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Vorwort

 

Der Großteil dieser Handlung spielt in der fiktiven Großstadt Salzhausen. Aber es wurden auch reale Orte, wie zum Beispiel die Edelstein-Stadt Idar-Oberstein, eingebaut.

Prolog

 

Wenn dir jemand sagt, dass ihr reden müsst, bedeutet das meistens nichts Gutes.

„Celine, wir müssen reden.“

Ja, auch zu mir hat jemand diesen Satz gesagt, allerdings nicht mein Freund, der sich von mir trennen will. Mit Trennung hat es trotzdem irgendwie zu tun.

Schweigend folge ich meinem Vater ins Wohnzimmer, wo bereits meine eineiige Zwillingsschwester Celeste, meine jüngere Schwester Claire und unsere Mutter sitzen. Mein Bauch kribbelt unangenehm, denn ich weiß, dass etwas vorgefallen ist. Ich nehme gegenüber Celeste Platz und tausche Blicke mit ihr aus. Auch sie scheint keine Ahnung zu haben. Claire dagegen beobachtet unsere Eltern mit großen Augen. Zu ihrem zwölften Geburtstag in zwei Wochen hat sie sich einen Hund gewünscht. Jetzt glaubt sie wahrscheinlich, dass sich dieser Wunsch erfüllt.

Ach, Claire, es tut mir leid, denke ich.

Unser Vater seufzt und sieht zu unserer Mutter. „Carlynne.“

Sie nimmt seine Hand und nickt.

„Ihr lasst euch doch nicht etwa scheiden?!“, kreischt Celeste, und ihre Spucke fliegt mir entgegen.

Claires eben noch fröhliche Miene verfinstert sich, und ihre Lippe zittert. „Baba, Maman, nein!“

Eine Träne läuft ihre Wange hinab, und Celeste nimmt sie in die Arme.

Unsere Eltern schütteln synchron ihre Köpfe, als hätten sie es vorher einstudiert.

„Was ist es dann? Sagt es endlich!“ Celeste schließt die Augen, als hätte sie Angst vor der Wahrheit.

„Ihr könnt euch beruhigen. Arif und ich wollen uns nicht trennen“, versichert uns unsere Mutter. „Es wird sich trotzdem etwas ändern, etwas Entscheidendes.“

„Kommt bitte zum Punkt!“ Celestes Stimme ist schrill wie eine Trillerpfeife.

Till schreit, und ich springe automatisch auf. „Wartet, bis ich wieder da bin!“

Celeste verdreht ihre Augen. „Kannst du nicht noch zwei Minuten warten?“

Ich schaue zu unserer Mutter, die mir zunickt. „Geh nur, Celine! Wir warten!“

„Ich beeile mich“, verspreche ich und renne ins Kinderzimmer, wo mein kleiner Sohn mit hochrotem Kopf in seinem Gitterbett sitzt, und schluchzt.

„Ist ja gut, mein Schatz, ich bin da“, spreche ich ihn an und beuge mich zu ihm.

Mit seinen großen, dunklen Augen sieht er mich an und streckt seine Arme nach mir aus. „Mama.“

Summend nehme ich ihn auf den Arm, drücke ihn an mich und tätschele seinen Hinterkopf. Er ist bereits dreizehn Monate alt, zahnt allerdings erst seit ein paar Tagen. Das kühlende Gel scheint seine Schmerzen nicht zu lindern, also trage ich ihn ins Wohnzimmer.

Celeste klatscht mit ihren Händen auf ihre Oberschenkel. „So, jetzt spannt uns nicht weiter auf die Folter!“

Unser Vater legt unserer Mutter einen Arm um die Schultern und zieht sie zu sich. „Ihr wisst, dass kaum noch Touristen nach Ägypten kommen. Das Hotel, in dem ich arbeite, wird schließen. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ich habe bereits eine neue Stelle angenommen und fange dort in zwei Monaten an.“

„Aber es ist nicht weit von Hurghada entfernt?“, frage ich, während ich Till auf meinem Schoß schaukele.

Er verzieht das Gesicht. „Ein gutes Stück.“

„Was meinst du damit?“, hakt Celeste nach.

„Deutschland.“

„Deutschland?“, wiederholen Celeste, Claire und ich wie aus einem Mund.

„Bedeutet das, dass du uns verlässt?“, möchte Celeste wissen, und Claire weint nun richtig.

„Nein, ich verlasse euch nicht. Ihr begleitet mich natürlich.“

 

Kapitel 1 Auf Wiedersehen, Hurghada

 

Die Wellen umspielten meine Knöchel, und ein sanfter Wind wehte mir meine dunklen Haare ins Gesicht. Mit einem tiefen Atemzug versuchte ich, die Erinnerung an das Rote Meer einzusaugen.

„Adda.“ Till, der neben mir stand und meine Hand hielt, winkte, und ich bückte mich zu ihm.

„Ja, mein Schatz, wir gehen weg von hier.“

Eigentlich wollte ich nicht umziehen. Ägypten war meine Heimat. Hier war ich geboren und großgeworden. Meine Mutter hatte sich vor dreiundzwanzig Jahren im Urlaub verliebt. Für meinen Vater hatte sie ihr Leben in Kanada aufgegeben und war bei ihm in Hurghada geblieben.

Leider konnte ich mir keine eigene Wohnung leisten. Der Aushilfsjob, den ich angenommen hatte, reichte dafür nicht aus. Zwar hatte ich mir etwas gespart, doch davon wollte ich mir eines Tages ein Auto kaufen.

Weder zur Verwandtschaft noch zu Freunden konnte ich ziehen, also blieb mir nichts anderes übrig, als mit meiner Familie nach Deutschland zu gehen.

Allein würde ich es nicht schaffen – noch nicht. Deswegen war ich froh, dass mir meine Eltern, besonders bei Tills Erziehung, beistanden.

Als ich erfahren hatte, dass ich schwanger war, hatte mir das den Boden unter den Füßen fortgerissen. Ich hatte gewusst, dass ich vom Vater keine Unterstützung erwarten konnte. Es war nur eine kurze Affäre gewesen, die nicht ohne Folgen geblieben war. Jedenfalls war es das, was ich mir selbst einredete. So fiel es mir leichter, über ihn hinwegzukommen.

Niemals wieder würde ich mich auf so etwas einlassen, obwohl ich glücklich war, dass ich Till hatte. Mit seinem zahnlosen Lachen vertrieb er selbst die düstersten Gedanken. Ja, er war nicht geplant gewesen, aber um nichts in der Welt wollte ich ihn missen.

Vielleicht erhielt ich bald Antwort von Tante Leonice, der Schwester meiner Mutter. Sie lebte noch in Kanada und besaß einen kleinen Buchladen. Meine beste Freundin Zahide und ich träumten davon, eines Tages dort zu arbeiten. Möglicherweise konnten wir diesen Plan früher als gedacht realisieren.

Telefonisch hatte ich Leonice nicht erreicht; auch auf meine E-Mail hatte ich bisher keine Antwort erhalten.

Till zupfte an meinem Rock und riss mich aus meinen Gedanken. „Bu… Bu.“

Ich nahm ihn auf den Arm und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wir bauen eine Sandburg.“

„Ja.“ Er klatschte in die Hände. „Mama Beste.“

„Celine.“ Zahide rannte uns winkend entgegen.

Till wurde zappelig und zeigte mit dem Finger auf sie. „Sahi.“

„Langsam, mein Schatz, du darfst ja zu ihr.“ Ich stellte ihn auf den nassen Sand, und er tapste auf Zahide zu.

Sie strahlte ihn an und streckte die Arme nach ihm aus. „Na, komm her, Kleiner!“

„Hilfst du uns, eine Sandburg zu bauen?“, fragte ich sie.

Zahide nickte und nahm Tills Hand. „Wir bauen die größte und schönste Sandburg der Welt.“

Zur Begrüßung drückte ich sie kurz an mich, bevor wir uns neben meinen Sohn knieten.

„Wie lange haben wir Zeit?“ Sie begann, einen Hügel aus Sand zu bilden.

„Zwei Stunden“, antwortete ich und warf einen Blick zum wolkenlosen Himmel.

In nicht einmal einhundertzwanzig Minuten mussten Till und ich zurück nach Hause, damit ich die restlichen Sachen einpacken konnte.

Unser Vater war ein paar Tage nach Deutschland gereist, um einige Formalitäten zu regeln. Der Großteil unserer Möbel und anderen Dinge war bereits in unserem neuen Haus. Baba sollte eigentlich in Deutschland bleiben, doch auf Claires ausdrücklichen Wunsch kehrte er nach Ägypten zurück, um gemeinsam mit uns zu fliegen.

„Wir werden jede Sekunde ausnutzen“, erwiderte Zahide.

Till lachte und stampfte den Hügel nieder. „Oh, putt putt.“

Sie schnappte ihn sich und kitzelte ihn. „Du Räuber. Jetzt hilfst du mir aber.“

Er schüttelte den Kopf und zeigte auf sie. „Du allein.“

Zahide grinste. „Du kommandierst ganz schön. Du hast Glück, dass du so ein süßes Kerlchen bist.“ Sie wandte sich mir zu. „Bei ihm musst du aufpassen. Er wird später einmal ein richtiger Charmeur.“

„Mich wickelt er jetzt schon um den Finger“, entgegnete ich und streichelte über Tills Kopf.

Zahide strich sich eine Strähne ihres schulterlangen, schwarzen Haares hinters Ohr. „Ihr werdet mir fehlen.“

Seufzend schlang ich meine Arme um ihre Schultern. „Wir werden dich auch vermissen. Du kommst uns doch in Deutschland besuchen, und nicht erst an meinem Geburtstag.“

Bis ich einundzwanzig Kerzen auf meinem Kuchen auspusten konnte, dauerte es noch zehn Monate.

„Klar, ich habe bereits angefangen, für den Flug zu sparen“, sagte sie und türmte den Sand zu einem neuen Hügel auf.

Till klatschte, und sie breitete schützend ihre Arme vor ihrem Bauwerk aus. „Wehe du zerstörst meine Burg wieder.“

Er gluckste und lief um den Hügel herum. „Höher.“

„Gleich, wir brauchen Wasser. Habt ihr einen Eimer?“ Sie erhob sich und klopfte sich den Sand von den Knien.

„Ja, da hinten liegen die Sachen.“ Mit dem Kinn deutete ich in die entsprechende Richtung.

Sie wuschelte durch meine Haare. „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“

„Sahi, nein!“, rief Till und brachte mich damit zum Lachen.

„Mein tapferer Beschützer.“

Zahide kehrte mit den Spielsachen zurück. „Ein Verehrer wird es schwer bei dir haben.“

Ich umarmte Till und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Für mich gibt es nur einen jungen Mann in meinem Leben.“

 

Die Sandburg gewann an Höhe und nahm langsam Form an.

„Habe ich das nicht prophezeit? Das ist die schönste Burg, die jemals gebaut wurde. Habe ich recht, Till?“ Zahide blickte zu meinem Sohn.

Er riss die Arme nach oben. „Ja.“

Ich bemühte mich um ein Lächeln. Es gelang mir nicht, denn meine beste Freundin hob eine Augenbraue.

„Wenn ich die Fähigkeit hätte, die Zeit anzuhalten, hätte ich es schon längst getan.“ Mit dem Finger malte ich Kreise in den feuchten Sand.

Zahide krabbelte auf mich zu und legte den Arm um meine Schultern. „Mir wäre es auch lieber, wenn du bleiben würdest. Wir müssen uns versprechen, dass die Entfernung nichts an unserer Freundschaft ändert.“

Seufzend lehnte ich mich an sie. „Wir werden in Kontakt bleiben.“

Till stapfte auf mich zu, ließ sich vor mir auf den Boden plumpsen und kuschelte sich an mich.

„Celine!“

Die Stimme meiner kleinen Schwester hallte in meinen Ohren wider. Leider war sie keine Fata Morgana.

Claire stand mit gerötetem Gesicht vor uns und schnaufte. „Wo bleibt ihr? Maman hat mich geschickt. Ich soll euch holen.“ Sie stockte und hielt ihre Hand an ihre seitliche Bauchregion. „Ich bin den ganzen Weg gerannt; jetzt habe ich Seitenstechen.“

Zahide sprang auf die Beine. „Ich weiß, was dagegen hilft. Mach es mir einfach nach!“

Sie streckte die Arme nach oben und atmete ein, ehe sie den Oberkörper nach vorne beugte, die Arme baumeln ließ und ausatmete.

Claire sah zu mir, und ich nickte ihr zu. „Versuch es, Claire! Es hilft.“

Zahide und ich joggten regelmäßig am Strand entlang. Das gehörte nun der Vergangenheit an.

Claire trat von einem Fuß auf den anderen. „Lass uns lieber gehen! Maman und Baba warten.“

„Moment!“, sagte Zahide. „Ohne ein letztes gemeinsames Foto lasse ich dich nicht gehen.“

Zustimmend nickte ich. „Vor der Burg.“

Zahide drückte Claire ihr Handy in die Hand. „Du machst das Foto.“

Ich hockte mich neben Zahide vor unser sandiges Bauwerk. „Till, komm her!“

Till lachte und stellte sich zwischen uns. Zahide legte eine Hand auf meine Schulter, während ich meinen Arm um seinen Bauch schlang.

