schulhof sitzt und Kimmy und Betty, die abseits von der Hockeymädchengruppe, aber genauso abseits von der Gruppe, in dessen Mitte er gerade sitzt, stehen. Auch von dieser Entfernung kann Jez erkennen, dass beide nicht sonderlich gesprächig sind. Jez senkt den Blick auf den Boden und unterdrückt ein leises Seufzen, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre, da die anderen in der Gruppe in diesem Moment in lautes Gelächter ausbrechen, wessen Grund Jez aber wohl nie herausfinden wird, da Max ihm mit dem Kopf ein Zeichen gibt, dass er ihm folgen soll. Jez erhebt sich unbemerkt von den anderen von der Mauer und folgt Max weg von der Gruppe. Max bleibt nicht stehen, verlangsam aber ein wenig seine Schritte, sodass Jez aufholen kann.
„Sag mal, warum versuchst du nicht einfach, nochmal mit Kimmy zu reden?“ Jez bleibt stehen, worauf Max sich zu ihm umdreht und ihn fragend ansieht.
„Habe ich doch!“ Einen Moment macht Jez eine Pause, dann fügt er noch: „Ich habe es jedenfalls versucht“, hinzu. Max Miene ändert sich von fragend zu verwirrt. Leise seufzt Jez, bevor er Max ansieht. „Ich bin vorgestern zu ihr. Und ja, wir haben miteinander geredet und auch alles geklärt…“ Jez hebt die Hände, weil er nicht weiß, wie er das Geschehene zusammenfassen soll. Max sieht in verwirrt an und legt den Kopf ein wenig schief. „Ich bin Samstag zu Kimmy und habe mit ihr geredet. Das Problem war eigentlich nur, dass -“ Jez hebt den Blick und sieht neben Max vorbei in die noch nicht allzu hochstehende Sonne. Soll er Max wirklich sagen, dass Kimmy getrunken hat? Schließlich hat er ja zu ihm gesagt, dass Kimmy sonst fast gar keinen Alkohol trinkt… Binnen weniger Sekunden entscheidet Jez sich. Jetzt, wo er angefangen hat Max davon zu erzählen, hat es keinen Sinn, dieses wichtige Detail einfach wegzulassen. „Sie hatte was getrunken.“ Einen Augenblick sieht Max in verständnislos an, dann hebt er überrascht die Augenbrauen.
„Wie, sie hat getrunken?“ Der Unglaube ist deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. Jez seufzt leise, bevor er Max wieder in die Augen sieht.
„Ja, sie hatte getrunken. Ich glaube aber, dass sie noch alles von dem…“, er hebt die Hände wieder und imitiert Gänsefüßchen in die Luft, „… ‚Gespräch‘ weiß. Ich habe ihr gestern Abend geschrieben, dass ich heute noch mal mit ihr reden möchte, aber sie hat die Nachricht, soweit ich es noch gesehen habe, nicht gelesen.“ Max sieht Jez einen Moment an, dann beginnt er nachdenklich die Lippen immer wieder aufeinanderzudrücken.
„Vielleicht klingt das jetzt ein bisschen blöd – ich meine, weil ich dich gerade eben noch gefragt habe, warum du immer noch nicht mit ihr geredet hast – aber ich glaube, es wäre eine bessere Idee, heute nicht mit ihr zu reden. Mich wundert es schon sehr, dass sie heute überhaupt zur Schule gekommen ist.“ Fragend runzelt Jez die Stirn.
„Denkst du ehrlich, dass sie nur wegen den Gerüchten, die momentan rumgehen, schwänzt?“ Beinahe augenblicklich schüttelt Max den Kopf.
„Ach was. Ich meine eigentlich: Heute ist der einundzwanzigste Mai. Heute vor fünf Jahren ist ihr Bruder gestorben.“ Max kann in Jez Augen sofort die Betroffenheit erkennen. Und auch er selbst senkt den Blick, als ihm wieder einmal bewusst wird, wie lange es schon her ist, dass er das letzte Mal mit Lennard gesprochen hat. „Sonst hat sie an dem Tag immer auf krank gemacht. Oder, anders gesagt, sie ist nicht zur Schule gekommen.“ Jez sieht Max einen Moment an, bevor er ein leises: „Verständlich“, murmelt. Dass er nicht selbst daran gedacht hat, dass auf dem Zeitungsbericht, den er im Internet entdeckt hat, der Monat ‚Mai‘ stand, wurmt ihn für diesen Moment schon ein bisschen. Dieses Gefühl verschwindet jedoch innerhalb weniger Momente und macht einem anderen Gefühl Platz. Mitgefühl. Jez lässt seinen Blick einen Moment über den Schulhof wandern und bleibt an Kimmy und Betty, die noch immer alleine, abseits aller Gruppen stehen, hängen. Kimmys Haare wellen sich wie sonst immer und glänzen in der Sonne. Die hellbraune Lederjacke, die sie trägt, schmiegt sich eng an ihren Oberkörper. Alles in allem würde Jez nicht erkennen, was für ein Tag für sie heute ist. Einzig und allein ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie nicht versucht wie sonst nach außen hin glücklich zu wirken. Heute liegt nicht einmal das aufgesetzte Lächeln auf ihren Lippen. Sie sieht einfach nur mit einem nicht ganz definierbaren Gesichtsausdruck auf den hellen Pflasterstein und sieht ein wenig aus, als wäre sie in Gedanken ganz weit weg.
Er wird nicht mit ihr reden. Morgen. Nicht heute. Auch wenn es klingt, als wollte Jez das Gespräch nur vor sich herschieben, es ist sich sicher, dass er das Richtige tut.
***
Auch als Kimmy nach sechs Stunden Unterricht, den sie irgendwie hinter sich gebracht hat, dicht gedrängt mit unter anderem Max, Betty und Jez und gefühlt noch hundert anderen Schülern im Bus steht, hängen ihre Gedanken immer noch bei Lennard fest. So sehr sie es sich auch wünscht, die ganzen schönen und traurigen Erinnerungen zugleich werden mehr und mehr von den letzten Bildern ihres Bruders verdrängt. Wie er auf der Straße lag. Und überall Blut um ihn. Und, wie er in dem kleinen, dunklen Kindersarg lag, die kleine Stoffmöwe in den Armen und aussah, als würde er schlafen. Keine Spur mehr von den Verletzungen.
Als der Bus bremst, stolpert Kimmy, da sie keine Möglichkeit hat, sich irgendwo festzuhalten, einen Schritt nach vorne und stößt gegen Jez, der selbst, obwohl er sich an einer der Stangen festhalten kann, einen Schritt nach hinten taumelt, bevor er sich schnell wieder fängt und Kimmy sanft zulächelt. Für einen klitzekleinen Moment vergisst sie die ganzen Sachen, die ihr momentan im Kopf herum spuken. Sogar ein kleines Lächeln huscht über ihre Lippen, wird aber im nächsten Moment wieder ausgelöscht, da der Busfahrer losfährt und sie ein weiteres Mal zu taumeln beginnt. Reflexartig greift sie nach dem Nächstbesten, was sie finden kann. In diesem Fall Jez rechter Arm. Einen Augenblick sieht er ein bisschen überrascht aus, dann lächelt er wieder. Am liebsten würde Kimmy Jez Arm loslassen. Alleine schon, weil das Gefühl, dass in dem Moment der Berührung begonnen hat gegen die Trauer zu kämpfen, sich irgendwie falsch anfühlt. Falsch, für diesen Tag. Aber Kimmy lässt Jez Arm nicht los. Weil sie weiß, dass sie bei der nächsten Bremseinlage des Busfahrers sonst wieder wie ein angeschossener Vogel herum taumelt. Kimmy hebt den Blick und versucht Jez unauffällig zu mustern. Seine dunklen Haare hat er so gestylt wie immer. Die Schatten unter seinen Augen, die dem intensiven grün seiner Augen ein bisschen die Show stehlen, sind wieder deutlicher zu erkennen, können Jez Aussehen aber nicht wirklich trüben. Die Sonne fällt diesmal so in den Bus, dass seine langen, schwarzen, geschwungenen Wimpern, die aufeinanderliegen, da Jez den Kopf ein wenig gesenkt hält und die Augen geschlossen hat, aussehen, als würden sie leuchten. Ein leises Seufzen kann Kimmy nicht unterdrücken. Sie senkt den Blick wieder und versucht alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen, was das Ergebnis bringt, dass sie wieder beginnt, über ihren verlorenen Bruder nachzudenken.
Wie er wohl jetzt aussehen würde? Und ob er vielleicht eine Freundin hätte? Auch wenn es sich absurd anhören mag, Kimmy hat sich schon oft Gedanken darüber gemacht, wie Lennard sich verändert hätte, hätte er die Chance bekommen. Ob er vom Charakter her immer noch der so sensible, bedachte Junge wäre? Und ob er noch immer der wäre, der sie zügeln müsste, hätte sie sich nicht selbst beigebracht, erst zu denken und dann zu reden? Ohne es zu merken, verstärkt Kimmy ihren Griff um Jez Arm, obwohl der Busfahrer weder bremst, noch Gas gibt. Hätte sie sich selbst beigebracht, erst zu denken und dann zu reden, wenn Lennard nicht gestorben wäre? Wenn sie immer die eine Person hätte, die ihr sagen würde, wenn sie wieder einmal unüberlegt gehandelt hat?
