Des Schicksals Schmied
Thriller
von Taja Herbst
Lektorat / Korrektorat: Jaqueline Kley
Lektorat-kley@gmx.de
Coverdesign: Nadine Willers
NaWillArt CoverDesign
info@nawillart-coverdesign.de
Alle Rechte vorbehalten
Alle Namen und Personen sind fiktiv
Editha schüttete den kläglichen Inhalt der Blechdose mit der verschnörkelten Aufschrift Reis auf den Tisch. Reiskörner und einige Münzen verteilten sich klimpernd auf der glatten Oberfläche. Wie die letzten Abende zuvor hatte sie bis tief in die Nacht genäht, um sich einige Mark dazuzuverdienen. Die Müdigkeit hinderte sie daran, die Münzen einordnen zu können, geistesabwesend drehte sie einige um, um ihren Wert zu prüfen. Sie brauchte einen Moment, alles halbwegs zusammenzuzählen. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft, ihr wurde übel, als sie realisierte, wie wenig es war. Sie starrte ihre Hände an, die leicht zitterten, dann schlug sie sich vors Gesicht und strich an den offenen Haaren entlang. Am Hals ließ sie die Hände ruhen. Das bisschen Geld, das auf dem Tisch lag, hatte nichts mehr mit den zweihundert Mark zu tun, die sie als Notgroschen aufbewahrt hatte. Erneut wurde ihr klar, dass es unbedeutend war, wie viel sie arbeiten würde. Sie würde es nicht schaffen, diese Blechbüchse wieder zu füllen.
Vor einigen Wochen war die Gegend von einer Einbruchwelle überrollt worden. Auch Edithas Haus war nicht verschont geblieben. Das Geld hatte sie in einer Schatulle im Bad aufbewahrt. Ihren liebsten Schmuck hatte sie dafür versetzt. Es hätte eine Weile ausgereicht, jetzt hatte sie nichts mehr. Wut und Verzweiflung überkamen sie. Sie zitterte vor Anspannung. Wie gern sie jetzt geschrien, mit Sachen um sich geworfen, auf etwas eingedroschen hätte. Sie war niemand, der in Armut leben konnte. Ihr Blick wanderte durchs Zimmer. In der Küche hatten ein alter Hängeschrank mit seit Langem schief hängender Tür, zwei Unterschränke mit einem Waschbecken und ein Tisch sowie drei Stühle Platz gefunden. Das haselnussfarbene Mobiliar wollte nicht recht zu den selbstgenähten, violetten Vorhängen passen. Den Stoff hatte sie damals nur genommen, weil er sehr günstig im Ausverkauf angeboten worden war. Die ausgeblichenen Stellen auf den braunen, karierten Tapeten hatte sie versucht, mit Bildern zu kaschieren. Der in die Ecke gequetschte Herd, der nur morgens und an den Wochenenden genutzt wurde, hatte mit den Jahren ebenfalls bis an die Decke reichende Spuren hinterlassen. Editha hasste es zu kochen. Jegliche Art der häuslichen Arbeit war ihr zuwider. Für solche Arbeiten gab’s Personal. Früher jedenfalls, in ihrem alten Leben.
Es sollte eine vorübergehende Lösung sein. Jetzt sitze ich seit Jahren in diesem Loch fest. Wie tief sie doch gesunken war. Angeekelt von der Schäbigkeit ihres Lebens unterdrückte sie den Würgereiz, der durch die aufsteigende Übelkeit ausgelöst wurde.
Je größer Edithas Unmut wurde, desto mehr zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Sie atmete mehrmals tief durch. Eine der goldenen Regeln ihrer Kinderstube lautete, gleich wie schlimm es war, die Fassung nicht zu verlieren. Stattdessen füllten Tränen ihre Augen und waren bereit herunterzukullern, als sie ein Schmatzer auf die Wange wieder in die Realität holte. Erschrocken schaute sie ihre Tochter Amelie an. Ein Mädchen von neun Jahren, verschlafen und mit zerzaustem Haar, stand vor ihr. In dem bodenlangen, zerknitterten Nachthemd und mit ihrem Schlafbären im Arm war sie leise in die Küche getapst. Sofort drängte sich Edithas eigene Kindheit in ihr Gedächtnis.
Unter keinen Umständen hätte sich Editha oder eines ihrer Geschwister so zeigen dürfen. Miss Knight, die Gouvernante, war angewiesen gewesen, die Kinder streng zu behandeln. Sie hätte das Kind zurechtgewiesen, für einen Tag auf Wasser und Brot gesetzt und eine Ausgangssperre verhängt.
Editha strich über das dunkelblonde Haar ihrer Tochter. „Geh dich bitte umziehen, du weißt, dass es sich für eine junge Dame nicht gehört.“
Ohne etwas zu sagen, umarmte Amelie ihren Bären fester und verschwand im Bad.
Warum beharrte sie immer noch auf diesen unsinnigen Regeln? Sie lebte schon lange nicht mehr auf dem Anwesen ihrer Eltern oder hatte etwas mit ihrem alten Leben gemein. Am liebsten wäre sie sofort hinterhergelaufen, hätte ihre Tochter fest an sich gedrückt. Doch der strenge Lehrer in ihr winkte ab. Die unnachgiebigen Gesichter ihrer Eltern tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Die Ermahnung an Disziplin, Folgsamkeit und Demut hallten in ihrer Erinnerung nach. Editha wollte eigentlich nicht so streng sein, aber ein ungezogenes Kind mochte sie auch nicht haben. Es würde Amelie nicht helfen, wenn sie in Gefühlsduselei versinken würde, appellierte Editha an sich selbst.
Seufzend packte sie die Münzen in die Tasche, wischte die Reiskörner vom Tisch und warf sie zurück in die Blechdose.
Im Kühlschrank fand sie neben der gähnenden Leere zwei Eier und etwas Milch. Sie musste wieder einkaufen, vom Geld, das sie nicht hatte. Die junge Frau schnitt einige Scheiben vom Brot ab, verquirlte die Eier mit der Milch und goss alles über das Brot in der heißen Pfanne.
Editha stellte einen Teller vor Amelie, die sich gerade zurechtgemacht an den Tisch setzte. „Wir müssen dringend in die Stadt. Du brauchst neue Strümpfe. Und wir müssen unbedingt zum …“
„Ja, und ich brauche noch neue Stifte“, fiel Amelie ihrer Mutter ins Wort, woraufhin sie einen sehr ernsten Blick erntete.
Editha mochte es nicht, wenn Amelie sie unterbrach. Sie holte ihre Geldbörse aus der Tasche und kramte darin herum. „Was stimmt mit deinen Stiften nicht?“
„Die schint schu kursch geworschen.“
„Amelie!“, donnerte Edithas Stimme durch die Küche. Auch das Sprechen mit vollem Mund duldete sie nicht.
„Entschuldigung.“ Das Mädchen würgte das Stück Brot herunter. „Zuerst schlucken, dann reden“, leierte sie die Regel wie ein Mantra herunter. „Meine Stifte sind schon so kurz, ich kann sie nicht mehr richtig halten. Frau Ohlig hat mich schon mehrmals gefragt, wann ich neue mitbringe.“
Editha kreiste ihren Kopf und atmete tief durch. Noch mehr Ausgaben. Wo sollte sie nur das Geld hernehmen? „Kannst du diese Woche noch mit den alten auskommen? Wir können entweder Strümpfe oder Stifte kaufen. Und was zu essen. Wir müssen in diesem Monat wirklich sparen. Aber wenn das neue Geld da ist, kaufen wir als Erstes neue Stifte. Versprochen.“ Nach einem Moment verzweifelter Stille sammelte sich Editha wieder. „Gut. Also. Die Strümpfe müssen wir kaufen, Frau Ohlig hat mich deswegen schon mehrmals angerufen.“ Sie musste unwillkürlich lächeln, weil ihr die Rutschpartien mit ihren Brüdern entlang der langen Hausflure einfielen. „Bist du damit über die Flure gerutscht?“
Amelie schüttelte energisch den Kopf.