Claire drückte mehrmals auf den Auslöser. „Genug Fotos. Jetzt müssen wir.“

Zum Abschied umarmte ich Zahide. „Wir sehen uns.“

Sie nickte mir zu. „Bis ganz bald.“

„Claire, nimmst du bitte die Buddelsachen?“, wandte ich mich an meine kleine Schwester.

Sie kniff ihre Augen zusammen. „Bin ich dein Packesel?“

Grinsend hob ich Till hoch. „Nein, du bist meine nette Schwester, die mir gerne diesen Gefallen tut.“

Sie murmelte etwas Unverständliches, stapfte allerdings auf die Sachen zu und sammelte sie auf.

„Danke, du bist die Beste“, meinte ich.

„Ja, ja, schon gut. Jetzt wird es wirklich Zeit.“ Claire zog mich am Ärmel meiner Tunikabluse.

„Okay, ich komme mit“, erwiderte ich. „Till, verabschiedest du dich noch von Zahide?“

Till winkte ihr zu. „Tüss, Sahi. Adda.“

Zahide stupste seine Nase an. „Auf Wiedersehen, kleiner Räuber. Tschüss, Celine.“

Nur widerwillig folgte ich Claire zu unserem Haus. Morgen um diese Zeit waren wir bereits in Deutschland. Sprachschwierigkeiten würden wir keine haben. Unsere Eltern hatten uns dreisprachig – Französisch, Arabisch und Deutsch – aufgezogen. Trotzdem breitete sich ein mulmiges Gefühl in meinem Inneren aus.

Würden Till und ich uns in einem anderen Land wohlfühlen?

 

Nein, ich hatte eindeutig nicht die Fähigkeit, die Zeit anzuhalten oder ein Ereignis zu ändern. Sonst hätte ich nicht in das Flugzeug steigen müssen, das uns in ein fremdes Land brachte. Till saß auf meinem Schoß und hielt sein Lieblingskuscheltier, ein Kamel, fest. Celeste, die den Platz neben mir ausgesucht hatte, blätterte in einer Zeitschrift und zwirbelte sich eine Strähne um ihren Finger. Unsere Haare waren ein Indikator, an dem man uns unterscheiden konnte. Während ich meine Mähne jeden Morgen glättete, mochte sie ihre Naturlocken.

Till gähnte und kuschelte sich an mich. Meinen Sohn fest umschlungen, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Die Wolken erinnerten mich an Zuckerwatte, und plötzlich hatte ich Lust auf etwas Süßes. Das Sandwich, das uns die Flugbegleiterin serviert hatte, hatte meinen Hunger nicht gestillt.

Claire, die mit unseren Eltern eine Reihe hinter uns hockte, lachte laut auf. „Maman, sieh nur die Giraffe, wie sie versucht, Ballett zu tanzen.“

Somit wusste das gesamte Flugzeug, dass sich meine kleine Schwester den Comic auf Kanal 2 anschaute.

In diesem Moment entdeckte ich den Flugbegleiter, der einen Servierwagen hinter sich herzog. Als er an unserer Sitzreihe stehen blieb, kaufte ich eine Tafel Vollmilch-Schokolade. Celeste lehnte dankend ab, als ich ihr ein Stück anbot.

Claire brach die halbe Tafel für sich ab. „Danke.“

„Gib Maman und Baba etwas ab!“, forderte ich sie auf.

Unsere Mutter schüttelte den Kopf. „Ich brauche nichts. Danke. Eine Sekunde auf der Zunge, und ein Leben lang auf der Hüfte.“

Unser Vater rollte mit den Augen. „Carlynne, du siehst toll aus. Außerdem würden dir ein paar Kilos mehr auf den Rippen gut stehen.“

„Ohne Nüsse“, fügte ich hinzu.

Maman, Celeste und ich waren gegen Erd- und Haselnüsse allergisch.

„Na schön, ein klitzekleines Stück kann nicht schaden.“

Ich biss von meiner restlichen Schokolade ab und ließ sie im Mund schmelzen.

Bis wir in Deutschland waren, dauerte es noch gut zwei Stunden. In der Zwischenzeit konnte ich ein kleines Nickerchen halten.

Ich hauchte einen Kuss auf Tills Kopf und lehnte mich zurück.

 

„Wir befinden uns im Landeanflug. Bitte stellen Sie Ihre Rückenlehne in eine aufrechte Position und klappen Sie die Tische nach oben.“

Die Stimme des Piloten riss mich aus meinem Traum.

Blinzelnd drehte ich meinen Kopf zu Celeste. „Wie spät ist es?“

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Kurz nach halb vier. Wir landen bald.“

„Dann sollte ich Till wecken.“

Von unserer Mutter, die Krankenschwester war, wusste ich, dass es besser war, wenn er bei Start und Landung trank.

„Till, mein Schatz, wir sind gleich in unserer neuen Heimat“, wisperte ich und strich über seine Wange.

Er schlug die Augen auf und fing zu weinen an. Celeste überreichte mir seine Trinkflasche, die ich im Rucksack unter dem Sitz verstaut hatte.

Till quengelte, weil er die Flasche allein halten wollte.

„Nein, ich helfe dir“, blieb ich hartnäckig, wusste ich doch allzu gut, wie oft und gerne er sie fallen ließ, und lachte, wenn ich sie wieder aufhob.

Um ihn zu beruhigen, summte ich ihm vor.

Celeste tippte mich an. „Kannst du bitte damit aufhören? Du bist die unmusikalischste Person, die ich kenne. “

„Till mag es. Du musst ja nicht zuhören, wenn es dir nicht gefällt“, entgegnete ich grinsend. „Schon gut. Dieser Druck auf die Ohren macht mich wahnsinnig.“ Sie wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu. „Bin ich froh, wenn ich endlich aus diesem Flugzeug steigen kann.“

„Das bin ich auch“, stimmte ich ihr zu und sah aus dem Fenster.

Gerade tauchten wir durch ein Meer aus Wolken, und mein Bauch begann zu kribbeln. Außer den drei, vier Besuchen in Kanada war ich in meinem Leben noch nie außerhalb Ägyptens gewesen. Ab sofort würde ich nicht nur in einem anderen Land wohnen, sondern sogar auf einem anderen Kontinent.

Inzwischen war das Flugzeug so weit gesunken, dass ich Details erkennen konnte. Die Gegend war mit einer weißen Schicht bedeckt, und meine Augen vergrößerten sich. Bisher kannte ich Schnee nur vom Hörensagen.

„Till, ist das nicht schön? Wir werden bald unseren ersten Schneemann bauen.“

Till schniefte. „Bu.“

Lächelnd küsste ich ihn auf die Wange und wischte ihm eine Träne fort. „Vielleicht haben wir Glück, und es ist genug Schnee gefallen. Dann können wir eine Burg bauen.“

„Ja.“ Er gluckste und drückte sein Kuscheltier an sich.

Das Flugzeug setzte auf der Landebahn auf, und sofort fingen einige Passagiere an zu klatschen.

„Willkommen in Deutschland, Till“, sagte ich zu meinem Sohn.

 

Kapitel 2 Willkommen in Deutschland


Meine Knie schlotterten. Ob es an der Kälte oder der Aufregung lag, wusste ich nicht. Vermutlich spielten beide Faktoren eine Rolle.

Unsere Mutter seufzte und faltete die Hände. „Endlich sind wir da. Das ist unser neues Zuhause.“

„Maman, das ist so nicht ganz richtig. Wir sind erst am Flughafen. Oder möchtest du hierbleiben?“, zog ich sie auf.

„Du weißt, wie ich das meine.“ Sie sah auf das Gepäckband, wo die ersten Koffer erschienen.

Till streckte die Arme nach mir aus, und ich hob ihn hoch.

„Wenn er dir zu schwer wird, kann ich ihn auch tragen“, bot Celeste an.

„Danke, das ist nett von dir. Im Moment geht es noch“, erwiderte ich.

„Wann bekomme ich denn meinen Hund?“, mischte sich Claire an.

„Ist das deine einzige Sorge?“ Celeste schüttelte den Kopf.

Claire ignorierte sie und wandte sich unserem Vater zu. „Baba, du hast es mir versprochen.“

„Können wir vielleicht erst in unser neues Haus fahren? Sobald wir uns eingelebt haben, schauen wir im Tierheim nach“, sagte er.

Claire ließ nicht locker. „Maman.“

Unsere Mutter legte den Zeigefinger an ihre Lippen. „Sois calme! Sakkir fammak! Sei ruhig!“

Wir anderen zuckten zusammen. Wenn sie uns dreisprachig belehrte, bedeutete das nichts Gutes. Sie war normalerweise eine Person mit einer hohen Reizschwelle. Aber irgendwann verlor auch der geduldigste Mensch die Beherrschung.

„Da ist mein Koffer.“ Celeste zeigte auf das neongrüne Gepäckstück, das gerade auf dem Band erschien.

Ich hätte mir auch so einen auffälligen Koffer kaufen sollen, dachte ich. Dann würde ich ihn leichter finden.

Mein schwarzes Reisegepäck glich der Mehrheit der anderen Koffer, sodass ich immer einen Blick auf das Adressschild werfen musste, nur um festzustellen, dass ich nicht der Eigentümer war.

„Oh, und da ist meiner.“ Unsere Mutter lachte schon wieder und zog ihren Koffer vom Band.

Auch Claire und mein Vater hatten inzwischen ihr Gepäck.

„Meiner“, rief Till, der seinen Dinosaurier-Rucksack entdeckt hatte.

„Baba, nimmst du ihn bitte?“, wandte ich mich an unseren Vater.

Er nickte und griff danach. „Jetzt fehlt nur noch dein Koffer.“

Wir warteten und warteten. Das Förderband lief und lief. Mein Gepäck… kam nicht. Zum Glück standen dort noch andere Passagiere. So viele Koffer konnten doch nicht verloren gehen.

Claire wippte vor und zurück. „Mir ist langweilig. Wann fahren wir endlich?“

„Mein Koffer fehlt immer noch“, erklärte ich ihr.

„Bin ich daran schuld?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Claire, es reicht jetzt!“, mischte sich unser Vater ein. „Wir sind alle erschöpft. Celines Koffer wird bald auftauchen, und solange wirst du dich gedulden müssen.“

Sie seufzte so laut und dramatisch, als wollte sie sich für eine Hauptrolle in einem Theaterstück bewerben.

„Mama, da!“ Till zeigte auf das Förderband, dem ich sofort meine ganze Aufmerksamkeit widmete.

Endlich, dachte ich, als weitere Gepäckstücke erschienen.

„Celine Shawky”, las Celeste laut vor. „Das ist deiner.“

Die Passkontrolle lief vergleichsweise problemlos, worüber die gesamte Familie froh war.

Als wir das Gebäude verließen, quietschte Claire auf. „Au, ist das kalt.“

Da konnte ich sie verstehen. Es war zwar Mitte März, doch der Winter hatte Deutschland – zumindest diese Gegend – noch immer unter Kontrolle. Ein eisiger Wind wehte mir ins Gesicht, und ich drückte Till näher an mich. Die Kälte drang durch meine Kleidung und wickelte sich um meine Haut, auf der sich eine Gänsehaut gebildet hatte. Meine Zähne klapperten, und ich versuchte, durch die Nase zu atmen. Wir brauchten dringend Winterjacken. Unsere dünnen Mäntel verloren den Kampf gegen die Kälte.

Ein Mann, ungefähr im Alter unserer Eltern, trat auf uns zu. „Familie Shawky?“

Unser Vater nickte. „Ja, und Sie müssen Herr Ziegler sein. Guten Tag.“

„Guten Tag.“ Herr Ziegler streckte ihm seine Hand entgegen, zog sie dann jedoch wieder zurück. „Nun, ich bin mir nicht sicher…“

„Händeschütteln ist in Ordnung“, erwiderte unser Vater.

Herr Ziegler atmete hörbar auf und lachte. Nachdem er uns alle begrüßt hatte, folgten wir ihm zu einem schwarzen Kleinbus.

Er überreichte unserem Vater den Autoschlüssel. „Bitte sehr, das ist jetzt Ihr 9-Sitzer. Einen Kindersitz habe ich wie versprochen eingebaut. Haben Sie sonst noch irgendwelche Fragen?“

Baba schüttelte den Kopf. „Danke, das wäre erst einmal alles. Wir sind müde und wollen endlich in unser Haus.“

Herr Ziegler nickte. „Natürlich, das verstehe ich. Wenn Sie bei irgendetwas Hilfe benötigen, wissen Sie, wo Sie mich finden.“

Er verabschiedete sich und winkte uns zu.

„Ich sitze ganz hinten“, rief Claire.

Noch ehe wir anderen reagieren konnten, öffnete sie die Schiebetür und kletterte in den Wagen.

Till zeigte darauf. „Brumm.“

Lächelnd vergrub ich meine Nase in seiner Halsbeuge. „Ja, wir fahren jetzt mit dem Auto, mein Schatz.“

Nachdem ich ihn in den Kindersitz gehoben und mich versichert hatte, dass er richtig angeschnallt war, setzte ich mich neben ihn. Meine Finger fühlten sich taub an, als würden sie jeden Moment abfallen. Ich war froh, dass ich nicht länger in der Kälte stehen musste.

Der Rest der Familie nahm Platz, sodass wir endlich losfahren konnten. Die Straße war geräumt, doch auf den Wiesen lag noch Schnee. Im Sonnenlicht glitzerte er wie Kristalle.

Das wäre ein schönes Motiv für ein Buchcover, dachte ich, auch wenn ich keine Wintergeschichte schrieb.

