Ist es nicht wunderbar, wenn Männer um das Wohl ihrer Ehefrauen besorgt sind? Sehr lobenswert ist das und ich verstehe auch, dass sie dies gewürdigt haben wollen. Und das tun wir ja auch, meine Freundin Paula und ich. Allerdings muss ich an dieser Stelle gleich einschränkend hinzufügen: In der Regel tun wir das. Denn es gibt ja auch Situationen außerhalb des Regelfalls. Und eine solche Situation ergab sich im Sommer vergangenen Jahres.
Wir beide, Paula und ich, erhielten als Leiterinnen einer örtlichen Rollstuhlfahrer-Selbsthilfegruppe eine Einladung unseres Bundesverbandes zu einem einwöchigen Kongress ins achthundert Kilometer entfernte Brandenburg. Der beiliegende Flyer ließ unsere Herzen höher schlagen.
Tagungsort war ein Hotel, ach was sage ich, DAS HOTEL, das für mobilitätseingeschränkte Menschen, wie wir es sind, das Paradies auf Erden ist. Das Nonplusultra an Barrierefreiheit! Idyllisch gelegen an einem See, bei dessen Anblick wir zwangsläufig in eine Urlaubs- und Wellnessstimmung gerieten, von der wir uns beim besten Willen nicht mehr lösen konnten. Paula und ich beschlossen: das gönnen wir uns. Da müssen wir hin, komme was wolle!
Nun ist es so, dass Paula und ich trotz unserer körperlichen Einschränkungen autofahren können. Und das nicht mal schlecht, möchte ich behaupten. Problematisch wird es nur, wenn wir das Auto verlassen müssen. Wir haben beide das B im Schwerbehindertenausweis, das heißt wir sind auf Begleitung angewiesen. Sprich auf meinen Wolfgang und auf Paulas Karl. Beide winkten ab. Karl meinte, er könne unmöglich seinen Schäferhund schon wieder bei seiner Tante abgeben. Mehr als zwei Tage bei der alten, kurzatmigen und schon leicht senilen Dame sei seinem Bino nicht zuzumuten. Er und Wolfgang verwiesen außerdem auf ihre Arbeitgeber, die sie auf keinen Fall für eine ganze Woche entbehren könnten. Schließlich sei gerade Hochsaison auf dem Bausektor, führte Wolfgang an. In den Wintermonaten, ja da könne er gerne mit uns verreisen, wohin wir wollten, solange wir wollten und so weiter. Bla, bla, bla…..!
„Okay", sagte ich zu Paula, „dann fahren wir eben alleine. Wenn wir erst mal dort sind, brauchen wir niemanden. Dort ist alles wie für uns gemacht! Und die Fahrt, Paula, die Fahrt kriegen wir auch gebacken. Pah, das wäre doch gelacht“. Wir meldeten uns – erst einmal ohne Wissen der uns angetrauten Bedenkenträger - zu diesem Event an und leiteten stillschweigend die ersten logistischen Schritte ein. In puncto Transportmittel entschieden wir uns für den nagelneuen Caddy von Paula und Karl. Nicht, dass unser Sharan weniger geeignet gewesen wäre. Nein, es war nur so, dass wir wussten, dass Karl weniger Widerstand leisten würde als Wolfgang. Als nächstes musste das „T-Problem“ gelöst werden. Das hat nichts mit der Telekom zu tun, gemeint ist der Toilettengang während der langen Fahrt. Wir bestellten übers Internet einen Reiseatlas, in dem sämtliche Informationen zur Zugänglichkeit von Tank- und Raststätten, Autohöfen und Toiletten vermerkt sind und einen Universalschlüssel, der alle öffentlichen Bedürfnisanstalten einschließlich der Autobahn WC`s wie ein Sesam-öffne-dich aufschließt – und das in ganz Europa! Für absolut dringende Notsituationen entdeckten wir bei unseren Internetrecherchen rein zufällig eine neue Erfindung aus der Schweiz. Pibella Travel – made for women. Paula und ich bestellten uns diese flaschenähnlichen Urinierhilfen in Farbe pink. Tagelang übten wir die Anwendung, die uns an die Grenzen unserer feinmotorischen Fähigkeiten brachte und hielten uns telefonisch über die Fortschritte auf dem Laufenden. Wir waren also gut gerüstet, fehlte nur noch die Aufklärung unserer Ehepartner!