Das haben wir als Kinder gemacht und viel Spaß gehabt…, wollte Editha sagen, verkniff es sich aber. Jetzt erst als Erwachsene verstand sie, warum Miss Knight immer geschimpft hatte.
„Sie gehen davon kaputt“, murmelte sie stattdessen leise.
„Heute ist Dienstag.“ Editha überlegte und rechnete im Kopf die Tage nach. „Nach einem Vorschuss kann ich Herrn Dumand erst nächste Woche fragen, wenn das Kleid fertig ist. Das habe ich in der letzten Zeit viel zu häufig gemacht. Er wird so ungehalten und unangenehm. Bestimmt wird er mir wieder kündigen wollen“, meinte sie eher zu sich selbst als zu ihrer Tochter. „Ich werde es versuchen, aber ich glaube nicht, dass er mich heute früher gehen lassen wird. Wenn ich nicht vor der Schule warte, gehst du nach Hause. Dann fahren wir am Samstag in die Stadt.“
„Ja, Mami.“ Amelie sprang hektisch vom Stuhl. Sie lief in den Flur und kam mit einem orangefarbenen Umschlag wieder. „Ich habe einen Brief für dich. Frau Ohlig hat ihn mir schon vorgestern gegeben. Ich habe den nur ein bisschen vergessen“, sagte Amelie in einem entschuldigenden Ton.
Herr Brink hatte eine Vorliebe für Farben und jeder Mitteilungsart eine eigene Farbe zugeteilt. Orange signalisierte eine ernst zu nehmende Verwarnung. Immerhin nicht rot. Dennoch bedeutete es nichts Gutes. Wie jeden Brief aus der Schule, die Editha stets aufregten, ließ sie ihn ungeöffnet neben sich liegen. Wie etwas Ansteckendes, Unreines, schob sie ihn von sich weg. Sie würde ihn später lesen.
Eine Stunde später drückte Amelie die Schulbank und Editha arbeitete in dem über die Staatsgrenzen hinaus bekannten Atelier La Parisienne an einer Robe, die bis Samstag zur Anprobe fertig sein musste.
Ihr gegenüber saß ihre Kollegin Camilla, eine gebürtige Italienerin. Camilla war um die vierzig, genau wusste Editha das nicht. Sie hatte fünf Kinder und einen Mann, der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten konnte. Camilla war ganz anders als Editha. Niemals hätte sich Editha erlaubt, Herrn Dumand zu kritisieren oder ihm zu trotzen. Viel zu groß war ihre Angst, die Arbeit zu verlieren. Aber Camilla ließen die Nörgeleien und Launen ihres Arbeitgebers kalt. Sie kümmerte sich nicht um seine Befindlichkeiten. Sie widersprach ihm selbstbewusst.
Selbst wenn Herr Dumand einen seiner Wutanfälle bekam und mit der seinerseits geliebten Kündigung drohte, zuckte Camilla nur mit der Schulter. „Sie mich kündigen doch! Ich meine Sachen sofort pack und geh“, hatte sie einmal mit einem Lächeln erwidert und dabei herausfordernd die Augenbrauen gehoben. Editha bewunderte diese Frau insgeheim für ihren Mut und die Selbstverständlichkeit, mit der sie durchs Leben ging. Sie selbst müsste genauso sein, selbstbewusst und stark. Das verlangte ihre Blutlinie. Aber sie hatte zugelassen, dass das Leben sie zu einem Schwächling gemacht hatte. Das warf sie sich immer wieder vor.
„Wie kannst du das sagen?“, fragte Editha sie eines Nachmittags, als Herr Dumand mal wieder tobte und Camilla den Rausschmiss androhte. „Ihr habt doch kein Einkommen mehr, wenn du gehst.“
„Fünf wilde Bambini.“ Camilla warf die Arme gen Himmel und lachte. Sie lachte viel. Sie nahm alles nicht so ernst.
„Genau deswegen!“, rief Editha überrascht. „Wie willst du ohne Arbeit die ganzen Mäuler stopfen? Dein Mann kann doch nicht arbeiten.“
„Arbeit immer genug. Ich mir auch zum Putzen nicht zu fein. Wir bald zurück nach Italien gehen. Ein Onkel von mir ist in Besitz von ein Haus bekommen. Wir dürfen wohnen da. Er nicht brauchen das. Er froh, wir wieder zu Hause. Francescos Verwandtschaft für uns herrichten, dann wir wegfahren. Nach Italien. Francesco wieder als Schuster arbeiten dort.“
„Wann wollt ihr los?“, fragte Editha, als der Kloß im Hals verschwunden war.
„Weiß nich genau. Herbst vielleicht, oder später. Viel reparieren dort. Wand an manche Stellen sehr kaputt.“
„Ich freue mich für euch.“ Einerseits tat sie es wirklich. Nur ohne Camilla konnte sich Editha die Arbeit bei Herrn Dumand nicht vorstellen.
„Ich mich auch. Für Francesco das Beste. Er wieder arbeiten. Zu Hause ohne richtige Arbeit nicht gut. Kein ist guter Hausmann. Dort er bei mein Bruder arbeiten. In der Werkstatt. Er kann Pause machen, wenn nicht kann mehr. Im gleichen Dorf, nur paar Häuser weiter.“
Seit dieser Nachricht mochte Editha ihre Arbeit immer weniger. Der Raum, in dem die beiden Frauen nähten, der gleichzeitig als Lagerraum und Abstellraum diente, drückte auf Edithas Gemüt. Die meterhohen Wände, die bis an die Decke mit Regalen bestückt waren, schienen höher geworden zu sein. Die obersten Regalböden agierten als Staubfänger, die unteren mit Stoffballen, Kisten und allem möglichen Nähzeug bestückt, nahmen Editha die Luft zum Atmen. Die tiefhängende, lange und sehr helle Neonröhre fing immer wieder an zu summen und bescherte den Frauen Kopfschmerzen. Herr Dumand weigerte sich, ein Fenster einbauen zu lassen. Er wolle die Struktur des historischen Gebäudes nicht zerstören, sagte er. In Wirklichkeit hielt er es für zu teuer. Stolz erzählte er allen, wie er diesen alten Kasten in das bekannteste Modehaus von ganz Deutschland verwandelt hatte. „Man muss nicht nach Paris reisen, um die neueste Mode zu bekommen. Wir bringen Paris zu Ihnen“, beendete er stets seine Vorträge mit diesem Werbespruch.
Camilla riss unentwegt Witze darüber. Ohne diese Frau würde Editha es auf die Dauer nicht ertragen können.
„Verdammt noch mal! Welcher Mensch braucht so viele Rüschen an seinem Rock!“, entfuhr es Editha, als sie erneut feststellen musste, dass sie sich vernäht hatte. Herr Dumand bestand darauf, dass viele Arbeitsschritte per Hand und nicht mit der Nähmaschine erledigt wurden. „Handgefertigt“, war das Markenzeichen seines Ateliers.
Die ausdrucksvollen, tiefliegenden Augen ihrer italienischen Kollegin richteten sich von ihrer eigenen Robe auf den Rock von Editha. Sie hatte wieder diesen beängstigenden Blick aufgesetzt. Editha wusste genau, dass er täuschte. Camilla war die gutmütigste Person, die sie je kennengelernt hatte. „Ich dir helfen, wenn du willst“, bemerkte Camilla freundlich. Sie widmete sich erneut summend ihrem Werk, nachdem Editha entschieden den Kopf geschüttelt hatte.
„Wie soll ich das bis Samstag nur schaffen?“ Die junge Frau jammerte vor sich hin, als die Tür zur Nähstube aufflog, gegen die Regalböden donnerte und beide Frauen innehalten ließ. Von den oberen Regalen rieselte der Staub, während am Boden eine Staubwolke aufwirbelte. Mit der Hand vor der Nase wedelnd, hüstelte Camilla theatralisch.