„Wann sind wir da?“, wollte Claire von der Rückbank wissen.

„In einer guten Stunde“, erklärte unsere Mutter.

„Was?“ Claires Stimme schrillte wie eine Trillerpfeife und ließ Till zusammenzucken, der gerade eingeschlafen war.

Ich drehte mich zu meiner kleinen Schwester um. „Kannst du nicht leiser sein?“

Claire streckte mir die Zunge heraus. „Mir ist langweilig.“

„Warum liest du nicht ein Buch?“, schlug ich vor.

„Es sind nicht alle solche Leseratten wie du“, erwiderte Claire.

„Da muss ich Claire recht geben“, mischte sich Celeste ein. „Jetzt willst du auch noch selbst Bücher schreiben. Das wird sowieso nichts.“

„Es ist so motivierend, wie mich meine Zwillingsschwester unterstützt. Frag mich bloß nicht mehr, ob ich dich zu einem Turnier begleite!“, gab ich zurück.

Celeste lachte. „Schon gut. Ich sage nichts mehr gegen die Schriftstellerin in spe.“

Ich nahm meinen Rucksack auf den Schoß und holte das Sachbuch über Hexenverbrennungen im Mittelalter heraus. Es sollte mir als Inspiration für meinen eigenen Roman über eine junge Hexe dienen.

Der Rest der Fahrt verlief ruhig – abgesehen von einigen Seufzern von Claire.

„Wir sind da.“ Unser Vater schnaufte und stellte den Motor aus.

Celeste, Claire und ich reckten unser Kinn. Bisher hatten wir das Haus nur auf Fotos gesehen.

Unsere Mutter öffnete die Beifahrertür und stieg aus. „Genau so habe ich es mir vorgestellt.“

Ich krabbelte aus dem Auto und befreite Till aus seinem Sitz. Meinen Sohn auf dem Arm, stellte ich mich neben sie und betrachtete unser neues Zuhause.

Das rote Schieferdach bildete einen Kontrast zur hellen Außenfassade und den dunklen Balken des Fachwerkes. Die Eingangstür in Bogenform wirkte mit ihren vielen kleinen Fenstern einladend.

„Wie gefällt es euch?“, wollte unser Vater wissen.

„Das sieht noch komischer als auf den Fotos aus“, fand Claire.

Unsere Mutter faltete die Hände. „Ich habe schon immer von einem Fachwerkhaus geträumt.“

Unser Vater legte den Arm um ihre Schultern und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Das gehört jetzt uns.“

„Wo ist mein Zimmer?“ Claire gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.

„Im Obergeschoss“, erklärte unser Vater.

„Können wir dann endlich hineingehen, bevor ich eine Eisstatue werde?“, mischte sich Celeste ein, die ihren Mantel enger um sich zog und die Arme verschränkte.

Er nickte und deutete uns mit dem Kinn an, ihm zu folgen. Kaum hatten wir das Haus betreten, da merkte ich, dass die Luft abgestanden war.

„Wann wurde das letzte Mal gelüftet?“, fragte ich.

„Vor einer Woche, als ich allein hier war“, antwortete Vater.

Celeste protestierte sofort. „Willst du unbedingt, dass ich erfriere?“

„Wenigstens fünf Minuten“, meinte unsere Mutter, die die Nase rümpfte.

Gemeinsam mit ihr öffnete ich sämtliche Fenster im Erdgeschoss.

„Ich lege mich hin. Meinen Koffer hole ich später“, entschied Claire und eilte die Treppen hinauf.

Sie war nicht die Einzige, die froh war, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Die letzten Tage hatten wir die Nächte in Schlafsäcken auf dem Boden verbracht, weil die Möbel bereits abgeholt worden waren.

„Ich folge Claires Beispiel“, verkündete Celeste.

Auf der ersten Stufe blieb sie stehen und drehte sich zu uns um. „Und es gibt wirklich einen Pferdehof in der Nähe?“

„Ja“, bestätigte unser Vater.

Sie nickte. „Das ist gut.“

„Vielleicht sollten wir uns alle ein wenig ausruhen“, sagte unsere Mutter.

„Geht ihr nur! Ich schließe noch die Fenster“, erwiderte unser Vater.

„Warte! Ich helfe dir; dann geht es schneller“, bot ich an. „Maman, würdest du bitte Till mit nach oben nehmen?“

„Gerne.“ Sie hob Till auf den Arm, der den Kopf schüttelte. „Mama.“

„Mein Schatz, ich bin sofort da. Geh mit Oma!“, entgegnete ich.

Till nickte, und ich küsste ihn auf die Stirn. „Bis gleich.“

Nachdem das letzte Fenster geschlossen war, stieg ich die Treppe hinauf. Mein Raum war direkt der erste im Gang, daneben lag Tills Zimmer. Ich schaute bei meinem Sohn vorbei, der in seinem Kinderbett saß und mit seinem Kuschelkamel spielte. Mutter drückte kurz meine Hand und verließ den Raum.

Ich kniete mich hin und verschränkte meine Arme auf dem Rand des Bettes. „Na, mein Schatz, wie gefällt dir unser neues Zuhause?“

Er lachte, und man konnte erkennen, dass er endlich seinen ersten Zahn bekam.

Mein Blick fiel auf die cremefarbene Wand, von der an manchen Stellen die Farbe abblätterte. „Hm, da müssen wir wohl streichen, und ein paar schöne Bilder würden auch nicht schaden.“


Till schlief inzwischen tief und fest, und ich schlich mich auf Zehenspitzen aus dem Raum. Ich betrat mein Zimmer, das ich bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Auch hier wollte ich einiges ändern, sobald wir uns eingelebt hatten. Die lavendelfarbene Tapete wollte ich mit einem Vanilleton überstreichen. Auch Fotos von Ägypten würde ich an die Wand nageln. Ein bunter Teppich brachte auch etwas Farbe ins Zimmer. Ich nahm Kissen und Decke aus meinem Koffer und warf sie auf mein Bett. Ich legte mich hin, doch schlafen konnte ich nicht. Jetzt war ich in einem fremden Land. Meine Freunde waren tausende Kilometer weit entfernt. Dafür war meine Familie bei mir. In Hurghada hatte ich die Deutsche Schule besucht und erfolgreich abgeschlossen. Jetzt fehlte mir nur noch ein Ausbildungsplatz. Darum wollte ich mich morgen kümmern. Ich hatte Zahide versprochen, mich zu melden, sobald wir gut angekommen waren. Hoffentlich war das Telefon bereits angeschlossen. Leise summend verließ ich mein Zimmer, um ins Erdgeschoss zu gehen.


„Celine?“ Zahide brüllte so laut ins Telefon, dass ich den Hörer ein Stück von mir entfernt hielt.

„Ja, ich bin es. Wir sind jetzt in unserem Haus“, berichtete ich ihr.

„Wie gefällt es dir?“, wollte sie wissen.

Ich setzte mich auf den Hocker, der im Flur stand. „Ganz in Ordnung. Die Räume müssen gestrichen werden; ansonsten gibt es bis jetzt nichts auszusetzen. Maman ist begeistert. Du weißt ja, wie sehr sie Fachwerkhäuser liebt.“

„Was macht Till? Hat er die Reise gut überstanden?“

„Er schläft. Er ist erledigt – wie wir alle.“

„Du solltest dich auch hinlegen“, meinte Zahide.

„Im Moment bin ich nicht müde“, erwiderte ich und schlug die Beine übereinander.

„Du leidest noch unter Reisefieber. Das bessert sich. Haben euch schon eure Nachbarn mit Brot und Salz besucht? Das ist doch so Tradition in Deutschland, oder?“

„Ich glaube schon. Nein, es war noch niemand da. Wie geht es Junis? Habt ihr euch wieder vertragen?“, hakte ich nach.

Junis war Zahides Bruder. Die beiden zankten sich gerne und oft.

„Nein. Mit diesem Idioten rede ich nicht mehr.“

Grinsend schüttelte ich den Kopf, obwohl sie das nicht sehen konnte. „Zahide, das sagst du jedes Mal.“

„Dieses Mal meine ich es auch so. Themawechsel. Wie ist das Wetter bei euch?“

„Kalt, bewölkt. Es liegt Schnee.“

Zahide seufzte. „Wie gerne würde ich einmal in meinem Leben Schnee sehen.“

„Das wirst du. Du kommst mich über Weihnachten besuchen“, entgegnete ich.

„Au ja, und dann besuchen wir einen Weihnachtsmarkt.“

„Das machen wir“, bestätigte ich. „Und natürlich wird das nicht dein erster Besuch in Deutschland sein. Ich erwarte, dass du bald vorbeischaust.“

Zahide kannte Weihnachten nur von dem provisorischen Fest, das meine Mutter immer veranstaltet hatte. Unser Baum war eine Dattelpalme, die vor unserem Haus in Ägypten stand, gewesen. Geschmückt hatten wir ihn mit selbst genähten Anhängern. Dieses Jahr würden wir zum ersten Mal eine richtige Tanne aufstellen. Bis es so weit war, dauerte es allerdings noch einige Monate.

Zahide lachte. „Ja, ich freue mich schon. Dann kann ich endlich ein Land in Europa auf meiner Weltkarte abstempeln.“

„Schön. Bis dahin kenne ich mich hoffentlich in der Gegend aus und kann dir einige Sehenswürdigkeiten zeigen.“

„Rate mal, wen ich gestern getroffen habe!“

Mein Magen verkrampfte sich.

Bitte lass es nicht Tarek sein, dachte ich.

„Zahide, sag es mir besser nicht!“, forderte ich sie auf.

„Na gut“, gab Zahide nach. „Vermutlich kannst du es dir sowieso denken. Lass uns von etwas anderem reden! Wie weit bist du mit deinem Buchprojekt?“


Kapitel 3 Neugierige Nachbarn und ungeduldige Schwestern


Celeste beugte sich über meine Schulter, um einen Blick auf den Laptop-Bildschirm zu werfen. „Ich weiß nicht, Celine. Du als Steuerfachangestellte? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Mathe gehört nicht unbedingt zu deinen Stärken. Warum suchst du dir keinen Ausbildungsplatz, der mit Export oder Import zu tun hat? Dann könntest du deine Sprachkenntnisse einsetzen.“

„Es ist hier ganz in der Nähe. Ich könnte zu Fuß zur Arbeit gehen“, erwiderte ich.

„Woher willst du das wissen? Seit wann kennst du dich in der Gegend aus? Wir sind gerade erst angekommen.“ Sie lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte die Arme.

„Weil ich weiß, wie man einen Routenplaner verwendet.“

„Na schön, wenn du meinst. Morgen werde ich beim Reiterhof vorbeischauen. Baba hat versprochen, mich hinzufahren. Er näht mir sogar eine Reithose.“

Celeste wusste, seit sie das erste Mal auf einem Pferd gesessen hatte, dass für sie nur ein Beruf in Frage kam, bei dem sie Umgang mit diesen Vierbeinern hatte. In der Nähe des Hotels in Ägypten, in der unser Vater gearbeitet hatte, gab es einen Reiterhof. Celeste war jeden Tag dort gewesen. Sie träumte davon, eines Tages als Dressurreiterin bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille zu gewinnen.

Für mich war Autorin der Traumberuf. Schon als kleines Kind hatte ich mir selbst Geschichten ausgedacht. Es gefiel mir, dass ich dadurch in andere Welten abtauchen konnte. Wenn ich einen Roman schrieb, hatte ich die Möglichkeit, meine ganze Fantasie zu gebrauchen. Dann konnte mein Protagonist sogar auf fliegenden Nilpferden reiten, wenn ich das so wollte.

„Celine, träumst du schon wieder?“ Celeste fuchtelte mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum.

„Ich habe alles verstanden, was du erzählt hast. Baba näht dir eine Reithose“, erwiderte ich.

Sie grinste. „Und was habe ich danach gesagt?“

War das jetzt eine Fangfrage? „Okay, du hast mich erwischt. Ich war gerade in Gedanken.“

„Warum bewirbst du dich nicht in einem Verlag? Als Medienkauffrau oder so?“

„Das ist eine gute Idee – wenn ich einen Ausbildungsplatz finde.“

Celeste stieß sich vom Schreibtisch ab. „Viel Erfolg bei der Suche. Ich gebe dir nur einen Tipp. Das mit der Steuerfachangestellten solltest du vergessen.“

„Ich dachte nur, bevor ich ohne Stelle bleibe“, erwiderte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. „Tu, was du für richtig hältst!“


Der Duft des Aish baladi stieg mir in die Nase und lockte mich in die Küche.

Vater stellte das Brot auf den Tisch. „Hunger?“

„Wie eine Mumie, die dreitausend Jahre in einem Grab liegen musste“, antwortete ich.

Er grinste.

Mutter verdrehte wie immer die Augen bei diesem Insiderwitz zwischen Vater und mir. „Wie kann eine Mumie Hunger haben?“

Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Carlynne, ich liebe dich, aber ein wenig Humor würde dir nicht schaden.“

Claire hüpfte herein; ihr geflochtener Zopf schwang wie eine Glocke. „Habe ich richtig gerochen? Es gibt Aish baladi.“

Vater nickte. „Und als Hauptgericht Rote-Linsensuppe.“

Claire rieb sich den Bauch. „Wie lecker.“

Sie wollte sich gerade an den Tisch setzen, als sie Mutters Blick registrierte. Kommentarlos rannte sie zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen, bevor sie wieder Platz nahm.