„Ihr seid ja komplett verrückt“, entfuhr es Wolfgang, als wir ihm und Karl fünf Tage vor Reiseantritt unser Vorhaben eröffneten.
Und Karl setzte sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Energie zur Wehr, als er hörte, dass wir seinem neuen Auto bei dieser Gelegenheit die nötige Fahrpraxis zukommen lassen wollten. Sein Widerstand war – wie voraus gesehen – nach kurzer Zeit gebrochen (Anm.: Paula weiß, wie sie das machen muss). Wolfgang war fassungslos über soviel (O-Ton) Starrköpfigkeit und Unvernunft. Als auch sein Appell auf der Gefühlsebene:
„Überlegt es euch noch einmal. Ich habe Angst, dass euch was passiert“ ins Leere lief, schwenkte er schließlich um und half bei den Reisevorbereitungen.
An einem sonnigen Spätsommertag ging es dann los.......
Vollbepackt mit zwei Rollkoffern, etlichen kleineren Gepäckstücken und unseren zwei Elektrorollstühlen samt Ladeakkus sowie Paulas Gehhilfen fuhren wir über München, Hof, Leipzig, an Berlin vorbei ins für uns völlig unbekannte Brandenburgische. Dank unserer stabsplanmäßigen Vorbereitung hatten wir eine entspannte Fahrt. Dreimal steuerten wir Autobahnraststätten an, ließen uns von ebenso hilfsbereiten wie kräftigen jungen Männern die Rollis aus- und nachher wieder einladen, tankten den Wagen einmal auf und Dank des Euro-WC-Schlüssels stand uns auch in dieser Hinsicht nichts im Wege. Alles verlief optimal und als wir dann nach mehr als acht Stunden Fahrt von der Autobahn abfuhren, staunten wir nicht schlecht über den schönen Landstrich, von dem einst Kurt Tucholsky und Theodor Fontane schon in höchsten Tönen schwärmten. Nicht endend wollende Alleen, Störche auf Hausdächern, kleine Seen – einfach großartig!
Am Hotel angekommen, standen schon zwei Angestellte bereit, halfen uns aus dem Auto und in die Rollis, kümmerten sich um unser Gepäck und übergaben uns Chipkarten, mit deren Hilfe sich alle Türen – angefangen von der Tiefgarage bis in die Zimmer -automatisch öffneten und wieder schlossen. Höhenverstellbare Betten und Waschtische, motorbetriebene Fenster und Außentüren, Schwimmbad mit Lifter – kurz und gut: Die Ankündigung im Flyer hatte nicht zuviel versprochen. Es war einfach nur klasse. Zusammen mit etwa zweihundert weiteren Verbandsdelegierten verbrachten wir wunderbare Tage bei Vorträgen und Diskussionsrunden, aber auch bei exquisitem Essen und einem tollen Freizeitprogramm. Und nicht zu vergessen die abendlichen Besuche in der Hotelbar, wo wir ein farbenfrohes Mixgetränk mit Namen Swimmingpool und viele nette Verbandskolleginnen und -kollegen aus den unterschiedlichsten Regionen Deutschlands kennen gelernt haben. Jeden Tag sandten wir per Telefon und E-Mail wahre Begeisterungsbekundungen nach Hause zu Karl und Wolfgang, die uns versicherten, dass wir ihnen fehlen würden und sie voller Vorfreude unsere Rückkehr erwarteten. Ehrlich gesagt, auch wir freuten uns – nachdem wir all` den barrierefreien Schnickschnack ausgiebigst genossen hatten – auf das Wiedersehen mit unseren Lieben zu Hause.
Am Vorabend des Heimreisetages, beschlossen wir, spontan wie wir nun mal sind, uns die Zusammenfassung der Tagung und die Abschlussansprache des extrem langweiligen und von uns wenig geliebten Verbandsvorsitzenden am Sonntagvormittag zu ersparen und stattdessen bereits nach dem Frühstück in Richtung Heimat aufzubrechen. Dies hätte den hilfreichen Nebeneffekt, dass wir längst auf der Autobahn sein würden, wenn die restlichen Delegierten ab 14.00 Uhr in langer Schlange vor der Auffahrt anstehen müssten. Wolfgang und Karl, die unser Heimkommen etwa um Mitternacht erwarteten, sagten wir erstmal nichts von unserer Programmänderung. Die wollten wir überraschen, indem wir kurz vor dem Eintreffen anrufen würden, um zu fragen, ob denn die Kaffeetafel schon für uns gedeckt wäre. Hihi!!!