„Meine Damen, es ist Mittag und Sie müssen für heute Schluss machen! Nehmen Sie alles, was Sie brauchen, mit nach Hause, dort können Sie Ihre Arbeit beenden. Meine Frau hat heute Geburtstag, wie Sie wissen. Das wissen Sie doch?!“, fragte Herr Dumand eindringlich nach. Unzufrieden schürzte er die Lippen, als keine Reaktion kam. „Bon, ich will meine Frau zu Mittag ins Restaurant einladen. Die goldene Gans, das kennen Sie sicherlich. Obwohl?“, abschätzig betrachtete er die beiden Frauen, „bei Ihrem Stand und Gehalt wohl eher nicht. Das Restaurant ist momentan wirklich sehr angesagt. Und es war schwer, einen Tisch zu bekommen.“ Er tätschelte sein Ziegenbärtchen. „Dort geht wirklich jeder hin, der Rang und Namen hat. N'est ce pas …? Ich gehöre auch dazu. Nehmen Sie sich ein Beispiel.“ Er beendete abrupt seinen Monolog und drehte sich ein paarmal um sich selbst. „Schauen Sie! Ich habe die ganzen letzten Tage an diesem Anzug gearbeitet. Was sagen Sie dazu? Ist gut geworden! N'est ce pas? Ich überlege sogar, ob wir nicht auch Männeroberbekleidung in unsere Kollektion aufnehmen sollten. Platz genug für eine weitere Nähmaschine wäre hier ja“, überlegte er laut. „So, jetzt aber husch, husch. Meine Frau kommt gleich. Sie denkt, wir essen zu Hause.“ Herr Dumand kicherte verschwörerisch, wurde sogleich aber wieder ernst. „Ich hoffe, sie hat nichts Aufwendiges zu Mittag gemacht. Sie weiß nichts von meinem Plan.“ Er kicherte erneut. „Ich will sie überraschen!“ Die Türglocke bimmelte und Herr Dumand verschwand durch die Tür. „Beeilen Sie sich, noch einmal werden Sie nicht so schnell einen freien Nachmittag bekommen!“, rief er aus dem Ausstellungsraum nach.
„O ja, Eure Majestät! Wie Ihr wünschen, Eure Majestät. Wir packen. Wir gehen. Wir nähen zusätzlich vierundzwanzig Stunden an Tag!“, brummte Camilla gehässig.
Editha kam es sehr gelegen, sie musste nicht mehr betteln. Es war fast unmöglich, einen freien Nachmittag zu bekommen, ohne sich erniedrigen zu müssen. Die beiden Frauen packten eilig die benötigten Utensilien ein und verließen fluchtartig das Atelier.
Der kühle Herbstwind wirbelte das abgeworfene Laub hoch in die Luft, um es im nächsten Moment wieder auf den Boden zu schleudern. Die graue Wolkendecke zog zügig vorbei, die ab und zu einige dünne Sonnenstrahlen durchließ. Sie streichelten Edithas blasses Gesicht, das sie instinktiv dem Licht und der Wärme entgegenstreckte, um sie einzusammeln und irgendwo ganz tief in sich, auf Vorrat, wie einen unbezahlbaren Schatz, zu verstecken. Der Winter würde sehr bald kommen und mit ihm die Nässe und Kälte, die Editha nicht mochte. Sie sei ein Kind der Sonne und des Sommers, hatte Miss Knight stets gesagt, wenn sie Editha zum Spaziergang anzog. Vielleicht lag es an Edithas magerer Statur, welche sie seit ihrer frühen Kindheit hatte. Miss Knight hielt Editha deswegen für ein äußerst ungesundes Kind, das sie bei jeder Gelegenheit aufzupäppeln versuchte und häufig in die Sonne nach Frankreich schickte. Ihre Bemühungen hatten nicht gefruchtet, Editha blieb dünn und fror in jedem Winter weiterhin entsetzlich.
Sie zog ihren dünnen Mantel enger, als sie nach Hause lief, um das Kleid sicher abzulegen.
Frühzeitig saß Editha auf der niedrigen Mauer der Eingangstreppe vor der Schule und freute sich über den Moment der Unbeschwertheit. Es war wie früher in ihren Jugendjahren. Wie das alte, nicht mehr nötige Laub ließ sie ihre Sorgen vom Wind davontragen. Die kalte Mauer erinnerte sie an ihre eigene Schulzeit, die noch nicht so lange her war. Sie, das Schulmädchen, das gerade auf seine beste Freundin wartete, die gleich mit den anderen rausstürmen würde. Wie unbekümmert sie doch damals gewesen war! Als ob die Wolken es gut mit ihr meinten, verzogen sie sich und überließen der Sonne das Feld. Glücksgefühle stiegen in Editha hoch und ein verträumtes Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.
Es schellte. Die eben noch alles beherrschende Ruhe wich dem lauten, fröhlichen Kinderlärm. Schulschluss. Die Kinder schauten nicht zurück, als sie das Gebäude verließen. Die einen vertieft in ein Gespräch, die anderen eilig zu ihrer Unterkunft laufend. Die Schule mit dem weitläufigen Gelände war ein Internat für Gutbetuchte. Die meisten Kinder lebten hier und wurden nur zum Wochenende, manche nur in den Ferien abgeholt. Nicht viele Schüler durften täglich nach Hause wie Amelie. Phillip, Edithas Ehemann, hatte darauf bestanden. Etliche Nachmittage seiner Schuljahre hatte er zwischen diesen Mauern verbracht, nur einige Kilometer von zu Hause entfernt. Er hatte sich nach seinem Heim, seinen Eltern gesehnt, im sicheren Bewusstsein, doch nicht hinzukönnen. Für Phillip war das eine schmerzliche Erinnerung gewesen. Das Gefühl, zu Hause nicht erwünscht zu sein, hatte er seiner Tochter ersparen wollen.
Nachdem die meisten Kinder das Schulgebäude verlassen und sich in den anderen Gebäuden auf dem Gelände verteilt hatten, kam Amelie. Sie war so damit beschäftigt, den Reißverschluss ihrer Jacke zu schließen, dass sie an ihrer Mutter, ohne sie wahrzunehmen, vorbeilief.
„Engelchen!“, rief Editha. „Schön, dass du da bist.“
Als das Mädchen ihre Mutter erblickte, drückte es sich fest an sie und ließ sie eine Weile nicht mehr los. „Ich wollte gerade in die Sporthalle …“
„Ist etwas passiert?“
„Nein, ich habe meinen Turnbeutel dort liegen lassen. Ich habe dich lieb, Mami“, fügte Amelie hinzu, als sich die beiden auf den Weg zur Turnhalle und anschließend zur Bushaltestelle machten.
„Wir müssen uns beeilen, sonst fährt der Bus ohne uns. Ich bin bestimmt schneller als du! Komm, ein Wettrennen?! Auf die Plätze … Fertig … Los!“
In Engelsheim gab es eine Bäckerei, einen Krimskramsladen, das Atelier La Parisienne, einen Frisör und ein Eiscafé. In dem winzigen Tante-Emma-Laden bekam man Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch und Eier – für alles andere musste man den Weg nach Hankenheim antreten.
Fast eine Stunde dauerte es, bis der Bus die Stadtmitte erreichte. Jede Ankunft in Hankenheim feierten die beiden mit einer Nussschnecke aus der Bäckerei gleich an der nächsten Straßenecke. Auch heute wurde sie brüderlich geteilt und danach spazierten sie über die Heiligmannsbrücke zu Graber Winkel. Wie der Ku’damm in Berlin war der Graber Winkel jedem aus der Umgebung bekannt – eine Einkaufsstraße für Leute ohne Geldsorgen. Auch Editha war vor einigen Jahren mit vollen Taschen aus solchen Geschäften geschlendert, ohne sich über den Preis Gedanken machen zu müssen. Sie vermisste dieses Leben. Es versetzte ihr einen schmerzhaften Stich, die Straße entlangzugehen. Und doch konnte sie nicht anders. Jede Faser ihres Körpers zog sie an diesen Ort. Hier herrschte eine andere, besondere Atmosphäre, frei von dem Gestank des Alltags und dessen Sorgen. Sie genoss es, hier zu sein: Für einen Moment dem Alltag zu entfliehen, wieder sorglos, jemand anderes zu sein.