„Schläft Till noch?“, wollte Mutter wissen.

„Ich würde ihn auch gerne weiterschlafen lassen“, entgegnete ich.

„Würdest du bitte Celeste rufen?“ Vater nahm den Kochtopf mit der Linsensuppe vom Herd.

Zustimmend nickte ich und eilte hoch ins Obergeschoss.

Ich klopfte an Celestes Tür. „Kommst du, Celeste? Das Essen ist fertig.“

Es dauerte keine Minute, da stand meine Zwillingsschwester vor mir. „Baba hat gekocht? Was gibt es?“

„Linsensuppe und dazu Aish Baladi“, erzählte ich ihr.

„Lecker.“

Gemeinsam schlenderten wir in die Küche. Doch kaum hatten wir uns gesetzt, da läutete es an der Haustür.

„Claire, öffnest du bitte?“ Mutter sah zu ihrer jüngsten Tochter.

Claire kniff ihre Augen zusammen. „Muss das sein?“

„Claire.“ Der Tonfall unserer Mutter duldete keine Widerrede.

Gemächlich erhob sich Claire von ihrem Stuhl und schlurfte aus dem Raum.

„Erwartest du Besuch?“, wandte sich Mutter an unseren Vater.

Er schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“

Claire kehrte mit einer Frau zurück, die ein Brot und eine Packung Salz trug. Die Frau, die ich auf Anfang siebzig schätzte, reckte ihr Kinn, und ihr Blick huschte im Raum herum.

„Soll ich Sie vielleicht herumführen?“, sprach ich sie an.

Sie zuckte zusammen. „Ich wohne direkt gegenüber und wollte Brot und Salz vorbeibringen. Das ist eine deutsche Tradition, wenn jemand neu einzieht.“

Unsere Mutter schritt auf sie zu und nahm die Mitbringsel ab. „Vielen Dank, das ist wirklich nett von Ihnen, Frau…“

„Kraus. Amalia Kraus“, antwortete die Frau. „Und Sie sind aus Libyen?“

Unser Vater schüttelte den Kopf. „Nicht ganz. Wir sind gerade aus Ägypten hergezogen. Das liegt neben Libyen. Das ist meine Frau Carlynne, und das sind unsere Töchter Claire, Celine und Celeste. Mein Name ist Arif.“

„Sie können gut Deutsch sprechen“, merkte Frau Kraus an.

„Ich habe in einem Hotel in Hurghada gearbeitet und viel Kontakt zu deutschen Touristen gehabt. Da lernt man eine Sprache schnell“, erzählte er.

Sie verknotete ihre Hände. „Mag wohl sein.“

„Wir sind dreisprachig erzogen worden: Arabisch, Französisch und Deutsch“, fügte Celeste hinzu.

„Setzen Sie sich doch, Frau Kraus.“ Unsere Mutter zeigte auf einen freien Stuhl.

Frau Kraus nickte und ließ sich nieder. „Oh, das Brot sieht ungewöhnlich aus.“

„Das ist Aish Baladi, ein ägyptisches Brot“, erklärte Mutter ihr.

Frau Kraus nahm es in die Hand, drehte es und legte es wieder zurück. „Sie behalten also auch hier in Deutschland ihre eigenen Traditionen.“

„Nun, wir mögen ägyptisches Essen. Warum sollten wir darauf verzichten?“, meinte Vater.

„Baba kann richtig gut kochen – egal was“, sagte Claire.

Frau Kraus zog den Kopf zurück. „Baba?“

„Oh, das ist Arabisch und bedeutet Papa“, klärte ich sie auf.

„Unsere Mutter nennen wir Maman. Sie ist Kanadierin“, berichtete Celeste.

„Aha.“ Frau Kraus schaute zur Decke. „Ich denke, ich werde wieder gehen. Willkommen in Deutschland. Ich möchte nur anmerken, dass manche möglicherweise nicht mit ihrem Lebensstil einverstanden sind – mich inbegriffen.“

„Unserem Lebensstil?“, wiederholten Celeste und ich wie aus einem Mund.

Mutter formte diese Worte lautlos.

„Polygamie ist in Deutschland verboten“, polterte Frau Kraus los.

Vater erhob sich und baute sich zu einer vollen Größe von 191 Zentimetern auf. „Polygamie?“

„Ja, ich lebe nicht erst seit gestern. Ich weiß genau, dass so etwas dort, wo Sie herkommen, erlaubt ist.“

„Das bedeutet nicht, dass ich mehrere Frauen habe.“

„Und was ist mit denen da?“ Mit dem Zeigefinger deutete sie nacheinander auf unsere Mutter, meine Schwestern und mich.

Er atmete hörbar aus. „Carlynne ist meine Frau, und das sind unsere Töchter.“

In diesem Moment begann Till nach mir zu rufen, und Frau Kraus drehte den Kopf. „Wer ist das?“

„Mein Sohn Till“, antwortete ich.

Der Unterkiefer von Frau Kraus klappte nach unten. „Dein Sohn? Wie jung bist du?“

„Ich bin gerade zwanzig geworden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen.“ Ich erhob mich und wollte gerade den Raum verlassen, als Frau Kraus schnaufte.

„Dass ausgerechnet ich solche Nachbarn habe.“

„Haben Sie ein Problem damit, dass ich ein Kind habe?“, fragte ich sie.

„Das nicht, nur damit, dass ihr armen Mädchen mit einem viel älteren Mann zwangsverheiratet wurdet.“

Unser Vater zischte. „Das geht zu weit. Sie sollten jetzt wirklich gehen.“

Unsere Mutter stimmte ihm zu. „Wenn Sie uns nicht glauben, dass Arif und ich die Eltern sind, ist das Ihr Problem. Sie wissen, wo die Tür ist.“

Frau Kraus erhob sich und stöckelte, ohne sich zu verabschieden, aus dem Zimmer. Celeste und ich folgten ihr an die Haustür.

„Na, das fängt ja gut an mit der Nachbarschaft“, meinte Celeste.

„Es werden wohl nicht alle Nachbarn so sein“, erwiderte ich. „Jetzt sehe ich erst einmal nach Till.“


Wölkchen bildeten sich vor meinem Mund, wenn ich ausatmete.

Ich beugte mich zu Till, der dick eingepackt in seinem Buggy schlief. Mit dem gebeugten Zeigefinger strich ich über seine Wange.

„Wir sind gleich da“, wisperte ich.

Ich beeilte mich auf dem Weg zum Postamt, das laut Vater nur fünf Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt war. Erleichtert stellte ich fest, dass er sich nicht verschätzt hatte.

„Guten Morgen“, grüßte ich. „Ich würde gerne diese Briefe und die Postkarte verschicken.“

Die Mitarbeiterin nickte und zählte die Umschläge durch. „Das macht 15,95 € für die Großbriefe und 0,90 € für die Postkarte, insgesamt also 16,85 €.“

Ich bezahlte und verabschiedete mich. Elf Bewerbungen hatte ich geschrieben, davon drei an Verlage, sieben an Dolmetscherbüros und eine an eine Steuerkanzlei. Die Postkarte war für Zahide und zeigte ein Luftbild der Stadt, in der ich nun lebte. Meine beste Freundin wusste nichts davon, und ich hoffte, dass sie sich über diese handgeschriebene Postkarte mehr als über eine E-Mail freute.

Als ich mit Till das Postamt verließ, schneite es, und ich blieb stehen. Die Schneeflocken bewegten sich in eleganten Drehungen auf die Erde zu – fast wie eine Ballerina.

„Dürfte ich vorbei?“

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Ein junger Mann stand hinter mir, die Mütze tief ins Gesicht gezogen.

„Entschuldigung. Ich habe nur die Schneeflocken bewundert“, erwiderte ich und trat ein Stück beiseite.

Die Woche, die wir bereits in Deutschland waren, hatte es bisher nicht geschneit.

Er lachte. „Das hört sich ja an, als hättest du noch nie vorher Schnee gesehen.“

„Habe ich auch nicht. Meine Familie ist gerade erst von Ägypten hergezogen“, erzählte ich.

Der Fremde nickte. „Das erklärt alles. Dann noch viel Spaß beim Beobachten.“

„Ich denke, ich gehe besser nach Hause. So langsam merke ich die Kälte.“

„Okay. Falls du Lust auf Rodeln oder so hast, in der Nähe gibt es ein Wintersportzentrum.“

„Danke, aber ich glaube, das ist nichts für mich.“

„Du verpasst etwas. Wie…“

Das Klingeln seines Handys unterbrach ihn mitten im Satz. Ich nickte ihm zu und schlenderte mit dem Buggy weiter.

Obwohl es in der Straße, in der wir wohnten, einige alte Häuser – unseres war zum Beispiel aus dem achtzehnten Jahrhundert – gab, zählte sie zum Neubaugebiet. Noch vor fünfundzwanzig Jahren war es in der Zur schönen Aussicht, wie unsere Straße hieß, ruhig, denn sie lag am Rande der Stadt. Plötzlich war ein Gebiet nach dem anderen erschlossen und bebaut worden, sodass wir nun zentral lebten.

Als wir zuhause eintrafen, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie jemand im Haus gegenüber die Gardine zur Seite schob. Eine Silhouette erschien vor dem Fenster.

Frau Kraus, dachte ich nur und winkte.

Sofort verschwand die Person aus meinem Blickfeld und zog den Vorhang zu.

Kopfschüttelnd wandte ich mich unserem Haus zu. Sollte Frau Kraus doch Hobby-Detektivin spielen; zu verbergen hatte unsere Familie nichts.


„Heute ist es endlich soweit!“ Wie ein Flummi hüpfte Claire durch unser Haus.

Celeste torkelte schlaftrunken die Treppe hinunter und gähnte. „Was ist los?“

Claire sprang auf sie zu, nahm ihre Hand und schüttelte sie. „Baba fährt heute mit mir ins Tierheim. Ich bekomme einen Hund.“

Celeste fuhr sich durch ihre Locken. „Schön für dich. Musst du deshalb so schreien?“

Claire streckte ihr die Zunge heraus. „Spaßbremse!“

„Fahrt ihr bald? Ich hätte gerne meine Ruhe.“

„Schlafmütze. Wenn du Pferdewirtin werden willst, musst du sowieso früh aufstehen“, grinste Claire, die sich wie ein Kreisel drehte.

Celeste winkte ab, drehte sich um und stieg die Treppen hinauf.

Claire wandte sich mir zu. „Kommst du mit?“

Ich schüttelte den Kopf. „Till hat wieder Zahnschmerzen. Ich muss bei ihm bleiben.“

„Warum nimmst du ihn nicht mit?“

„Claire, das ist keine gute Idee“, entgegnete ich und hauchte Till, der auf einem Beißring kaute, einen Kuss auf den Scheitel.

Mutter kam um die Ecke. „Celine, ich kann gerne auf Till aufpassen, wenn du mitfahren möchtest.“

Claire versuchte einen Hundeblick. „Bitte, Celine, bitte.“

„Na schön, du hast gewonnen“, gab ich nach.

Claire sprang in die Luft. „Danke, danke, danke. Du bist die Beste.“

„Ist gut, Claire. Du kannst damit aufhören“, lachte ich.


Claire zappelte wie ein Fisch an Land. „Sind wir bald da? Ich will endlich meinen Hund.“

„Claire, so einfach geht das nicht. Heute bekommen wir noch keinen Hund, aber wir schauen uns um“, erwiderte Vater.

Meine kleine Schwester verschränkte die Arme und zog einen Schmollhund.

„Claire, ein Hund ist kein Spielzeug, das du einfach wegwerfen kannst, wenn du kein Interesse mehr hast“, warf ich ein.

Sie streckte mir die Zunge heraus und drehte den Kopf zum Fenster. War ich eigentlich in dem Alter auch so gewesen?

Das Wort Tierheim prangte groß und in einem dunklen Blau über dem Eingang. Noch bevor wir überhaupt ausgestiegen waren, hörten wir bereits das Hundegebell. Claire schnallte sich ab, öffnete die Tür und sprang aus dem Auto.

„Claire, du wartest auf uns“, ermahnte sie Vater.

Ihre Hände zitterten, als sie neben ihm das Gebäude betrat.

Eine Mitarbeiterin des Tierheims begrüßte uns und erkundigte sich, wie sie uns behilflich sein konnte.

„Guten Tag, mein Name ist Arif Shawky. Wir haben Interesse an einem Hund“, erwiderte Vater. „Leider wissen wir nicht genau, wie das abläuft. Bisher hatten wir noch kein Haustier.“

Sie nickte. „Gut, dann gehen wir zuerst ins Büro zu Frau Wjenn. Dort füllen Sie einen Fragebogen aus. Ihren Personalausweis haben Sie dabei?“

„Ja, habe ich“, bestätigte Vater.

„Und wann dürfen wir die Hunde sehen?“, mischte sich Claire ein.

Die Frau lachte und beugte sich zu Claire. „Nachdem dein Vater – es ist doch dein Vater? – den Fragebogen ausgefüllt hat.“

Mit großen Augen musterte meine Schwester die Mitarbeiterin. „Dann darf ich den Hund mitnehmen?“

„Nein, du suchst dir einen lieben Vierbeiner aus. Ihr kommt täglich hierher, und du darfst mit dem Hund Gassi gehen. Danach findet eine Vorkontrolle statt. Wenn sie positiv ausfällt, darfst du ihn für zwei Wochen auf Probe mit nach Hause nehmen. Verläuft alles gut, ist er dir.“

Claire senkte den Blick. „Oh, ich habe gehofft, dass er mir sofort gehört.“

Ich legte den Arm um ihre Schultern. „Du musst dich ein wenig in Geduld üben.“

Die Frau stimmte mir zu. „Folgen Sie mir bitte!“

Frau Wjenn war die Leiterin des Tierheims. Sie bat uns, Platz zu nehmen.

