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Kapitel 1

 

„Talina, sofort in mein Büro!“, schrie mein Chef, dessen Tonfall keine Widerrede duldete.

Der Alltag hatte mich also wieder. War es wirklich erst gestern gewesen, dass ich glücklich und zufrieden mit Jens auf der Couch gesessen und seinen Lieblingsfilm angeschaut hatte?

Augenblicklich ließ ich alles stehen und liegen und eilte mit großen Schritten ins Büro von Herrn Dorsching. Frau Huber warf mir einen mitleidigen Blick zu.

Kaum hatte ich die Tür geschlossen, fing mein Chef bereits an, wie ein Orkan zu toben. „Was fällt dir eigentlich ein, unsere Mandanten zu beleidigen?“

Irritiert und ein wenig geschockt starrte ich ihn an. „Bitte? Ich soll wen beleidigt haben?“

„Frau Senger; sie hat sich eben bei mir beschwert, dass wir eine sehr unhöfliche Auszubildende haben.“

Frau Senger war eine anstrengende Mandantin, die sich für etwas Besonderes hielt und stets alles besser wusste. Ihr gehörte eine Fertighaus-Firma, die sie seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren allein führte. Ständig wollte sie irgendwelche Sachen, die eindeutig für private Zwecke bestimmt waren, als Betriebsausgaben ansetzen. So regte sie sich auf, dass ich beispielsweise die Lebensmitteleinkäufe als Privatentnahmen buchte.

„Was soll das? Das Essen ist für Meetings mit den Kunden“, war stets ihre Ausrede.

„Frau Senger, das Finanzamt wird Ihnen nicht glauben, dass Sie ständig Lebensmittel für Ihre Klienten einkaufen. Sie bereiten bestimmt nicht die Mahlzeiten für Besprechungen zu. Sie werden eher in Restaurants dinieren“, war inzwischen zu meiner Standard-Antwort darauf geworden.

Sie versicherte mir jedes Mal, dass sie Essen oder die Kleidung nur für die Arbeit benötigte.

Erst vor zwei Tagen hatte ich erneut dieses Déjà-vu gehabt. Wahrscheinlich war das nun wieder der Grund, warum sie sich beschwert hatte.

„Herr Dorsching, Sie kennen Frau Senger. Sie versucht, ihren Gewinn zu drücken. Natürlich ist daran noch nichts verwerflich, aber sie möchte eindeutig Privates als Betriebsausgaben absetzen. Ich habe ihr nur höflich zu verstehen gegeben, dass es nicht möglich ist. Herr Dorsching, ich weiß, es war nicht nett von mir, Sie als nervig zu bezeichnen, doch Sie müssen mir glauben. Noch nie habe ich Mandanten beleidigt.“ Forschend sah ich ihn an, ob er mir wirklich glaubte.

„Du sprichst es selbst an, Talina. Wer findet, dass sein Chef nervt, der wird wahrscheinlich auch Mandanten beleidigen“, entgegnete Herr Dorsching.

„Was soll ich denn Gemeines zu ihr gesagt haben, wenn ich fragen darf?“, hakte ich nach, wobei ich mich um einen freundlichen Ton bemühte.

„Dass Frau Senger eine alte, verbitterte Kuh wäre“, antwortete er.

Das ließ mich wider Willen laut auflachen. „Also bitte, das ist doch geradezu lächerlich. So etwas würde ich niemals zu einer Mandantin sagen.“

Plötzlich klopfte jemand zaghaft an die Bürotür.

„Ja“, knurrte mein Chef, und Frau Huber steckte ihren Kopf herein.

„Was gibt es?“, blaffte Herr Dorsching, der heute eine Extraportion schlechte Laune zum Frühstück verspeist hatte.

„Entschuldigen Sie, Herr Dorsching, dass ich mich da einmische. Ich wollte wirklich nicht lauschen, aber Sie waren so laut, dass es nicht zu überhören war. Die liebe Frau Senger hat sich also über Talina beschwert. Ich war dabei, als sie hier im Büro war, und ihre Buchführungsunterlagen abgegeben hat“, erwiderte Frau Huber und bestätigte meine Version der Geschichte, wofür ich sie dankbar anlächelte. Es gab also noch nette Menschen hier auf der Arbeit.

Herr Dorsching wusste daraufhin nicht, was er sagen sollte. Mit einer Handbewegung deutete er uns an, das Büro zu verlassen. Eine Entschuldigung konnte ich nicht von ihm erwarten. Wenn er merkte, dass er einen Fehler begangen hatte, wechselte er einfach von einer Sekunde auf die andere das Thema.

Den Rest des Arbeitstages hielt er sich zurück und schimpfte weder mit Frau Huber noch mit mir. Herr Meerrath, der sich das Büro mit Luisa, der zweiten Auszubildenden, teilte, hatte diese und die nächste Woche Urlaub. Darüber war garantiert nicht nur ich froh; ein Nörgler momentan reichte vollkommen aus.

 

Erleichtert bog ich in die Straße ein, in der meine Großmutter wohnte. Noch wusste ich nicht, wann ich wieder zurück in die WG kehren würde. Es gefiel mir so gut bei meiner Großmutter, dass ich immer mehr geneigt war, ganz dort einzuziehen. Bei ihr fühlte ich mich einfach wohl, denn ich konnte mit ihr über alles reden. Sie hörte mir stets zu und machte mir niemals Vorwürfe. Wenn ich meine Mutter besuchte, saßen wir nur im Wohnzimmer und schwiegen uns an. Ab und zu fragte sie nach, ob ich endlich den Kontakt zu Jens abgebrochen hatte. Sie wusste nicht, dass wir jetzt zusammen waren, und vorerst sollte sie es auch gar nicht erfahren. Die Beziehung zu Jens war ganz frisch, und ich hatte Angst, dass meine Mutter versuchte, uns auseinanderzubringen. Wenn ein paar Wochen vergangen waren, wollte ich es bekanntgeben; bis dahin war ich offiziell Single.

