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Leila

Der Postbote übergab das Einschreiben:

"Herr Jonas Berger?"

"Ja."

"Ein amtliches Schreiben für Sie. Wenn Sie bitte quittieren möchten."

Berger nahm wortlos den Brief entgegen und schloss die Tür. Es war nicht nötig den Umschlag zu öffnen, wusste er doch, dass es sich um die Anzeige seiner Nachbarin handelte. Während des Telefonierens hatte er der Rentnerin das Handy vom Ohr gerissen und es im hohen Bogen in den Fluss geworfen.

War Berger ein so törichter Mensch?

 

 

Rückblende.

"Leila, komm zu Herrchen in die Küche!", rief Jonas Berger die Labrador-Hündin zu sich. Freudig schwanzwedelnd trottete ihm der Vierbeiner entgegen.

"Hier, die ist für dich, eine Extrawurst." Leila schnappte sich den leckeren Snack und Jonas weiter: "Alles Gute zu deinem zwölften Geburtstag, mein Mädchen."

Als ob sich die Hündin bedanken wollte, überbrachte sie wenig später die zusammengerollte Tageszeitung, die wegen des Dauerregens ein wenig genässt war.

Dem Niederschlesischen Blatt konnte man neben der Überschrift das Datum 'Samstag, 07.08.2010' entnehmen.

Im Innenteil verhieß der Wetterbericht nichts Gutes: Regen, Regen, Regen.

 

Jonas genoss bei einer Tasse Kaffee den Start in den Tag. Er wohnte allein, auch wenn Leila ein vollwertiges Familienmitglied für ihn war.

Nein, Leila war seine Familie.

 

Der Vierundfünfzigjährige schloss das angekippte Fenster und blickte besorgt auf den schon leicht angestiegenen Wasserspiegel der Neiße. Zum Glück lag sein Haus auf einer leichten Anhöhe.

Im prasselnden Regen wirkte der Fluss wie eine von Glasperlen bedeckte Straße.

 

Gedanken versunken folgte Jonas' Blick einem an der Scheibe herunterlaufenden Tropfen, bis ihn die Haustürklingel aufhorchen ließ.

Energisch drückte jemand mehrfach den Knopf. Es läutete noch dreimal bevor er endlich seiner Nachbarin öffnete. Sofort polterte die sichtlich aufgebrachte Frau los: "Herr Berger, wenn ihr Hund noch einmal meine Blumenkästen vom Fenstersims reißt, dann werden Sie mir den Schaden ersetzen."

"Frau Kröger, ich bitte Sie, reparieren Sie doch endlich mal das Loch in Ihrem Zaun, zumal Sie eine Katze haben. Mit Leila geht dann manchmal das Temperament durch. Es tut mir Leid. Entschuldigen Sie bitte. Ich würde es gern mit einer Tasse Kaffee wieder gut machen."

"Danke. Nein.", lehnte die Dame brüskiert ab. "Sollte es nochmal passieren, bekommen Sie Post von meinem Anwalt.", sprachs und stapfte beschirmt auf die gegenüberliegende Straßenseite in ihr Haus.

Leila knurrte ein wenig. Sie mochte offenbar diese Frau nicht.

Kopfschüttelnd schloss Jonas die Tür, wandte sich an die Hundedame und tätschelte sie liebevoll. Dabei sagte er grinsend: "Ab jetzt bleibst du besser auf der Rückseite des Hauses, tobst dich an den Neiße-Wiesen aus. Und nein, ich hab keine Lust auf Post vom Anwalt." Sein Blick glitt dabei nochmals sorgenvoll zu dem Fluss, welcher nun fast doppelt so breit war, als sonst.

 

"Komm Leila, wir räumen ein wenig die Werkstatt auf." Wenige Minuten später verließen beide das Haus und standen in der kleinen Werkstatt.