Vater zeigte ihr seinen Ausweis und füllte den Fragebogen aus.

Claire wippte mit dem Stuhl, und ich musste sie mehrmals auffordern, ruhig zu bleiben. Als wir die Hunde sehen durften, sprang sie sofort auf, und ein breites Lachen erschien in ihrem Gesicht. Vorfreude war die schönste Freude.


Kapitel 4 Ein neuer Mitbewohner


Vor einem Hundezwinger mit einem großen, rehbraunen, zotteligen Hund blieb Claire stehen. „Ist der süß.“

„Claire, er ist viel zu groß“, meinte ich.

Man konnte ihn leicht mit einem Pony verwechseln.

„Das ist Ben. Er ist ein Irish Wolfhound, ein wirklich lieber Kerl. Er ist zehn Monate alt, also noch nicht ausgewachsen“, erklärte die Tierpflegerin.

Vaters Kinnlade klappte nach unten. „Noch nicht? Er wird noch größer?“

Sie nickte. „Er ist mit Kindern aufgewachsen.“

„Warum haben ihn seine Besitzer abgegeben?“, hakte ich nach.

„Eins der Kinder hat eine Hundeallergie. Der Familie ist es schwergefallen, ihn hierherzubringen.“

„Er ist trotzdem zu groß“, fand Vater. „Sei vernünftig, Claire!“

Claire kniff ihre Augen zu Schlitzen zu. „Ich will keinen winzigen Hund.“

„Lass uns die anderen anschauen. Vielleicht gefällt dir ein Vierbeiner, der nicht zu klein, aber auch nicht zu groß ist“, schlug ich vor.

Unter unverständlichem Gemurmel schlurfte sie zum nächsten Zwinger. Sie warf einen Blick hinein und schlenderte weiter.

Claire zeigte mit dem Zeigefinger auf zwei Huskys. „Oh, die sind ja süß.“

„Das sind Jack und Anouk, unsere Huskymischlinge. Die beiden sind Geschwister. Wir vermitteln sie nur gemeinsam“, erzählte die Tierpflegerin.

Vater protestierte sofort. „Zwei Hunde sind zu viel.“

„Jack und Anouk sind auch eher für erfahrene Hundehalter“, fügte sie hinzu.

Ich selbst blieb vor einem Dalmatiner stehen, der schwanzwedelnd auf mich zutrottete. „Claire, was ist mit diesem Hund?“

Meine Schwester zuckte mit den Schultern. „Ganz niedlich.“

Mein Vater wandte sich an die Tierpflegerin. „Ist er kinderlieb?“

„Es ist eine Hündin, und ja, sie mag Kinder. Jenna ist fünf Jahre. Ihr Frauchen ist vor einem Jahr gestorben. Seitdem ist sie hier“, erklärte sie.

„Könnten Sie sie bitte herauslassen?“, fragte ich.

Die Tierpflegerin nickte und öffnete den Zwinger. Jenna stürmte auf mich zu und schleckte mir über das Gesicht.

Vater grinste. „Das nenne ich Liebe auf den ersten Blick.“

Claire seufzte. „Das soll doch mein, und nicht Celines Hund, sein.“

„Wenn, dann gehört er der ganzen Familie. Eure Mutter wird sich am meisten mit ihm beschäftigen“, sagte Vater. „Sie ist häufiger zuhause.“

Die Tierpflegerin lächelte. „Ach ja, Ihre Frau arbeitet Teilzeit als Krankenschwester.“

Er nickte. „Genau.“

„Jenna hat gelernt, ein paar Stunden allein zu bleiben.“

„Das ist doch ideal.“ Ich kraulte die Dalmatinerdame, die bereits mein Herz erobert hatte.

Claire suchte Blickkontakt mit der Tierpflegerin. „Und Ben?“

„Claire, ich dachte, wir hätten das bereits geklärt“, antwortete Vater an Stelle der Mitarbeiterin.

Meine Schwester zupfte an seinem Ärmel. „Können wir nicht wenigstens auch mit ihm Gassi gehen?“

Er atmete hörbar aus. „Na schön.“

Claire klatschte in die Hände, bevor sie ihm um den Hals fiel. „Baba, du bist der beste Vater auf der ganzen Welt.“

Von diesem Moment an, trug sie ein Lächeln auf den Lippen, das nicht mehr verschwinden wollte. Geduldig hörte sie der Tierpflegerin zu. Claire führte Ben Gassi, wobei Vater direkt neben ihr ging, um notfalls eingreifen zu können. Meine Hand umschlang Jennas Leine. Die Hündin lief brav bei Fuß, ohne dass ich etwas sagen musste. Ihr Frauchen musste sie gut erzogen haben. Wir stapften durch den Schnee, und ich malte mir aus, wie Jenna mich begleitete, wenn ich mit Till spazieren ging.

„Ist er nicht toll?“, fragte Claire unseren Vater.

Er stimmte ihr zu. „Wenn er nur nicht so ein Riese wäre.“

„Aber er ist lieb, und ich weiß, dass er mein bester Freund wird. Mit einem großen Hund fühle ich mich auch sicherer“, argumentierte sie.

Vater kratzte sich am Haaransatz. „Wie soll ich das Carlynne beibringen? Die Rede war von einem kleinen Hund.“

Claire zuckte mit den Schultern. „Wenn Maman ihn kennenlernt, wird sie ihn lieben. Beim nächsten Mal kommt sie einfach mit.“

„Wenn eure Mutter mit Ben einverstanden ist, bin ich nicht dagegen“, gab er nach.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke, Baba. Maman wird zustimmen“, war Claire überzeugt.


Nur widerwillig überreichte Claire der Tierpflegerin die Leine.

Meine kleine Schwester kraulte Bens Fell. „Mach´s gut, Ben! Bis morgen.“

„Besteht die Chance, dass wir Jenna auch adoptieren?“, schoss es unüberlegt aus mir heraus.

Ich wusste doch ganz genau, dass zwei Hunde nicht zur Debatte standen.

Vater verschluckte sich und hustete. „Wie bitte? Seit wann interessierst du dich für Hunde?“

„War nur so ein Gedanke. Vergiss es!“, erwiderte ich und kraulte Jenna zum Abschied.

Wir schlenderten zurück zum Auto und stiegen ein.

Vater startete den Motor. „Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht mehr so abgeneigt. Eure Mutter wird mich aber rösten, wenn ich zwei Hunden zustimme.“

Claire grinste. „Ich kann Maman überzeugen. Darin bin ich richtig gut.“

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Versuch dein Glück! Maman wird sowieso nicht mit sich reden lassen.“

Sie rieb sich ihre Hände. „Das werden wir sehen.“


„Wir bekommen einen neuen Mitbewohner.“

Claire nickte. „Das wissen wir schon. Er heißt Ben, und er ist ein ganz süßer Hund.“

Mutter schüttelte den Kopf. „Claire, es tut mir leid. Ich weiß, wir haben es dir versprochen.“

Claires Unterlippe zitterte, und in ihren Augen sammelten sich Tränen. „Maman, nein, du willst mir jetzt nicht sagen, dass ich keinen Hund bekomme.“

Mutter strich über ihre Wange. „Es tut mir leid. Großvater Cornelius zieht zu uns. Tante Leonice kann sich nicht weiter um ihn kümmern.“

„Ist er denn so krank, dass er nicht allein auf sich aufpassen kann?“, fragte Claire.

Mutter schnappte nach Luft. „Er ist dein Großvater.“

Till und ich saßen auf der großen Babydecke, die Vater für uns genäht hatte, und spielten mit Bauklötzen. Am liebsten hätte ich gefragt, ob Leonice den Brief von mir erhalten hatte, doch ich fand das in dieser Situation nicht angemessen.

Claire stampfte mit dem Fuß auf und rannte aus dem Wohnzimmer.

Mutter fasste sich an die Stirn. „Wie lange dauert die Pubertät nochmals?“

Vater grinste. „Das überstehen wir auch noch. Ich rede mit ihr. Aber warum erfahre ich erst jetzt davon, dass dein Vater bei uns wohnen wird?“

„Leonice hat mich eben erst angerufen.“

Celeste hockte auf der Couch und lackierte ihre Fingernägel. „Wann kommt Großvater an?“

„Sein Flieger landet übermorgen“, antwortete Mutter.

„Übermorgen?“, wiederholte Vater. „Carlynne, wir sollten uns später unter vier Augen unterhalten.“

Sie stimmte ihm zu. „Es tut mir leid. Ich weiß es selbst erst seit eben. Er ist mein Vater. Du bist doch nicht dagegen, dass er bei uns einzieht?“

Baba stapfte auf sie zu, nahm sie in den Arm und küsste sie auf die Nasenspitze. „Natürlich nicht. Ich bin nur etwas überrascht.“

Mutter seufzte. „Ich auch.“

„Begleitet ihn Tante Leonice?“, hakte ich nach.

„Nein, er fliegt allein. Er ist alt, aber nicht senil.“

Bisher hatten wir unseren Großvater mütterlicherseits nicht kennengelernt. Wir waren zwar ein paar Mal in Kanada gewesen, aber zu der Zeit hatte Großvater noch nicht bei Leonice gewohnt. Er hatte Baba nie verziehen, dass dieser ihm „seine geliebte Tochter gestohlen“ hatte, um es mit seinen Worten auszudrücken, deshalb hatte er den Kontakt zu uns abgeblockt. Ich wusste nur, dass er zwar fit für sein Alter von dreiundachtzig Jahren war, aber nicht gern allein lebte. Er brauchte Gesellschaft.

„Warum kann sich Tante Leonice nicht mehr um ihn kümmern?“, erkundigte sich Celeste.

Mutter zuckte zusammen. „Ihr Mann macht es nicht länger mit. Er versteht sich anscheinend nicht mit Großvater.“

„Oh, und wo wird er schlafen? Im Gästezimmer?“ Erneut baute ich den Turm auf, den Till immer wieder mit Vergnügen umstieß.

Zustimmend nickte sie. „Celeste, Celine, würdet ihr bitte das Bett beziehen?“

Celeste pustete auf ihre Finger. „Gerne, sobald der Nagellack getrocknet ist.“

Mutter lächelte uns an. „Danke.“

„Was machst du eigentlich wegen Claire?“, fragte ich und kitzelte Till, der versuchte, mein Bauwerk zum Einsturz zu bringen.

„Vielleicht bekommt sie nächstes Jahr einen Hund“, meinte sie.

„Ich könnte Claire ab und zu ins Tierheim begleiten. Sie kann sich um die Hunde kümmern. Vielleicht besänftigt sie das“, schlug ich vor.

Mutter stöckelte auf mich zu und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. „Du bist ein Schatz.“


Claire trat offiziell in Hungerstreik, bis unsere Eltern ihr erlaubten, Ben aufzunehmen.

Ich legte den Arm um ihre Schultern. „Lass uns ins Tierheim fahren!“

Sie schnaubte. „Nur, wenn ich einen Hund haben kann.“

„Wenn du mitkommst, verrate ich dir etwas“, wisperte ich in ihr Ohr.

Claire nickte, und ich wandte mich an Vater. „Kann ich mir dein Auto ausleihen?“

Er nahm den Schlüssel vom Brett und überreichte ihn mir. „Bring es ohne Dellen wieder!“

Ich lachte. „Versprochen. Passt du solange auf Till auf? Er schläft noch.“

Vater stimmte zu und wünschte uns viel Spaß im Tierheim. „Fahrt vorsichtig!“

Claire und ich zogen uns die neuen Winterjacken und Stiefel an und stapften aus dem Haus. Geschneit hatte es nicht mehr, und die Straßen waren geräumt. Trotzdem dachte ich an Vaters Warnung. Bei solch einem Wetter war ich noch nie gefahren.

Claire ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. „Was ist dein Geheimnis?“

Ich steckte den Autoschlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. „Wenn Großvater bei uns wohnt, haben wir eher die Chance, einen Hund zu bekommen.“

Sie hob eine Augenbraue. „Wieso?“

Langsam ließ ich den Wagen rückwärts rollen, bis wir auf der Straße waren. Claire trommelte mit ihren Fingern auf den Oberschenkel.

„Wieso?“, wiederholte sie.

„Moment! Lass mich erst den ersten Gang einlegen!“

Meine kleine Schwester rutschte auf ihrem Sitz ein Stück vor, und ihre Hände zitterten.

Diese Ungeduld in Person, dachte ich.

„Großvater wird den ganzen Tag zuhause sein. Dann gibt es auch keine Probleme mit dem Alleinsein“, erzählte ich ihr.

Claire jubelte und wollte mich umarmen, doch ich wehrte sie ab. „Achtung! Nicht den Fahrer ablenken!“


Eine Absage nach der anderen flatterte ins Haus. Man lud mich nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein. Ich verstaute die Antworten in meinem Schreibtisch.

„Ach Till“, seufzte ich und nahm meinen Sohn auf den Arm. „Sollen wir etwas spielen?“

Till lachte. „Ja.“

„Na, dann.“

In seinem Zimmer breitete ich den großen, grünen Teppich aus und holte die Spielsachen aus der Kiste. Till tapste zu seinem Bett und versuchte, sein Kamel zwischen den Gittern hervorzufischen.