Eine Stunde, nachdem ich das Haus betreten hatte, erschien Jens, der sein Versprechen einhielt, meinen Lieblingsfilm mit mir anzuschauen. Da unser Plan, es langsam angehen zu lassen, nicht ganz so gelungen war, ließen wir uns jetzt Zeit. Schließlich wollten sowohl er als auch ich eine Beziehung, keine Affäre.

Er begrüßte mich mit einem Kuss auf den Mund, bevor ich mich an seine Schulter lehnte, während er mich fest umarmte. Die Ruhe und Gelassenheit, die er ausstrahlte, übertrug sich langsam auf mich und senkte meinen Puls.

Hand in Hand betraten wir das Wohnzimmer, damit er meine Großmutter begrüßen konnte.

„Jens, schön, dich zu sehen“, freute sie sich aufrichtig. „Darf ich dir vielleicht einen Kaffee anbieten? Oder wollt ihr sofort ins Zimmer und den Film schauen?“

„Ach, zu einer Tasse Kaffee sage ich niemals Nein“, meinte Jens lächelnd.

„Warte, Oma! Ich mache das schon“, reagierte ich sofort, doch meine Großmutter schüttelte den Kopf.

„Danke, Talina, aber ich kann das selbst“, warf sie ein und humpelte ins Arbeitszimmer, wo seit Neustem eine Kaffeemaschine stand.

„Wirklich, Oma? Wir wollen dir keine Umstände machen.“

„Talina, ich habe Jens den Kaffee angeboten, also werde ich ihm auch eine Tasse bringen. Das macht mir keine Umstände.“

 

Da heute ein schöner Sommertag war, entschieden Jens und ich, uns nach dem Kaffee in den Garten zu setzen, und den Film dort über den Laptop zu schauen.

„Ich hoffe, das ist kein kitschiger Liebesfilm, bei dem meine Eingeweide vor lauter Süßholzraspeln einen Zuckerschock bekommt. Dann kannst du den Film sofort wieder ausmachen“, meinte Jens und nahm einen Schluck Wasser zu sich.

Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Keine Angst, ich habe dir doch bereits gesagt, dass mein Film eine Komödie ist. Du hast mich damals gar nicht zu Wort kommen lassen. Sonst wüsstest du, dass ich überhaupt nicht auf Schnulzen stehe.“

Er legte den Arm um meine Schultern und zog mich näher zu sich. „Na, dann habe ich ja noch einmal Glück gehabt.“

Mein Lieblingsfilm hieß Das Kamel im Schwimmbad. Warum er so einen merkwürdigen Titel hatte, wusste ich selbst nicht; es kam weder ein Kamel noch ein Schwimmbad vor.

Der Vorspann lief und sofort konzentrierte ich mich auf den Bildschirm, obwohl ich diese Komödie annähernd einhundert Mal geschaut hatte. Sämtliche Dialoge konnte ich Wort für Wort mitsprechen, was ich zunächst auch tat, bis mich Jens bat, damit aufzuhören.

„Na schön, aber nur, weil du es bist“, gab ich schließlich nach.

„Du bist die Beste“, erwiderte er lachend und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Und da dachte ich, du wärst ein knallharter Typ“, entgegnete ich scherzhaft, während das Lächeln nicht von meinen Lippen verschwinden wollte.

„Ach, hättest du gerne einen Bad Boy, der dich schlecht behandelt? Kannst du haben. Los, bring mir sofort ein Bier!“ Gespielt streng sah er mich an, wobei er sich sichtlich bemühte, das Grinsen zu unterdrücken. „Hast du dir das so in etwa vorgestellt? Oder was macht ein böser Typ in deinen Augen?“

„Also, ehrlich gesagt, möchte ich keinen Bad Boy. Deshalb bin ich froh, dass du es nicht bist. Wenn du ein Bier haben willst, kannst du es dir selber holen.“

„Fürs Erste reicht mir das Wasser.“

„Psst“, unterbrach ich ihn. „Jetzt kommt meine absolute Lieblingsstelle.“

„Jawohl, Chefin!“ Jens drückte mich fester an sich, bevor er sich wieder dem Film widmete.

 

Am Freitagabend holten Jens und ich Zamira zuhause ab, um gemeinsam ins Kino zu fahren.

Sie stand bereits draußen vor der Haustür und wartete auf uns. Als sie mich erkannte, winkte sie mir zaghaft zu.

„Das ist also Zamira; sie ist bestimmt ziemlich schüchtern“, stellte Jens fest.

„Wie kommst du darauf?“, hakte ich verwundert nach, auch wenn ich wusste, dass es stimmte.

„Na, ich glaube, dass sie versucht, ihre Schüchternheit mit ihrer knalligen Kleidung zu überspielen“, antwortete er, was mich zum Grübeln brachte.

Zamira zog sich wirklich oft und gerne grelle Farben an, aber das konnte Jens nicht ahnen. Er sah sie heute zum ersten Mal und konnte außerdem nicht von der Garderobe auf den Charakter schließen. Ja, auch wenn ich selbst bevorzugt bunte Sachen trug und etwas zurückhaltend gegenüber Unbekannten war, war das für mich vielleicht etwas weit hergeholt.