Nach vielen Umarmungen, Küsschen und „Wir-bleiben-in-Verbindung" Beteuerungen machten wir uns in total aufgekratzter Stimmung auf die Heimreise.
„Fahre du“, hatte Paula gesagt „Wir müssen nämlich vor der Autobahnauffahrt noch tanken. Das mache ich mit den Gehstützen.“
An der Tankstelle war alles frei und während Paula sich mühsam aus dem Auto quälte, verstieg ich mich zu der Aussage:
„Hach, ich stelle mir gerade den Ansturm auf diese kleine Tankstelle vor, wenn der Kongress zu Ende ist. Ha...ha“
Paula fand diese Vorstellung auch sehr witzig und in unserem Lachen schwang eine gehörige Portion Schadenfreude mit. Eigentlich halte ich ja nicht viel von den diversen Bauernregeln, die meine Oma - Gott hab` sie selig - für alle Gelegenheiten immer parat hatte. Aber an diesem Tag sollte ich noch mehrmals an ihren Spruch: Bosheit tut sich selbst den ärgsten Schaden denken müssen.
Als ich wenige Minuten später in den Rückspiegel schaute, sah ich Paula - gestützt auf ihre Krücke, in der anderen Hand den Tankschlauch - ungläubig auf die Zapfsäule starren. Durch das offene Fenster hörte ich sie lamentieren:
„Ja, bin ich denn total verrückt? Was habe ich nur getan?"
„Ja, was ist denn?“, schrie ich nach hinten. In dem Moment verlor Paula das Gleichgewicht und stürzte samt Tankschlauch und Krücke auf den Betonboden. Da lag sie nun, zwischen Auto und Zapfsäule, sah mich mit treuherzigem Blick an und hauchte:
„Ich bin gestürzt.“
„Ja, das sehe ich“, entfuhr es mir erschrocken. „Hast du dir etwas getan?“
„Nein, ich glaube nicht“, stöhnte Paula und zupfte sich überflüssigerweise ihre Bluse zurecht. So schlimm kann es wirklich nicht sein, wenn ihr in dieser Lage ihre Außenwirkung in den Sinn kommt, dachte ich mir und rief einigermaßen beruhigt:
„Da siehst du mal, dein Sturztraining beim Roten Kreuz hat sich gelohnt. Und was war beim Tanken?“
„Ich habe Benzin statt Diesel getankt.“
„WAS hast Du???“
„Ja, ich weiß auch nicht. Ich habe einen Moment nicht aufgepasst. Und dann war es halt der falsche Zapfhahn“, versuchte Paula, sich zu rechtfertigen.
Inzwischen hatten die Angestellten im Tankshop bemerkt, dass an dieser Säule nichts weiterging und es kam eine junge Frau zum Nachsehen.
„Um Gottes Willen, was ist hier denn passiert?“ schrie sie aufgeregt. Dann sah sie mich böse an und keifte:
„Und warum helfen sie ihr nicht?“ Zugegeben, es war für Außenstehende schon irgendwie eine groteske Situation. Paula lag da am Heck des Autos wie umgemäht, ich saß noch immer vorne auf dem Fahrersitz und wir unterhielten uns scheinbar seelenruhig.
„Wir sind beide behindert“, erklärte ich der Tankstellenangestellten die Lage. „Wenn wir stürzen, kommen wir alleine nicht mehr hoch. Ich kann ihr nicht helfen und sie können das auch nicht. Wir brauchen mindestens zwei starke Männer. Es wäre schön, wenn sie die besorgen könnten, ich sage ihnen dann, was zu tun ist.“
Sie holte Verstärkung und nach kurzer Zeit war Paula wieder in der Senkrechten. Wir erklärten, dass wir falsch getankt hätten und erfuhren von den zwei muskelbepackten Helfern, dass wir das Auto nicht mehr bewegen dürften, nicht mal auf einen der freien Parkplätze ein paar Meter weiter. Bei den neuen Autos wäre es so, dass dann der Motor total im Eimer wäre. Wir müssten den Tank auspumpen lassen.
Vor meinem geistigen Auge tauchte plötzlich Karl auf. Oh, nein, seinem neuen Auto durfte nichts passieren. Das konnten wir Karl nicht antun.
Paula setzte sich wieder auf den Beifahrersitz, nachdem sie 78.00 Euro für`s Falschtanken losgeworden war. Im Rückspiegel sahen wir, dass hinter unserem Auto rot-weiß-rote Absperrkegeln aufgestellt wurden.
