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Natürlich habe ich alles dabei

„Hast du alles eingepackt?“, fragte mich Jens.

„Natürlich habe ich das“, versicherte ich ihm.

Er wuchtete meine Tasche in den Kofferraum. „Ich fahre nicht zurück.“

„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich habe nichts vergessen“, betonte ich.

„Alle Geschenke?“, hakte er nach.

„Ja.“

„Genügend Kleidung?“

„Für eine Woche reicht es“, meinte ich lächelnd.

„Ausweis?“ Forschend sah mich Jens an.

„Also bitte, als würde ich den vergessen“, erwiderte ich.

„Na schön, dann lass uns fahren!“, gab er schließlich nach.

Meine Großmutter nahm mich zum Abschied fest in ihre Arme und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Auf Wiedersehen. Und bitte sagt mir Bescheid, wenn ihr angekommen seid!“

„Werden wir“, versprach ich ihr.

„Pass gut auf meine Große auf!“, ermahnte sie Jens.

„Ich muss wohl eher ihn beaufsichtigen“, verkündete ich grinsend.

Mein Freund verdrehte seine Augen. „Als ob ich einen Babysitter brauche.“

„Gelegentlich schon“, konterte ich und knuffte ihm in die Rippen.

„Oh, ob das gut geht“, mischte sich Anna ein.

„Warum sollte es das nicht?“, wandte sich meine Großmutter an sie.

„Nicht dass es Mord und Totschlag im Auto gibt“, entgegnete Anna.

Meine Großmutter schüttelte den Kopf. „Übertreib nicht!“

„Talina, ich möchte nicht unhöflich sein, aber wir sollten jetzt aufbrechen“, sagte Jens.

Nachdem ich einen Blick auf meine Armbanduhr geworfen hatte, stimmte ich ihm nickend zu. Wir wollten noch kurz bei Sarah und David vorbeischauen, und es war ein weiter Weg bis zu meinem Vater. Man brauchte fünf Stunden – wenn es keine Zwischenfälle, wie beispielsweise einen Stau, gab.

Ein letztes Mal drückte ich meine Großmutter. Auch Anna umarmte ich kurz. Sie war – trotz ihrer chronischen Neugier – eine liebeswerte Person.

„Gute Reise und viel Spaß!“, wünschten uns die beiden.

Zum Abschied winkte ich ihnen zu und stieg in Jens‘ Auto.

 

***

 

Es schien fast so, als wollten Sarah und ich uns nicht mehr loslassen. Meine beste Freundin hielt mich fest umschlungen. Zum gefühlten hundertsten Mal hatten wir uns bereits voneinander verabschiedet. David und Jens tauschten genervte Blicke aus.

„So eine Gefühlsduselei“, kommentierte Jens die Situation.

„Genau. Ich weiß nicht, was ihr Frauen immer damit habt“, pflichtete ihm David bei.

Sarah sah ihren Freund an. „Das sagt ausgerechnet der größte Romantiker, den ich kenne.“

Sie wandte sich wieder mir zu. „Vor vier Tagen hat er mir siebzehn rote Rosen geschenkt, weil wir am siebzehnten Dezember unseren Jahrestag haben.“

Wer mich kannte, wusste, dass ich eine Abneigung gegen Romantik hegte. Deshalb konnte ich den Lachanfall, der mich überfiel, nicht zurückhalten.

„Talina, lass uns fahren!“, forderte mich Jens auf.

„Ich komme schon“, rief ich ihm zu.

„Sag mir unbedingt Bescheid, wie es bei deinem Vater ist!“, bat mich Sarah.

„Versprochen! Ich werde dich morgen anrufen“, erwiderte ich und winkte ihr zum Abschied zu.

Auf dem Weg zum Auto wehte mir ein eiskalter Wind ins Gesicht. Obwohl ich einen Wintermantel trug, bot dieser nicht genügend Wärme, sondern ließ mich zittern.

Jens blieb es nicht unbemerkt. „Ist dir kalt?“

„Nein, ich bibbere nur aus Langeweile“, konterte ich.

„Hast du keine richtige Jacke dabei?“, hakte er nach.

„Das ist ein Wintermantel“, betonte ich.