„Bist du jetzt auch Psychologe?“

„Schau dir ihre Haltung an! Sie sieht nicht danach aus, als würde sie sich richtig wohlfühlen. In der zehnten Klasse war in meiner Klasse ein Mädchen gewesen, das sehr schüchtern war, sich aber kontinuierlich farbenfroh angezogen hat. Nur, wenn ihre beste Freundin dabei war, zeigte sich Nicole locker“, erzählte Jens, und ich zuckte mit den Schultern.

„Wie du meinst. Könnten wir es dabei belassen? Wir wollen Zamira schließlich nicht erschrecken. Also, bitte reiß dich zusammen und sei nett zu ihr!“

„Nett zu ihr?“

„Sei nicht so gemein, wie du am Anfang zu mir warst!“, forderte ich ihn freundlich auf.

„Ich habe dich nur geärgert, weil du darauf angesprungen bist. Manchmal macht es mir einfach Spaß, mich ein bisschen zu kabbeln.“

„Soso“, murmelte ich und entschied, dass es Zeit wurde, endlich auszusteigen, um Zamira zu begrüßen. „Ach, Jens, bitte schalte deine Metal-Musik aus! Nicht jeder erträgt diesen Lärm.“

„Du hast gewonnen, aber nur, weil ich nicht will, dass Zamira einen Herzinfarkt bekommt.“

 

 

Kapitel 2

 

Jens stellte ich Zamira als Schlagzeuger der Band, in der ich Bass spielte, vor. Höflich gab sie ihm die Hand; ihre Begrüßung hörte ich allerdings kaum. Jens fragte sie sogleich, ob sie Metal mochte, was sie mit einem zaghaften Kopfschütteln quittierte. Verärgert sah ich ihn an. Ich hatte ihm doch vorher bereits angedeutet, dass nicht jeder auf diese Art von Musik stand. Auf der Fahrt zum Kino schwieg sie, sodass ich versuchte, ein Gespräch mit ihr anzufangen.

„Spielst du schon lange Gitarre?“, fragte ich Zamira.

In ihrem Gesicht spiegelte sich Überraschung. Ob sie sich wunderte, dass ich mir das gemerkt hatte? Oder hatte sie damit gerechnet, dass ich während der Fahrt keine Worte mit ihr wechselte?

Sie räusperte sich. „Fast zehn Jahre.“

„Du musst richtig gut sein, wenn du so lange spielst“, meinte ich anerkennend.

„Meine Nachbarin ist Musiklehrerin. Sie hat sich regelrecht aufgedrängt, mir Unterricht zu geben.“

„Das klingt nicht so, als hättest du Spaß dabei“, mischte sich Jens ein.

„Doch, ich spiele gerne Gitarre. Ich hätte damals nur lieber Klavier gelernt“, erzählte sie uns.

„Ich höre sehr gerne Klavier“, warf ich ein und berichtete ihr, dass ich bereits als kleines Kind Kontrabass und Klarinette spielen wollte.

Jens wollte wissen, ob Zamira Akustik- oder E-Gitarre spielte.

„Akustik“, lautete ihre knappe Antwort.

Allmählich schien sie aufzutauen, denn sie erzählte stolz, dass ihre Eltern sie mit der Musik unterstützten, so gut sie konnten. Die Gitarre hatte Zamira zu ihrem letzten Geburtstag bekommen. Sie erkundigte sich, ob wir schon lange zusammen in einer Band waren.

Ich überließ Jens das Reden, von dem sie erfuhr, dass er sie erst dieses Jahr gegründet hatte. Davor war er Mitglied bei Raus der Garage gewesen, was mich zum Lachen brachte. Raus der Garage klang für mich witzig und nicht nach einer Metal-Band. Er ließ sich nicht beirren, sondern setzte seine Unterhaltung fort. Es hatte Meinungsverschiedenheiten gegeben. Damals hatte er vorgeschlagen, von Rock auf Metal umzusteigen, was den anderen nicht gefallen hatte. Deswegen hatte Jens Konsequenzen gezogen und war aus der Gruppe ausgetreten, um eine neue Band zu gründen, in der jedes Mitglied diese Art von Musik mochte. Er fuhr mit der Geschichte fort, wie ich zu Devils on earth – damals noch Ready to kill genannt – gelangt war.

Interessiert schaute mich Zamira an. „Warum bist du in die Band zurück, wenn du kein Metal magst?“

„Hm, irgendwie mag ich es ja, wenn es nur nicht immer so heftig klingen würde. Es ist immerhin ein Fortschritt, dass wir jetzt Soul-Elemente einbauen. Trotzdem werde ich weiterhin versuchen, das Tempo etwas zu drücken. Vielleicht spielen wir eines Tages doch ein paar Rockballaden “, entgegnete ich und warf einen Blick zu Jens, der protestierend den Kopf schüttelte.

„Vergiss es, Talina!“

Ich erinnerte ihn daran, dass der Song Chasing Cars von Snow Patrol, den wir auf Quinns Geburtstag gespielt hatten, gar nicht so schlecht bei den Gästen angekommen war. Quinn war seit dem Kindergarten Jens‘ bester Freund. Die beiden trafen sich einmal die Woche mit anderen zu einem Männerabend, wobei ich keine Ahnung hatte, was sie dann anstellten. Wahrscheinlich floss der Alkohol in nicht geringen Mengen, was nicht bedeuten sollte, dass ich Jens oder Quinn als Alkoholiker darstellen wollte.