„Was JETZT?“, fragte ich. „ADAC?“
„Den haben wir letztes Jahr gekündigt, weil wir ihn eh` nie gebraucht haben.“
„Na toll, was dann?“
„Ich weiß nicht. Ach, es tut mir so leid. Ich bin schuld, dass wir jetzt hier stehen“ kam es ziemlich zerknirscht über Paulas Lippen. „Jetzt lass` ich Dir erst mal `ne Tasse Kaffee holen“. Sie kurbelte ihr Seitenfenster herunter und rief quer über den Platz einem an der gegenüberliegenden Zapfsäule tankenden Mann in feinem Zwirn (Typ Sparkassen-Vorstandsvorsitzender) zu, er solle doch bitte im Shop Kaffee für mich besorgen. Der sah sie verdutzt an und fragte:
„Wieso?" Und Paula: „Wie - wieso?"
„Ja, wieso holen Sie ihn denn nicht selbst?", kam es zurück.
„Gelähmt, wir sind gelähmt", schrie Paula zurück. Boah, war das peinlich!!!
„Danke, Paula", sagte ich zweideutig „aber jetzt überleg mal, was wir machen können."
„Karl oder Wolfgang anrufen?“
„Keine gute Idee. Wie sollen sie uns bei dieser Entfernung helfen können. Und außerdem, die lassen uns nie wieder verreisen, wenn sie das hören. Die schaffen sich einen Tresor an und deponieren die Autoschlüsseln darin."
Der Vorstandsvorsitzende brachte meinen Kaffee und Paula ließ es sich nicht nehmen, ihn für mich zu bezahlen. Da fiel mir ein, dass der Kaffeegenuss einen verstärkten Harndrang zur Folge haben würde. Also stellte ich den gefüllten Pappbecher erst einmal auf der Mittelkonsole ab. Paula kramte nervös im Ablagefach und nach kurzer Zeit hielt sie einen Zettel im Scheckkartenformat in der Hand.
„Ich rufe meinen Versicherungsberater an“, verkündete sie hoffnungsfroh.
Und tatsächlich hatte sie ihn auch sofort an der Strippe. Er diktierte ihr die Telefonnummer einer bundesweit agierenden Tankreinigungsfirma. Die würden Jemanden von der nächstgelegenen Vertretung vor Ort schicken, die Versicherung würde die Kosten übernehmen und alles wäre paletti.
„Dauert etwa eine Stunde“, bekam Paula zur Antwort, nachdem sie dem Typ von der Reinigungsfirma beschrieben hatte, was passiert war und an welcher Tankstelle wir stehen.
„Geht das nicht schneller? Wir sind ein Notfall“, versuchte Paula mit leidender Stimme das Ganze ein wenig zu beschleunigen.
Da sie das Handy auf laut gestellt hatte, hörte auch ich die unfreundliche Antwort:
„Ja, Sie sind gut. Wenn wir angerufen werden, ist das immer ein Notfall. Da werden Sie schon warten müssen. Auch wenn die Bayern meinen, dass die Uhren für sie anders ticken.“
Das saß! Paulas krankheitsbedingte Schnappatmung nahm beängstigende Formen an.
„Stoffel, brandenburgischer Stoffel“, fauchte sie, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. „Ich hab` dem doch gar nicht gesagt, dass wir aus Bayern kommen.“
„Ja, wie kommt er wohl zu dieser Annahme?“ fragte ich sie und obwohl unsere Lage alles andere als lustig war, konnte ich mir im Hinblick auf Paulas urbayerischen Slang ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen.
Ich überließ Paula ihrem Groll, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Ständig musste ich an den Kaffee denken, dessen Duft mir um die Nase wehte und den ich nicht trinken konnte, weil ich das darauffolgende Bedürfnis nicht würde befriedigen können. Mir fielen meine Übungen vom Entspannungskurs ein. Vielleicht sollte ich die unfreiwillige Wartezeit ja auf diese Weise nutzen.
Rechte Hand anspannen – tief einatmen – locker lassen – ausatmen. Linke Hand anspannen – einatmen – locker lassen – ausatmen. Augenbrauen hochziehen – einatmen....
„Sie kommen - Jetzt kommen sie!“, verkündete Paula und riss mich erbarmungslos aus meiner Trance.
„Na, siehst du, das ging ja schnell“, murmelte ich, noch vollkommen tiefenentspannt.