Weiter kommt Kimmy mit ihren Gedanken nicht, da der Bus an der Haltestelle hält, an der sowohl Betty als auch Max aussteigen müssen. Unauffällig greift Betty nach der Hand ihrer Freundin, als sie sich mit einem leisen ‚Tschüss‘ von Kimmy und Jez verabschiedet und dann, gefolgt von Max, der beiden zum Abschied nur zulächelt, den Bus verlässt. Kimmy sieht den beiden nach. Deutlich kann sie erkennen, wie Max seinen Arm um seine Freundin legt, als er den Bus verlassen hat und ihr einen Kuss aufs Haar gibt, bevor sich beide in Bewegung setzen. Kimmy senkt den Blick wieder und unterdrückt ein leises Seufzen. Auch wenn Betty es nicht zugeben würde, ihre sonst so gute Stimmung hat sich nur aus dem Grund, weil ihre Freundin verständlicherweise keine gute Laune hatte, deutlich ins Nachdenkliche verschlechtert. Kimmy stolpert, obwohl sie sich immer noch an Jez festhält und stößt gegen ihn. Automatisch hebt sie den Blick und sieht direkt in Jez grüne, funkelnde Augen. Er lächelt sanft, was ihr in Gedanken irgendwie vorkommt, als würde ihr jemand ein Bein stellen. Einerseits fühlt es sich so falsch an, heute, an genau diesem Tag, innerlich darauf zu hoffen, dass er sie doch noch einmal auf die vorletzte Nacht anspricht, aber andererseits kann sie nicht anders. Irgendwie. Kimmy will wieder ein Stückchen von Jez abrücken, was aber leider nicht mehr möglich ist, da die Gruppe Zehntklässler, die hinter ihr stehen, den unfreiwillig frei gemachten Platz sofort eingenommen haben. Am liebsten würde Kimmy jetzt noch einmal seufzen, hält es aber zurück. Stattdessen richtet sie den Blick nach unten und hat eigentlich vor, ihre eigenen Schuhspitzen zu beobachten, was aber leider genauso wenig möglich ist, wie von Jez abzurücken, da sie so dicht gedrängt an Jez steht, dass sie nicht bis auf den Boden gucken kann. Sie hebt die Augenlider wieder und lässt ihren Blick durch den überfüllten Bus wandern, allein aus dem Grund, weil sie Jez nicht mehr ansehen will. Weil sein Anblick dieses Gefühl in ihr anschwellen lässt, ähnlich, wie ein mit Wasser vollgesogener Schwamm. Kimmys Blick fällt auf einige jüngere Schüler, die etwas weiter hinten im Bus stehen. Schon an der auffällig blauen Bomberjacke kann Kimmy ihren Cousin Jonas erkennen, der in genau diesem Moment den Kopf zu ihr wendet, als hätte er ihren Blick bemerkt. Noch bevor Kimmys irgendetwas machen kann, beginnt er zu grinsen, hebt beide Hände, sodass Kimmy sie gerade so sehen kann und formt damit ein Herz. Für einen Moment sieht Kimmy ihn fragend an, bevor sie versteht, was er ihr mit dem Herz sagen will. Sie presst die Lippen aufeinander und schüttelt ganz sachte, aber trotzdem gut sichtbar den Kopf. Das Grinsen verschwindet trotz allem nicht aus dem Gesicht ihres Cousins. Kimmy kann nicht anders, sie verdreht die Augen und wendet den Blick ab, weiß im nächsten Moment, als der Busfahrer an ihrer Haltestation bremst und sie sich wieder an Jez Arm festklammert, dass Jonas ihr sowieso nicht glaubt.
Anstatt sich weiter Gedanken darüber zu machen, was Jonas von ihr denken mag, schiebt Kimmy sich, gefolgt von Jez, aus dem Bus heraus und schlägt gleich den Weg nach Hause ein.
Die Sonne strahlt warm auf sie herab und blendet sie. Kimmy kneift die Augen zusammen und wendet den Blick auf den Boden, da die Sonne so nicht mehr so extrem blendet. Das Gefühl, das sie bis eben noch verspürt und das hart gegen die Trauer gekämpft hat, ist, seit sie Jez Arm losgelassen hat, wieder ein wenig abgeflacht, aber in ihrem Inneren immer noch deutlich spürbar. Vielleicht aus dem Grund, weil sie Jez Schritte deutlich neben sich hören kann. Vielleicht auch einfach, weil er in ihrer Nähe ist. Aber um ehrlich zu sein, will Kimmy nicht länger darüber grübeln. Obwohl es ein schöneres Bild vor ihrem inneren Augenlid ist, als die letzten Bilder von ihrem Bruder. Nur mit viel Mühe kann Kimmy sich ein Seufzen unterdrücken. Sie hebt den Kopf, als Jez ein leises: „Tschüss“, murmelt. Erst jetzt merkt sie, dass sie den Weg von der Haltestelle bis nach Hause schon zurückgelegt hat. Kimmy lächelt kurz und murmelt ebenfalls ein: „Tschüss“, bevor sie die Straße überquert und ihren Schlüssel aus der Jackentasche zieht.
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Schweigend rührt Kimmy mit ihrem Löffel lustlos in der Kartoffelsuppe auf ihrem Teller herum und taucht das Stück Brot, das sie in der anderen Hand hält, in die warme Flüssigkeit. Auch ihre Eltern, die beide mit am Tisch sitzen, schweigen und beobachten ihre Tochter. Das weiß Kimmy, auch ohne dass sie den Blick von ihrem Teller heben muss.
„Kimmy, auch wenn heute kein schöner Tag für dich ist, du musst trotzdem was essen.“ Kimmy hebt den Blick, sieht ihre Mutter einen Augenblick an und murmelt, noch während sie den Blick wieder auf ihren Teller senkt:
„Ich esse doch…“ Mit einem leise kappenden Geräusch legt Kimmys Mutter ihren Löffel auf den Tellerrand.
„Du rührst du in deinem Essen herum.“ Kimmy hebt den Blick wieder und lässt ihren Löffel in ihre Suppe sinken. Kann ihre Mutter sie nicht einfach in Ruhe lassen?
„Warum ist heute nur für mich ein beschissener Tag?“ Sowohl Kimmys Mutter als auch ihr Vater seufzen leise.
„Kimmy. Es ist fünf Jahre her. Keiner kann das Geschehene wieder rückgängig machen.“ Die Stimme ihres Vaters klingt um einiges sanfter als sonst. Aber das nimmt Kimmy gar nicht richtig war. Viel mehr klingen die Worte in ihren Ohren wider. „Ich würde mir auch nichts sehnlicher wünschen, als dass Lennard noch leben würde.“ Kimmy sieht ihrem Vater in die Augen. Solche Gespräche, über ihren toten Bruder und gleichzeitig über den toten Sohn ihrer Eltern gibt es nicht oft. Vielleicht hoffen ihre Eltern, dass sie ihn so vergisst. Irgendwie, irgendwann. „Aber es hat keinen Sinn an einer Person festzuhalten, wenn man weiß, dass sie nie wieder zu einem zurückkehren wird.“ Langsam legt Kimmy ihren Löffel nun ganz auf ihrem Teller ab und sieht ihren Vater aus glänzenden Augen an.
„Willst du mir damit wirklich sagen, dass ich meinen eigenen Bruder vergessen soll?!“ Kimmy versucht es nicht einmal ihrer Stimme die Kraft zu geben, die sie sonst besitzt. Der Schmerz über die Erkenntnis, dass ihr Vater ihr wirklich gerade versteckt gesagt hat, dass sie Lennard vergessen soll, brennt zu sehr in ihrem ganzen Körper, als dass sie auf so etwas Unnötiges Acht geben könnte.
„Nein, Kimmy…“ Weiter kommt Kimmys Vater nicht, denn sie erhebt sich, sieht ihre Eltern noch einmal an und flüstert dann:
„Vielleicht könnt ihr das ja. Ich nicht!“ Dann verlässt sie die Küche, schlüpft im Flur in ihre Schuhe und eine Jacke, nach der sie tränenblind gegriffen hat, bevor sie das Haus verlässt. Nicht einmal das verzweifelte: „Warte doch, Kimmy!“, von ihrer Mutter kann sie aufhalten.
Tränenblind eilt sie die Straße entlang. Ihr ist egal, ob jemand sie jetzt sieht. Ihr ist alles egal! Egal, ob ihre Eltern sich jetzt Vorwürfe machen! Egal, ob jemand sie sehen könnte und sich fragen könnte, warum eine Selchzehnjährige weinend die Straßen entlangläuft. Ihr kreist nur noch ein Gedanke im Kopf herum. Es hat keinen Sinn an einer Person festzuhalten, wenn man weiß, dass sie nie wieder zu einem zurückkehren wird. Nein! Nein, sie kann ihn nicht vergessen! Er ist ihr Bruder! Ihr Zwillingsbruder!
Kimmy weiß nicht, wohin ihre Beine sie tragen. Sie läuft einfach immer weiter und weiter, bis sie irgendwann die Tränen, die über ihre Wangen rinnen, mit den Handrücken wegwischt und den Kopf hebt.
***
Langsam lässt Jez seinen Blick über den klaren See wandern. Irgendwie hat es ihn, nachdem er Mittag gegessen hat, hierhergezogen. Vielleicht einfach, weil er ein bisschen Zeit zum Nachdenken braucht. Ob es eine gute Idee ist, am nächsten Tag mit Kimmy zu reden. Ob man ihm heute im Bus anmerken konnte, wie positiv verrückt sie ihn gemacht hat. Dass er sie am liebsten mit beiden Armen festgehalten hätte und es nur nicht getan hat, weil viel zu viele andere Menschen im Bus waren, er der Meinung ist, dass er Kimmy nicht heute, nicht an einem so schweren Tag für sie einfach ‚überfallen‘ kann und, weil er es sich, auch wenn sie alleine gewesen wären und auch wenn heute ein x-beliebiger andere Tag gewesen wäre, trotzdem nicht getraut hätte.
Jez löst den Blick von dem See, als er leise, noch weit entfernte Schritte wahrnimmt. Nicht, dass es etwas Besonderes wäre, dass hier auch mal der ein oder andere Mensch durchläuft, aber normalerweise nicht um diese Tageszeit. Es ist vielleicht gerade einmal dreizehn Uhr fünfundvierzig. Jez dreht sich ein wenig, sodass er die kleine Bucht hinaufsehen kann. Schnell nähern sich die Schritte, bis eine Person in Jez Blickfeld erscheint, die zielstrebig an der Bucht vorbeiläuft. Leise holt Jez Luft und erhebt sich ganz langsam und leise, als er die Person erkennt. Kimmy! Ohne zu wissen warum, erhebt Jez sich, läuft leise die Bucht hinauf und dreht den Kopf in die Richtung, in die Kimmy gegangen ist. Gerade biegt sie, zwei Buchten weiter, ein. Einen Moment zögert Jez, dann folgt er ihr, langsam und leise und bleibt hinter den hohen Bäumen und Sträuchern, die ihn verdecken, aber freie Sicht auf Kimmy geben, stehen. Sie sitzt mit angezogenen Beinen auf dem trockenen Kies und hat den Kopf nach vorne gelegt. Ganz leicht, kaum sichtbar, kann man sehen, wie ihre Schultern zittern, als würde sie weinen. Jez senkt den Kopf und schießt die Augen. Soll er zu ihr gehen und versuchen sie zu trösten? Aber wie kann man einen Menschen trösten, der aus Trauer, weil er eine wichtige Person verloren hat, weint? Jez öffnet die Augen wieder und atmet entschieden einmal ein und wieder aus. Wenn er jetzt nicht zu Kimmy geht und stattdessen nach Hause geht, macht er sich in spätestens einer Stunde Vorwürfe, warum er so feige war!