 

Obwohl eine Menge Fahrzeuge auf der Straße unterwegs waren, erreichten wir das Kino zügig. Der Parkplatz dort war fast voll, doch wir fanden eine freie Lücke ein gutes Stück vom Gebäude entfernt.

Zamira schlenderte neben mir zum Eingang, während Jens uns folgte.

Levin stand vor der Tür und wartete. Als er merkte, dass ich nicht allein war, blickte er mich verwundert an. Ob er wohl sauer reagierte, wenn ich ihm beichtete, dass uns Jens und Zamira begleiteten?

„Hallo Levin“, begrüßte ich Levin freundlich.

„Hallo Talina“, grüßte er zurück und musterte meine Begleitung.

„Oh, das ist Zamira. Sie sitzt in der Schule neben mir. Jens hat die Band gegründet, in der ich spiele. Er ist der Drummer von Devils on earth“, erklärte ich Levin und wandte mich anschließend Zamira und Jens zu. „Das ist Levin, den ich auf der Singleparty kennengelernt habe.“

„Magst du Metal?“, wollte Jens wissen, worüber ich nur die Augen verdrehen konnte.

Anscheinend war das tatsächlich seine allererste Frage an wirklich jeden, den er kennenlernte.

Levin schüttelte den Kopf und erklärte, dass er überhaupt nicht musikalisch war. Jens merkte an, dass man trotzdem irgendwelche Musik mögen musste.

„Na, ich höre nichts Bestimmtes – was so eben im Radio läuft“, antwortete Levin schließlich.

„Mit anderen Worten: Du hörst Luschenmusik“, meinte Jens grinsend.

Sofort klärte ich Levin auf, dass Jens alles, was kein Metal war, als Luschenmusik bezeichnete, und es keine Beleidigung sein sollte.

„Okay.“ Levin zog das Wort in die Länge. „Dann sehe ich das also richtig, dass uns die beiden Gesellschaft leisten.“

„Du bist aber auch ein Blitzmerker“, erwiderte Jens sarkastisch, wofür ich ihm leicht in die Rippen stieß, was ihm allerdings gar nichts ausmachte. Wahrscheinlich hatte er es noch nicht einmal bemerkt.

„Ja, ich hoffe, das ist in Ordnung für dich.“ Erwartungsvoll schaute ich Levin an, der mit den Schultern zuckte.

„Jetzt sind sie sowieso schon dabei; dann wäre es doch unhöflich, die beiden wieder heimzuschicken“, sagte er und hakte nach, ob Jens mein fester Freund wäre.

„Nein.“ Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Jens und ich sind nur gute Freunde. Wir spielen zusammen in einer Band.“

Levin entgegnete nichts darauf, sondern zog die Tür auf und ließ uns den Vortritt. Vor allen vier Kassen hatten sich Schlangen gebildet, sodass wir Jens folgten, der sich an der ersten Reihe angestellt hatte. Während wir recht zügig vorankamen, warf ich immer wieder Blicke auf den Bildschirm, um zu beobachten, wie viele Plätze noch für unseren Film frei waren.

„Vier Erwachsene für Kino 7“, bestellte Jens und zahlte für uns alle zusammen.

Er teilte die Karten aus und erhielt von Zamira und Levin das Geld dafür. Als ich Jens einen 10-Euro-Schein entgegenhielt, winkte er ab, und meinte, dass er mich einlud. Das wollte ich jedoch nicht. Vielleicht war es zu auffällig, wenn er mir den Eintritt für das Kino bezahlte. Na gut, selbst, wenn man nur befreundet war, konnte man sich gegenseitig einladen. Trotzdem war es mir irgendwie unangenehm, weshalb ich ihn aufforderte, das Geld zu nehmen.

„Nein, es ist gut. Ich bin dir das sowieso für die verlorene Wette schuldig.“

Zum Glück stand ich nicht auf dem Schlauch, sondern verstand sofort, worauf er hinauswollte.

„Ach ja, das hatte ich ganz vergessen; das war wirklich lustig. Ich wette mit dir jeder Zeit. Nächstes Mal musst du ein knallbuntes Shirt anziehen, wenn du verlierst“, ging ich auf sein Spiel ein.

„Nächstes Mal verliere ich nicht.“

„Worum ging es dabei?“, fragte Levin neugierig nach.

Erschrocken schnappte ich nach Luft. Was sollte ich denn antworten? Eine Wette hatte es schließlich nie gegeben. Sie war Jens’ Fantasie entsprungen, damit Zamira und Levin nicht auf die Idee kamen, dass ich eine Beziehung mit Jens hatte.

„Ich habe ihr nicht geglaubt, dass sie Bass spielen kann“, behauptete Jens, ohne großartig nachzudenken. „Sie hat mich vom Gegenteil überzeugt. Deshalb ist sie jetzt die Bassistin der Band, und ich habe ihr versprochen, sie irgendwann ins Kino einzuladen. Wettschulden sind Ehrenschulden, also begleiche ich sie heute.“

„Weil er die Wette verloren hat, werden wir sogar ein paar Rockballaden spielen“, fiel mir plötzlich ein.

„Rockballaden? Bist du wahnsinnig? Davon war nie die Rede; das kannst du vergessen“, gab mir Jens Konter.

Grinsend wandte ich meinen Kopf zu ihm. „Einen Versuch war es wert.“

 

Im Kinosaal wollte ich eigentlich zwischen Zamira und Jens sitzen; Levin sollte sich neben Zamira hocken. Levin brachte allerdings meinen Plan durcheinander, indem er sich auf dem Platz niederließ, den ich für Zamira vorgesehen hatte. Mich wies er an, sich außen hinzusetzen.

