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Der Klang der Triangel

Die Wohnungstür stand offen. Warum stand sie offen? Die Ratten würden ungehindert in alle Räume kommen. Und mit ihnen die Läuse und mit den Läusen die Seuche.

 

Bestimmt war der gefährliche Virus schon in der ganzen Wohnung verteilt. Bea verspürte einen Brechreiz. Ich muss mich übergeben, dachte sie. Und ich muss diese verdammte Türe schließen. Unter leisem Wimmern versuchte sie sich hochzuziehen. Vergeblich -  kraftlos sank sie in sich zusammen und krümmte sich mit stechenden Schmerzen im rechten Sprunggelenk auf dem kalten Fußboden des Flures. Sie musste sich bei ihrem Sturz vor ein paar Stunden verletzt haben. Auch bemerkte sie jetzt, dass ihre Hose nass war und sie in einer Urinlache lag. Aber es war ihr egal, es war sowieso alles sinnlos. Wenn Luisa nicht wäre, hätte sie das Messer, mit dem sie sich an manchen Tagen tief in das Fleisch ihrer Oberarme schnitt, schon längst tiefer angesetzt. Auch heute hatte es ihr wieder eine große, wenn auch nur kurzfristige Erleichterung verschafft, das warme Blut über ihre Haut rinnen zu spüren und zu wissen, dass der körperliche Schmerz dem Seelenschmerz befehlen würde, sich zurückzuziehen und endlich leise zu sein! Irgendwann würde Luisa von der Schule kommen und ihr helfen. Auf Luisa konnte sie sich verlassen, sie war so ein starkes Mädchen. Und sie hatte keine Angst vor den Ratten!

 

"Kommst du heute auch ins  Schwimmbad?", rief ihr Franzi nach, als der Bus an Luisas Straße gehalten hatte und sie sich zum Aussteigen bereit machte.

"Nein, ich habe keine Lust"

"Du hast nie Lust, du bist eigentlich gar keine richtige Freundin." 

Luisa versetzte es einen Stich, aber betont gleichgültig gab sie zurück:

"Dann such dir doch eine andere, mir ist

das egal!"

Das war gelogen, aber darauf kam es nicht an. Luisa musste ständig lügen. Erst heute in der Zehnuhr-Pause hatte sie auf eine Frage ihrer Klassenlehrerin die Unwahrheit gesagt:

"Mama arbeitet soviel, sie kann die nächsten Wochen nicht zum Lehrergespräch kommen."

Frau Winter gab sich nicht gleich zufrieden:

"Geht es dir denn gut, Luisa? Du bist so blass. Ist zu Hause alles in Ordnung?"

Aber Luisa nickte heftig und hatte dann die besorgte Lehrerin einfach stehen gelassen.

Obwohl Luisa wusste, dass sie sich

beeilen sollte, schlenderte sie und ließ sich von den Schaufensterdekorationen der Geschäfte verführen. Beim Gärtner Schmitz stibitzte sie im Vorübergehen von einem Margeritenstrauch eine Blüte. Während sie die vielen Stufen zur Wohnung hochging, zupfte sie die einzelnen Blätter ab und dachte:

 

Heute wieder...

Mama war so anders, wenn sie einen "schlimmen" Tag hatte.

 

Heute nicht....

Wenn es ihr gut ging, dann kochte sie für Luisa und fragte, wie es in der Schule war.

 

 

Heute wieder....

Einfach so, ohne dass Luisa wusste, warum, wurde Mama wütend, schlug wie wild um sich, so dass Luisa am nächsten Tag ihre blauen Flecken mit einem langärmeligen Pulli überdecken musste.

 

Heute nicht, bitte lieber Gott!

Luisa war an der Wohnungstüre angekommen.

 

Doch - HEUTE WIEDER!

Sie stellte ihre Schultasche an der Türe ab, kniete sich zu ihrer Mutter auf den Boden, streichelte sie am Arm und flüsterte leise:


"Was ist mit dir, Mama?"
„Nichts, was soll denn sein? Es ist nichts!", presste Bea mit weit aufgerissenen Augen hervor und versuchte ihre Tochter wegzudrängen. Dabei stieß sie spitze Schreie aus, die nach einiger Zeit von einem hysterischen Weinen abgelöst wurden. Der Gesichtsausdruck der Neunjährigen war nun wie versteinert.

Versteinert und leer.

Sie ging in ihr Zimmer und holte die Triangel, die ihr die Oma zum fünften Geburtstag geschenkt hatte, aus dem Versteck, suchte das eiserne Stäbchen dazu und entlockte dem Instrument - auf

dem Boden vor dem Bett kauernd - klirrende Töne, die das irre Schreien der Mutter überdeckten. Luisa hielt die Augen dabei geschlossen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. An ihre 

Oma, die mit ihr oft in den Zoo und auf einen Spielplatz in der Nähe gegangen war. Sie dachte daran, wie sie mit Franzi und den anderen Mädchen im Schwimmbad die lange Rutsche immer und immer wieder hinuntersausen und anschließend auf dem Heimweg in den Häuserwinkeln verstecken spielten. 

Jetzt erinnerte sie sich an das kleine Kärtchen, das ihr Frau Winter nach der Pause zugesteckt hatte.

"Ich verstehe ja, wenn du mit mir nicht

reden willst, Luisa. Aber hier steht eine Nummer drauf, da kannst du dich melden. Bei "Netz und Boden", da haben sich schon viele Kinder gemeldet, die Hilfe brauchen. Und die reden jetzt  miteinander darüber und machen tolle Sachen zusammen."