Langsam und leise – obwohl leise eigentlich nicht möglich ist, da die Kieselsteinchen laut unter seinen Schuhsohlen knirschen – geht Jez die Bucht zu Kimmys kauernder Gestalt hinunter. Jez ist noch keine drei Schritte gegangen, da kann er schon an Kimmys Körperhaltung erkennen, dass die ihn gehört hat. Ihre Schultern sind angespannt, zittern aber immer noch, was ihn darauf schließen lässt, dass sie trotzdem noch weint. Ganz langsam geht Jez die maximal fünf Meter zu Kimmy herüber und setzt sich dann neben sie auf den Kies.
„Geh. Bitte.“ Es sind nur zwei Worte, die Kimmy haucht. Und ihre Stimme klingt nicht bittend. Sie klingt flehend.
„Warum?“, flüstert Jez leise, winkelt die Beine wie Kimmy an und dreht den Kopf zu ihr. Kimmy hat das Gesicht noch immer in ihren Armen verborgen, hebt jetzt aber doch den Kopf und sieht ihn aus tränennassen Augen ein bisschen überrascht an. Ganz vorsichtig beginnt Jez zu lächeln.
„Ich dachte, du wärst jemand anders…“ Kimmy wendet den Kopf ab, wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht, senkt den Blick auf ihre Schuhe und schweigt.
„Warum weinst du?“ Deutlich kann Kimmy das Gefühl, dass sie schon im Bus verspürt hat, als sie sich an Jez Arm festgehalten hat, wieder in ihrem Inneren aufkeimen spüren. Ob es daran liegt, dass Jez einfach nur in ihrer Nähe ist, oder ob es daran liegt, dass seine Schulter ihre ganz leicht berührt, wird sie wohl nie erfahren. Die Tränen, die gerade, für einen Moment versiegt waren, steigen ihr, bei dem Gedanken daran, warum sie geweint hat, wieder in die Augen. Von Jez nicht unbemerkt. Er sieht sie aus seinen intensiv grünen Augen von der Seite an. Irgendwann hält es Kimmy nicht mehr aus. Sie wendet den Kopf komplett von Jez ab und spürt im nächsten Moment, wie ihr heiße Tränen aus den äußeren Augenwinken entwischen. Schnell wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie den Kopf wieder gerade dreht und über den See blickt.
„Ich soll ihn vergessen.“ Kimmy ist bewusst, dass Jez mit diesen vier Worten womöglich nicht viel anfangen kann, aber ihre Stimme hat schon so fast versagt, sosehr schmerzen sie. Wieder und wieder bahnen sich neue Tränen den Weg aus ihren Augenwinkeln.
„Wer sagt das?“ Man könnte Jez Stimme mit einem Flüstern vergleichen. Einem Flüstern, das irgendwie beruhigend wirkt. Kimmy schließt die Augen und senkt den Kopf.
„Meine Eltern.“ Die Sonne strahlt hell in ihr Gesicht und lässt die Tränen, die ihre Wangen herunterrollen und von ihrem Kinn auf ihre Hose tropfen, glitzern. Ein leises Schluchzen bahnt sich den Weg aus ihrem Körper und lässt sie erzittern. „Ich kann ihn nicht vergessen.“ Kimmy spürt, wie Jez näher an sie heranrückt und mit der Hand sanft ihren Rücken berührt. „Er war mein Bruder. Mein Zwillingsbruder…“ Bei den letzten beiden Worten versagt Kimmys Stimme. Sie vergräbt das Gesicht in ihren Händen und beginnt leise zu schluchzen. Erst, als sie spürt, wie Jez seinen Arm sanft um ihren Rücken legt, hebt sie den Kopf ein kleinen wenig und erkennt, dass er ihr seine Arme anbietet. Keinen Augenblick zögert Kimmy. Sie dreht sich und lässt sich von Jez in die Arme nehmen. Schnell lehnt sie den Kopf gegen seine linke Schulter. Ganz sanft schließt Jez seine Arme um ihren Körper und streicht ihr mit einer Hand beruhigend über den Hinterkopf. Die Tränen stillt das trotzdem nicht. Kimmy muss jetzt einfach mal weinen. Sich bei jemanden ausweinen, der einfach nur bei ihr ist und ihr nicht die ganze Zeit irgendwelche hilfreichen Tipps geben will.
Lange hält Jez Kimmy einfach nur in seinen Armen und sieht über das ruhige Wasser des Sees. Entweder, es kommt ihm nur so vor, oder das Zittern, das ein Zeichen dafür ist, dass Kimmy noch immer weint, hat ein wenig nachgelassen. Vorsichtig legt Jez seinen Kopf ein bisschen nach vorne, sodass er Kimmys Haare auf seiner Wange kitzeln spürt. Für einen Augenblick schließt Jez die Augen und versucht Kimmys Nähe einfach nur zu genießen. Das gelingt ihm aber bei dem Wissen, in was für einer Situation sie sich gerade befindet, nicht wirklich. Er öffnet die Augen wieder, als Kimmy sich ganz leicht von seiner Schulter wegdrückt und nimmt dann beide Arme von ihr, sodass sie sich wieder aufsetzten kann. Ihren Augen sind rot vom Weinen und die Tränen haben rötliche Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Mit einer Hand wischt Kimmy sich die letzten Tränen von den Wangen, dann winkelt sie die Beine wieder an und sieht auf die Kieselsteinchen vor ihren Füßen.
„Ich bekomm die Bilder einfach nicht mehr aus dem Kopf.“ Kimmy schließt die Augen. An ihrer Stimme, ganz leise und ein bisschen rau, kann man hören, dass sie bis gerade noch geweint hat. Schweigend mustert Jez Kimmy. „Selbst die schönen Erinnerungen tun so weh…“ Eigentlich würde man jetzt erwarten, dass Kimmy erneut die Tränen in die Augen steigen. Aber diesmal schafft sie es, sie zurückzuhalten, indem sie die Augen öffnet, den Kopf hebt und die warme Luft um sich herum einmal tief einatmet. Nachdenklich sieht Kimmy über den See. „Vielleicht kannst du dir das nicht vorstellen, aber ich war früher -“ Kimmy macht eine Pause und sucht nach den richtigen Worten. „Ich habe früher immer erst gehandelt und dann darüber nachgedacht. Und Lennard war immer der, der dafür gesorgt hat, dass ich nicht so viel Ärger bekomme.“ Für ein paar Sekunden senkt Kimmy die Augenlider. Die Tränen sind mittlerweile komplett aus ihren Augen verschwunden. Stattdessen spürt sie jetzt einen unangenehmen Druck auf dem Brustkorb, den sie immer verspürt, wenn sie über die Weinphase hinaus ist. „Er war irgendwie so wie du.“ Kimmy flüstert nur noch. Weil es ihr schwerfällt, die Worte auszusprechen. Nicht, weil sie ihren Bruder mit irgendjemand anderem vergleicht. Sondern weil sie ihren Bruder mit Jez vergleicht. Schweigend wartet Kimmy auf eine Reaktion von Jez, der einfach nur über den See hinüber ans andere Ufer sieht.
„Ich weiß.“ Noch bevor Kimmy das Gefühl der Überraschung verspüren kann, wendet Jez seinen Kopf zu ihr. „Kannst du dich noch an den Jungen erinnern, der manchmal gegenüber bei seinen Großeltern zu Besuch war?“ Die Andeutung eines Lächelns huscht auf seinen Lippen, als er in Kimmys Augen erkennen kann, wie sie, nachdem sie einen Moment nachgedacht hat, wirklich eine Erinnerung findet.
„Du?“, flüstert sie. In ihren Augen ist der Unglaube deutlich zu erkennen. Ein neutraler Unglaube, kein Negativer. Jez wendet den Kopf wieder ab und sieht an die schwappende Uferkante.
„Ich habe es auch nicht mehr gewusst…“ Kimmy mustert Jez Profil und kann auf seinen Lippen nun ein deutliches Lächeln erkennen. „Meine Oma hat es mir gesagt.“ Kimmy lässt ihren Blick, während Jez eine Pause macht, langsam den See entlangwandern. „Ich weiß nicht. Ich habe das alles hier irgendwie total vergessen. Aber jetzt - es sind total viele Erinnerungen wieder zurückgekommen.“ Kimmy schließt lächelnd die Augen. Die Vorstellung, dass sie Jez schon früher gekannt hat und dass er früher der Junge war, mit dem ihr Bruder ein Herz und eine Seele war, ist zwar irgendwie komisch, aber trotzdem irgendwie auch schön. Erst der nächste Gedanke treibt ihr das Lächeln wieder aus dem Gesicht und zwingt sie dazu, die Augen zu öffnen.
„Du warst im Sommer nach seinem Tod nicht da.“ Ungewollt hat sie es wie ein Vorwurf klingen lassen.
„Ich weiß.“ Schweigend sieht Kimmy Jez von der Seite an. Er dreht einen der kleinen Kieselsteinchen zwischen seinen Fingern. „Ich hätte eigentlich wissen müssen, dass irgendetwas passiert ist. Beim Final Four war die ganze Mannschaft vom SuS da und ich habe nicht gemerkt, dass es die Mannschaft war, in der Lennard auch gespielt hat. Und dann durfte ich nicht herkommen.“ Jez macht eine Pause und lässt den Stein, den er in der Hand hält, fallen. Er sieht sie nicht an, sieht nur auf das schwappende Wasser und scheint in Erinnerungen versunken. Kimmy senkt den Blick auf das Steinemeer vor sich. Auch wenn es eine billige Ausrede sein könnte, Kimmy weiß, dass Jez sie in diesem Moment nicht anlügt. „Irgendwie - ich war danach noch einmal da und hab dich gesehen. Aber keiner hat mir meine Frage, wo Lennard ist, beantwortet.“ Er zuckt kaum bemerkbar mit den Schultern. „Danach habe ich nicht mehr gefragt und es dann irgendwann vergessen.“ Jez senkt die Augenlider. Einen Moment zögert Kimmy, dann rückt sie näher an Jez heran, sodass ihre Schulter seine deutlich berührt. Überrascht öffnet Jez die Augen und sieht Kimmy aus seinen grünen Augen an. Diese lächelt zaghaft.