„Nein, nicht die von der Tankfirma. Ich glaube, die Tagung ist zu Ende."
Ich sah zur Straße. Shit - die Verbandskollegen rückten an! Eine endlos lange Autokolonne bewegte sich auf die Tankstelle zu.
Das war ein Hallo!
„Ihr noch hier? Warum, weshalb, wieso? Ja, wie konnte das denn nur passieren? Ach, ihr Armen!" Gefühlte fünftausendmal mussten wir erklären, dass es uns gut ginge und beteuern, dass wir alleine zurecht kommen würden. Hilfe wäre unterwegs, versicherten wir. Sie sollten alle nur recht schnell ihren Wagen volltanken und das mit dem richtigen Kraftstoff bitteschön und dann auf Wiedersehn und gute Heimreise. Küsschen, Umarmung, Ciao, Ciao!!!
Wir waren noch mitten in diesem unsäglichen Abschiedszeremoniell, da kam er. Der überdimensional große Abschleppwagen der Tankreinigungsfirma. Der Fahrer, ein Hühne mit Stoppelbart und schulterlangem schwarzen Haar, dessen Erscheinungsbild mich unwillkürlich an das wilde Tartarenvolk aus einem Karl May Roman denken ließ, sprang in seinem ölverschmierten Blaumann voller Elan aus dem Führerhaus und rief:
„So, meine Damen. Hier bin ich. Nun aber zack, zack. Wir blockieren hier ja den ganzen Verkehr."
Paula und ich sahen uns entgeistert an. Wie? Was? Warum denn ein Abschleppwagen? Wo zum Teufel hätte er denn die Gerätschaften zum Tank auspumpen, fragten wir ihn. Nein, sagte er, so funktioniere das nicht. Er müsse das Auto in seine Werkstatt transportieren, dort würde das alles über die Bühne gehen. Wir sollten doch schon mal so freundlich sein und aus unserem Wägelchen aussteigen, damit er es mit dem Kran auf die Ladefläche hieven könne. Wir könnten dann vorne im Führerhaus Platz nehmen. Er beiße nicht, ha, ha! Also pronto, pronto - Zeit ist Geld!
„Nein", unterbrach ich ihn und fügte hinzu: „Das geht so nicht." Ich erklärte ihm, dass wir aufgrund unserer körperlichen Einschränkungen unfähig wären, die drei Stufen in sein Führerhaus hoch zu kommen. Wir würden einfach im Wagen sitzenbleiben und dann könne er uns doch eins-zwei-drei mitsamt dem Auto hoch hieven.
„Verboten!", triumphierte er. Das wäre gegen die Straßenverkehrsordnung Nummer sowieso. Strafbar würde er sich machen, wenn er sich darauf einließe. Nein, nein, sowas wäre mit ihm nicht zu machen. Da müssten wir uns dann eben einen Anderen suchen, der uns aus dieser selbstverschuldeten Klemme helfen würde.
So ging das noch eine ganze Weile hin und her, bis es mir schließlich reichte.
„Paula, wir bleiben hier!", bestimmte ich. „Er soll unsere Rollis ausladen und das Auto mitnehmen. Wir können uns die Zeit solange im Tankshop vertreiben. Da gibt es was zu essen, Zeitschriften in Hülle und Fülle und mit Sicherheit auch das Wichtigste - ein WC!"
Der Tartarensohn sah ein, dass er sich mit uns einen Sonderfall eingeheimst hatte und er uns, ob er wollte oder nicht, die Regie überlassen musste. Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck lud er die Rollis aus dem Kofferraum und begann mit der Verladung.
„Halt, der Kaffee", schrie ich so laut ich nur konnte. Da war es schon passiert. Die braune Brühe hatte sich schwallartig über Fahrersitz und Fußraum ergossen. Ach Karl, tut mir leid, dachte ich mir. Und Paula meinte gefasst:
„Es gibt Schlimmeres als fleckige Autositze." Wo sie recht hat, hat sie recht, nicht wahr?
Es würde etwa eineinhalb Stunden dauern, bis er mit dem reparierten Auto wieder hier wäre, meinte unser Abschleppfahrer und weg war er, mitsamt unserem fahrbaren Untersatz.
„Und wenn er nicht wiederkommt", meinte Paula gedehnt und sehr nachdenklich "Wir haben uns das gar nicht bestätigen lassen, dass er das Auto mitgenommen hat."
„Ach was, der bringt es schon zurück", sagte ich betont zuversichtlich und fügte in Gedanken hinzu „Hoffentlich!"