Die beiden Stapelmannmädchen hatten Spaß daran, sich vorzustellen, viel Geld zu haben. Würdevoll, und das konnte Editha exzellent, betraten sie das eine oder andere Geschäft. Sie ließen sich die teuersten Kleider oder Schmuckstücke vorführen, probierten sie ausgiebig an. Unter einem Vorwand verließen sie eilig die Geschäfte, ohne etwas zu kaufen, und ließen die naserümpfenden Verkäufer in ihrer Unzufriedenheit zurück. Wenn sie genug von der Spielerei hatten, besorgten sie ihren Einkauf in weniger teuren Geschäften und machten sich glücklich, wie auch dieses Mal, auf den Heimweg.
Es war schon spät, als sie zu Hause ankamen. Ohne etwas zu essen, ging Amelie ins Bett und schlief sofort ein. Editha war froh darüber.
Sie starrte auf den Rock, den sie fertigstellen sollte, und entschied sich dagegen. Sie wollte nach diesem schönen Nachmittag mit ihrer Tochter nicht mehr arbeiten. Sie kuschelte sich ins Bett, nahm ein Buch zur Hand und suchte die Stelle, an der sie zuletzt aufgehört hatte zu lesen.
… Emma beschloss, ihm einen Brief zu schreiben.
„Verdammt!“ Wie von einer Tarantel gestochen sprang Editha aus dem Bett und holte den orangefarbenen Umschlag aus ihrer Tasche, den sie vollkommen vergessen hatte.
Erst weit nach Mittag traute sich Editha am nächsten Tag in das Büro ihres Chefs. „Herr Dumand?“ Vorsichtig steckte sie ihren Kopf durch den Spalt der angelehnten Bürotür. Er saß in seinem Stuhl und blätterte in einer Modezeitschrift. Sein lockiges dunkles Haar, eine Hakennase und sein langes, aber rundes Gesicht verliehen ihm ein südländisches Aussehen, weshalb ihn alle tatsächlich für einen Franzosen von der Südküste hielten. Nachdenklich strich er über sein Ziegenbärtchen und hörte damit sofort auf, als er Edithas Stimme hörte.
„Mon dieu! Was gibt’s? Ich habe nicht viel Zeit“, blaffte der Mann sie an.
„Es tut mir leid, dass ich Sie störe, aber ich müsste heute früher los. Ich muss um halb vier in der Schule sein“, sagte Editha mit leicht zittriger Stimme. Sie hasste es, aber es passierte ihr immer.
Der Mann verharrte einen Moment, hob langsam seinen Kopf und starrte Editha mit einem verständnislosen Blick an.
„Ich muss in die Schule. Die Schule meiner Tochter. Elterngespräch“, erklärte sich Editha. „Ich habe einen Termin. Und ich muss dorthin“, fügte sie flehend hinzu. Sie fühlte sich immer unwohl, wenn sie diesen Mann um etwas bitten musste. Beim letzten Mal, als sie ihn um Vorschuss gebeten hatte, tobte er so sehr, dass seine Tischlampe und ein Bild zu Bruch gingen und er Editha dafür in Regress nahm.
„Sie hatten gestern Nachmittag frei.“
„Ja … Ich habe den Brief erst gestern Abend bekommen“, entschuldigte sich die junge Frau.
„Frau Stapelmann! Was kann ich für Ihre schlechte Terminplanung? Glauben Sie, dass sich hier alles von alleine macht? Glauben Sie wirklich, dass ich so erfolgreich geworden bin, weil ich meine Termine nicht unter Kontrolle habe?“, zischte der Mann aus dem puterrot angelaufenen Gesicht.
Editha machte den Mund auf, um etwas zu sagen.
Ihr Chef ignorierte sie. „Sie haben sehr viele Wünsche, was Ihre Arbeitszeiten und Ihren Lohn angeht. Finden Sie nicht? Waren Sie nicht erst vor drei Wochen bei mir und wollten einen Vorschuss?“ Seine Gesichtsfarbe wechselte von puterrot zu roten Pünktchen, die ihn wie einen Masernerkrankten aussehen ließen. „Von Frau Pisani habe ich noch nie gehört, dass sie frei oder mehr Geld wolle. Sie hat mehr Kinder als Sie und schafft es trotzdem, nicht zu jammern und zu betteln.“
„Frau Pisani hat einen Mann, der auf die Kinder aufpasst. Ich bin alleinerziehend.“
„Alleinerziehend. Das ist einer der Punkte, weshalb wir uns noch einmal gründlich überlegen sollten, ob wir Sie hierbehalten können. Wir sind ein anständiges Haus. Alleinerziehende können wir hier nicht gebrauchen. Unsere Kundinnen sind angesehene Persönlichkeiten, sie werden sich sicher fragen, wie Sie zu diesem Kind kommen. Und mir stellt sich die Frage, wie Sie sich als Alleinerziehende diese private Eliteschule leisten können? Sicher, Ihre Schwiegereltern sind sehr angesehen. Soweit ich weiß, sind Sie im Streit mit ihnen. Ihre Rechnungen bezahlen sie sicher nicht. Also wie schaffen Sie es? Gehen Sie noch einer anderen Beschäftigung nach?“ Mit einer unschuldigen Miene legte er andeutend seine Hand in die Horizontale. „Welchen Eindruck hinterlässt es wohl bei den Kundinnen, wenn sie erfahren, dass wir hier Frauen eines zweifelhaften Rufes beschäftigen?“ Er war inzwischen aufgestanden und zeigte drohend auf Editha.
Vor Empörung und Traurigkeit zog sich alles in ihrer Brust zu einem Klumpen zusammen. Wie gern sie ihm eine knallen und fristlos kündigen würde. Aber sie konnte nicht. Herr Dumand war der Einzige, der bereit gewesen war, sie einzustellen. Niemand in der Stadt wollte es sich mit Edithas Schwiegereltern verscherzen. Tränen drängten sich ihr in die Augen, die sie verzweifelt versuchte herunterzuschlucken. „Bitte, ich muss dorthin“, flüsterte sie kaum hörbar.
Die Glocke der Eingangstür des Ateliers gab hektische Töne von sich. „Huhu! Wer da?“, rief eine fröhliche Frauenstimme.
Herr Dumand beruhigte sich sofort. „Nun. Ich will nicht so sein“, sagte er seine Kleidung richtend. „Sie können gehen.“ Gönnerhaft wedelte er mit der Hand.
„Danke“, quetschte Editha mit aller Mühe aus ihrer Kehle und verließ nach ihrem Arbeitgeber den Raum.
„Bon jour, Madame Kerner!“, begrüßte der Mann die Kundin zuckersüß. „Moment, s’il vous plaît. Voulez-vous prendre place?“ Breit lächelnd zeigte er auf das Sofa, das im Salon stand.
Editha eilte an den beiden vorbei. Sie war bereits an der Nähstubentür, als Herr Dumand nach ihr rief. Widerwillig drehte sie sich um.
„Frau zu Rebental, Sie wissen schon, die Freifrau aus Bayern …“, dabei ließ er seinen bedeutungsschwangeren Blick von seiner Kundin, die nun wissend nickend und zufrieden lächelnd auf dem Sofa saß, zu Editha wandern, „… kommt zur Anprobe vorbei. Sie möchte das Kleid am liebsten sofort mitnehmen. Stellen Sie sich auf einen arbeitsreichen Samstagnachmittag ein.“
Zähneknirschend nickte Editha und eilte in die Nähstube. Zornig und achtlos stopfte sie das Kleid in eine Schutzhülle, verabschiedete sich von Camilla und verließ das Gebäude.
Das in Übergröße angefertigte Glasfenster des Ateliers erzitterte, als Editha die Tür zuknallte. Mit goldenen Buchstaben beklebt verbarg es hinter sich mehrere Schaufensterpuppen, die die herrlichsten Kleider ausstellten. Viel Zeit und Mühe hatten Editha und Camilla aufgebracht, um diese sorgfältig herzustellen. Herr Dumand verlangte viel Geld für die Einzelstücke. Camilla und Editha bezahlte er allerdings miserabel. Wenn die Frage der Lohnerhöhung aufkam, schlug er den Frauen stets vor, in die Textilfabrik arbeiten zu gehen, die sich in Hankenheim befand.