„Äh, ich würde gerne neben Zamira sitzen“, murmelte ich, doch Levin zog mich lachend zu sich.

„Ich habe deinen Plan längst durchschaut“, wisperte er mir ins Ohr.

Wie auf frischer Tat ertappt, starrte ich ihn an, unfähig, etwas zu sagen.

„Du willst Zamira und Jens verkuppeln. Das finde ich richtig süß von dir; ich kann dir gerne dabei helfen“, flüsterte er weiter.

„Was gibt es denn da zu tuscheln?“, hakte Jens nach, der allerdings nicht eifersüchtig, sondern eher amüsiert klang.

„Nichts, Jens“, wiegelte ich ab und wandte mich erneut Levin zu. „Ich will Zamira und Jens nicht verkuppeln, wirklich nicht.“

„Natürlich nicht“, sagte Levin ironisch. „Deshalb hast du die beiden auch mitgebracht. Wenn du neben Zamira sitzt, werdet ihr wahrscheinlich die ganze Zeit über reden. Wie soll sie denn da mit Jens flirten?“

Eben hatte er noch leise mit mir gesprochen; jetzt erhob er seine Stimme. „Die Mädchen sitzen außen“, entschied er.

 

„Du scheinst einen Verehrer zu haben“, bemerkte Jens feixend, nachdem wir Zamira zuhause abgesetzt hatten.

„Sehr witzig“, erwiderte ich grummelnd.

Levin hatte nach dem Kino zunächst darauf bestanden, mich heimzufahren, damit Zamira und Jens Zeit allein verbringen sollten. Während ich versucht hatte, mich herauszureden, hatte Jens nur stumm daneben gestanden. Zu Hilfe war er mir nicht geeilt, sondern hatte uns nur grinsend beobachtet.

Das warf ich ihm jetzt vor, brachte Jens damit jedoch zu einem lauten Lachen. „Sollte ich etwa den eifersüchtigen Kerl spielen, der sich Levin schnappt, und ihm mit der Faust die Meinung geigt? Es tut mir leid, Talina, Eifersucht gehört nicht zu meinem Vokabular. Ich weiß ja ganz genau, dass du nur auf mich stehst.“

„Bist du dir da ganz sicher? Bei Paul hast du mich damals gewarnt, dass ich besser nicht mit ihm ausgehen sollte. Warst du etwa nicht eifersüchtig gewesen?“

„Nein, ich weiß nur, was für ein Typ Paul ist. Mir war klar, dass er dir an die Wäsche wollte. Nur deshalb habe ich dir abgeraten, dich mit ihm zu treffen.“

„Dieser Levin sieht gar nicht so schlecht aus. Hast du seine wunderschönen, grünen Augen gesehen?“, versuchte ich, Jens aus der Reserve zu locken, doch dem Anschein nach war er tatsächlich niemand, der zu Eifersucht neigte.

„Oh ja, und er würde bestimmt nicht über Soul und Balladen meckern, weil er Musik hört, die auch nicht besser klingt. Nur leider hegst du höchstens freundschaftliche Gefühle für Levin, weil du schon längst hoffnungslos in mich verliebt bist.“

„Hoffnungslos noch nicht; es besteht die Chance auf Heilung. Vielleicht sollte ich mich ja wirklich nochmals mit Levin treffen – dieses Mal nur zu zweit“, meinte ich mit einem Augenzwinkern.

Jens nickte eifrig, als würde er es für die beste Idee der Welt halten. „Da empfehle ich ganz klar ein Candle-Light-Dinner – so furchtbar romantisch und kitschig“, schlug er spaßeshalber vor.

„Du scheinst mich überhaupt nicht zu kennen. Sonst wüsstest du, dass ich nichts von Romantik und Kitsch halte“, entgegnete ich und lehnte meinen Kopf leicht zurück.

„Das hört sich ausgezeichnet an. Ich stehe nämlich auch nicht auf so etwas. Vielleicht erfüllt sich dein größter Traum, und ich verliebe mich in dich“, scherzte er weiter und drehte die Musik lauter, da gerade sein Lieblingssong an der Reihe war.

„Idiot“, fauchte ich ihn an, musste allerdings im selben Augenblick lachen.

 

„Da wären wir. Möchtest du vielleicht auf einen Kaffee hereinkommen?“, fragte er, während seine Mundwinkel verdächtig zuckten.

Bereits, als festgestanden hatte, dass er mich ins Kino begleitete, hatten wir vereinbart, dass ich heute bei ihm übernachten würde.

„Hast du auch Wasser anzubieten?“, hakte ich nach.

„Da muss ich erst nachschauen.“

Er stieg aus, wieselte um sein Auto herum, und hielt mir die Tür auf. „Bitte sehr, die Dame. Wenn ich mag, kann ich ein wahrer Gentleman sein.“

Galant reichte er mir die Hand, die ich lächelnd ergriff, und mich so aus dem Wagen ziehen ließ. „Besten Dank, der Herr. Wenn Sie mir jetzt noch ein Glas Ihres besten Champagners geben würden, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“

Natürlich machten wir auch hier wieder bloß Spaß; schließlich war Alkohol wegen meiner Herzerkrankung für mich tabu. Diese Ausgelassenheit tat mir jedoch gut; ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so unbekümmert gewesen war.

„Für Sie nur das Beste.“

Ich hakte mich bei ihm unter, und gemeinsam schlenderten wir zur Haustür.