„Warte! Ich helfe dir.“ Mit großen Schritten eilte ich auf ihn zu und holte sein Kuscheltier heraus. „Bitteschön, mein Schatz.“

„Dandan“, war Tills Wort, um sich zu bedanken. Er hob das Kamel über seinen Kopf, als wäre es eine Trophäe, während er auf den Teppich zuging.

Er ließ sich darauf plumpsen und gluckste. „Mama.“

„Ich komme ja“, erwiderte ich schmunzelnd.

Till drückte mir das rote Auto in die Hand. „Brumm.“

Ich nickte. „Ja, ich spiele die Feuerwehr.“

Er tat so, als könnte das Kamel fliegen. Auf und ab ließ er es gleiten, was mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach unser Spiel.

„Herein“, sagte ich.

Celeste betrat den Raum und flocht ihre Haare. „Maman und Baba fahren jetzt zum Flughafen. Könntest du mir helfen, den Tisch zu decken? Den Basbousa hat Baba bereits vorbereitet.“

Basbousa ist ein Blechkuchen aus Grieß, der in Ägypten gerne gegessen wird.

„Wo ist Claire?“, fragte ich nach. „Sie könnte auch einmal den Tisch decken.“

„In ihrem Zimmer. Sie will das mit dem Hungerstreik durchziehen.“

Till stellte sich auf und lief auf Celeste zu, die ihn hochhob und ihm einen Kuss auf die Stirn drückte.

Es fiel Claire nicht schwer, offiziell auf das Essen zu verzichten, weil sie Knabberzeug, Zwieback und Obst in einer Kiste in ihrem Zimmer bunkerte. Dabei ahnte sie nicht, dass unsere Eltern schon längst davon wussten.

„Na gut“, meinte ich, stand auf und folgte meiner Zwillingsschwester in die Küche. Dort setzte sie Till in seinen Hochstuhl, während ich eine lavendelfarbene Tischdecke aus dem Schrank nahm und sie auf dem Küchentisch ausbreitete. Nachdem wir auch Teller, Besteck und Servietten gedeckt hatten, heizte Celeste den Backofen vor.

„Nane“, rief Till.

„Bekommst du“, antwortete ich und lief zum Obstkorb, um eine Banane zu holen.

Er streckte die Hände danach aus. „Nane.“

„Gleich, mein Schatz, ich muss sie erst schälen“, erwiderte ich schmunzelnd.

Ich schnitt die Banane in Scheiben und gab sie in die Breischüssel. „Möchtest du auch etwas trinken?“

Till schüttelte den Kopf. „Nane.“

„Bitteschön, mein Großer.“

Er strahlte und griff sofort nach dem Obst. „Dandan.“

Claire schlich herein und warf einen verstohlenen Blick auf den Obstkorb.

„Na, ist dein Vorrat schon leer?“, zog Celeste sie auf.

Claire kratzte sich an der Nase. „Ich hätte Lust auf einen Apfel.“

Celeste machte eine einladende Geste. „Nimm dir einen.“

Claire zog eine Augenbraue hoch. „Ihr verratet mich doch nicht?“

„Nein“, sagten Celeste und ich wie aus einem Mund.

„Wir reden nachher in Ruhe mit Großvater. Er wird uns bestimmt helfen“, fügte ich hinzu.

„Damit Claire ihren Hund bekommt?“, hakte Celeste nach.

Zustimmend nickte ich. „Er wird den ganzen Tag zuhause sein.“

Celeste stellte den Kuchen in den Ofen. „Wenn er den Jetlag überwunden kann, nimm ihn mit zum Tierheim! Opas können ihren Enkeln kaum etwas abschlagen. Das sehe ich an Baba und Till.“

An der Haustür klingelte es.

„Ich gehe“, meldete ich mich freiwillig.

Es war Frau Kraus, die einen Brief in der Hand hielt.

„Guten Tag, Frau Kraus“, begrüßte ich sie.

„Der Postbote hat aus Versehen den Brief bei mir eingeworfen. Von einem Steuerbüro. Seid ihr etwa wegen Steuerhinterziehung geflohen? Sieht so aus, als hätte man euch gefunden.“

„Schickt so etwas nicht das Finanzamt?“, merkte ich an. „Warum öffnen wir den Brief nicht gleich? Dann können Sie heute Nacht beruhigt schlafen.“

Der Brief war vom Steuerbüro Dorsching, vermutlich die nächste Absage.

Mit zittrigen Händen öffnete ich ihn und überreichte ihr das Schreiben.

Frau Kraus las die Nachricht laut vor.

„Sehr geehrte Frau Shawky,

wir bedanken uns hiermit für Ihre Bewerbung und das Interesse an unserem Unternehmen. Sie sind in der engeren Auswahl, und wir würden Sie gerne persönlich kennenlernen. Wir laden Sie deshalb herzlich zu einem Vorstellungsgespräch ein.“ Sie brach ab und starrte mich mit offenem Mund an.

„Tja, doch keine Steuerhinterziehung, noch einmal Glück gehabt“, grinste ich und griff nach dem Schreiben. „Vielen Dank, dass Sie es mir vorbeigebracht haben.“

Frau Kraus drehte sich um und marschierte, ohne sich zu verabschieden, auf ihr Haus zu.

„Einen schönen Tag noch“, rief ich ihr hinterher, ehe ich in die Küche zurückkehrte.

In einer Woche fand das Vorstellungsgespräch statt. Eine kleine Glückswolke hüllte mich ein und ließ mich ein paar Zentimeter über der Erde schweben.

Endlich ein Erfolgserlebnis!


Kapitel 5 Eine Überraschung kann gut oder schlecht sein


Claire klatschte in die Hände. „Sie sind da.“

Till tat es ihr gleich. „Ja.“

Celeste holte den Kuchen aus dem Ofen. „Gut, der Basbousa ist fertig. Ich muss ihn nur noch mit dem Sirup tränken.“

Ich nahm Till auf den Arm. „Dir wasche ich noch schnell das Gesicht.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

Grinsend vergrub ich meine Nase an seiner Halsbeuge. „Doch.“

„Claire, öffnest du bitte?“, bat Celeste unsere kleine Schwester.

Claire nickte und hüpfte zur Tür, während ich mit meinem Sohn das Bad aufsuchte.

Er zappelte und versuchte, sich gegen das Waschen zu wehren.

„Nein, mein Schatz, das muss sein“, blieb ich konsequent.

„Brrr“, machte Till, und ich musste grinsen.

„Netter Versuch, aber das Wasser ist schön warm.“

„Das ist dein Zimmer. Ich hoffe, es gefällt dir“, hörte ich Mutters Stimme, als wir das Bad verließen.

„Das Zimmer bei Leonice war größer“, antwortete eine unbekannte, männliche Stimme.

„Je suis désolé, père.“

Wenn Mutter urplötzlich ins Französische wechselte, brauchte sie Hilfe.

„Komm, Till, wir begrüßen Großvater“, sagte ich.

„Lein“, erwiderte Till.

Ich setzte ihn auf den Boden. „Ja, du darfst allein gehen.“

Er flitzte vor mir ins Gästezimmer.

„Hallo“, grüßte ich die Runde.

Obwohl der Mann mein Großvater war, war er trotzdem fremd für mich.

Mutter drehte sich zu mir. „Und das sind Celine, unsere älteste Tochter, und....“

„Nur um vier Minuten und achtunddreißig Sekunden“, unterbrach Celeste sie.

„Du nimmst es aber genau“, entgegnete ich lachend und streckte Großvater meine Hand entgegen. „Guten Tag, also, ich bin Celine, und das ist mein Sohn Till.“

„Celine, Celeste, Claire“, murmelte er.

Seine Handfläche fühlte sich rau an, als er den Händedruck erwiderte.

„Die Namen hat Carlynne ausgesucht“, erzählte Vater.

„Du hast also schon ein Kind. Bist du verheiratet?“, wandte sich Großvater an mich.

„Nein, ich bin alleinerziehend.“

Seine dunkelblauen Augen, die er Mutter vererbt hatte, musterten mich, und ich hätte zu gerne gewusst, was gerade in seinem Kopf vorging. Verurteilte er, dass ich ledig war, aber ein Baby hatte?

Er rieb sich am Ohrläppchen. „Zu meiner Zeit hat man geheiratet und dann erst Kinder in die Welt gesetzt.“

„Heute sieht man das nicht mehr so eng“, entgegnete ich.

„Und wo ist der Vater?“, wollte er wissen.

„Ich weiß es nicht.“

Großvater fuhr immer wieder mit dem Daumen über seinen Zeigefinger. „Was soll das bedeuten?“

„Es war ein One-Night-Stand“, log ich, denn das war einfacher, als ihm die Wahrheit zu sagen.

Nicht einmal meine Eltern wussten, wer wirklich Tills Vater war, nur Celeste und Zahide.

„Ein was?“ Sein Blick wanderte zu Mutter.

„Es war nur ein einziges Mal gewesen. Ich weiß nicht einmal seinen Namen.“

„Eine schön verdorbene Brut hast du da, Carlynne.“

Ein Faustschlag konnte sich nicht schmerzhafter als dieser verbale Angriff anfühlen. Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Es tut mir leid, dass ich nicht deiner Vorstellung einer perfekten Enkelin entspreche. Das gibt dir trotzdem nicht das Recht, so etwas Fieses über mich zu sagen.“

Mutter starrte ihn kopfschüttelnd an. „So redest du nicht über unsere Töchter.“

Vater stimmte ihr zu. „Wenn du ein Problem mit uns hast, kannst du sehen, wo du wohnst. Hier dann jedenfalls nicht.“

Ich hob Till auf den Arm. „Entschuldigt mich! Till und ich werden ein wenig an die frische Luft gehen.“

„Was ist mit dem Basbousa?“, hakte Claire nach.

„Mir ist sowieso der Appetit vergangen“, seufzte ich. „Bis später.“


Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln, was mich irgendwie beruhigte. Till und ich wollten unseren ersten Schneemann bauen. Mein Sohn juchzte und warf sich zu Boden.

„Schatz, steh auf! Das ist zu kalt“, ermahnte ich ihn.

„Er will bestimmt einen Schneeengel machen.“

Ich drehte mich um und blickte in die braunen Augen eines unbekannten jungen Mannes. „Einen was?“

„Schneeengel. Soll ich es euch zeigen?“

Ich nickte, und er legte sich auf den Rücken und bewegte Arme und Beine.

Der Abdruck erinnerte tatsächlich an einen Engel.

„Toll“, meinte ich.

Till klatschte in die Hände. „Auch.“

„Na, sollen wir es zusammen machen?“, fragte der junge Mann, und Till nickte.

„Wie heißt ihr eigentlich?“

„Das ist mein Sohn Till, und ich heiße Celine.“

„Ich bin Christian. Seid ihr die neuen Nachbarn aus Tunesien?“

„Wir sind aus Ägypten“, verbesserte ich ihn.

„Mein Kumpel Igor und ich wohnen neben euch“, erzählte Christian.

„Oh, bis jetzt habe ich euch noch nicht gesehen“, merkte ich an.

„Wir sind gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen“, erklärte er mir.

„Wohnt ihr schon länger hier?“, wollte ich wissen.

Er nickte. „Zwei Jahre.“

„Dann kennst du Frau Kraus bestimmt gut.“

Christian grinste. „Oh ja, die gute Frau Kraus. Sie weiß alles über dich, noch bevor du es selbst weißt.“

„Nemann“, schrie Till, der einen Klumpen Schnee in seinen Händen trug.

Zärtlich stupste ich seine Nase an. „Ja, mein Schatz, jetzt bauen wir den Schneemann weiter.“

„Braucht ihr Hilfe? Ich bin Experte für Schneemänner“, bot sich Christian an.

Ich nickte. „Das wäre nett, aber nur, wenn du Zeit hast.“

„Die habe ich“, versicherte er.

„Na dann.“

Till riss seine Arme in die Luft, und der Schnee landete auf seiner Mütze. „Ja, Nemann.“


„Du bist ein Schatz.“ Zahide lachte mir vom Bildschirm des Computers entgegen.

Seitdem meine Mutter das Internet eingerichtet hatte, konnte ich mich endlich per Videochat mit meiner besten Freundin unterhalten.

„Ich wusste doch, dass du dich über die Postkarte freust“, erwiderte ich.

„Eine schöne Überraschung. Ich habe noch nie eine Postkarte bekommen.“ Zahide strich eine Strähne hinter ihr Ohr.

„Schön, wie geht es deinem Bruder?“

Sie winkte ab. „Schon längst wieder vertragen. Und wie läuft es bei euch? Habt ihr euch schon eingelebt? Was macht Till? Gibt es sonst irgendwelche Neuigkeiten?“

„Till schläft in seinem Zimmer. Ihm geht es gut. Hast du meine E-Mail gelesen?“

Claire polterte die Treppe hinauf und keifte dabei. Mit einem lauten Knall flog ihre Tür zu.

„War das Claire?“, hakte Zahide nach.

Zustimmend nickte ich. „Sie ist im Moment ziemlich anstrengend. Anscheinend hast du die Nachricht nicht gelesen.“

„Nein“, gab sie zu.

„Unser Großvater wohnt jetzt bei uns“, begann ich.