Das wäre schön, dachte Luisa. Wie ein Licht, dem ich folgen könnte. Aber nein, das geht nicht. Ich darf nichts verraten! Wenn ich das tun würde, sagt Mama, müsste ich von ihr weg - in ein Heim oder zu einer anderen Familie...

   

Nach einer Weile drang kein Laut mehr aus dem Gang in Luisas Zimmer. Sie packte ihre Triangel weg und schlich

sich, an der noch immer am Boden liegenden und jetzt ruhig schlafenden Mutter vorbei, in die Küche. Sie machte den Herd an und stellte einen Topf mit Wasser auf, um Nudeln zu kochen. Dann suchte sie in Mamas Wäscheschrank nach frischen Sachen und legte sie auf dem

Bett zurecht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Mutter aufwachen und sich bei Luisa entschuldigen würde. Nach einem schweren Schub war sie dann für ein paar Stunden immer besonders lieb und fröhlich, lachte laut und ausgelassen. Luisa bemerkte dann nur noch an ihren fahrigen Bewegungen und ihren flackernden Augen, dass das zuvor Erlebte Wirklichkeit und keine

Einbildung gewesen war.

 

Doch diesmal war es anders. Bea wollte, aber konnte nicht aufstehen. Der Knöchel war mittlerweile dick angeschwollen.

"Mama, wir brauchen Hilfe! Wir müssen einen Notarzt rufen", sagte Luisa bittend.

 
Bea hatte mittlerweile notgedrungen jeden Widerstand aufgegeben. Wortlos ließ sie ihre Tochter gewähren, als diese bei der Notrufleitstelle die Situation erklärte. Aber in ihrem Innersten machte sich eine unsägliche Angst breit. Und diese Angst betraf nur zweitrangig ihre Verletzung. Ihre größte Sorge war, dass Luisa dann den Dämonen, die sie selbst

jede Nacht in Angst und Schrecken versetzten, ausgeliefert wäre. Wenn sie nicht da wäre, würden sie sich über das Kind hermachen. Würden schreckliche

Dinge tun, die Zahnpasta vergiften und schwarze Kreuze auf ihre Sachen malen.

Und sie würden immer mehr Ratten mitbringen, die erst Luisas Kleider anknabbern würden und dann...

Waren nicht die vielen Stimmen, die sie manchmal auch tagsüber hörte, ein Beweis für die Existenz dieser bösen Mächte?

 

"Sieht nach Bänderriss aus", stellte der drahtige junge Notarzt ohne Umschweife und ohne besondere Rücksichtnahme auf

den offensichtlich desolaten Zustand der nun auf dem Sofa liegenden Bea fest.

„Machen sie was, dass ich zu Hause bleiben kann. Bitte, bitte", flehte sie. „Ich muss zu Hause bei Luisa bleiben, ich muss, ich muss!"

„So, müssen sie?" wiederholte der Arzt ihre Worte völlig unbeeindruckt und ohne eine Miene zu verziehen.

„Gute Frau, sie verkennen wohl ihre Lage völlig. Bänderriss, das heißt, es wird erstmal das Ausmaß der Verletzung festgestellt werden. Dann wird entschieden, ob operiert werden muss. Danach Ruhigstellung des Gelenkes. Das kann eine sehr langwierige Sache
werden". Dann wandte er sich zu den

zwei mitgekommenen Sanitätern und gab ihnen kurz und bündig Anweisung: „Kühlen, hochlagern. Hier ist die Einweisung in das Klinikum". Sprach`s und verschwand ohne ein Grußwort.

„Jetzt machen sie sich mal keine Sorgen", versuchte der etwas übergewichtige, ältere Sanitäter Bea zu beruhigen. „Wie heißt es so schön - Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird". Während sein Kollege mit Luisa ein paar Wäschestücke und Toilettenutensilien zusammensuchte, begann der erfahrene Sanitäter mit Bea einen Fragebogen auszufüllen. Er wollte
wissen, ob sie verheiratet sei oder in

einer Partnerschaft lebe und als sie beides verneinte, fragte er, ob er aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis jemandem Bescheid geben sollte.

„Ich habe niemanden", flüsterte Bea kaum hörbar. Erstaunt sah ihr Gegenüber hoch, zog eine Augenbraue nach oben und fragte:

„Ja, und Luisa - wen haben sie für das Kind?"

„Luisa kommt alleine zurecht. Nicht wahr Luisa, das ist doch so?"

Bea sah Luisa eindringlich an und diese senkte den Kopf.

"Ach, so ist das. Es tut mir leid, ich muss das dem Jugendamt melden...", erklärte der Sanitäter. Bea fing erst zu

weinen und dann zu schreien an und Luisa drehte sich um, lief in ihr Zimmer und holte eilends die Triangel hervor.

Aber nach ein paar Schlägen hielt sie inne und suchte nach der Visitenkarte, die ihr Frau Winter gegeben hatte,

 

 

Nachwort:

Bea kam nach ärztlicher Versorgung und der Auflage, sich einer psychiatrischen Therapie zu unterziehen, wieder nach Hause. Sie und Luisa wurden in das AMSOC-Patenschaftsprogramm aufgenommen. Luisa konnte auf diese Weise in ihrem gewohnten Umfeld bleiben und lernte langsam wieder, was

es heißt, ein Kind sein zu dürfen. 

 

Erklärung:

AMSOC stellt Kindern psychisch kranker Eltern eine kontinuierliche Bezugsperson

eine Patin bzw. einen Paten an die Seite. Dies ist der höchste Schutzfaktor für ein Kind in einer solchen Situation und durch die Resilienzforschung belegt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.04.2016

Alle Rechte vorbehalten

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