Wir rollten gerade über die Eingangsschwelle des Tankshops, als ein lauter Piepton sowohl uns als auch das Personal und die herumstehenden Kunden aufschreckte.
„Da hat wohl Einer das Bezahlen vergessen", mutmaßte die gute Paula und sah sich suchend nach einem Schuldigen um.
„Ne", brummelte ich ärgerlich „Paula, dein Akku ist leer!"
Das durfte doch nicht wahr sein. Erst haben wir mit unserem Auto stundenlang eine Zapfsäule blockiert, jetzt blockierten wir mit Paulas Rolli den Eingang des Tankshops.
„Wieso hast du ihn heute Nacht nicht aufgeladen?“, fragte ich sie mit einem unverkennbar bissigen Unterton. Paula überhörte geflissentlich Beides. Sie mühte sich, die Räder auf Handbetrieb umzuschalten und als sie es endlich geschafft hatte, bat sie einen der hinter uns Anstehenden, sie in den Laden zu schieben. Dann eröffneten wir den drei jungen Tankshopmädels, dass wir ihnen für die nächsten zwei Stunden Gesellschaft leisten würden. Deren Freude hielt sich merklich in Grenzen, aber sie lächelten serviceorientiert, bedauerten uns ob unseres Missgeschicks und nahmen unsere Bestellung von Kaffee und Bockwurstsemmeln entgegen, nachdem wir uns über die Zugänglichkeit der Toiletten vergewissert hatten. Eine Steckdose zum Aufladen des Rollis dürften sie uns leider nicht zur Verfügung stellen, das wäre strengstens verboten, weil der Verbrauch jeder einzelnen Steckdose ganz genau berechnet werden würde, oder so in der Art... Häh?
Wir sollten doch bitte so freundlich sein, uns möglichst so zu positionieren, dass wir den Kundenbetrieb nicht stören würden. Na klar doch! Paula stellte sich neben die Eistruhe und ich mich vor das Getränkeregal.
Ich befand mich gerade in einem fachlichen Austausch mit einem älteren unrasierten und etwas streng riechenden Herrn über die Vorzüge der in diesem Laden angebotenen Biersorten. Da bemerkte ich, dass Paula wie verrückt in der Eistruhe wühlte. Seltsam, seit wann ist Paula scharf auf Eis, dachte ich mir und widmete mich weiter meinem Gesprächspartner, der sich mittlerweile seine mitgebrachten Stofftaschen mit Flaschen gefüllt hatte.
„Na, wie wär`s. Ich lade Sie zu einem kleinen Schnäpschen ein“, sagte er und zwinkerte vielsagend mit den Augen. Als ich dankend ablehnte, zog er endlich ab und ich sah wieder zu Paula. Sie wühlte noch immer in der Truhe. „Paula, was ist los?", schrie ich zu ihr rüber. „Kannst du dich nicht entscheiden oder was?“
Da hob sie ihre rechte Hand und ich sah, dass diese total angeschwollen war. Ach, meine arme, tapfere Paula!!! Sie hatte sich bei ihrem Sturz doch verletzt und kühlte sich nun zwischen all` den süßen Dr. Oetker Köstlichkeiten ihre schmerzende Hand. Und das heimlich, weil sie mich nicht beunruhigen wollte. Ich hoffte inständig, dass nichts gebrochen war, aber Paula beteuerte, dass es sich überhaupt nicht nach Bruch anfühlte.
Ich sah auf die Uhr – schon 16.30 Uhr. Wo blieb der Typ mit unserem Auto? Ich versuchte, Paula und ehrlich gesagt mich selber auch, ein wenig abzulenken, indem wir gemeinsam das Warenangebot inspizierten. Wir kauften uns beide neue flippige Sonnenbrillen, jede Menge Süßkram für die Heimfahrt und Paula entdeckte noch eine ganz reizende Plüschgiraffe für ihren Enkel.
Bei der Gelegenheit fielen uns plötzlich unsere Männer wieder ein. O nein, wir hatten ihnen noch immer nicht Bescheid gegeben.
„Du zuerst“, bestimmte Paula ungewohnt energisch „ruf`an!“ Okay. Augen zu und durch.
„Wie weit habt ihr denn noch?“ fragte Wolfgang.
Tja, und dann rückte ich raus mit der Sprache und erzählte ihm, was passiert war und dass wir noch länger nicht kommen würden, weil das Auto ausgepumpt würde. Aber wir hätten alles im Griff, kein Grund zur Sorge!