„Was soll das denn?“

Erschrocken drehten wir uns um und entdeckten Sophie, die aus dem Schatten ins Licht der Straßenlaterne trat, und uns misstrauisch anstarrte.

 

 

 

Kapitel 3

 

„Was machst du hier?“ Jens sah alles andere als begeistert aus, als er seine beste Freundin entdeckte.

„Ich habe Sascha heute zufällig in der Stadt getroffen. Sie hat mir erzählt, dass du Schluss gemacht hast. Ich wollte dich besuchen, um mit dir darüber zu sprechen. Anscheinend ist es sinnlos; du hast dir eine neue Freundin gesucht.“ Sie stöckelte auf uns zu und wandte sich mir zu. „Talina, deshalb sieht man dich nicht mehr in der WG. Du bist die ganze Zeit bei deiner Affäre. Ich habe es damals schon gespürt, dass zwischen euch etwas läuft.“

Damit musste sie die Sache im Auto meinen, als Jens und ich uns hemmungslos geküsst hatten, und Sophie uns dabei überrascht hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er noch mit Sascha zusammen gewesen. Diese hatte überhaupt nicht gemerkt, dass ich mich in ihren Freund verliebt hatte. Sie hatte mich sogar gebeten, ihn zu einem Metal-Festival zu begleiten, um Jessika, die sich persistent an vergebene Kerle heranmachte, von Jens fernzuhalten. Damit wollte ich nicht andeuten, dass Sascha naiv oder dumm war; das war sie ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, ich hielt sie für eine intelligente Person. Sascha studierte Jura, wofür sie ständig lernen musste. Das war auch der Grund gewesen, warum sie Loud Breath nicht hatte besuchen können. Stattdessen war ich mitgefahren; es war mein erstes Festival überhaupt gewesen. Jessika hatte die Finger von Jens gelassen, nachdem ich ihr die Meinung gegeigt hatte. Dafür hatte ich meine Finger nicht bei mir behalten können. Ja, Jens hatte Sascha mit mir betrogen. Nachdem er erkannt hatte, dass seine Gefühle für mich stärker als er sich anfangs eingeredet hatte, waren, hatte er sich von ihr getrennt. Seitdem waren Jens und ich ein Paar.

„Talina, hallo?“ Sophie fuchtelte mit ihren Armen vor meinem Gesicht herum, wodurch ich aus meinen Gedanken gerissen wurde.

„Was hast du gesagt?“ Verwundert sah ich sie an.

Sie wiederholte, was sie bereits vorhin kundgetan hatte.

„Unsinn, ich wohne bei meiner Oma. Du weißt, dass sie sich das Fersenbein gebrochen hat. Deine Oma sieht doch selbst ab und zu nach ihr. Jens und ich sind nicht zusammen“, erwiderte ich schließlich.

„Genau“, stimmte mir Jens zu. „Talina und ich sind nur gute Freunde. Sie hat überhaupt nichts mit der Trennung zu tun. In letzter Zeit habe ich mich einfach von Sascha vernachlässigt gefühlt.“

Sophie merkte an, dass Sascha studierte. „Soll sie etwa das Studium abbrechen?“

Er schüttelte verneinend den Kopf. „Natürlich nicht. Trotzdem hätte sie auch ab und zu abschalten und ihre Bücher liegen lassen können.“

„Ich fasse es nicht, dass du dich deshalb von ihr trennst. Du hättest sie unterstützen müssen. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwierig so ein Studium ist? Und du, Talina, du bist auch nicht besser, machst dich einfach an Jens heran, obwohl er in festen Händen ist.“

„Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich habe mich nicht an Jens herangemacht; wir sind auch nicht zusammen. Wir waren mit Zamira und Levin im Kino“, erzählte ich und klärte sie außerdem auf, wo ich Levin kennengelernt hatte.

Sophie schien uns nicht zu glauben. „Warum bist du nicht mit diesem Levin nach Hause gegangen?“

„Weil ich ihn gar nicht kenne. Deshalb war es mir lieber, dass mich Jens begleitet hat.“

Sie erkundigte sich, wer Zamira war, und stellte die Frage, ob es nicht gereicht hätte, wenn nur sie mich begleitet hätte.

„Nein, nachdem sich Paul aufdringlich gezeigt hatte, erschien es mir opportun, wenn noch ein anderer Junge dabei war. Zamira ist nicht gerade eine Person, die sich verteidigen kann.“

„Und was wollt ihr jetzt noch machen?“, hakte sie neugierig nach.

„Ich habe eine Wette verloren und muss für Talina etwas kochen.“

Wie fielen Jens nur immer diese Lügen ein?

„Du hast bestimmt nichts dagegen, wenn ich mitesse? Ich bin kurz vorm Verhungern“, lud sich Sophie selbst zum Essen ein.

Mir wäre es lieber gewesen, wenn sie ginge, doch ich wollte nicht, dass sie noch mehr misstrauisch wurde. Außerdem hatte Jens das zu entscheiden.

„Kein Problem“, meinte dieser. „Ich mache uns… Ach, wir sehen einfach, was im Kühlschrank ist.“

„Hört sich gut an.“ Sophie drängte sich zwischen Jens und mich und legte ihm einen Arm um die Taille. Hämisch grinste sie mich an, und ich wusste genau, dass sie auf meine Reaktion gespannt war.

Jetzt bloß keine Eifersucht zeigen, ermahnte ich mich im Stillen und zeigte ihr ein kleines Lächeln, das mich allerdings große Mühe kostete.