Ihr Gesichtsausdruck fror ein, während sie mich betrachtete. „Seit wann?“

„Gestern. Das war für uns alle eine große Überraschung.“

„Dein Großvater? Der bei deiner Tante Leonice wohnt?“ Sie griff nach ihrem Glas mit Fruchtsaft und leerte es in einem Zug.

„Ja, und er hat mich gleich als verdorbene Brut bezeichnet, weil ich eine unverheiratete Single-Mutter bin.“

Der Saft spritzte gegen den Bildschirm, als Zahide ihn wieder ausspuckte. „Er hat was? Und da darf er trotzdem bei euch wohnen bleiben?“

„Ich habe ihm gesagt, dass das gemein war. Baba hat ihn gewarnt, dass er wieder ausziehen kann, wenn er so von unserer Familie denkt.“

„Hat er sich wenigstens entschuldigt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wir gehen uns gegenseitig aus dem Weg.“

Zahide zog die Luft zwischen ihren Zähnen ein – ein Geräusch, das ich ebenso wenig mochte, wie das Kratzen über eine Tafel. „Wie soll so etwas auf Dauer gut gehen? Ihr wohnt gemeinsam in einem Haus.“

Seufzend stützte ich meinen Ellenbogen auf den Schreibtisch und legte meinen Kopf darauf. „Das weiß ich noch nicht. Möchtest du etwas Erfreuliches wissen?“

„Erfreulich klingt immer gut“, erwiderte sie.

„Nächste Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch“, berichtete ich.

Zahide faltete die Hände. „He, das sind wirklich gute Neuigkeiten. In einem Dolmetscherbüro?“

Ich schüttelte den Kopf. „Steuerbüro Dorsching.“

Ihre Augen vergrößerten sich, ehe sie laut losprustete. „Steuerbüro? Du?“

„Besser als gar nichts“, murmelte ich.

Sie drehte ihre Haare um ihren Finger. „Tut mir leid, war nicht böse gemeint.“

„Mama“, schrie Till in diesem Moment, und ich erhob mich.

„Oh, er ist wach. Entschuldige mich bitte kurz.“

„Sollen wir unseren Chat verschieben?“, fragte sie.

„Nein, Till freut sich bestimmt, dich zu sehen“, entgegnete ich.

Zahide nickte. „Ich warte.“

Summend schlenderte ich ins Kinderzimmer, um meinen Sohn aus dem Bett zu holen.

„Mama.“ Er streckte mir seine Finger entgegen, und ich nahm ihn lächelnd auf den Arm.

„Mein Schatz, möchtest du mit Zahide sprechen?“

Er klatschte in die Hände. „Ja.“

Ich hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Na, dann los!“

Gemeinsam kehrten wir in mein Zimmer zurück.

„Sahi“, rief Till, als er Zahides Gesicht auf dem Bildschirm entdeckte, und winkte ihr zu.

Meine beste Freundin winkte zurück. „Till, mein Großer.“

Till auf dem Schoß, setzte ich mich wieder vor den Computer. „Nachher besuchen wir die Kindertagesstätte.“

Zahide zog Grimassen, was meinen Sohn zum Lachen brachte. „Hast du also einen Platz bekommen? Das ist schön.“

„Ja, es fällt mir schon etwas schwer. Aber was soll ich machen?“

„Till ist doch aufgeweckt. Er wird sich schnell einleben. Wie weit bist du mit deiner Geschichte?“

„Totale Schreibblockade“, sagte ich und schaukelte Till auf meinem Schoß.

„Da muss jeder Autor durch. Das wird schon wieder. Ich habe übrigens auch Neuigkeiten für dich. Rate, wer dich im Juli besuchen wird!“

Statt zu antworten, strahlte ich. „Ist das wahr?“

Zahide nickte. „Am achtzehnten Juli ist es soweit.“

Meine Fingerspitzen kribbelten. „Ich kann es kaum erwarten.“


„Tschüss, Till und ich besuchen jetzt die Kita“, rief ich meiner Familie zu.

Mutter eilte mir entgegen. „Zu Fuß?“

Ich schüttelte den Kopf. „Baba hat mir erlaubt, sein Auto zu benutzen.“

Sie nickte. „Ach so. Hast du dich schon mit Großvater ausgesprochen?“

„Maman, ich muss jetzt wirklich los“, erwiderte ich.

„Er hat es nicht so gemeint. Es tut ihm leid.“

„Hat er dich geschickt? Kann er sich nicht selbst entschuldigen?“

Mutter seufzte. „Er ist ein Sturkopf.“

„Maman, Till und ich kommen zu spät. Er muss sie ehrlich meinen. Tschüss.“

Till winkte ihr zu. „Adda.“

Bevor sie etwas erwidern konnte, schlüpfte ich aus der Haustür und marschierte zum Wagen. Der Wind verwehte mein Haar, und ich senkte den Kopf, um mich gegen die Kälte abzuschirmen.

Nachdem ich Till im Kindersitz angeschnallt hatte, ließ ich mich auf der Fahrerseite nieder. Warum hatte meine Mutter mich auf Großvater ansprechen müssen? Meine eben noch gute Laune hatte sich abgekühlt.

„Freust du dich schon auf die Kita?“, fragte ich Till und startete den Motor.

„Ja“, antwortete er.

„Ich werde noch einige Male dabei sein“, erzählte ich ihm. „Sollen wir ein bisschen Musik hören?“

Nachdem ich Tills Zustimmung erhalten hatte, legte ich die Jazz-CD ein. Den Musikgeschmack hatte ich von Vater geerbt.

„Gefällt dir das?“, wollte ich von meinem Sohn wissen. „Das ist dein Namensvetter. Nach ihm habe ich dich benannt.“

Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein.“

Schmunzelnd wechselte ich die CD. Kinderlieder trafen eher seinen Geschmack.


„Guten Tag, Sie müssen Frau Shally sein“, begrüßte mich eine Erzieherin.

„Eigentlich Shawky“, berichtigte ich sie.

„Entschuldigen Sie, mein Name ist Diana Heyer. Und das muss Till sein.“

Till streckte ihr seine Hand entgegen. „Hallo.“

Frau Heyer lächelte. „Manieren hat der kleine Kerl. Folgen Sie mir! Ich führe Sie herum!“

Sie zeigte uns die verschiedenen Räume, stellte uns die Betreuerinnen der Einjährigen vor und stand für Fragen zur Verfügung. Als Till die Spielzeugecke entdeckte, löste er sich von mir und tapste darauf zu.

„So wie es aussieht, wird er keine Probleme haben, hierzubleiben. Zwei bis drei Wochen sollten Sie ihn trotzdem begleiten“, meinte Frau Heyer.

Zustimmend nickte ich. „Das lässt sich einrichten.“

Nach einer Stunde trug ich den schlafenden Till ins Auto. Sein Kamel drückte er fest an sich.

Ich strich ihm über die Wange und küsste ihn auf die Stirn. „Mein Schatz, ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst.“


Großvater räusperte sich. „Celine, können wir reden?“

Mutter stand auf und schob den Stuhl an den Tisch heran. „Ich lasse euch allein.“

Ich nickte ihr und wandte mich dann ihm zu. „Setz dich doch!“

Großvater hockte sich mir gegenüber. „Celine, also, du, äh.“ Er kratzte sich am Kopf. „Du weißt, was ich meine?“

„Nein“, erwiderte ich und schüttelte den Kopf.

„Es fällt mir nicht leicht, Fehler einzugestehen. Du bist keine verdorbene Brut. Das hat meine Lippen verlassen, bevor ich nachgedacht habe.“ Er seufzte, und seine Stirn legte sich in tiefe Falten.

„Ich tue alles, damit es Till gut hat. Es soll ihm an nichts fehlen. Ich liebe ihn wirklich über alles“, unterbrach ich ihn.

Auch wenn er mich an die Person erinnert, die ich am meisten hasse, dachte ich, sprach es jedoch nicht aus.

Er knetete seine Hände. „Das habe ich schon bemerkt. Er ist wirklich ein großartiges Kind.“

„Meine Familie hat mich von Anfang an unterstützt. Weder meine Eltern noch meine Schwestern haben mir jemals Vorwürfe gemacht.“

Er wich meinem Blickkontakt aus und starrte zur Decke. „Als ich jung war, galt so etwas als unschicklich. Uneheliche Kinder sah man als Schande an.“

„Würdest du mich bitte anschauen, wenn ich mit dir rede? Es ist mir egal, was damals zur guten Sitte gehörte, und was nicht. Till ist mein Sohn, und ich erwarte, dass du respektvoll ihm und dem Rest meiner Familie gegenüber bist. Der Kleine kann am wenigsten dafür, dass er ohne Vater aufwächst. Till und ich brauchen ihn nicht.“

Großvater blickte mich an; in seinen Augenwinkeln glitzerten Tränen. „Ich wollte niemanden verletzten. Es war auch für mich eine böse Überraschung, dass mich Leonices Mann nicht mehr im Haus haben wollte. Er hat meine Tochter ein Ultimatum gesetzt – entweder er oder ich. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man plötzlich in ein fremdes Land muss.“

„Moment!“, fiel ich ihm ins Wort. „Was erlebt meine Familie denn gerade? Wir sind erst vor zwei Wochen nach Deutschland gezogen. Mein ganzes Leben habe ich in Ägypten verbracht.“

„Es… es… t… tut mir leid“, stammelte er. „Ich war an dem Tag so genervt, weil ich in Kanada bleiben wollte. Du bist meine Enkelin, und ich möchte, dass wir ein gutes Verhältnis zueinander haben.“

„Dann darfst du mich nicht mehr beleidigen. Es hat mich wirklich verletzt, als du mich verdorben genannt hast.“

Er griff nach meiner Hand, doch ich zog sie fort. So schnell konnte ich nicht mit ihm Frieden schließen und so tun, als wäre nie etwas vorgefallen.

Großvater atmete tief ein. „Meine Eltern sind aus Deutschland nach Kanada ausgewandert, als meine Mutter mit mir schwanger war. Obwohl ich deutsche Vorfahren habe, ist Kanada meine Heimat. Ich kenne nichts anderes.“

„Du wohnst jetzt hier. Wir haben dich in unser Haus aufgenommen. Wenn du nicht wieder zurück nach Kanada und dort allein leben möchtest, musst du dich damit abfinden. Warum begleitest du Celeste nicht auf den Pferdehof? Du könntest mit Claire auch ins Tierheim gehen. Sie besucht regelmäßig einen Hund, den sie gerne aufnehmen würde. Vielleicht könntest du bei Maman ein gutes Wort einlegen. Claire gibt sich wirklich Mühe. Sie hat sich haufenweise Hundebücher gekauft und hilft im Tierheim aus. Sie möchte diesen Ben – so heißt ihr Hund – unbedingt haben.“ Nach dieser längeren Rede von mir musste ich erst einmal Luft holen.

Er nickte. „Ich werde mich mit Carlynne unterhalten. Was ist mit uns beiden?“

„Ich verzeihe dir, wenn du mir versprichst, nicht mehr so gemeine Dinge zu sagen“, erwiderte ich.

„Ich gebe dir mein Wort. So etwas wird nicht mehr vorkommen.“

Kapitel 6 Eine Chance


Das Spiegelbild, das mir entgegenlachte, wirkte richtig seriös. So musste ich doch einen guten Eindruck im Steuerbüro hinterlassen. Dafür hatte mir Vater extra ein Kostüm in Mitternachtsblau genäht. Die schwarze Strumpfhose gehörte Mutter; die Pumps hatte mir Celeste geliehen.

Meine geglätteten Haare fielen glänzend meine Schulter hinab. Der kräftige Erdton des Lidschattens, mit dem mich Celeste geschminkt hatte, ließ meine braunen Augen warm wirken. Auch die Lippen waren dank Nude-Lippenstift nicht zu aufdringlich geschminkt. In diesem Look fühlte ich mich wohl, und ich versuchte erst gar nicht an die Fragen von Herrn Dorsching zu denken. Meine Prüfungsangst machte auch vor Vorstellungsgesprächen nicht halt. Die Nervosität durfte nicht dafür sorgen, dass ich mich blamierte.

Celeste trat auf mich zu und legte den Arm um meine Schultern. „Celine, bleib ruhig! Alles ist in Ordnung. Du siehst gut aus.“

Grinsend wandte ich den Kopf zu ihr. „Das musst du jetzt sagen, damit ich das Gespräch nicht absage.“

„Nein, weil du meine eineiige Zwillingsschwester bist. Wenn du nicht gut aussiehst, dann ich ja wohl auch nicht.“ Sie lachte und küsste mich auf die Wange.

„Ach so, und ich dachte tatsächlich, du wolltest mir ein Kompliment machen.“ Ich umarmte sie, und für einen Moment blieben wir einfach so stehen.

„Jetzt sollten wir fahren. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass du zu spät kommst“, meinte Celeste und löste sich von mir.

Sie hatte sich bereit erklärt, mich zum Steuerbüro zu fahren, damit ich mich ganz auf das Vorstellungsgespräch konzentrieren konnte.

Unsere Eltern wünschten mir viel Erfolg, und Till hielt mich fest gedrückt und gab mir einen Kuss auf die Nase.

„Bis später“, verabschiedete ich mich von ihnen und folgte Celeste zum Auto.

„Denk daran! Du bist etwas, und du kannst etwas. Sonst hätte man dich nicht eingeladen“, sagte Celeste auf dem Weg zur Steuerkanzlei.