Dort gab es immer etwas zu reparieren, aufzuräumen oder zu werkeln. Leila lag auf einer Decke neben der Werkbank und döste. Ihr schien das Wetter auch nicht sonderlich zu gefallen. Im Radio spielte Musik, die durch eine Hiobsbotschaft unterbrochen wurde: Vor etwa zwei Stunden kam es zum Dammbruch der polnischen Talsperre Niedow/Witka. Jonas hielt einen Moment inne und blickte auf den Fluss: 'Na hoffentlich geht das gut.', dachte er bei sich und sah im Unterbewusstsein auf das Schlauchboot, welches zusammengefaltet im Regal lag. Hätte er es doch schon aufgeblasen ...

 

Am Nachmittag verfolgte Jonas gebannt die Nachrichten, in deren Mittelpunkt nun der plötzliche Deichbruch eines nur vier Kilometer entfernten See's stand. Die Polizei fuhr durch die Straßen und gab erste Überflutungen bekannt. Sie verwies darauf, dass Evakuierungen unausweichlich sein werden.

 

Dann ging alles sehr schnell. Der Pegel stieg rasanter als angenommen. Die ersten Wassermassen erreichten die Siedlung. Es war noch keine Panik, jedoch Hektik und Unruhe, die sich ausbreiteten.

Jonas lief vor die Tür der Werkstatt. Die kleine Treppe, die hinab führte, stand schon fast komplett unter Wasser. Leila, als spürte sie das Unheil, versteckte sich unter dem Tisch. Nur Minuten später hallten die ersten Hilferufe durch die Straßen. Ohne zu zögern holte Jonas das Schlauchboot, welches er mit Hilfe des Kompressors aufblasen wollte. Aufgrund des Stromausfalls war dies nicht mehr möglich. Auch seine Luftpumpe war nirgends zu finden. Inzwischen wurden seine Knöchel nass. Leila war sehr nervös und wollte sich am liebsten hinter Herrchen verstecken.

 

Nun blieb nur noch die eigene Lungenkraft. In Minutenschnelle blies Jonas das Boot auf. Er pustete dabei so kräftig, dass er am Rande der Ohnmacht war. Dann endlich, nach zähen Minuten, das Wasser stand ihm inzwischen bis zu den Knien, ergriff er das Paddel und ruderte oberhalb der Treppe los. Leila sprang kühn zu ihrem Herrchen. In diesem Boot wollte sie sonst nie mitfahren. Jonas ruderte direkt in Richtung gegenüberliegendes Haus, aus dem noch immer verzweifelte Hilferufe der Nachbarin zu hören waren. Er wusste, sie hatte zwei kleine Enkelkinder zu Besuch.

 

Inzwischen herrschte das völlige Chaos in den Straßen, die ohnehin schon gar nicht mehr zu sehen waren. Überall Wasser und reißende Fluten, die von tosendem Rauschen begleitet wurden.

Jonas hatte Mühe, das Boot einigermaßen zu steuern.:"Ich komme Frau Kröger, keine Sorge, bin gleich da." Er musste laut schreien, damit er überhaupt auf der anderen Seite verstanden werden konnte.

Die alte Frau, die sicher auf der Fußgängerbrücke stand, rief besorgt: "Meine Katze, sie kommt da nicht von allein weg. Oh gott, sie ertrinkt."

Die Katze saß auf einem Zaunsockel, der nur noch wenige Zentimeter aus dem Wasser ragte.

Jonas steuerte, so gut er konnte, das Schlauchboot in diese Richtung. Nur noch Zentimeter, dann könnte er sie packen, doch es wollte einfach nicht gelingen. Plötzlich sprang Leila mit einem riesigem Satz auf den Sockel und stupste die verängstigte Mieze mit der Schnauze in das Boot, welches fast zu kentern drohte.