 

Die Eifersucht bohrte sich wie ein Dorn immer tiefer in meine Haut. Sophie provozierte mich am laufenden Band. Die ganze Zeit strich sie über Jens’ Arm, säuselte, wie toll sie seine Tattoos fand, oder hauchte ihm Küsse auf die Wange; dabei ließ sie mich nicht aus den Augen.

Jens ignorierte ihre Avancen, aber es störte mich trotzdem. Immer wieder musste ich mich selbst in Gedanken beruhigen, um ihr nicht zu sagen, dass sie gefälligst ihre Finger von meinem Freund lassen sollte. Ich wusste, dass Sophie genau das mit ihrer Aktion bezwecken wollte.

Betont gleichgültig erwiderte ich ihren Blickkontakt, als sie plötzlich auf mich zukam, und bat, mich kurz unter vier Augen zu sprechen. Zustimmend nickte ich und folgte ihr ins Wohnzimmer.

„Was ist denn los?“, fragte ich sie.

„Okay, es ist mir irgendwie unangenehm. Ich glaube, ich kann es dir doch nicht sagen“, druckste sie herum, und ich verdrehte die Augen.

„Sophie, sag einfach, was los ist!“, forderte ich sie auf.

„Ich wollte es mir zuerst nicht eingestehen, aber ich kann mich nicht mehr gegen meine Gefühle wehren. Ich habe mich in Jens verliebt.“

Geschockt starrte ich sie an, selbst wenn mir klar war, dass sie natürlich nicht in Jens verliebt war, sondern mich nur ärgern wollte.

„Ich habe das Gefühl, dass er ebenfalls auf mich steht. Zuerst dachte ich, dass er sich deinetwegen von Sascha getrennt hat. Jetzt bin ich überzeugt, dass er mich liebt. Oder was meinst du?“

In welchen verrückten Film war ich da nur hineingeraten? Als ich Sophie kennengelernt hatte, war ich eigentlich sicher, dass sie eine nette Person war. Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich von ihr halten sollte. Wollte Sophie wirklich nur herausfinden, ob nicht doch etwas zwischen Jens und mir lief? Oder sinnte sie immer noch auf Rache, weil ich damals ihren besten Freund im Auto geküsst hatte?

„Talina, das ist doch kein Problem für dich? Du hast ja betont, dass du nicht auf Jens stehst.“ Mit hochgezogener Augenbraue musterte sie mich.

„Nein, natürlich ist das kein Problem für mich, Sophie. Aber du darfst nicht vergessen, dass sich Jens gerade erst von Sascha getrennt hat. Da wird er sich bestimmt nicht sofort in eine neue Beziehung stürzen“, entgegnete ich, während sich mein Bauch schmerzhaft zusammenzog. „Hattest du nicht auch gesagt, dass du erst einmal genug von Typen hast?“

„Ich kann nicht ewig Single bleiben. Jens kenne ich schon lange. Ihm vertraue ich, und ich weiß, dass er mich nicht verletzen würde“, antwortete sie. „Ich werde ihn fragen, ob ich heute bei ihm übernachten kann. Vielleicht entwickelt sich ja schon diese Nacht etwas.“

„Dass du dich so heranmachst, hätte ich gar nicht von dir erwartet“, gab ich zu und überlegte, ob es nicht besser wäre, wenn ich zu meiner Großmutter zurückkehrte.

„Wenn ich weiß, was ich will.“

Gerade wollte ich mich zum Gehen wenden, als sie mich am Arm festhielt. „Du siehst nicht gerade begeistert aus.“

„Ich mache mir Sorgen um meine Oma. Am besten fahre ich jetzt zu ihr. Ach so, ich habe mir sowieso überlegt, ganz zu ihr zu ziehen. Sie ist nicht mehr die Jüngste, und außerdem bin ich gerne bei ihr.“

„Na ja, okay, wenn du meinst. Sag mir bitte rechtzeitig Bescheid, bevor du endgültig ausziehst, damit wir eine Nachmieterin suchen können.“

„Ich werde nach und nach meine ganzen Sachen ausräumen“, versprach ich ihr. „Spätestens in einem Monat kann die Neue einziehen.“

Sophie und ich kehrten zu Jens in die Küche zurück, der auf die Schnelle ein Fertiggericht aus der Dose erwärmt hatte.

„Ich hoffe, ihr mögt Nudelsuppe. Etwas anderes habe ich leider nicht. Im Moment herrscht in meinem Kühlschrank Ebbe. Morgen muss ich dringend einkaufen gehen“, sagte Jens und stellte den Topf auf den Tisch.

„Lasst es euch schmecken!“, murmelte ich.

„Magst du das nicht?“, fragte mich Jens.

„Ich muss nach Hause zu Oma. Das Essen holen wir nach, Jens.“

„Talina, bleib doch hier!“ Eindringlich sah er mich an, aber ich schüttelte den Kopf.

„Lass sie, wenn sie nicht möchte!“, meinte Sophie und ließ sich auf einem Stuhl nieder. „Ich leiste dir gerne Gesellschaft. Du hast doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich heute bei dir übernachte. Wir teilen uns das Bett, so wie wir es früher schon getan haben.“

Vor Schock war ich wie gelähmt, unfähig zu sprechen oder mich zu bewegen.

„Mund zu! Es zieht“, zog mich Sophie auf.

„Sophie, was soll das?“, fuhr Jens sie an. „Ich weiß nicht, was du gerade für ein blödes Spiel spielst. So kenne ich dich überhaupt nicht; du warst doch immer eine vernünftige Person. Ich habe Talina zum Essen eingeladen, nicht dich. Würdest du jetzt bitte gehen?“

„Du wirfst mich aus deiner Wohnung? Talina will sowieso zu ihrer Oma.“ Ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie verärgert war. „Es stimmt also, dass da etwas zwischen dir und Talina läuft. Hast du ihretwegen mit Sascha Schluss gemacht?“

„Das geht dich überhaupt nichts an, Sophie“, knurrte Jens.