Ihre Motivation schmeichelte mir und sorgte dafür, dass meine Unruhe verschwand. Es war normal, dass ich nervös war. Das war wohl jeder, der zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen war.


Ein Mädchen mit rotbraunen Haaren, das in meinem Alter war, hob seinen Kopf, als ich an den Empfang trat. „Guten Tag.“

„Guten Tag“, grüßte ich zurück. „Mein Name ist Celine Shawky. Ich habe um 15:00 Uhr ein Vorstellungsgespräch bei Herrn Dorsching.“ Meine Stimme zitterte, und ich war froh, dass der Tresen meine schlotternden Knie verdeckte.

Celine, kein Grund zur Panik. Wenn es nicht klappt, ist es nicht tragisch. Steuerfachangestellte ist sowieso nicht dein Traumberuf, dachte ich.

„Herr Dorsching ist jetzt soweit“, riss mich das Mädchen aus meinen Gedanken.

Gut, hier scheint es keine Kleiderordnung zu geben, überlegte ich, als ich ihr folgte.

Ihre Jeans hatte einen Riss am Knie, und vom orangefarbenen Shirt lachte mir eine Maus mit einer Gitarre in der Hand entgegen.

„Frau Shawky?“ Herr Dorsching, ein Mann um die fünfundfünfzig, sah mich mit seinen grün-braunen Augen an.

„Ja.“ Es klang eher nach einer Frage als nach einer Antwort.

„Setzen Sie sich!“, forderte er mich auf.

„Danke.“ Ich hockte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

„Sie wollen also Steuerfachangestellte werden?“, wollte er wissen.

Nicht unbedingt.

„Gerne, ich interessiere mich sehr für Steuern und Zahlen.“ Erstaunlich, wie leicht mir diese Lüge über die Lippen gegangen war.

Aber sollte ich etwa zugeben, dass das nicht zu meinen Stärken gehörte? Warum war ich dann hier? Warum hatte ich mich überhaupt beworben? Das fragte ich mich gerade selbst.

„Sie müssen wissen, dass wir eine Vielzahl von Bewerbungen erhalten haben. Unsere Steuerkanzlei hat einen guten Ruf. Mein Vater hat sie vor vierzig Jahren gegründet“, erzählte er mir.

„Und Ihr Vater ist jetzt im wohlverdienten Ruhestand?“, hakte ich nach.

Herr Dorsching nickte. „Kommen wir wieder zu Ihnen!“ Er klappte meine Bewerbungsmappe auf. „Sie sind in Hurghada geboren?“

„Ja“, erwiderte ich einsilbig.

„Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?“

„Mein Vater hat eine Stelle in einem Hotel hier angenommen, und wir haben uns entschieden, ihn zu begleiten.“

„Hm“, brummte er und las sich mein Profil weiter durch. „Sie haben einen Sohn.“

„Till. Er ist anderthalb Jahre alt“, bestätigte ich ihm und räusperte mich.

„Möchten Sie etwas trinken?“, bot er mir an.

„Wasser, wenn das keine Umstände bereitet.“

Er hob den Hörer an und wählte zwei Zahlen. „Talina, bring ein Glas Wasser her! Heute noch.“

Du meine Güte, der hat ja einen Ton gegenüber seinen Mitarbeitern, dachte ich.

Keine zwei Minuten später stiefelte das Mädchen vom Empfang herein, und reichte mir ein Glas. „Bitte sehr.“ Talina hieß sie also.

„Danke.“ Ich nahm einen Schluck und stellte das Getränk auf den Schreibtisch. „Wo waren wir stehengeblieben?“

„Bei Ihrem Sohn. Er ist noch sehr klein“, meinte Herr Dorsching.

„Es ist alles geregelt. Till besucht die Kita, und meine Mutter arbeitet halbtags. Sie kann sich mittags um ihn kümmern. Oh, und mein Großvater wohnt auch bei uns.“

„Gut. Wie bereits gesagt, haben wir zahlreiche Bewerber für diesen Ausbildungsplatz. Warum sollten wir also ausgerechnet Sie nehmen?“

Die Frage, vor der ich mich am meisten gefürchtet hatte.

Okay, jetzt nur positive Eigenschaften nennen, ermahnte ich mich selbst im Stillen.

„Ich liebe Herausforderungen, und ich bin überzeugt, dass ich den Aufgaben in Ihrem Steuerbüro gewachsen bin. Ich bin teamfähig und habe gerne mit Menschen zu tun.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Sie sind nicht schüchtern?“

„Nein“, antwortete ich und legte meine Hand auf mein rechtes Bein, damit es mit dem Zittern aufhörte.

„Nun ja, Sie wirken sehr nervös. Ich habe das Gefühl, Sie sind eher introvertiert. In diesem Beruf hat man viel Kontakt mit Menschen.“

„Das weiß ich, und ich habe kein Problem damit. Ich bin nur wegen des Vorstellungsgesprächs aufgeregt. Ist das nicht normal?“

„Sie versichern also, dass wir es, falls wir uns für Sie entscheiden würden, nicht bereuen werden.“ Er setzte sich seine Brille auf, und seine Augen wirkten kleiner.

Er muss kurzsichtig sein, überlegte ich.

„Frau Shawky? Würden Sie mir bitte antworten?“

„Falls ich die Zusage erhalte, werden Sie mit einer engagierten, zielstrebigen, freundlichen und wissbegierigen Auszubildenden belohnt“, sagte ich.

Im gleichen Moment stockte ich. War das zu dick aufgetragen? Aber Celeste hatte mir eingetrichtert, dass ich mich nur positiv ins Licht rücken sollte.

Herr Dorsching erhob sich und streckte mir seine Hand entgegen. „Wir überlegen es uns. Sie werden bald Antwort von uns erhalten. Den Ausbildungsplatz kann ich Ihnen nicht versprechen. Wir haben so viele Bewerber.“

Ich erwiderte den Händedruck. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen und mir die Chance gegeben haben, mich persönlich bei Ihnen vorzustellen.“

Als ich das Büro verließ, atmete ich tief durch. Meine Anspannung war mit einem Mal verschwunden. So war es auch immer bei mündlichen Prüfungen gewesen. Sobald sie vorbei waren, ging es mir schlagartig besser.

„Auf Wiedersehen“, verabschiedete ich mich von Talina und einem anderen Mädchen, das neben ihr stand.

Talina nickte mir zu. „Tschüss.“

„Also dann bis August“, meinte das andere Mädchen.

„Oh, das ist noch nicht sicher“, entgegnete ich.

„Warum? Möchtest du den Ausbildungsplatz nicht?“, hakte Talina nach.

„Herr Dorsching muss es sich noch überlegen. Schließlich haben sich so viele auf diese Stelle beworben.“

Das andere Mädchen lachte auf. „Viele Bewerber?“ Sie wandte sich Talina zu. „Erzählt er etwa immer noch diesen Mist?“

Talina zuckte mit den Schultern. „Scheinbar, Luisa.“

Luisa grinste mich an. „Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Wenn du diesen Ausbildungsplatz wirklich haben willst, dann bekommst du ihn auch. Das kann ich dir versichern.“

„Moment! Hat sich etwa niemand sonst hier beworben?“, fragte ich.

Luisa winkte ab. „Oh, doch, haufenweise. Du kannst von Glück sprechen, dass du überhaupt zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurdest.“

Talina schüttelte den Kopf. „Warte einfach ein paar Tage ab! Du wirst in jedem Fall Antwort erhalten.“

„Danke. Auf Wiedersehen.“ Mit diesen Worten stapfte ich aus der Steuerkanzlei und kramte das Handy, das mir meine Eltern gestern geschenkt hatten, aus der Tasche.

Celeste meldete sich nach dem dritten Klingeln. „Bist du fertig? Kann ich dich abholen? Wie war es?“

„Das erzähle ich dir im Auto.“


Celeste parkte den Wagen in unserer Einfahrt, und ich winkte Christian zu, der gerade seine Wohnung verlassen hatte.

„Geh schon vor! Ich rede noch kurz mit unserem Nachbarn“, sagte ich zu meiner Zwillingsschwester und hüpfte aus dem Auto.

„Hey Christian“, rief ich ihm zu.

Er blieb stehen. „Hallo Celine. Na, du hast dich ja herausgeputzt.“

„Vorstellungsgespräch beim Steuerbüro Dorsching“, berichtete ich ihm.

„Und wie ist es gelaufen?“, wollte er wissen.

„Ganz gut, denke ich.“

Christian lächelte mich aufmunternd an. „Dann wünsche ich dir viel Erfolg, dass es klappt.“

„Danke.“

„Wie geht es Till?“, erkundigte er sich.

„Gut. Er erzählt jedem, was du für tolle Schneemänner bauen kannst“, erwiderte ich.

Er lachte und setzte sich seine Mütze auf. „Leider können wir das in nächster Zeit nicht wiederholen. Der Wetterdienst hat für kommende Woche zwölf Grad plus und wärmer gemeldet.“

„Schade“, entgegnete ich. „Dafür wird es endlich Frühling. Die Sonne hat mir schon gefehlt.“

„Ja, das kann ich verstehen. Ich muss jetzt zur Arbeit. Man sieht sich.“

Er nickte mir zu und marschierte auf seinen grünen Kleinwagen zu.

Ich winkte ihm zu und eilte anschließend auf unser Haus zu. Auf der Treppe drehte ich mich um, weil ich meinte, beobachtet zu werden. Tatsächlich stand Frau Kraus am Fenster. Wahrscheinlich war morgen das Gerücht im Umlauf, dass Christian und ich mehr als Nachbarn waren. Frau Kraus interpretierte gerne. So wurde aus einer harmlosen Unterhaltung gleich eine Affäre.


Meine Eltern waren beide arbeiten. Celeste half auf dem Reiterhof aus, und Claire besuchte heute zum ersten Mal die neue Schule. So waren nur Till, Großvater und ich zuhause.

Mein Sohn saß auf der Decke im Wohnzimmer und spielte mit seinem Kamel, während sich Großvater beim Sudoku versuchte. Mit Block und Stift hockte ich mich neben Till, um an meinem Buch weiterzuschreiben.

Mir wollte einfach keine Idee einfallen, wie ich die aktuelle Szene beschreiben konnte. Es war wie verhext. Vor meinem inneren Auge tauchten die Figuren auf, und ich wusste auch, wie alles enden sollte. Obwohl ich die grobe Handlung festgelegt hatte, fiel mir einfach nichts ein. Das leere Blatt starrte mich an, und ich versuchte, mich zu zwingen, irgendetwas zu schreiben.

„Mama.“ Till patschte auf meinen Oberschenkel, und ich musste lächeln.

„Soll ich mit dir spielen?“

Er nickte, und ich strich ihm über die Stirn. Vielleicht überfiel mich später die Inspiration. Jetzt war es sinnlos und würde nur meine Laune senken, weil ich einfach nichts zu Papier brachte.

„Na, möchte das Kamel heute die Tiefsee erkunden?“, hakte ich nach.

Till hob beide Arme. „Ja, Wasser.“

So etwas liebten wir beide. Ich erzählte eine Geschichte, und er interpretierte die Szenen auf seine Art, und spielte sie mit seinem Kuscheltier nach.

„Fangen wir an! Das Kamel wollte unbedingt wissen, ob es auch im tiefen, blauen Ozean Leben gab…“


Die Haustür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Schluchzend rannte jemand die Treppen hinauf.

Kurz darauf erschien Celeste in Reiterhosen in der Küche. „Hey.“

„Was war denn da los?“, fragte ich nach.

„Claire ist wütend und redet nicht mehr mit mir“, erzählte sie mir.

Sie schlenderte zum Obstkorb und nahm sich einen Apfel.

„Wieso? Was ist passiert?“ Mit dem Mikrofasertuch wischte ich mir über mein Gesicht, weil Till mir seinen Grießbrei gerade entgegengespuckt hatte.

Er lachte, verschluckte sich jedoch dabei. Schnell hob ich ihn aus seinem Hochsitz, setzte mich wieder und legte ihn mit dem Bauch auf meinen Schoß, sodass sein Kopf nach unten zeigte. Celeste eilte mir zu Hilfe und klopfte kräftig zwischen Tills Schulterblätter.

Als er sich erholt hatte, atmete ich erleichtert auf und drückte ihm einen Kuss auf die Nase. Tränen liefen Tills Wangen hinab, und ich wischte sie mit dem Daumen fort.

„Mein Schatz, alles in Ordnung.“

„Es macht mir jedes Mal Angst, wenn er sich verschluckt“, meinte Celeste.

„Trotzdem hast du schnell reagiert! Danke“, erwiderte ich, während ich meinen Sohn sanft hin- und herwiegte.

Sie lächelte mich an. „Wir sind schon ein gutes Team.“

„Und was ist jetzt mit Claire?“, lenkte ich das Thema auf unsere jüngere Schwester.

„Wir waren zuerst beim Reiterhof. Als wir im Tierheim ankamen und sie mir Ben zeigen wollte, teilte uns die Tierpflegerin mit, dass er die nächsten Tage auf Probe bei seinen zukünftigen Besitzern leben wird. Sie haben ihn heute mitgenommen. Jetzt glaubt Claire, dass das nicht passiert wäre, wenn wir direkt ins Tierheim gefahren wären.“

„Sie hat diesen Hund wirklich gern. Würdest

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stella-Anien Holz
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2017
ISBN: 978-3-7438-8826-5

Alle Rechte vorbehalten

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