„Darf ich dich noch mal umarmen?“ Kimmy zwingt sich dazu, den Blick nicht zu senken. Aus diesem Grund kann sie aber auch das überrascht Glitzern in Jez Augen erkennen, bevor er sich ein wenig aufrichtet und den rechten Arm hebt, sodass er Kimmy in den Arm nehmen kann. Kimmy lässt sich in Jez Arme sinken und spürt, wie er seine Arme um sie schließt. Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, als sie die Arme um Jez Hals legt, das Gesicht in sein T-Shirt drückt und seinen warmen, angenehmen Geruch einatmet. An ihrem Hinterkopf spürt Kimmy, wie er seinen Kopf gegen ihren lehnt.
„Es tut mir leid…“ Auch wenn Jez flüstert, sein Brustkorb vibriert trotzdem. Kimmy dreht den Kopf und lehnt nun mit der Wange an Jez Schulter.
„Was tut dir leid?“ Sie hat die Augen geschlossen. Auch wenn das komische Falschheitsgefühl immer noch in ihrem Brustkorb spürbar ist, sie muss Jez Nähe einfach genießen.
„Alles…“ Jez macht eine kleine Pause. „Dass ich ihn vergessen habe. Und alles, was in den letzten drei Wochen passiert ist.“ Kimmy hebt den Kopf und sieht Jez tief in die Augen.
„Erzählst du mir, was wirklich passiert ist?“ Ein sanftes Lächeln huscht über Jez Lippen, als Kimmy sich aufrichtet und ihn von der Seite mustert.
„Alles?“ Kimmy sieht Jez lächelnd in die Augen. Ihre Augen sind immer noch rot, aber die Tränenspuren auf ihren Wangen sind kaum noch sichtbar.
„Alles.“ Lächelnd wendet Jez den Blick für einen Moment ab, dann dreht er sich, dass er Kimmy gegenüber sitzt und sie direkt ansehen kann.
„Am Big Blöpp…“ Jez bricht schon jetzt, nach diesen drei Worten, das erste Mal ab und überlegt sich genau, wie er das Folgende formulieren soll.
„…ich habe zu viel getrunken…“ Kimmy lächelt sanft, fast ein bisschen aufmunternd. Kaum sichtbar nickt Jez.
„Ich wollte dich heim bringen, aber du hast zu mir gesagt, dass du Ärger bekommst, wenn du betrunken bist. Und deshalb habe ich dich mit zu mir genommen.“ Er senkt den Blick. „Als ich dich in mein Zimmer gebracht habe, hast du mich geküsst.“ Schweigend starrt Jez auf die Steine vor seinen Füßen, als hätte er Angst davor, Kimmys Reaktion zu sehen.
„Und dann?“, flüstert Kimmy. Sie traut sich nicht lauter zu sprechen. Ein sanftes und gleichzeitig fragendes Lächeln liegt auf ihren Lippen, als Jez den Kopf hebt und ihr wieder in die Augen sieht.
„Ich…“ Jez schließt die Augen. „…habe dich von mir weggedrückt und gesagt, dass es besser ist, wenn du schläfst.“ Kimmy nimmt genau wahr, wie Jez seine Augen ganz langsam, wie in Zeitlupe wieder öffnet. „Ich habe mich zu dir gelegt und du hast mich wieder geküsst und…“ Jez senkt den Kopf und schließt die Augen wieder. Dass es ihm so schwer fallen würde, ihr einfach alles zu erzählen, hat Kimmy nicht vermutet.
„…du hast es erwidert?“ Das verzögerte Nicken von Jez lässt Kimmy erst einmal bewusstwerden, wie sehr Jez solche Jungs hassen muss. Jungs, die Mädchen dann versuchen ins Bett zu bekommen, wenn sie betrunken und hilflos sind.
„Ja.“ Jez schließt die Augen ein weiteres Mal. „Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber…“ Jez öffnet die Augen wieder und sieht Kimmy an, bevor er weiterspricht. „…es war einfach zu schön.“ Ein Lächeln huscht über Kimmy Lippen und scheint Jez zu zeigen, dass sie ihm nicht mehr böse ist. „Ja, wir haben uns geküsst, aber…“ Kimmy legt den Kopf schief, bevor sie Jez unterbricht.
„Jez? Ich weiß, dass du nicht mit mir geschlafen hast.“ Jez sieht Kimmy fragend an. Positiv fragend. „Ich hatte Angst, weil ich nicht wusste, was passiert ist. Und deshalb habe ich mir das Schlimmste ausgemalt und mir solange eingeredet, dass das passiert ist, bis ich wirklich daran geglaubt habe.“ Kimmy beginnt erleichtert zu lächeln, als sie Jez erleichtertes Lächeln sieht, was aber schnell wieder verfliegt.
„Und das mit Romy…“ Jez greift wieder nach einem der Steichen und dreht ihn in einer Hand. „Ich weiß nicht, ob du mich an dem Tag gesehen hast. Betty und Max haben mich zu einem deiner Spiele mitgenommen und wollten, dass ich mit dir rede.“ Kimmy senkt, genau wie Jez, den Blick und nickt kaum bemerklich. „Ich bin abgehauen. Irgendwie hatte ich Angst davor, was du sagen könntest. Romy hat mich nach dem Spiel angeschrieben und gesagt, dass sie unbedingt mit mir reden muss.“ Leise seufzt Jez. „Sie hat mir erzählt, dass Betty sie gebeten hat, mit dir zu reden - wegen Finn.“ Einen Moment hebt Jez den Blick und versucht Kimmys Mimik zu deuten. „Sie hat mir dann gesagt, dass ich mit dir reden soll, weil sie glaubt, es würde mehr bringen.“ Mit einem leisen ‚Plopp‘-Geräusch lässt Jez den Stein aus seiner Hand fallen. „Und dann hat sie mir gesagt, dass sie Finn liebt.“ Als Kimmy den Blick hebt, kann er deutlich das schlechte Gewissen sehen, das sie wohl hat, weil sie den Jungen, den ihre Freundin liebt, einfach ausgenutzt hat. „Als ihr dann plötzlich zusammen wart…“ Jez senkt den Blick wieder und atmet leise aus. „...der Kuss zwischen Romy und mir war eine Kurzschlussreaktion.“ Kimmy sieht Jez aus ihren braunen Augen an. Sie kann deutlich erkennen, dass Jez Angst hat, den Blick zu heben. „Er ist bedeutungslos.“ Weil sie es einfach nicht mehr aushält, dass Jez vor sich hinstarrt und sie genau weiß, dass er Angst vor ihrer Reaktion hat, holt Kimmy entschlossen Luft.
„Ich weiß.“ Jez hebt den Blick und sieht Kimmy aus schimmernden Augen an. „Romy hat es mir gesagt. Und ich glaube euch.“ Die Andeutung eines Lächelns liegt auf Jez Lippen. Jetzt ist er es, der sich vorlehnt und Kimmy einfach in den Arm nimmt. Ein bisschen überrascht erwidert Kimmy die Umarmung.
„Danke“, flüstert Jez leise, als er sich von ihr löst. In seinen Augen kann Kimmy deutlich erkennen, dass dieses ‚Danke‘ wirklich von Herzen kommt.
„Jez?“ Kimmys Augen glitzern in der Sonne, als sie zu Jez, der auch im Sitzen ein kleines Stück größer ist als sie, hinaufsieht.
„Ja?“ Kimmy senkt den Blick. Eigentlich ist es schon schön blöd von ihr, diesen Moment jetzt so zu beenden, aber irgendwas sagt ihr, dass sie das, was sie wahrscheinlich erwarten könnte, nicht heute erleben will. Wegen Lennard.
„Ich bin vorhin einfach abgehauen.“ Kimmy macht eine kurze Pause. „Ich glaube, meine Eltern machen sich Sorgen…“
„Soll ich mit dir kommen?“ Als Kimmy den Blick hebt, liegt ein zartes, leichtes Lächeln auf Jez Lippen. Kaum sichtbar nickt Kimmy und sieht Jez dann dabei zu, wie er aufsteht und ihr beide Hände entgegenhält, sodass er sie hochziehen kann. Erleichtert, dass sie nicht alleine zurück muss, lässt sich Kimmy von Jez hochziehen, bevor sie mit beiden Händen den Staub von ihrer Hose wischt und Jez von der Seite ansieht. Er lächelt sanft, macht zwei Schritte buchtaufwärts, bleibt stehen und wartet darauf, dass Kimmy ihm folgt. Seine grünen Augen fixieren sie ununterbrochen. Kimmy senkt für einen Moment den Blick – vielleicht, weil Jez grüne Augen sie irgendwie total durcheinanderbringen – hebt ihn dann aber wieder und setzt sich entschlossen in Bewegung. Schweigend verlässt sie mit Jez die Bucht.
Ohne es wirklich zu merken, läuft Jez so dicht neben Kimmy, dass man meinen könnte, ihre Hand würde in seiner liegen. Jez senkt den Blick, noch immer schweigend, auf den grauen Asphalt vor seinen Füßen, bevor er ganz vorsichtig, ohne lange darüber nachzudenken, nach Kimmys Hand tastet. Als seine Hand ihre Finger berührt, zuckt Kimmy weg und sieht Jez überrascht von der Seite an. Es fühlt sich fast wie ein Korb an, den Kimmy ihm gegeben hat, deshalb wendet Jez schnell den Blick ab, hebt ihn im nächsten Moment aber wieder, als er spürt, wie Kimmys Finger seine Hand wieder berühren. Sie lächelt einen Moment, bevor sie mit der Hand nach seiner greift und ihre Finger in seinen verschränkt. Lächelnd senkt Jez den Blick wieder auf den Asphalt vor sich und schließt die Augen, während die wohlige Wärme von Kimmys Fingern zu seiner hervordringt. Ein warmes, beinahe schon heißes Kribbeln breitet sich in Jez gesamtem Körper. Und es würde sich nicht einmal mehr verjagen lassen, wenn Kimmy ihre Hand seiner wieder entziehen würde.