Er reagierte eigentlich ziemlich gelassen:
„Ja, meine Liebe, was willst du hören?" Ich hasse es, wenn er „meine Liebe" sagt!!!
„Ähm - nichts", warf ich vorsichtig ein.
„Na, das weißt du ja selber, dass wir euch gewarnt haben.....na ja, wer nicht hören will, muss fühlen....sagt Bescheid, wenn wir euch holen müssen.“
„Nein, nein“, wehrte ich entschieden ab. „Der Kerl bringt jeden Moment das Auto zurück und dann fahren wir los. Bitte kümmere du dich um Karl. Beruhige ihn. Unternehmt was. Geht ins Kino oder zum Angeln oder so.“
„Leg` auf, unser Auto kommt zurück!“, unterbrach mich Paula. Und tatsächlich, der Tartarensohn parkte gerade den Caddy neben dem Eingang, stieg aus und kam mit einem Haufen Papierzeugs in den Händen auf uns zu.
„So, meine Damen, hier bin ich. Hat zwar etwas länger gedauert. Aber das gute Stück ist jetzt wieder wie neu!” Mir fiel ein Stein vom Herzen und Paula strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
„Gut, dann hätten wir jetzt noch das Finanzielle und dann kann es nach Hause gehen, Mädels.“ Man merkte seiner Stimme an, dass er froh war, wenn er diese Sache und vor allem uns in Kürze wieder los wäre.
„Das wären dann genau zweihundertfünfundneunzig Euro“, stellte er nach einem kurzen Blick in seine Unterlagen fest.
„Das zahlt doch die Versicherung“, erwiderte Paula.
„Ne, die Versicherung übernimmt nur das Abschleppen. Das Auspumpen müssen sie schon selbst bezahlen“, klärte uns der gute Mann auf.
„Na toll," Paulas Stimme klang nun schon ziemlich ärgerlich. „Soviel haben wir jetzt nicht mehr. Außerdem müssen wir mindestens noch einmal auf der Heimfahrt tanken. Sie geben uns eine Rechnung und wir überweisen das.“
„Nein", widersprach er kategorisch „laut meiner Chefin müssen sie bar bezahlen. Was denken sie, wie oft wir schon reingefallen sind und unser Geld in den Wind schreiben konnten?“
Paula kniff die Lippen zusammen und sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte vielleicht gerade noch mal dreißig Euro in meiner Geldbörse.
Der Karl May Protagonist war nun die Beharrlichkeit selbst und meinte, wir hätten doch sicher eine Bankkarte dabei. Bitteschön, dort hinten wäre der Geldautomat. Paula kramte umständlich ihre Karte hervor, steckte sie ins Gerät und gab ihre Geheimnummer ein.
„Keine Auszahlung möglich“, erschien auf der Anzeige.
„Oh“, meinte Paula, „da ist wohl meine Rente noch nicht da“.
„Kein Problem, dann nehmen wir eben meine Karte“, beruhigte ich sie.
Mittlerweile standen nicht nur der Typ von der Tankreinigung und die drei Mädels herum, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Kunden, die neugierig waren, was da mit uns los war. Ich steckte meine Bankkarte in das Gerät, gab die Nummer ein und wieder leuchtete die Anzeige auf: „Keine Auszahlung möglich!“
„Funktioniert nicht", knurrte ich leise und der Kerl von der Tankreinigungsfirma runzelte die Stirn und frozzelte:
„Na, wohl auch die Rente noch nicht da.“
„Keine Sorge“, gab ich ihm zur Antwort. Ich wusste ja ganz sicher, dass da genügend drauf war. Da fiel mir ein, dass ich vor einiger Zeit eine neue Karte erhalten hatte.
„Moment“, sagte ich „das war die Falsche“. Also das Ganze noch mal, Karte rein, Nummer eingegeben: „Keine Abbuchung möglich.“
Hä? Warum nur? Was war da los? Verdammt nochmal!!! Mir wurde schlagartig bewusst, was das für eine peinliche Situation war. Alle – der Typ, die Tankshopmädels, die Kunden hinter uns – alle schauten Paula und mich an, als wenn wir Trickbetrügerinnen wären.
Plötzlich war mir klar, woran es lag, warum auch diese Karte nicht funktionieren konnte. Ich hatte ja die Geheimnummer der vorherigen Karte eingegeben. Die neue Nummer hatte ich zu Hause feinsäuberlich bei den Bankunterlagen abgelegt.