Editha wandte sich vom Schaufenster ab, zog ihren dünnen Mantel, der ihr keinerlei Wärme spendete, enger um sich und hängte die Tasche um ihr Handgelenk. Den Bus hatte sie um einige Minuten verpasst. Sie musste rennen. Zu allem Übel fing es an zu nieseln und schließlich peitschten ihr dicke Regentropfen ins Gesicht.
Völlig außer Atem, tropfnass und durchgefroren betrat sie eine Stunde später das Schulgebäude. Auf Edithas Klopfen beim Sekretariat reagierte niemand. Sie zog den orangefarbenen Umschlag aus der Tasche. Er war genauso durchnässt wie sie selbst und hatte bereits auf den Brief abgefärbt. Die Zeit stimmte. Sie klopfte energischer. Immer noch keine Reaktion.
Neben der Tür der Sekretärin war die des Direktors, doch es wies nichts darauf hin. Editha erinnerte sich noch an den blauen Elternbrief, den Herr Brink ausgeteilt hatte. Er hatte darin ausdrücklich und unmissverständlich mitgeteilt, dass alle Angelegenheiten grundsätzlich an Frau Niewohl, seine Sekretärin, geleitet wurden und er selbst niemals in seinem Büro gestört werden dürfe. Daher werde kein Schild mehr an seinem Büro hängen.
Editha schüttelte den Kopf, traute sich dennoch nicht, an die Tür des Direktors zu klopfen. Sie lief den Flur auf und ab, um einerseits die Zeit totzuschlagen, und um sich andererseits aufzuwärmen. Sie bewegte ihre klammen Finger, um wieder Leben in sie zu bringen.
Sie pochte erneut an Frau Niewohls Tür. Der Uhr an der Wand nach war sie bereits zehn Minuten zu spät. Nichts. Sie nahm ihren Mut zusammen und klopfte an die Tür ohne Namensschild.
Eine dürre Frau öffnete. Ihr spitzes Gesicht wirkte noch kantiger, als sie die Lippen schürzte und Editha von oben bis unten beäugte.
„Ich habe nebenan geklopft“, sagte Editha verlegen, bekam von der Frau, die sie immer noch missbilligend, schon fast angewidert ansah, keine Antwort.
„Sie sind zu spät!“, donnerte es aus dem Raum. Die Frau trat beiseite und ein opulenter, antiker Tisch kam zum Vorschein, der in der Mitte des Zimmers thronte. Ein nicht weniger pompöser Ohrensessel stand dahinter und nahm nicht minder so viel Platz ein wie der Tisch selbst. Die Wände mit dunklem Holz vertäfelt und mit Regalen voller Bücher, Ordner und Trophäen bestückt, forderten Respekt ein. Editha fühlte sich sofort in ihre Kindheit versetzt. Die Bibliothek ihres Vaters auf dem Familiensitz war ähnlich diesem Raum gewesen, nur um einiges größer. Sie und ihre Geschwister durften den Raum nur dann betreten, wenn ihr Vater etwas Wichtiges zu vermelden oder eine Standpauke gehalten hatte.
Zum ersten Mal betrat Editha des Direktors heilige Halle. Zaghaft, mit größter Vorsicht schritt sie näher.
Die Sekretärin nahm einen schweren, mit edelstem Leder beschlagenen Holzstuhl weg und platzierte einen einfachen Metallhocker vor dem Tisch. „Nehmen Sie Platz“, befahl sie. Dann verschwand sie im Nebenzimmer.
„Nun“, sagte der Mann, den man hinter dem gigantischen Möbelstück kaum erkennen konnte. „Wissen Sie, warum ich Sie hierher bestellt habe?“ Der Direktor ließ sich in den Sessel zurückfallen.
„Wegen Amelie?“
Herr Brink zog seine buschigen Augenbrauen hoch. „Sicher könnte sich das Verhalten Ihrer Tochter verbessern. Da ist Ihre Tochter nicht anders als die anderen Kinder. Doch heute ist das nicht das Thema.“ Der Direktor lehnte sich nach vorn und schaute Editha streng an. „Ihnen sind die Pflichten, die Sie als Elternteil an dieser Schule haben, bewusst?“
„Ja … schon …“, stammelte Editha, während sie fieberhaft überlegte, was sie vergessen haben könnte.
„Dann erklären Sie mir doch bitte, aus welchem so wichtigen Grund Sie die Arbeitsstunden, die Sie hier abzuleisten haben und vertraglich festgesetzt sind, nicht erfüllt haben?“
„Doch, habe ich, vor den Sommerferien“, protestierte Editha.
Der Mann grunzte.
„Ich habe beim Aufräumen geholfen und die Klassenräume gestrichen, die beschmierten Tische geschrubbt und draußen aufgeräumt.“
Herr Brink stand auf. Nein, er hüpfte mehr von seinem erhöhten Sitz auf den Boden. Der Tisch wirkte jetzt noch größer, denn er ging dem Mann bis zur Taille. Das heißt, wenn er eine gehabt hätte. Er zog die Regalleiter an die richtige Stelle, schaute nach oben, blieb einen Moment stehen, dann rief er über die Telefonanlage seine Sekretärin. Reserviert betrat sie das Zimmer. Doch die ihr bevorstehende Aufgabe verwandelte ihre Hochnäsigkeit in pure Verzweiflung. So elegant wie möglich kraxelte sie die Leiter hoch. Ihr Rock, viel zu eng für diese Tätigkeit, knackte vor beinahe platzenden Nähten und ihr Gesicht nahm mit jeder Sprosse ein tieferes Rot an. Oben angekommen holte sie einen dicken Ordner und blickte angsterfüllt nach unten. Es war hoch, denn der Raum hatte fast das Doppelte an normaler Raumhöhe, weil er in einem kleinen Türmchen lag. Umständlich kletterte die Frau herab und reichte dem Mann das verlangte Objekt. Sie seufzte erleichtert und Editha war nicht entgangen, dass die Frau leicht zitterte. Der Direktor saß bereits wieder majestätisch in seinem Sessel. Leicht skurril sah er darin aus. Editha schaute zu Boden, sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Herr Brink kompensiere mit den großen und protzigen Sachen, die ihm seiner Meinung nach mehr Bedeutung verliehen, seine Körpergröße – wie Phillip Editha eines Tages aufgeklärt hatte.
Ohne ein Wort des Dankes zu hören, verschwand die Sekretärin wieder in ihrem Vorzimmer.
„So, da haben wir Sie“, sagte der Schuldirektor. „Nun, ich habe hier keinen Vermerk. Und glauben Sie mir, wir schreiben alles auf. Das bedeutet für mich, dass Sie nicht hier waren.“
„Aber ich war da! Fragen Sie Frau Ohlig. Sie hat eine Strichliste geführt“, erwiderte Editha.
„Eine Strichliste?“ Der Mann lachte höhnisch. „Die Arbeitsstunden werden ausschließlich von meiner Sekretärin dokumentiert.“
„Es war so abgesprochen. Ihre Sekretärin war so spät nicht mehr im Haus. Nur Frau Ohlig“, insistierte Editha.
„Nun gut. Vertrag ist nun mal Vertrag. Alle müssen sich daran halten“, sagte der Direktor zuckersüß, ohne Edithas Worten Beachtung zu schenken.