Je näher Jez und Kimmy dem Haus ihrer Eltern kommen, umso mehr spürt er auch, dass sie wirklich Bammel davor hat, nach Hause zu gehen. Kimmy verlangsamt ihre Schritte nicht plötzlich, aber dennoch bemerkbar. Jez hebt den Blick und verstärkt ein wenig den Druck seiner Hand. Kimmy sieht auf, blickt ihm in die Augen und erwidert das Lächeln, das Jez ihr zuwirft, bevor sie ihren Schlüssel mit der freien Hand aus der Hosentasche zieht und tief einatmet. Unter ihren Füßen knirschen schon die kleinen Steinchen, die den Hof bilden. Jez Hand lässt sie aber trotzdem nicht los. Er steht dicht hinter ihr, als sie die Haustür aufschließt und den Kopf noch einmal zu ihm nach hinten dreht, bevor sie, die Finger immer noch in seinen Fingern verschränkt, das Haus betritt. Jez folgt ihr leise. Für einen Moment hat er das Gefühl, Kimmy würde ihm ihre Hand entziehen, doch stattdessen umfasst sie zwei seiner Finger noch fester und zieht ihn ganz sanft in den Flur. Ohne hinzusehen drückt Jez mit der freien Hand die Haustür hinter sich zu. Und auch wenn er blind und taub wäre und so Kimmys Mutter - die eilig in den Flur gelaufen kommt und den Satz: „Kimmy, es tut mir so leid!“, nicht einmal zur Hälfte ausgesprochen hat - nicht gesehen oder gehört hätte, er hätte es allein daran gemerkt, dass Kimmy seine Hand fester drückt. Ob er selber der Grund dafür ist, dass Kimmys Mutter mitten im Satz abgebrochen hat, weiß Jez nicht, vermutet es aber. Kimmy sieht ihre Mutter einen Augenblick an, dann dreht sie sich zur Treppe und zieht sanft an Jez Hand, sodass er ihr hinauf folgt. Jez lächelt Kimmys Mutter einmal kurz zu, warum weiß er selbst nicht. Vielleicht, weil er hofft, so einen besseren Eindruck zu machen. Dann folgt er Kimmy nach oben in ihr Zimmer, wo sie ihre Hand aus seiner löst und den Schlüssel im Schlüsselloch dreht, bevor sie sich zu ihm umdreht, an ihm vorbeigeht und sich auf die Kante ihres Bettes fallen lässt. Sie fährt sich mit beiden Händen durch die offenen Haare und schließt die Augen.
Einen Moment zögert Jez, dann geht er zu ihr und setzt sich dich neben Kimmy. Sie öffnet die Augen, als sie die Bewegung neben sich wahrnimmt, seufzt leise und schlüpft dann aus ihren Schuhen, die sie, genau wie Jez, unten nicht ausgezogen hat. Langsam krabbelt sie an die Wandseite ihres Bettes und lässt ihren Blick über die vielen Bilder, die ihre Wand bedecken, wandern. Jez folgt ihrem Blick und schlüpft dann aus seinen blauen Turnschuhen, bevor er sich neben Kimmy setzt, seinen Blick, genau wie Kimmy, über die Bilder schweifen lässt und sich dann über sie lehnt, als er das gefunden hat, was er gesucht hat. Mit den Augen folgt Kimmy Jez Bewegungen und sieht ihm dabei zu, wie er vorsichtig eins der vielen Bilder von der Wand nimmt und sich dann neben ihr mit dem Rücken gegen ihr großes Kopfkissen lehnt. Schweigend hält er Kimmy das Bild hin und wartet darauf, dass sie danach greift. Einen Moment zögert sie, dann nimmt sie das Bild entgegen und lässt ihren Blick darüber wandern. Es ist, soweit Jez erkennen kann, eins zu eins dasselbe Bild, was er von seiner Oma bekommen hat. Er, Lennard und Kimmy, vielleicht sechs oder sieben Jahre und Jeremy, der gerade alt genug war, um halbwegs aufrecht zu sitzen.
Lange mustert Kimmy das Bild und schweigt, dann lässt sie sich, ohne groß darüber nachzudenken, in dem Kissen ein Stückchen herunterrutschen, bevor sie sich an Jez kuschelt. Für einen Moment sieht Jez Kimmy überrascht an, dann rutscht er wie sie ein Stückchen herunter, sodass er mit Kimmy auf Augenhöhe ist, bevor er sanft zu lächeln beginnt. Kimmy hat die Augenlider bis gerade noch geschlossen gehalten, jetzt öffnet sie sie und sieht Jez in die grünen, fast leuchtenden Augen. Kimmy erwidert sein sanftes Lächeln und senkt die Augenlider wieder, bevor sie den Kopf ein wenig nach vorne lehnt und ihre Stirn Jez Stirn berührt. Lächelnd streicht Jez Kimmy die Haare, die auf ihre Schulter aufliegen, nach hinten.
„Willst du nicht lieber mit deinen Eltern reden?“ Kimmy hebt nicht einmal den Kopf, als Jez die Frage mit gedämpfter Stimmte stellt. Stattdessen deutet sie, soweit es im Liegen geht, ein Kopfschütteln an, bevor sie eine Hand hebt und vorsichtig die Konturen des Rucksackverbands, die sich durch Jez Shirt hindurch deutlich abzeichnen, nachfährt.
„Sie würden jetzt sowieso auf ‚So haben wir das doch nicht gemeint!‘ tun.“ Schweigend hält Jez mit der gleichmäßigen Bewegung, die er gemacht hat, während er eine von Kimmys Haarsträhnen um den Finger gewickelt hat, inne.
„Meinst du?“ Kimmy nickt sachte und lässt ihre Hand auf dem gepolsterten Teil des Rucksackverbands ruhen.
„Entweder versuchen sie es so oder sie reden gar nicht über ihn.“ Jez kann erkennen, dass Kimmy die Augen wieder ein Stück geöffnet hat, obwohl sie sie immer noch gesenkt hält.
„Und was ist das Bessere von beidem?“ Jez hat wieder angefangen, Kimmys Haarsträhne um seinen Finger zu wickeln und hält abermals inne, als Kimmy den Kopf hebt, sich mit einer Hand auf der Matratze abstützt und sich aufsetzt.
„Was?“ Die Verwirrung ist ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Jez stützt sich auf beide Ellbogen, als er zu Kimmy hinaufsieht.
„Was ist besser? Darüber zu reden oder nicht?“ Kimmy sieht Jez einen Moment aus ihren braunen Augen an, dann lässt sie sich wieder mit dem Kopf auf seine rechte Schulter sinken, bevor sie mit den Fingern sanft den Rucksackverband nachfährt.
„Ich habe noch nie mit jemanden über ihn geredet, ohne irgendwelche sinnlosen Tipps bekommen zu haben.“ Jez lässt seine Finger wieder durch Kimmys Haare gleiten, bis er an den Haarspitzen angekommen ist und wieder beginnt, die Locken sanft nachzudrehen.
„Dann rede mit mir.“ Jez Stimme ist vergleichbar mit einem Flüstern, als er Kimmy die Haarsträhne, die er bis eben noch durch seine Finger hat gleiten lassen, hinter ihr Ohr schiebt.
„Ich glaube, du verstehst mich genauso wenig wie die anderen.“ Jeder normale Mensch hätte das jetzt wohl als einen Korb gewertet, aber Kimmy hat nur das ausgesprochen, was Jez selbst denkt.
„Ich weiß. Ich kann dich nicht verstehen.“ Kimmy setzt sich auf und sieht Jez einen Moment lang an. „Und um ehrlich zu sein bin ich froh, dass ich dich nicht verstehen kann.“ Kimmy sieht Jez noch einen Moment enttäuscht in die Augen, dann erhebt sie sich von ihrem Bett, verschränkt die Arme vor der Brust und geht langsam, Jez den Rücken zugewandt, auf ihr Zimmerfenster zu.
„Warum bist du dann überhaupt mit hierhergekommen?“ Kimmy senkt den Kopf ein wenig und schließt die Augen. Tränen brennen darin. Tränen der Enttäuschung. Weil sie sich ein weites Mal in Jez geirrt hat.
Langsam erhebt sich Jez von Kimmys Bett und geht auf sie zu.
„Ich kann dich nicht verstehen. Genauso wenig wie Betty, Max oder wer weiß wer anderes dich nicht verstehen kann.“ Jez macht eine Pause und bleibt direkt hinter Kimmy stehen, sodass sie seine Köperwärme spüren kann. Am liebsten würde sie sich jetzt umdrehen und ihm eine scheuern. Kann er nicht einfach verschwinden?! „Keiner, der nicht annähernd dasselbe durchgemacht hat wie du, kann nur ansatzweise das fühlen, was du fühlst.“ Eine Träne rinnt aus Kimmys Auge, doch den Drang, sie wegzuwischen und sie so vor Jez zu verbergen, verspürt Kimmy nicht mehr. „Mein Bruder lebt noch. Ich könnte mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn er plötzlich einfach weg wäre. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich kann dich verstehen.“ Weitere Tränen steigen in Kimmys Augen. Einerseits Tränen, die aus Trauer und Schmerz wegen Lennard bestehen und andererseits Tränen, die aus Erleichterung bestehen. Erleichterung, weil sie sich in Jez doch nicht geirrt hat. Er ist nur der Erste, der offen und ehrlich sagt, dass er sie nicht verstehen kann. Der sie nicht verstehen kann, aber eine ehrliche Begründung hat. Kimmy spürt noch immer, wie dicht Jez hinter ihr steht. Sie dreht sich um, lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter und beginnt leise zu schluchzen. Ganz sanft legt Jez seine Arme um Kimmy und flüstert ihr leise: „Du sollst nicht weinen“, ins Ohr, als sie die Arme hebt und sie in dem weichen Stoff seines Shirts vergräbt. Ihr Körper zittert bei jedem erneuten Schluchzen in Jez Armen. Mit einer Hand streicht Jez ganz leicht über Kimmys Hinterkopf. „Bitte.“ Unabsichtlich berühren seine Lippen Kimmys Wange, als er ihr beruhigend ins Ohr flüstert. Kimmy hebt den Kopf und sieht Jez aus jetzt wieder roten Augen an.
