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Life to go!

"Verdammt, ich komme mal wieder zu spät!“, ärgerte sich der junge Mann, der einen wichtigen Termin vor der Handelskammer hatte. Er drehte den Autoschlüssel und fuhr rasant vom Hof. Und da nun mal ein Unglück selten allein kommt, blieb er nach wenigen Kilometern mit seinem PKW liegen. Völlig genervt hetzte Klaus zur nächsten S-Bahnstation. Er stürzte die Treppe hinauf, doch zu spät. Der Gestresste sah nur noch die Rücklichter des ausfahrenden Zuges.

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, sprach der nach Atem ringende Mann. Gänzlich außer Puste setzte er sich auf eine Bank.

„Naja, wie man's nimmt“, raunte eine heisere, männliche Stimme neben ihm.

Erst jetzt nahm Klaus den älteren Herrn wahr. „Wie bitte? Achso, ja sicher.“ Während er das sagte erhob er sich, blickte umher und kramte sein Handy hervor. „Ich brauche ein Taxi.“

„Wieso? Die nächste Bahn kommt doch schon in acht Minuten. Sie sollten sich einen Kaffee holen, Sie kommen ohnehin zu spät, oder?“ Der alte Mann blinzelte in die Morgensonne. Seine wachen Augen blickten freundlich aus einem von Falten durchfurchten Gesicht.

„Acht Minuten. Das geht gar nicht. Dauert mir viel zu lange.“

„Das glaub ich Ihnen gern. Acht Minuten. Mal sind sie ein Wimpernschlag. Mal ein ganzes Leben.“

„Wie darf ich das denn verstehen?“

„Ich hatte mal ein Schiff verpasst. Ich war genau acht Minuten zu spät.“

Der junge Mann lachte fast verächtlich und tippte Ziffern in sein Handy: „Pah, ein Schiff verpasst. Ich verpasse eine wichtige Prüfung.“

Unbeeindruckt sprach der Senior weiter: „Das komische ist, ich war im ersten Moment sehr unglücklich. Dann später, als die Nachricht kam, dass es gesunken ist...“

„Da waren sie glücklich, dass sie nicht an Bord waren.“

„Nein. Ich war zu Tode betrübt, dass ich nicht an Bord war. Hatte ich doch meine Familie verloren. Meine Mutter und meinen Onkel. Gerne wäre ich mit ihnen gegangen.“

Klaus sank langsam auf die Bank, saß nun dicht neben dem Alten. „Sie haben ihre Familie...“

„Ja. Wir waren auf der Flucht vor den Russen. Im Gedränge verloren wir uns und als ich dann endlich die 'Gustloff' sah, hatte sie bereits abgelegt. Ich war damals fünfzehn. Glauben sie mir, ich wäre gern pünktlich gewesen.“

Der junge Mann unterbrach das Eintippen der Nummer und schaute den grauhaarigen Mann erstaunt an: „Gustloff? Gustloff ... "

„Das Schiff, das torpediert wurde. Die letzte große Hoffnung der deutschen Flüchtlinge.“ Einen Moment schwieg der Greis, redete dann langsam weiter: „Wissen Sie, dieses Zitat, welches Sie eben gebraucht haben, es hätte zu meiner damaligen Situation gepasst. Heute würde ich eher sagen: Zuspätkommen ist manchmal Segen.“

Klaus steckte das Handy weg und fragte verwundert: „Wie meinen Sie das?“

„Sehen sie, ich habe überlebt. Ich habe überlebt, gelebt und schließlich auch geliebt. Ich lernte ein Mädchen kennen und ging mit ihr nach Berlin. Ostberlin. Unsere Ehe lief hervorragend. Wir waren sehr glücklich. Ich bin stolzer Vater von immerhin fünf Kindern, die mir inzwischen zwölf Enkelkinder beschert haben. Von denen sind auch schon drei verheiratet und haben selbst Kinder. Manchmal schaue ich in ihre Gesichter und denke: Wäre ich damals pünktlich gewesen würde es all diese herrlichen Geschöpfe gar nicht geben. Ich wäre damals glücklich gewesen, wäre ich mit meiner Mutter zusammen in jener Nacht ums Leben gekommen. Heute bin ich froh, dass ich überlebt habe, zu spät gekommen bin.“

Gebannt lauschte der es nun nicht mehr eilig habende Mann dem Erzähler. Er klebte förmlich an dessen Lippen und hörte aus einem ereignisreichen Leben.

Der alte Mann lächelte sein Gegenüber an: „Sie haben schon Ihre zweite Bahn verpasst.“

„Ich hab meine Prüfung verpasst“, lächelte Klaus.

Der Alte setzte sich auf. „Wissen Sie, es warten noch viele Prüfungen im Leben auf Sie. Sicher war die heutige wichtig für Sie, mag sein. Aber die wichtigste Prüfung im Leben ist das Leben selbst und nur das bestimmt den richtigen Zeitpunkt. Nun ja, das Leben wird Sie nicht bestrafen, dafür dass Sie heute zu spät gekommen sind. Vielleicht belohnt es Sie ja sogar.“

Der junge Mann schaute nachdenklich, kramte seine Geldbörse hervor und zeigte zu dem Automaten mit dem Schild 'Coffee to go'. „Ich hol mal Kaffee. Für Sie auch einen?“ Ohne die Antwort abzuwarten schlenderte Klaus gedankenverloren los.

Wenig später stand er allein vor einer leeren Bank. Der alte Mann war fort. Und während Klaus sich suchend umschaute, fiel ihm an Gleis acht eine junge Frau auf: „So ein Mist“, fluchte sie und schaute zu Klaus. „Bahn verpasst. Naja, wer zu spät kommt ...“

Klaus hielt die Kaffeebecher einladend hoch und ergänzte: „Den belohnt das Leben. Kommen Sie, ich will Ihnen eine Geschichte erzählen.“

Klaus und die junge Frau kamen ins Gespräch. Sie tranken einige Kaffee und verpassten noch viele Züge. Aber den wichtigsten haben sie nicht verpasst:

Den Zug ins Glück.



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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2021

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