„Ich war da. Vor den Sommerferien. Abends. Sie können es doch nicht leugnen!“
„Sie können Ihre Arbeitsstunden natürlich auch mit Geld begleichen. Dann werden wir jemanden einstellen, der die ausstehenden Arbeiten erledigt, die Sie versäumt haben. Aber, da Sie ja bereits die Schulgebühren von Ihren Schwiegereltern bezahlen lassen … Sie haben dieses Jahr noch keine einzige Stunde abgeleistet. Letztes Jahr … letztes Jahr … da fehlen Ihnen dreißig Stunden, also insgesamt hundertsechzig Stunden. Und das Jahr davor …“
„Entschuldigung, aber ich muss auch richtig arbeiten, um Geld zu verdienen. Meine Rechnungen bezahlen sich nicht von allein. Und wenn Ihre Mitarbeiter das nicht richtig dokumentieren …“, zischte Editha den Mann an. „Ich habe nicht so viel Zeit …“
Der Direktor würdigte Editha keines weiteren Blickes. Er blätterte weiterhin in dem Ordner, grinste süffisant und rief begeistert: „Na! Was haben wir denn da? Das Jahr davor haben Ihre Schwiegereltern wieder einmal Ihre Schulden bezahlt. Vielleicht sollte ich sie diesmal auch darum bitten?“
Die Schwiegereltern. Da waren sie wieder. Die unsichtbare, aber gewaltige Kraft, die Editha die Kehle zuschnürte. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen. Nichts würde diesen Mann umstimmen. Sein herablassender Ton, seine Ignoranz und der Gedanke an die Schwiegereltern, die allgegenwärtig und allmächtig erschienen, ließen sich Editha ohnmächtig fühlen. Ihr innerer Widerstand, der sich aufgebaut hatte, brach wie ein Kartenhaus zusammen.
„Ich werde am Wochenende mit Elisabeth und Karl speisen. Vielleicht sollte ich ansprechen, in was für einem beklagenswerten Zustand Ihre Enkeltochter aufwachsen muss“, sprach der Mann unterdessen weiter. „Amelie, ein im Prinzip durchschnittliches, aber durchaus begabtes Kind, wird nicht gefördert. Wegen Lappalien muss ich Sie herholen lassen, weil es anscheinend unter Ihrer Würde liegt, sich um solche Banalitäten wie das Bezahlen von Mittagessen, Löcher in den Strümpfen oder abgenutzte Lernmaterialien zu kümmern. Bei keinem anderen Kind wird so etwas geduldet. Nun, Sie haben sich bewusst für das Leben außerhalb des Internats entschieden, sind aber nicht bereit, die damit verbundenen Pflichten zu erfüllen.“ Der Direktor hüpfte von seinem Sessel und schritt den Raum ab. „Das Sozialverhalten des besagten Mädchens ist nicht besonders herausragend. Amelie macht es ihrer Mutter nach und engagiert sich in keinem freiwilligen Bereich unserer Schule. Ihre Zensuren in einigen Fächern sind unter dem Niveau unserer Institution.“ Er blieb stehen, überlegte. „Sie stellt sich mit Schuhen auf den Tisch, um einen Käfer von der Decke zu retten, aber streitet unerbittlich mit ihren Mitschülern um ein Lineal. Soll ich weiter ausführen? Die Liste ihrer Vergehen ist so lang! Ich wäre erst übermorgen damit fertig.“
„Seit wann muss man das Mittagessen bezahlen?“, fragte Editha irritiert nach. „Ich dachte, das wäre in den Gebühren enthalten.“
„Für die Eltern von auswertigen Schülern hat es sich geändert. Es gab einen grünen Elternbrief. Haben Sie ihn nicht gelesen? Glauben Sie, wir verteilen das bunte Papier zum Spaß?“, regte sich der Mann auf.
„Ich habe diesen Brief nie zu Gesicht bekommen“, verteidigte sich Editha.
„Es ist wirklich eine Schande. Diese Schule ist noch zu Kaisers Zeiten und aufgrund seiner Güte gegründet worden! Seitdem ist die Familie Ihres Mannes an dieser Schule vertreten. Wir haben alles überstanden. Mit Mühe und Not“, sagte der Mann mit einem unerschütterlichen Stolz. „Nun gut, Amelie ist das erste Mädchen aus dieser Familie. Es waren sonst immer herausragende Jungen. Aber auch Mädchen können sich beweisen. Sie müssen eben härter kämpfen. Das fehlt Ihrer Tochter gänzlich. Der Kampfgeist, der diese Schule am Leben hält! Es ist wirklich eine Schande, dass Sie, nachdem Ihre Schwiegereltern die gesamten Kosten für die Schule übernehmen, nicht gewillt sind, es zu würdigen. Die Ehre, an dieser Schule sein zu dürfen …“ Herr Brink schüttelte den Kopf. „Unsere Schule hat viele prominente Persönlichkeiten in die Welt herausgeschickt, die sehr erfolgreich sind. Und es sind nicht nur Jungs. Auch Mädchen haben es zu etwas gebracht. Und Sie? Sie sind nicht bereit, sich einzubringen. Von Ihnen wird nun wirklich nicht zu viel verlangt. Unsere Schulordnung besagt, dass die Kinder im ordentlichen Zustand zur Schule kommen müssen, das bedeutet ohne Löcher und nicht verschmutzt, befleckt oder sonst irgendwie unpassend. Wir haben nicht ohne Grund eine Schuluniform eingeführt. Ist das zu schwer für Sie, die Regeln der Schule zu befolgen? Ich war gleich gegen dieses Konstrukt mit Nachmittags-zu-Hause-Bleiben. Ich habe es Ihrem Mann versprochen, das muss ich in Ehren halten. Doch seitdem Phillip zu mir gekommen war und darum gebeten hatte, sind einige weitere Schüler dazugekommen, die hier nicht leben wollen. Als ob man unsere Schule meiden müsste!“
Der Mann atmete tief durch. „Normalerweise hätte ich jeden anderen Schüler bereits von der Schule verwiesen. Nur zuliebe Ihrer armen Schwiegereltern darf Amelie in diesem hochangesehenen Internat bleiben und nachmittags nach Hause gehen. Doch meine Geduld hält nicht ewig. Ich bin dafür verantwortlich, dass die Traditionen und der Ruf unserer Schule gewahrt werden.“
„Die freiwilligen Aktivitäten kosten zusätzliches Geld, deswegen nimmt sie nicht daran teil. Das Geld für die Schule, das …“ Editha hielt inne. Sie würde ihn nicht überzeugen können. Soweit sie sich an ihre Schulzeit erinnerte, waren ihre Eltern sehr streng gewesen. Und doch waren ihre eigenen Strümpfe und die ihrer Geschwister mehrmals gestopft. Und sie kam aus einem guten Hause.
„Jedes Kind hat doch mal Löcher in den Strümpfen und die Stifte sind auch nicht für die Ewigkeit da! Sie nutzen sich ab. Jedes Kind schlägt mal über die Stränge und will keine Dienste übernehmen, egal aus welchem Haus es kommt. Und in der Schule ist Amelie nicht die Einzige, die nur zum Unterricht kommt und den Rest des Tages zu Hause ist, wie Sie das selbst eben bekundet haben … Und meine Rechnungen gehen Sie gar nichts an.“
Lächerlich kamen ihr seine fadenscheinigen Gründe vor. Ihr Kopf fing an wehzutun. Sicher hatten ihre Schwiegereltern ihn angestachelt. Sie schienen es gern zu haben, wenn Editha Schwierigkeiten hatte. Er war ein treuer Ergebener der Familie Stapelmann, er würde so einiges für sie tun. Er tat Editha sogar leid. Dieses Verhältnis zwischen Familie Stapelmann und ihm hielt er für Freundschaft. Editha kannte diese Art von Freundschaft gut. Auch ihr Vater hatte zur Genüge diese Freundschaften. Waren die Leute einem nützlich, hielt man sie sich warm. Verloren sie ihren Wert, stieß man sie wie überflüssigen Ballast ab.
Phillips Familie war einer der wichtigsten Förderer der Schule. Es war ihnen von großer Bedeutung, solange die eigene Familie in der Schule vertreten war, Einfluss zu haben. Selbst wenn Herr Brink wollte, durfte er Editha genau aus diesem Grund nicht mögen, das wusste sie. Wenn dieser Wicht nur wüsste, wen er vor sich hatte …. Aber nein, ganz sicher wusste er das. Er genoss es sichtlich, sich überlegen zu fühlen und triumphierte über ihre Niederlage.
Heute amüsierte die ungewöhnlich hohe Stimme des Direktors Editha nicht im Geringsten. Sie fragte sich auch nicht insgeheim, wie sie es sonst getan hatte, ob er ein Eunuch war. Nein, heute brachte seine Stimme ihren Kopf zum Dröhnen. Das Verlangen, den Raum schnell zu verlassen, wurde unerträglich. Sie wollte raus. Sie musste sofort raus.