„Ich vermisse ihn so“, flüstert sie leise, senkt den Kopf wieder und drückt das Gesicht in Jez Shirt. Kimmys Stimme versagt fast, als sie Jez warme Hände auf ihrem Rücken spürt. „Jeder hat gesagt, dass man ihn nicht vergessen kann.“ Kimmy hebt den Kopf. Noch immer kullern Tränen aus ihren Augenwinkeln. „Und plötzlich hattest du das Trikot mit seiner Nummer an.“ Jez hält in der Bewegung inne und nimmt deutlich wahr, wie Kimmy ihre Stirn wieder gegen seine Schulter lehnt. Einen Moment braucht er, bis er versteht, dass Kimmy von seinem Handballtrikot mit der Nummer neun spricht. Lennards Nummer neun.
„Sie wird auch immer Lennards Nummer bleiben.“ Sanft streicht Jez Kimmy noch einmal übers Haar, bevor er sie langsam, quer durch das Zimmer zu ihrem Bett führt. Ganz vorsichtig drückt er sie von seiner Schulter und setzt sie auf die Bettkante. Kimmy sieht zu ihm auf. Eine Träne kullert aus ihrem Augenwinkel. Mit dem Handrücken wischt sie sie von der Wange und kriecht dann weiter nach hinten auf ihr Bett. Jez setzt sich neben Kimmy auf das Bett und lehnt sich mit den Rücken gegen Kimmys Kissen. Er hebt beide Arme und schließt sie um Kimmys Körper, als sie sich in seine Arme legt und leise schnieft. Sanft und geschickt zugleich fährt Jez langsam und gleichmäßig mit seinen Fingern über Kimmys Wirbelsäule. Irgendetwas in ihm sagt ihm, dass er es besser jetzt auf sich beruhen lässt. Und dass er einfach nur bei Kimmy bleiben soll, sodass sie merkt, dass sie nicht alleine ist.
Lange streicht Jez schweigend mit den Fingern über Kimmys Rücken. Die Tränen auf ihren Wangen sind mittlerweile getrocknet und auch das leichte Zittern erfüllt ihren Körper nicht mehr. Stattdessen atmet sie so ruhig und gleichmäßig, dass man denken könnte, sie würde schlafen. Vorsichtig hebt Jez eine Hand und streicht ihr zwei Haarsträhnen, die ihr übers Gesicht fallen, über die Schulter. Ein Lächeln huscht auf Jez Lippen, als Kimmys gleichmäßige, entspannt Züge mustert und erkennt, dass sie wirklich schläft. Langsam lehnt er den Kopf nach hinten in Kimmys Kissen und schließt die Augen. Im nächsten Moment öffnet er die Augen wieder und lässt seinen Blick durch das Zimmer bis zum Fenster wandern. Die hellen, warmen Sonnenstrahlen, die bis vor weniger als einer halben Stunde noch auf die Erde geschienen haben, sind von grauen Regenwolken verdrängt wurden. Nachdenklich streicht Jez mit einer Hand langsam über Kimmys Hinterkopf. Soll er es ihr morgen noch einmal sagen? Jetzt, wo sie nicht mehr sauer auf ihn ist? Mit den Fingern löst Jez einen Knoten aus Kimmys Haaren. Ich liebe dich… Sein Blick fällt wieder auf Kimmy, die sich in seinen Arm kuschelt und die rechte Hand auf seiner Brust gebettet hat. Ja, er liebt dieses Mädchen. In Jez Innerem kriecht der Drang, sich einfach zu Kimmy zu lehnen und sie zu küssen, empor. Aber er widersteht dem Drang. Vielleicht, weil ein anderes, Unbehagens Gefühl den Drang versucht wegzuschieben. Ein Gefühl, das man vielleicht sogar als Angst bezeichnen könnte. Angst davor, dass sie wieder nein sagen könnte. Jez sieht noch einmal zu Kimmy, dann schließt er die Augen und versucht ihre Nähe und ihre Köperwärme einfach nur zu genießen.
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Verschlafen blinzelt Jez, als er aufwacht. Einen Moment brauchen seine Augen, bis sie sich an das Licht im Zimmer gewöhnt haben. Vorsichtig versucht Jez sich aufzusetzen, hält aber inne, als er Kimmy, die noch immer in seinem Arm liegt, wahrnimmt. Sie hat die Beine wie ein Baby eng an den Körper gezogen, den Kopf aber trotzdem noch halb auf seiner Schulter, halb auf seiner Brust gebettet. Müde reibt Jez sich über die Augen und gähnt leise, bevor er versucht sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen, um auf die Uhr zu gucken. Überrascht hebt er die Augenbrauen, als die Digitaluhr auf dem matten Display seines Handys schon halb sechs anzeigt. Er schiebt das Handy wieder in seine Tasche, wirft einen Blick auf Kimmy, die immer noch ruhig schläft und zögert dann. Ganz langsam und vorsichtig, dass er sie nicht weckt, kriecht Jez unter ihr heraus, schiebt ihr das Kopfkissen unter den Kopf und deckt sie mit der dünnen, lilafarbenen Tagesdecke zu, die am Fußende des Bettes liegt. Leise schlüpft Jez in seine Turnschuhe, erhebt sich von der Bettkante und geht zu Kimmys Schreibtisch herüber. Anders als auf seinem Schreibtisch steht alles ordentlich an seinem Platz. Mit der rechten Hand greift Jez einen der kleinen Zettel aus dem bunten Zettelspender, mit der anderen greift er nach dem nächstbesten Stift. Nachdenklich sieht er auf das kleine, weiße Stück Papier, bevor er den Stift ansetzt und so ordentlich wie möglich beginnt zu schreiben.
Als Jez fertig ist, legt er den Zettel mitten auf den Schreibtisch, sodass Kimmy ihn gar nicht übersehen kann, bevor er noch einmal zu ihr herübersieht und dann ihr Zimmer verlässt.
Schweigend setzt Kimmy das Glas mit dem kühlen Orangensaft darin an die Lippen und trinkt einige Züge. Die Sonne scheint hell durch das geschlossene Küchenfenster, obwohl es gerade einmal zehn nach sieben Uhr morgens ist. Leise steht Kimmy auf, stellt ihr Glas in den Geschirrspüler und lehnt sich gegen die Küchenzeile. Gestern Abend, als sie aufgewacht ist und Jez, wie schon zwei Tage zuvor, nicht mehr neben ihr lag, hätte sie, um ehrlich zu sein, am liebsten in Tränen ausbrechen können. Erst, als sie den Zettel auf ihrem Schreibtisch entdeckt hat, auf den er geschrieben hat, dass er noch einen Arzttermin wegen seinem Schlüsselbein hat und sie nicht wecken wollte, hat das drückende Gefühl nachgelassen. Mit beiden Händen stößt Kimmy sich von der Küchenzeile ab, nimmt sich eine Flasche Saftschorle aus dem Kühlschrank und schiebt sie in ihren Rucksack. Ja, vielleicht hätte sie Jez nicht glauben sollen. Mit einem Ruck zieht Kimmy den Reißverschluss zu und schiebt sich dann die Haare, die ihr ins Gesicht fallen, hinters Ohr. Aber irgendwie hat er ihr, als er ihr gesagt hat, dass er sie nicht verstehen kann, gezeigt, dass er sie nicht anlügen würde. Kimmy lässt sich auf einen der Küchenstühle fallen. Zu ihrem Glück haben ihre Eltern beide Frühschicht, sodass sie das Gespräch nicht zu Ende führen können, das sie, nachdem Jez gegangen ist und Kimmy aufgewacht ist, über Lennard geführt haben und das so geendet hat, dass sie wieder anfangen musste zu weinen und ihren Eltern gesagt hat, dass sie einfach nur alleine sein will.
Mit einer Hand streicht Kimmy nachdenklich einen Fussel von ihrem Rock, den sie zusammen mit Betty gekauft hat. Seufzend steht sie auf und wühlt so lange in ihrem Rucksack, bis sie ihre Handykopfhörer gefunden hat. Sie steckt sie an ihr Handy an und scrollt durch ihre vielen Playlisten, bis sie die Playliste mit dem Lied ‚Do it like us‘ von Rob Fowler findet. Es ist ein Lied, das extra für das Final Four in diesem Jahr geschrieben wurde. Eigentlich müsste es Kimmy irgendwie wieder an Lennard erinnern, aber diesmal schiebt er sich nicht wieder – im negativen Sinne – in ihren Kopf. Mit dem Daumen tippt Kimmy auf ‚Play‘ und schlüpft gleichzeitig in ihre dunkelblaue Jeansjacke. Einen Moment hält sie inne, um ihr Handy in der Innentasche der Jacke zu verstauen, dann schiebt sie sich die Kopfhörer in die Ohren und zieht den Schulrucksack über die Schultern, bevor sie in den Flur geht und ihn ihre schwarzen Schuhe schlüpft.
Die Sonnenstrahlen, die sich durch das geschlossene Fenster schon angenehm warm angefühlt haben, prickeln ein bisschen auf Kimmys Haut, als sie das Haus verlässt und ihr die Sonne ins Gesicht scheint. Gleichzeitig weht ein angenehmer Wind, der die Wärme, die am Nachmittag auf Kimmy warten wird, ein wenig erträglicher macht. Als sie die zwei Treppenstufen vor dem Haus hinuntergeht, schließt sie die Augen. Wie soll sie sich nach dem gestrigen Tag Jez gegenüber verhalten? Schon seit einigen Stunden, um genau zu sein, seitdem sie nach ihrem allnächtlichen Albtraum aufgewacht ist, grübelt sie beinahe ununterbrochen darüber. Sie kann sich schließlich nicht wie gestern verhalten, nachdem sie Jez das erste Mal nach Samstag wiedergesehen hat. Oder doch? Zeit, um darüber nachzudenken, bleibt Kimmy nicht. Als sie den Kopf hebt, sieht sie, wie Jez auf der anderen Straßenseite, wieder, wie am Vortag mit den schwarzen Kopfhörern über den Ohren, den Gehweg betritt. Keine Sekunden nachdem sie ihn entdeckt hat, hebt er den Blick, sieht sie auf der anderen Straßenseite und zieht sich mit einer Hand die Kopfhörer vom Kopf, bevor er die Straße überquert. Kimmy zieht sich schnell, bevor Jez sie erreicht, die Kopfhörer aus den Ohren. Ein Lächeln huscht auf ihre Lippen, als die Sonne Jez Haar von hinten so erhellt, dass es aussieht, als würden sie leuchten.