Mein Gott, was war ich blöd! Ich versuchte, Wolfgang anzurufen. Aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Ja, klar. Ich hatte ihn ja weggeschickt, mit Karl etwas zu unternehmen.
„So, dann fahren wir jetzt mal zusammen zu meiner Firma und dann lassen wir die Chefin entscheiden, was wir mit ihnen machen“.
Der Kerl blieb unerbittlich, gab trotz unserer Beteuerungen, die Rechnung zu Hause sofort zu begleichen, den Autoschlüssel nicht raus. Er lud uns und unsere Rollis ins Auto und fuhr los. Kreuz und quer durch diese öde Kleinstadt, dann bog er in einem kleinen Wäldchen am Stadtrand in ein abseits gelegenes Gehöft ein.
Paula hatte während der ganzen Fahrt kein Wort gesagt. Mir war speiübel und ich hatte zeitweise überlegt, ob ich ihm vielleicht Paulas Krücke von hinten auf den Kopf schlagen sollte. Ich ließ es. Wir mussten das jetzt mit Anstand zu Ende bringen - irgendwie!
Auf dem Hof angekommen, stieg er aus und verschwand in einem der Gebäude, das anscheinend als Werkstatt ausgebaut war.
„Paula, was ist, wenn das ein verkappter Triebtäter ist?" flüsterte ich.
„So ein Blödsinn", Paula versuchte ein klägliches Lächeln.
„Hast du noch nie was von Amelos gehört?", fragte ich sie.
„Ne, was soll das denn sein?"
„Egal, vergiss es", zischte ich, denn in diesem Moment kam unser Entführer zurück. Auf der Schulter hatte er zwei dicke Holzbretter. H i l f e !!! Was hat er vor? Will er uns damit bewusstlos schlagen? Mir stellte es die Nackenhaare auf und Paula hatte nun tatsächlich eine ihrer Krücken in der Hand. Bereit zuzuschlagen!
„Hey, das wird die Rampe, damit ihr mit euren Rollis ins Büro reinkommt", meinte er beruhigend.
Aber es war zu spät. Irgendwie war bei mir durch die Anspannung eine Sicherung durchgebrannt.
„Schluss jetzt mit diesem Theater", schrie ich ihn an.
„Wir kommen nirgends rein. Deine Chefin kommt raus. Und zwar sofort!"
Damit hatte er nicht gerechnet. Wie verdattert zischte er ab.
„Und werft schon mal euren Kopierer an." rief ich ihm nach.
Zwei Minuten später stand er mit einer keifenden und nach Luft schnappenden Kanaille in einer extrem unvorteilhafter Rüschchenbluse vor dem Auto. Ich ließ sie überhaupt nicht zu Wort kommen und legte los:
„Ihr kopiert jetzt unsere Ausweise und Führerscheine, schreibt euch die Autonummer auf und gebt uns die Rechnung und verdammt noch mal den Autoschlüssel. Ansonsten kriegt ihr Post vom europäischen Gerichtshof wegen Verletzung der Behindertenrechtskonvention. Kapiert?"
Was soll ich sagen - es hat funktioniert. Innerhalb fünf Minuten war alles erledigt. Paula setzte sich ans Steuer und wir brausten davon.
Es war 20.30 Uhr, als wir auf die Autobahn fuhren. Wie gut, dass wir die Pibella made for women dabei hatten, denn in der Dunkelheit wollten wir auf Rasthöfen keine fremden Männer ansprechen.
Um drei Uhr morgens kamen wir an der Stadt Hof vorbei. Wir waren wieder in Bayern. Ich hatte seit Leipzig das Steuer übernommen, Paula hatte ein bisschen geschlafen und blätterte jetzt in den Tagungsunterlagen.
„Warst du eigentlich schon mal in Kopenhagen?" fragte sie.
„Nein, warum?"
„Dort findet nächstes Jahr der internationale Kongress für Muskelerkrankungen statt."
„Wirklich? - Sitzt da nicht die Meerjungfrau am Hafen?"
„Ja", die sitzt da", bestätigte Paula. „Ich würde sagen, wir müssen recherchieren, was es da sonst noch gibt." Ich nickte zustimmend und Paula meinte mit einem treuherzigen Seitenblick:
„Wir beide, wir sind schon zwei! .......... Aber was sind eigentlich Amelos?"
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine ebenso liebenswerte wie chaotische Freundin Paula