„Bitte, Herr Brink, lassen Sie uns zum Punkt kommen. Das Schuljahr hat erst angefangen. Stellen Sie mir eine Liste mit dem zusammen, was ich erledigen soll, und dann mache ich es. Amelie hat mir erzählt, dass es eine Schulaufführung zum Schuljahresende geben soll.“
„Wie jedes Jahr! Aber woher sollten Sie es wissen? Sie interessieren sich ja nicht für unsere Schule.“
Editha ging auf seine Bemerkung nicht ein. „Ich werde mich mit Frau Ohlig in Verbindung setzen und mit ihr besprechen, wie ich helfen kann. Wäre das für Sie akzeptabel?“
Der Direktor starrte sie eine Weile undefinierbar an. „Gut, die Stunden sind bei meiner Sekretärin Frau Niewohl anzuschreiben“, sagte er schließlich. „Ich werde dieses Mal davon absehen, Ihre Schwiegereltern von diesen unerfreulichen Dingen zu unterrichten. Aber nehmen Sie es zur Kenntnis, dass ich dazu gezwungen sein werde, wenn sich nichts ändert. Dabei haben die beiden das nun wirklich nicht verdient, die Armen. Sie haben wirklich genug eigene Sorgen.“
„Sind wir dann fertig? Meine Tochter ist alleine zu Hause.“ Editha sprang ungeduldig auf und der Hocker fiel um, den sie nicht weiter beachtete.
Herr Brink zog missbilligend seine Augenbraue hoch. „Guten Tag“, sagte er spitz und wandte sich den Papieren auf seinem Tisch zu.
Ein Rascheln holte Kira aus dem Land der Träume. Sie war noch sehr müde und wollte, nein, sie konnte die Augen nicht aufmachen. Der Duft von frisch gekochtem Kaffee stieg ihr in die Nase. Sie liebte es, so geweckt zu werden, aber Cora hatte es jetzt deutlich mit ihrer Mütterlichkeit übertrieben.
„Cora, du musst mir wirklich keinen Kaffee ans Bett bringen, wo kommen wir denn da hin?“, nuschelte Kira unmutig mit immer noch geschlossenen Augen.
„Dass ich zum Frisör müsste, habe ich mir schon gedacht, aber dass ich gleich für eine Frau gehalten werde …“, hörte sie die Stimme ihres Mannes Felix.
Mit einem Mal war sie wach und saß aufrecht im Bett. Felix stand vor dem Spiegel und begutachtete sein Aussehen. Er strich mit den Fingern durch das kastanienbraune Haar, nickte leicht. „Eindeutig zu lang.“ Dann zog er das Hemd aus und posierte vor dem Spiegel.
Kira grinste breit. Sie liebte es, seinen durchtrainierten Körper zu betrachten. „Du bist doch mit Marc in Japan! Was machst du denn hier?“, fragte sie freudig überrascht.
„Ich glaube, ich wohne hier“, sagte Felix breit lächelnd. Er schaute wieder in den Spiegel, zog den Bauch ein und präsentierte seinen Sixpack. „Ein bisschen dick geworden ist dein Mann, würde ich sagen“, meinte er.
Kira wusste genau, dass er nur ein Kompliment hören wollte. Ebenso grinsend schleuderte Kira ein Kissen in Richtung seines Kopfes. Geschickt wich er aus und warf das selbige zu Kira zurück. „Kissenschlacht am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen.“ Er lachte. Dem Kissen hinterhereilend warf er sich selbst neben seine Frau aufs Bett und küsste sie. „Marc hat mein stilles Gejammer nicht ausgehalten und mich nach Hause geschickt.“
„Du bist ein offenes Buch für ihn.“
„Wofür hat man denn Freunde?“
„Freunde? Der gehört hier doch schon zum Inventar.“
„Hast recht. Er ist Familie. Wir haben gestern den Vertragsabschluss so schnell über die Bühne gebracht, dass nichts gegen einen spontanen Besuch zu Hause sprach. Ich will doch deine erste Ausstellung nicht verpassen.“ Felix drehte sich auf den Rücken und knautschte sein Kissen so zurecht, dass er bequem Kaffee trinken konnte. „Marc hätte auch mitkommen können. Aber … Marc ist eben Marc. Er hat sich dagegen entschieden, auch wenn er gern dabei gewesen wäre. Jetzt, wo ich im Bett liege, werde ich total müde.“ Felix zog die Decke über sich.
„Dann schlaf. Ich werde weiterarbeiten gehen. Habe noch eine Menge zu tun.“ Kira hüpfte aus dem Bett und warf sich den Bademantel über.
„Papa! Papa! Du bist da!“ Das kleine Mädchen kam ins Schlafzimmer gestürmt. Es zog an Felix’ Decke. „Wann fahren wir in den Zoo?“
„Beckie, Liebes, Papa muss kurz schlafen und morgen früh können wir dorthin.“ Felix gab seiner Tochter einen dicken Kuss auf die Stirn. „Ist das ein Deal?“
„Du hast mir aber versprochen, wenn du wieder da bist“, protestierte das Kind.
„Ja, Liebes, das habe ich. Aber schau, ich wäre heute noch gar nicht da.“
„Aber du bist doch jetzt da“, wandte Rebecca irritiert ein.
„Ja, Kleines. Ich bin schon jetzt da, weil ich euch so sehr vermisst habe.“ Felix drückte seine Tochter an sich. „Doch heute ist Freitag. Ein Wochentag. Was bedeutet das?“
„Arbeit“, murmelte Rebecca grimmig.
„Und was musst du an einem Wochentag machen?“
„Zum Kindergarten gehen.“
„Genau, das ist deine Arbeit.“
„Aber du bist doch jetzt auch zu Hause?“
„Da hast du vollkommen recht. Ich bin jetzt zu Hause. Das liegt daran, dass ich die ganzen letzten Tage, ohne mich auszuruhen, gearbeitet habe. Manchmal müssen Erwachsene das so machen. Und dann bin ich mit dem Flugzeug ganz schnell her geflogen, weil ich euch ganz doll vermisst habe. So, und wenn man gut und viel gearbeitet hat, muss man sich erholen, ausruhen. Deswegen gehst du jetzt in den Kindergarten und ich erhole mich solange. Wenn du wieder da bist, machen wir was Schönes zusammen.“
„Im Kindergarten ist es langweilig!“
„Oh. Das kann ich beheben! Wenn dir langweilig wird, machst du dir Gedanken, was du heute Abend und morgen im Zoo machen möchtest.“
Rebecca schob beleidigt die Unterlippe hervor. „Ich will nicht in den Kindergarten.“
„Schätzchen, schau, hier wäre es viel langweiliger“, mischte sich Kira in das Gespräch ein. „Also, ich muss jetzt arbeiten. Und glaub mir, es ist viel langweiliger, Papa beim Schnarchen zuzuschauen.“
Rebecca kicherte.
„Du musst in den Kindergarten, das ist ja deine Arbeit, die eigentlich Spaß macht. Und wenn einem etwas Spaß macht, dann geht die Zeit viel schneller vorbei. Außerdem ist es doch schön dort, wenn du ehrlich bist. Deine Freundinnen sind dort, sie vermissen dich, wenn du nicht kommst. Und du sie auch. Oder nicht?“
„Doch.“
„Siehst du. Nach getaner Arbeit haben wir uns auch den Besuch im Zoo richtig verdient.“ Kira nahm ihren Kaffeebecher in die Hand. „Komm, Mäuschen, wir schauen mal, was Cora Schönes zum Frühstück gezaubert hat. Sie ist bestimmt schon da.“
Rebecca gab ihrem Vater einen dicken Kuss auf die Wange und verließ singend das Zimmer.
Cora, die Haushälterin, hatte bereits den Tisch gedeckt und schob den Kaiserschmarren auf den Teller, als sich die beiden an den Tisch setzten.