„Möchtest du meine Jacke? Die wärmt dich“, bot er an.

Dankend lehnte ich ab. „Dann frierst du.“

„Das ist nicht so schlimm; ich bin hart im Nehmen. Was denkst du, wie dein Vater reagiert, wenn ich ihm einen Eisklotz bringe?“

„Talina, du kannst gerne meine Skijacke haben“, mischte sich Sarah ein.

„Brauchst du sie nicht selbst?“, fragte ich.

Sie lachte mich an. „Die nächsten Tage nicht.“

„Danke, das ist lieb von dir“, entgegnete ich.

Nachdem Sarah mir ihre Jacke überreicht und sich erneut von mir verabschiedet hatte, konnten wir endlich zu meinem Vater fahren.

Nun ja, wenn ich nicht in diesem Moment bemerkt hätte, dass ich doch etwas vergessen hatte – meine Herztabletten. Zerknirscht schaute ich Jens an.

Er schüttelte den Kopf. „Was hast du nicht eingepackt?“

„Meine Tabletten, die brauche ich“, antwortete ich.

„Ich weiß. Bei der Gelegenheit kontrollierst du bitte, ob du noch etwas vergessen hast. Ein zweites Mal fahre ich nicht zurück.“

„Sonst habe ich alles dabei – wirklich“, versicherte ich ihm und suchte meinen Geldbeutel in der Handtasche.

Gut, dass wir sowieso nach Hause mussten.

 

 

 

Ob wir dieses Jahr noch ankommen?

Zentimeter für Zentimeter kroch die Autoschlange voran. Heute war der einundzwanzigste Dezember, und wir waren nicht die Einzigen, die in den Weihnachtsurlaub wollten.

Für mich gehörte Schnee zu den Festtagen dazu. Bisher waren noch keine Flocken vom Himmel gefallen. Ob sich mein Wunsch nach weißen Weihnachten erfüllte?

Meine Augen wurden schwerer und schwerer. Wenn Jens nicht die Musik – Weihnachtslieder im Metalstil – gestartet hätte, wäre ich schon längst eingeschlafen.

Erschrocken stellte ich fest, dass wir noch knapp dreihundert Kilometer vor uns hatten. Wenn wir weiterhin in diesem Tempo – wobei ich mir nicht sicher war, ob man es überhaupt so nennen konnte – schlichen, würden wir unser Ziel dieses Jahr nicht mehr erreichen.

Damit sich keiner um uns sorgte, informierten wir meine Großmutter, Sarah und meinen Vater, dass wir immer noch unterwegs waren.

Die Musik stoppte abrupt, als die Nachrichten begannen. Jens hatte die TA-Funktion aktiviert.

So erfuhren wir, dass die Bergungsarbeiten eines schweren Unfalls auf dieser Autobahn noch Stunden andauerten. Es wurde empfohlen, den Bereich großräumig zu umfahren. Na toll, warum hatten sie das nicht früher berichtet? Jetzt steckten wir fest.

„Ich fahre die nächste Ausfahrt ab“, entschied Jens.

Bis zur besagten Abfahrt waren es nur 800 Meter, für die wir eine Dreiviertelstunde brauchten. Doch auch auf der Landstraße sah die Situation nicht besser aus.

„Nach Möglichkeit bitte wenden“, ertönte die weibliche Stimme des Navigationsgerätes.

Das war nicht realisierbar. Jens folgte den anderen Autos.

„Route wird neu berechnet.“ Diese Worte wiederholte die Frau im Sekundentakt.

Genervt verdrehte ich meine Augen. Sie sollte endlich ruhig sein.

„Ich glaube, die Gute ist ein wenig überfordert“, meinte Jens grinsend.

„Nicht nur ein wenig“, warf ich ein.

„Mit dem Unfall konnte niemand rechnen“, gab er zu bedenken.

Das stimmte; trotzdem drückte es auf meine Stimmung.

Seufzend löste ich das Haarband. „Wahrscheinlich kommen wir dieses

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stella-Anien Holz
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8165-8

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
„Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ (Victor Hugo) Für Tim und Fabian, die beiden größten Metal-Fans, die ich kenne.

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