„Hey.“ Kimmy muss noch mehr lächeln, als sie Jez ganz eigenes, leichtes Lächeln auf seinen Lippen erkennt. Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar und sieht sie aus seinen grünen Augen einen Moment an.
„Hey.“ Kimmy senkt automatisch den Blick, spürt jedoch, wie Jez sie einen Moment von der Seite ansieht, bevor er sich langsam neben ihr in Bewegung setzt und darauf wartet, dass sie ihm folgt. Schnell stopft sie die Handykopfhörer zu ihrem Handy in die Innentasche ihrer Jacke. Soll sie jetzt wirklich so tun, als wäre Jez gestern nicht bei ihr gewesen? Für sie dagewesen? Augenblicklich entscheidet sich Kimmy.
„Jez?“ Jez wendet, als Kimmy seinen Namen ausspricht, den Kopf zu ihr und lächelt fragend.
„Hm?“ Mit einer Hand streicht Kimmy sich über ihren Rock, der vom Wind ein bisschen hin und her gepustet wird.
„Danke, dass du gestern für mich da warst.“ Fast ein bisschen beschämt senkt sie den Blick. Warum, weiß sie selbst nicht.
„Ist doch kein Ding.“ Kimmy hebt den Blick wieder und lächelt erleichtert, obwohl sie Jez eigentlich widersprechen sollte. Natürlich ist das ein Ding! Es wäre wohl kaum ein anderer bei ihr geblieben, als sie ihn mehr oder weniger schon wieder wegschicken wollte!
„Doch, ist es.“ Überrascht sieht Jez Kimmy von der Seite an. „Ich glaube, kein anderer wäre so lange bei mir geblieben.“ Kimmy streicht sich mit der linken Hand, sodass sie ihr Gesicht wenigstens für einen Moment vor Jez verbergen kann, die Haare hinters Ohr und lächelt dann. Zu ihrem Glück sind sie mittlerweile an der Bushaltestelle angekommen und der Bus steht schon da. Mit der rechten Hand deutet Jez ihr an, dass sie zuerst einsteigen soll. Kimmy zeigt ihre Monatsfahrkarte, schiebt sich durch den schmalen Gang und lässt sich auf einen der vierer Plätze fallen. Erst dann lehnt sie sich ein kleines Stückchen zur Seite, um nach Jez zu schauen, der gerade einige Münzen in seiner Hosentasche verwinden lässt und dann auf sie zukommt. Ihr gegenüber lässt er sich auf den orangenen Sitz fallen. Er lächelt sanft, sagt aber nichts mehr. Stattdessen senkt er geblendet die Augenlider, als der Busfahrer losfährt und die Sonnenstrahlen durch eine Seite des Busses hell hereinfallen. Lächelnd mustert Kimmy Jez noch einmal genauer. Der Rucksackverband zeichnet sich heute wieder deutlicher unter seinem helleblauen Shirt ab, da es enger anliegt als das, das er gestern getragen hat. Eine kleine Haarsträhne hat sich aus seinen Haaren gelöst – die, so wie Kimmy es deuten würde, ganz von selbst und ohne Haargel oder anderen ähnlichen Produkten in die richtige Richtung wachen - und zeigt genau in die entgegengesetzte Richtung, was seine Frisur aber nicht weiter entstellt. Kimmys lässt ihren Blick weiter wandern und stellt dann erschrocken fest, dass Jez seine Augen wieder geöffnet hat und sie dabei erwischt hat, wie sie ihn einmal komplett gemustert hat. Augenblicklich senkt Kimmy den Blick.
***
Während der Mathe-Stunde beobachtet Kimmy Jez fast ununterbrochen. Er sitzt neben Max nur eine Reihe vor ihr und hat sich mit dem Rücken gegen die Wand zu seiner linken gelehnt, während er dem Unterricht von Herrn Renner folgt und als so ziemlich einziger auch eine Antwort auf dessen komische Matheaufgaben weiß. Bei der jetzigen Aufgabe, die an der Tafel steht, fährt aber auch er sich ratlos durchs Haar. Herr Renner seufzt.
„Ich glaube, es ist nichts Neues für euch, wenn ich sage, dass man diesen Stoff als Elftklässler im Schlaf können muss.“ Genervt verdreht Kimmy die Augen. Im Schlaf. Klar! „Denkt dran, in nicht einmal einem Jahr wollt ihr euer schriftliches Abitur hinter euch haben. Versucht die Aufgabe bitte mit einem Partner zu lösen. Vielleicht fällt es euch dann leichter.“ Er dreht sich zu der Tafel um und klappt sie auf, nur, um sich dann noch einmal umzudrehen. „Aber bitte nicht mit euerm Tischnachbar. Das ist laut euch ja mittlerweile schon Einzelarbeit.“ Kimmy seufzt leise und will gerade ein wenig wehleidig zu Betty, die neben ihr sitzt, sehen, als das erlösende Klingen die Stunde beendet. Schnell stopft Kimmy ihre Sachen in ihren Rucksack und hängt ihn sich über beide Schultern, bevor sie ihren Stuhl hochstellt und das: „Okay, dann erwarte ich von euch zur nächsten Stunde aber ein Ergebnis!“, von Herr Renner ignoriert, das jedoch in dem Lärm, den die Klasse gerade fabriziert, fast untergeht.
Dicht hinter Betty und Max schiebt Kimmy sich durch die völlig überfüllten Gänge. Seufzend lässt Kimmy ihren Blick über die Gesichter die jüngeren und vereinzelt älteren Schüler um sich herumwandern. Bis ihr Blick an Finns blauen Augen hängen bleibt. Kimmy merkt es nicht einmal, aber sie bremst plötzlich ab, sodass Jez, der dich hinter ihr gelaufen ist, in sie hineinläuft. Was Kimmy aber irgendwie entgegenkommt. Dadurch schafft sie es, ihren Blick von Finn zu lösen, in dessen Blick eine Mischung aus Verachtung und Enttäuschung liegt. Kimmy dreht den Kopf nach hinten, als sie Jez Hand auf ihrem Arm spürt.
„Sorry.“ Ein Lächeln umspielt Jez Lippen. Kein Lächeln eines Jungens, der sich gerade versucht, an ein Mädchen heranzumachen, sondern ein wirklich entschuldigendes Lächeln. Indem noch irgendetwas anderes steckte. Etwas, was Kimmy dazu bringt, das Lächeln zu erwidern und das schlechte Gewissen wegen Finn augenblicklich zu vergessen. Sie dreht sich wieder um, mit dem Lächeln auf den Lippen, hebt den Kopf und geht, ohne ihn noch einmal anzusehen, an Finn vorbei. Noch immer sieht sie das sanfte Lächeln von Jez vor ihren Augen. Und als er seine Tasche keine zwei Minuten später vor dem Klassenzimmer neben ihre stellt und sie noch einmal anlächelt, weiß sie auch, was sie dazu gebracht hat, sein Lächeln zu erwidern. Es ist ein liebevolles, ehrliches Lächeln. Kein gestelltes.
***
Als Kimmy, zusammen mit Jez, Betty und Max im überfüllten Bus steht, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich, wie am Vortag, an Jez festzuhalten, da sie wieder einmal den Stehplatz erwischt hat, an dem man so gar keine Möglichkeit hat, sich irgendwie festzuhalten. Aber heute macht es ihr rein gar nichts aus. Das beklemmende Gefühl, wie am Vortag noch, kommt in ihrem Inneren nicht wieder auf. Betty legt den Kopf schief, als sie sieht, wie Kimmy ihre Hand auf Jez Unterarm legt und sich daran festhält, als der Busfahrer losfährt. Sie zwinkert Kimmy zu. Kimmy lächelt zurück und gibt Betty so eine ‚Antwort‘ auf ihre ‚Frage‘, die sie nicht laut gestellt haben muss, sodass sie sie versteht, richtet den Blick aber dann auf Jez hellblaues Shirt, bevor sie für einen Moment die Augen schließt. Also ja? Ungefähr das sollte Bettys Blick bedeuten. Vielleicht. Das war Kimmys ‚Antwort‘. Also ja? Also ja, läuft da was? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kimmy hebt den Kopf und mustert Jez einen Moment, bevor er ihren Blick mit seinen strahlend grünen Augen auffängt und zu lächeln beginnt. Innerlich muss Kimmy sich die Frage eigentlich selbst erstmal stellen. Läuft da was? Ja, weil er am Vortag bei ihr war. Oder nein, auch wenn er am Vortag bei ihr war? Erst, als Kimmy einen unsanften Ellbogenstoß in den Rücken bekommt, wird sie aus ihren Gedanken gerissen. Und auch erst da merkt sie, dass sie noch immer in Jez Augen sieht und er ihren Blick erwidert. Verlegen senkt Kimmy den Blick und stolpert auf Jez zu, als der Busfahrer an Bettys und Max Haltestelle bremst, sodass sie nicht ganz sanft gegen seinen Oberkörper stößt. Betty und Max verabschieden sich von den beiden, bevor sie den Bus verlassen und Händchen haltend wie immer den Weg nach Hause einschlagen.
Lächelnd sieht Jez den beiden einen Moment nach, dann sieht er Kimmy einen Moment noch in die Augen, bevor er an ihr vorbei aus einem der Busfenster schaut. Einen Moment mustert Kimmy Jez Profil. Das sanfte Lächeln auf seinen Lippen, die dichten Wimpern, die so gebogen sind, dass jedes Mädchen neidisch darauf sein könnte und dazu seine grünen Augen, in denen man einfach für wenigstens einen Moment versinken muss. Ein Lächeln huscht auf ihre Lippen, dann dreht Kimmy sich ein wenig, tut es Jez gleich und sieht aus dem Fenster. Als der Bus losfährt, ziehen die Häuser in einer gleichmäßigen, beruhigenden Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Leise seufzt Kimmy. Sie merkt gar nicht, wie sie sich nach hinten, gegen Jez lehnt. Wie er einen Arm um sie legt und sie ihre Finger in seinen verschränkt. Wie er auch den zweiten Arm von hinten um sie legt und wie sie seine Körperwärme durch ihr Oberteil hindurch spürt. Erst, Jez seine Arme von ihrem Körper nimmt und ihr mit dem Kopf andeutet, dass sie aussteigen müssen, merkt Kimmy, was sie eigentlich gerade, ohne darüber nachzudenken, gemacht hat.