„Guten Morgen. Das riecht ja toll!“
„Guten Morgen, ihr beiden.“
„Felix ist heute Morgen überraschend aufgetaucht. Er bleibt übers Wochenende. Er will morgen bei meiner großen Ausstellung dabei sein.“ Kira verdrehte leicht die Augen.
„Ich habe mich schon gefragt, warum die Kaffeemaschine an war, als ich kam.“ Cora schaute in Richtung ihres Hauses. „Und Marc? Ich hatte sein Bett noch gar nicht bezogen. Ich habe alle seine Decken und Kissen gewaschen.“
„Nein, mach dir keinen Kopf, er ist noch in Japan. Außerdem kann er auch selbst ein Bett beziehen.“ Kira nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie den Becher abstellte. „Könnte dein Mann Beckie zum Kindergarten bringen? Ich hab noch so viel zu tun“, fragte Kira ohne Umschweife.
„Ja, natürlich. Peter muss sowieso noch zum Baumarkt. Hinten in der Scheune muss ein Balken verstärkt werden. Er wollte ohnehin mit euch darüber reden. Das Gebäude ist wohl nicht sicher.“ Die Frau zerpflückte den Fladen mit zwei Gabeln. „Willst du heute Vanille oder Erdbeersoße?“, wandte sie sich an das Mädchen.
„Vanille und Erdbeersoße!“
„Schmeckt das denn zusammen?“, wollte Kira wissen.
„Ja, sehr sogar. Du musst das mal unbedingt probieren!“, meinte Rebecca in einem wichtigen Ton.
Kurze Zeit später verabschiedete sich Kira von ihrer Tochter, zog sich ihre Arbeitskleidung an und verschwand in der Orangerie, in der Felix für sie ein Atelier hatte einrichten lassen. Das nur aus Glas und Holz bestehende Gebäude hatte früher als Eingang in den großen Gemüsegarten gedient und befand sich nur einige Meter vom Haus entfernt. Die Lichtverhältnisse sind perfekt, dachte Kira jedes Mal, wenn sie ihr kleines Reich betrat.
Es war eigentlich nicht nötig, dass sie weiterarbeitete. Seit Tagen waren alle für die Ausstellung ausgesuchten Kunstwerke vorbereitet und warteten auf die Abholung, aber Kira wollte noch einmal sichergehen. Sie musste überprüfen, ob alles in Ordnung war. Am meisten machte sie sich um die Plastiken Sorgen. Felix, der von ihren Werken begeistert war, hatte vor zwei Jahren eigenständig entschieden, Kiras Kunstwerke in Japan anzubieten. Eigentlich wollte er seiner Frau nur etwas unter die Arme greifen und die angesammelten Werke, die viel Platz einnahmen, loswerden. Auch wenn er von ihrem Talent überzeugt war, überraschte es beide sehr, dass die Nachfrage so hoch war. In großen, stabilen Holzkisten wurden die Werke regelmäßig nach Japan transportiert.
Marlenes Strategie war eine andere. Für die Fahrt von sechzig Kilometern hatte sie Kiras Kunstwerke von den Fahrern nur in Polsterfolie wickeln lassen.
Kira überprüfte erneut jedes einzelne Stück. Naserümpfend stellte sie fest, dass an einigen Plastiken die Folie viel zu fest, an anderen viel zu locker saß, und sie nicht umhinkam, es neu zu umwickeln. Viel lieber hätte sie alles selbst in die Galerie gebracht und sie hatte es auch versucht. Aber Marlene war aus versicherungstechnischen Gründen absolut dagegen gewesen.
„Nein, nein, nein, Schätzchen. Du zahlst dafür genug Geld und es ist meine Aufgabe, für den Transport zu sorgen“, hatte sie zu Kira gesagt, als sie mit einem ihrer Bilder in der Galerie aufgetaucht war.
„Ich würde lieber weniger bezahlen und dafür die Sachen selbst herbringen“, hatte Kira entgegengebracht. „Wenn etwas kaputt geht!“
„Bin ich gut versichert, mach dir keine Sorgen“, entgegnete Marlene. „Konzentriere dich lieber auf deine Kunst. Das kannst du wirklich sehr gut. Du wirst sehen, die Leute werden dich hier lieben.“ Marlene hatte sich auf keine weitere Diskussion eingelassen.
Kira war gerade mit dem Verpacken fertig, als zwei Männer die Orangerie betraten. „Tag. Wir sollen Bilder und so holen.“ Einer der Männer zeigte auf die verpackten Objekte.
„Sie müssen vorsichtig damit sein, bitte“, wandte Kira ein, doch der Mann hörte nicht auf sie. Er schulterte die von ihr eben eingepackte Plastik und machte sich zum Gehen auf.
„Stopp!“, schrie die junge Frau fassungslos. „Das dürfen Sie so nicht tragen! Das ist zerbrechlich.“
„Nee. Ist leicht.“
Kira gestikulierte wild um sich. „Es hat nichts mit dem Gewicht zu tun. Es bricht durch, verstehen Sie?“ Sie stellte sich dem Mann in den Weg.
„Gut, gut. Ich hole schon was für den Transport.“ Er kam mit einem kleinen, vierrädrigen Wagen zurück, den er fröhlich pfeifend vor sich herschob. Die beiden Männer packten zügig alles ein. Prüfend ging der Mann die Liste durch. „Ein Bild fehlt!“
„Stimmt. Das steht noch im Haus, im Flur“, sagte Kira, „es ist noch nicht eingepackt. Ich habe gestern Abend noch daran gearbeitet.“
Einer der Männer zeigte auf die Polsterfolienrolle, die in der Ecke stand. „Darf ich die nehmen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er sie und marschierte damit ins Haus.
„Ein sehr großes Bild“, stellte er, sich am Kinn kratzend, fest. Zügig umwickelten sie die Leinwand mit Folie und trugen sie nach draußen. „Mist, zu hoch. Lass es ein wenig kippen.“
Kira protestierte, machte Vorschläge, wie es besser ginge, aber der Mann schob sie mit den Worten: „Nicht unsere erste Fahrt. Wir machen das schon“, zur Seite.
„Sind Sie sicher, dass da nichts passiert?“, fragte Kira, als sie sah, wie sie das Bild hineinquetschten.
„Nein, alles gut.“ Der Mann warf einen prüfenden Blick in den Laster, bevor er die Tür schloss.
Kira atmete besorgt und gleichzeitig erleichtert auf, als sie dem davonfahrenden Kleintransporter hinterherschaute. Sie war fertig mit ihrer Arbeit, jetzt musste sie nur noch die Ausstellung überstehen.
Berauscht von dem Erfolg in Japan war sie vor Wochen durch die Galerien gestampft und wollte hierzulande unbedingt ihre Werke ausgestellt sehen. Nun stellte sie fest, dass sie nicht an die Konsequenzen gedacht hatte. Wie viele Besucher konnte diese Galerie aufnehmen, ohne dass man sich gegenseitig die Luft zum Atmen nahm? Schon seit ihrer Jugend machten ihr überfüllte Räume Angst.
Bewegung war ihr guter alter Freund, der ihr stets Erleichterung brachte. Sie zog ihre Sportschuhe an und lief die übliche Runde zu dem kleinen See, der sich am Rand des großen Anwesens befand. Es war Mitte April und in der Luft lag der süße Duft der Stechpalme, die hier und da am Wegesrand wuchs. Die weißen Wolken spiegelten sich in der fast glatten Wasseroberfläche des Weihers. Kira hielt am Ufer zum Durchschnaufen an und blickte direkt in die Augen eines Rehs, das sofort die Flucht ergriff.
Als sie sich am Nachmittag gerade einen Tee aufkochte, hörte sie Felix’ Kleinbus vorfahren. Sie öffnete die Tür. Rebecca war damit beschäftigt, Felix von ihrem Tag zu erzählen und ging dabei, ohne Kira zu begrüßen, ins Haus, woraufhin sie eine Schnute zog. Felix gab ihr einen Kuss. „Ich liebe dich. Sie meint es nicht
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Texte: © Taja Herbst
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Lektorat: Jaqueline Kley: Lektorat-kley@gmx.de
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0687-8
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