"Komm Leila. Spring! Leilaaa!" Jonas schrie sich die Stimme heiser. Die Hündin, gepackt von Panik, wagte den Sprung in das sich rasch entfernende Boot. Doch es war zu spät. Das Gummiboot war schon außer Reichweite und so stürzte sie in die Fluten. Der Versuch, die Hündin noch irgendwie ins Boot zu ziehen scheiterte kläglich. Leila zog es sofort die Läufe weg und war der Strömung, mit der auch jede Menge Unrat trieb, ausgeliefert. Das Boot, in dem sich die Katze verängstigt zusammenrollte, drehte sich rasant im Kreis. Jonas schrie immer wieder "Leila! Leila!", egal wie sich das Boot auch drehte, seine Augen verfolgten die Hündin. Dann ein Hoffnungsschimmer: In einem herausgerissenem Zaunfeld fand Leila vorerst Halt. Sie jaulte fürchterlich. In das Jaulen des armen Tieres mischte sich erneut Gezeter der Nachbarin: "Hierher. Herr Berger hierher. Da unten.", sie zeigte auf eine Stelle, genau da, wo sich die inzwischen geflutete Kellertreppe vermuten läßt.

"Ich komme gleich. Ich muss zuerst Leila...", dann besann sich Jonas auf den Besuch der Enkelkinder. Er war nun im gleichen Abstand zu Leila und zu der Kellertreppe.

In der Annahme Menschenleben sei in Gefahr und der Hoffnung, Leila könnte noch einen Augenblick ausharren, ruderte Jonas wie besessen zu der Seniorin.

Der Regen peitschte heftiger. Die Fluten wurden reißender.

"Was ist?", schrie Berger und stocherte suchend mit dem Paddel unterhalb der Wasseroberfläche.

"Was ist, Frau Kröger! So reden Sie mit mir! Ist jemand in Gefahr? Wo sind ihre Enkelkinder?"

"Die sind schon in Sicherheit, aber mein Handy! Mein Handy!", schrie sie hysterisch.

Jonas war außer sich, wurde leichenblass. "Was? Ihr Handy..."

Ein berstendes Geräusch ließ den erschöpften und völlig durchnässten Jonas erschrecken. Er sah in die Richtung, in der Leila sein sollte. Doch er sah keinen Hund. Auch kein Stück Zaun, das aus dem Wasser ragte. Er hörte auch kein Jaulen, kein Kläffen. Nichts.

 

Zwölf Monate später.

 

Jonas Berger holte sich die Zeitung ins Haus, dabei sah er ein Reporterteam, welches soeben die Nachbarin, Frau Kröger, interviewt hatte. Der Reporter sah nun Jonas und sprach ihn direkt an: "Hallo Sie! Wir sind vom Regionalfernsehen und erkundigen uns nach dem heutigen Stand der Dinge. Sie wissen schon, wegen dem Hochwasser."

Jonas winkte ab und wollte gerade die Tür schließen, da sagte der Reporter:

"Ihre Nachbarin meinte, es ist fast alles so wie vorher, als hätte es das Hochwasser nie gegeben. Sehen Sie das auch so?"

Jonas, dem bei diesen Worten die Zornesröte in das Gesicht schoss, lief auf die Straße, am verwundert schauenden Journalisten vorbei, direkt zu seiner Nachbarin, die gerade mit dem Handy telefonierte.

Seit dem Vorfall hatte er mit ihr kein einziges Wort gewechselt. Das blieb auch jetzt so. Wortlos griff er nach deren Handy und schleuderte es mit all seiner Kraft in den friedlich dahin strömenden Fluss. Die Proteste der Rentnerin ignorierte Jonas.

Und dem Reporter sagte er im Vorbeigehen:

"Ja, es ist alles wie immer. Nur beim Berger tollt kein Hund mehr im Garten."

 

 

***

 

Über Hundert Tiere starben im Jahre 2010 in den überfluteten Gebieten Sachsens.

Allein im Zittauer Zoo ertranken 48 Tiere.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.10.2021

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