Auch wenn es draußen angenehm warm ist, als Kimmy den Bus verlässt, kriecht eine Gänsehaut über ihre Arme. Hat sie sich wirklich gerade im Bus, inmitten von mindestens fünfzig anderen Schülern, einfach von Jez in den Arm nehmen lassen, als wäre sie seine Freundin? Kimmy zieht ihren Rucksack gerade und sieht Jez kurz von der Seite an. Seine Mimik hat sich seit sie ihn vorhin gemustert hat, nicht geändert. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen und verschwindet auch nicht, als er ihren Blick bemerkt und sie aus seinen strahlenden Augen ansieht. Schweigend erwidert Kimmy den Blick einen Moment, bevor sie den Kopf abwendet, die Augenlider senkt und neben Jez um eine Straßenecke biegt. Vielleicht soll sie ihn nochmal auf das Gespräch heute Morgen ansprechen… Kimmy hebt den Blick und hadert innerlich mit sich selbst. Es klingt komisch, aber wer kennt es nicht? Man entschließt sich zu etwas und macht dann immer wieder, in wenigen Minuten, einen Rückzieher nach dem anderen und der Gegenüber bemerkt nicht einmal, dass man immer und immer wieder versucht, etwas anzusprechen.
Ohne es zu merken, hat Kimmy die Strecke bis nach Hause schon zurückgelegt. Erst, als Jez stehenbleibt und sich ihr zuwendet, bemerkt sie es.
„Vielleicht stimmt es ja, dass nicht jeder bei dir geblieben wäre.“ Kimmy sieht Jez aus einer Mischung aus Überraschung - dass er wohl denselben Gedanken hatte wie sie – und Neugier an. Die Haarsträhne, die schon morgens aus seinen Haaren hervorgestochen ist, hängt ein wenig über Jez Stirn. Mit einer Hand streicht er sie zurück und sieht ihr dann in die Augen. „Aber irgendwas in mir hat mir gesagt, dass ich bei dir bleiben muss.“ Kimmy lächelt, als Jez das zu ihr sagt. Irgendwas in mir…
„Danke.“ Kimmys Stimme ist leiser als sonst. Sie sieht Jez immer noch in die Augen, als er ihr ein sanftes Lächeln schenkt. Dann macht er einen Schritt auf sie zu und nimmt sie einfach so, ohne Vorwarnung, in den Arm. Überrascht erwidert Kimmy die Umarmung und schließt die Augen, als ihre Nase Jez dünne Sweatshirt-Jacke berührt und sein ganz eigener Duft in ihre Nase wandert.
„Ich…“ Jez bricht nach dem einen Wort, das ihm über die Lippen kam, ab. Kimmy löst sich langsam aus seiner Umarmung und sieht ihn von unten herauf an. „…muss dir was sagen, hab aber Angst davor, dass du mir wieder einen Korb gibst.“ Sein Blick ruht auf ihr.
„Ängste muss man überwinden.“ Ganz leise, kaum hörbar, flüstert Kimmy die Worte, die Lennard immer zu ihr gesagt hat. Und die sie auch schon einmal zu Jez gesagt hat.
„Das hast du mir schon einmal gesagt.“ Jez lächelt sanft. Damals, als er einmal hier war, wollten Kimmy, Lennard und er auf die Bäume am See klettern und Kimmy hat ihm eins zu eins dieselben Worte schon dort gesagt, als er sich nicht auf die Bäume getraut hat, weil er damals noch Höhenangst hatte.
„Ich weiß.“ Kimmy erwidert Jez Lächeln und streicht sich mit einer Hand die Haare, die der Wind ihr ins Gesicht weht, nach hinten. Ihre braunen Augen glänzen, als sie zu Jez hochsieht. Ein Glänzen, das so viel bedeutet wie ‚Und wovor hast du Angst?‘. Nervös atmet Jez noch einmal tief durch, bevor er Kimmy in die Augen sieht.
„Ich…“ er bricht ab, als ein wunderschönes, natürliches Lächeln auf Kimmys Lippen erscheint. Vielleicht hat sie schon eine Vorahnung, was er ihr sagen will. „…liebe dich. Und ich würde alles dafür geben, dich mein Mädchen nennen zu dürfen.“ Kimmy legt den Kopf schief, als sie zu Jez hinaufsieht. Dass diese Worte aus Jez Mund ihr Herz so zum Flattern und ihren gesamten Körper zum Kribbeln bringen, hat sie nicht erwartet. Mit einer Hand greift Kimmy nach Jez, als sie leise flüstert:
„Und ich würde alles dafür geben, dich meinen Jungen nennen zu dürfen.“ Eine Sekunde herrscht zwischen beiden ein wunderbares Schweigen, dann legt er seine freie Hand auf ihre Taille, lehnt sich zu ihr und gibt ihr einen ganz sanften, zaghaften Kuss. Einen Kuss, den er noch nie so intensiv in seinem ganzen Leben verspürt hat. Sein ganzer Körper fühlt sich an, als würde er sich im freien Fall befinden. Und auch die sanfte Berührung, als Kimmy seine Hand loslässt, ihre Arme um seinen Hals legt, den Kopf seitlich gegen seine Schulter lehnt und eine Mischung aus erleichtertem Lachen und erleichtertem Seufzen von sich gibt, tragen dazu bei. Ihre Lippen berühren die Haut an seinem Hals und lassen sie innerlich pulsieren. Erleichtert und glücklich zugleich dreht er den Kopf zu ihr - zu seinem Mädchen, zu seinem Mädchen Kimmy – und vergräbt die Nase für einen Moment in ihrem weichen Haar, bevor sie den Kopf hebt und ihre Lippen sich ein weiteres Mal berühren.
Jez Lippen schmecken so viel besser, als Kimmy es sich erträumt hatte. Fast genauso, wie seine Jacke riecht. Sanft drückt er sie an sich, als wollte er sie nie wieder loslassen.
„Ich lass dich nicht mehr gehen, das verspreche ich dir!“, flüstert Jez leise, zwischen zwei Küssen. Er schließt die Augen, gibt seiner Freundin einen Kuss auf die Wange und seufzt leise.
Es fühlt sich einfach tausendmillionen Mal besser an, das Mädchen, das man liebt, zu küssen, als irgendein anderes x- beliebiges Mädchen auf dieser Welt!
Ich habe komplett keine Ahnung, wie man eine Danksagung beginnt zu schreiben. Aber ich versuche es jetzt trotzdem.
Eigentlich hatte ich nicht geplant, überhaupt eine Danksagung in dieses Buch mit hineinzupacken, weil ich eigentlich nicht wusste, wem ich danken soll. Aber jetzt, nachdem ich das Buch komplett fertig geschrieben und korrigiert habe und nachdem es jetzt schon seit mehr als einem halben Jahr komplett vollständig auf Bookrix hochgeladen ist, gibt es doch ein paar Menschen, denen ich danken möchte.
Als erstens möchte ich all den Menschen danken, die mein Buch (das vor der Korrektur aus gefühlt einermilliarden Tippfehlern bestand) gelesen haben und mir per Kommentar oder Privatnachricht Feuer unterm Arsch gemacht haben, dass ich schnell weiter schreibe, sodass (fast) jede Woche ein Kapitel online kam. Es macht viel mehr Spaß zu wissen, man schreibt nicht nur für sich, sondern auch für den einen oder anderen fremden Menschen da draußen, in der großen weiten Welt. Ich persönlich habe durch dieses Buch die Kommentarfunktion erst zu schätzen gelernt. Ein einfaches Herzchen fühlt sich zwar auch gut an, aber wenn man gesagt bekommt, was genau so toll an deinem Buch ist, fühlt man sich noch ein bisschen besser. (Seitdem schreibe ich, auch wenn es selten vorkommt, da ich in letzter Zeit richtig Bücher zum in die Hand nehmen bevorzuge, zu jedem Buch, das ich hier auf Bookrix gelesen habe, einen Kommentar, dass sich der Autor des Buches mindestens genauso sehr an dem Kommentar erfreuen kann, wie ich mich an dem gesamten Buch erfreut habe.)
Außerdem möchte ich Annibunny danken. Sie hat das Cover des Buchs erstellt und obwohl ich es mir eigentlich ganz anders vorgestellt habe, war ich seit ich es das erste Mal gesehen habe begeistert und stolz, dass mein Buch so ein schönes Cover tragen darf. Ich habe von vielen meiner Leser gesagt bekommen, dass sie durch das Cover erstmals auf mein Buch aufmerksam geworden sind. Das Cover hat also sein Ziel zu hundert Prozent getroffen.
Und jetzt möchte ich auch noch Annie Canarin danken. Sie ist diejenige, die mein Buch Tipp- und Rechtschreibefehlerfrei gemacht hat und mir das ein oder andere Mal gesagt hat, was ich wo verändern soll. Sie hat teilweise unabsichtlich falsch formulierte Sätze in Frage gestellt und nach dem eigentlichen Hintergedanken gefragt, den ich, als ich den Satz so geschrieben habe, nie hatte, der mir mithilfe der Hinterfragung aber gekommen ist. Mir persönlich hat es sehr viel Spaß gemacht, die Verbesserungsvorschläge durchzulesen (dabei bestimmte Komma- und Wörtliche-Rede-Regeln zu lernen [man hört nie auf zu lernen :D]) und die gesamte Geschichte einmal aus dem Blickwinkel eines Menschen zu sehen, der bestimmte Gedanken oder Ideen, die ich beim Schreiben hatte, natürlich nicht hat.
Ich kann’s euch nur ans Herz legen: Wenn ihr jemanden sucht, der euer Buch gut und ordentlich korrigiert, sie ist eine sehr gute Wahl ;).
Und falls der ein oder andere wissen möchte, wie die Geschichte weitergeht: Ich bin momentan damit beschäftigt, die Fortsetzung zu diesem Buch zu schreiben. Ich möchte noch nicht verraten, um was es genau geht, aber falls es euch interessiert, das Buch wird „Feelings allowed – also for boys!“ heißen.
Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen!
Nicole
Texte: xXNiicoleXx
Bildmaterialien: Annika S. (Annibunny)
Lektorat: Annie Canarin
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2014
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