Kopfschüttelnd lachte sie auf. „Ich wusste es. Ihr hattet schon eine Affäre, als du noch mit Sascha zusammen warst.“

„Jens und ich sind nicht zusammen“, betonte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Erzähl es der Wand!“

„Sophie, geh jetzt! Es reicht wirklich. Talina und ich sind nicht zusammen; und wenn wir es wären, würde es dich überhaupt nichts angehen.“ Jens Tonfall klang bedrohlich und duldete keine weitere Widerrede.

Sophie stand auf und schnappte sich ihre Handtasche. „Wie wird Sascha wohl auf die Neuigkeit reagieren, dass die liebe Talina ihr ihren Freund ausgespannt hat?“

Mit diesen Worten verließ sie die Wohnung, wobei die Tür mit einem lauten Knall zuschlug, dass ich vor Schreck zusammenzuckte.

 

Kapitel 4

 

„Warum hast du sie denn weggeschickt? Sie wird Sascha erzählen, dass wir zusammen sind.“ Verzweifelt setzte sich mich auf den Stuhl und seufzte.

Jens schritt auf mich zu und ging in die Hocke. „Irgendwann wird sie es sowieso erfahren.“

„Aber doch nicht so.“

„Talina, mach dir deshalb jetzt keine Sorgen! Lass uns in Ruhe essen! Ich habe mir so Mühe gegeben und dir eine Suppe gekocht“, meinte er und brachte mich damit zum Lachen.

„Ja, aus der Dose. Du bist wahrlich ein Meisterkoch.“

„Tja, es gibt kaum etwas, das ich nicht kann“, erwiderte er grinsend und erhob sich, um sich gleich darauf neben mir niederzulassen.

„Du bist wirklich nicht bescheiden.“

„Bescheiden? Was ist das denn?“ Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, während ich immer noch lachen musste.

„So, lass uns essen, bevor diese traumhafte Speise kalt wird!“, sagte Jens und füllte meinen Teller mit der Suppe.

Mein Magen knurrte, und ich löffelte alles aus, auch wenn es nicht so gut wie bei meiner Großmutter schmeckte.

„Na, wie hat es dir gemundet? Das war doch 4-Sterne.“ Jens bot mir etwas Wasser an, was ich dankbar annahm.

„Aber mindestens“, scherzte ich und legte den Löffel ab.

„Möchtest du noch etwas Suppe?“, hakte er nach, doch ich schüttelte den Kopf.

„Danke, aber ich bin wirklich satt.“

„Möchtest du jetzt Tango tanzen?“

„Meinst du damit richtigen Tango? Oder willst du ins Bett?“, wollte ich wissen.

„Eigentlich wollte ich dir ein paar Schritte beibringen. Aber wenn du sofort ins Bett möchtest, habe ich natürlich nichts dagegen“, antwortete Jens feixend, wodurch er einen Knuff in die Rippen von mir erntete.

„Spinner.“

Er stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Ich wollte ihm helfen, was er allerdings ablehnte.

„Bleib ruhig sitzen, Talina! Ich schaffe das schon allein.“

„Kannst du wirklich tanzen?“ Neugierig beäugte ich ihn.

Zustimmend nickte Jens und stellte einen Teller in die Spülmaschine. „Meine Tante hat eine Tanzschule. Damals hat sie solange auf meine Eltern eingeredet, bis sie mich angemeldet haben; da war ich erst vier Jahre alt.“

„Bist du jetzt immer noch aktiv?“

Er schüttelte den Kopf und erzählte, dass er zwar den Super-Goldstar Rang 1 erreicht, dann jedoch zufällig einen Aikido-Kurs gesehen hatte. Spontan hatte er an einer Probestunde teilgenommen, und erkannt, dass ihm dieses Hobby viel mehr Spaß bereitete. Von dem Zeitpunkt an, hatte er das Tanzen komplett aufgegeben, und war auch nicht mehr auf Turniere gegangen. Ich musste ihm gestehen, dass ich nicht tanzen konnte.

„Können wir mit etwas ganz Einfachem anfangen?“, bat ich Jens.

„Discofox vielleicht“, schlug er vor, was ich sofort ablehnte.

„Das klingt, als wäre es zu schnell für mich. Hast du nicht etwas Langsames im Angebot?“

„Discofox ist wirklich ganz einfach, und so schnell ist der Tanz überhaupt nicht.“

„Wie wäre es denn mit einem Langsamen Walzer?“

Damit war Jens einverstanden und forderte mich auf, die Grundposition einzunehmen, womit ich nichts anfangen konnte.

Er zeigte mir Schritt für Schritt, was zu tun war, sodass ich nach einer Stunde Training tatsächlich den Langsamen Walzer tanzen konnte. Auch wenn ich mich damit noch lange kein Profi nennen durfte, war ich trotzdem froh, dass ich überhaupt ein paar Schritte beherrschte.

„Du stellst dich gar nicht so dumm an“, lobte mich Jens und drückte mir seine Lippen auf die Wange.

„Danke, aber du bist auch wirklich ein guter Tanzlehrer.“ Langsam hob ich meinen Kopf und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn auf den Mund zu küssen.

Jens erwiderte den Kuss und drückte mich fest an sich. „Soll ich dir den Rest der Wohnung zeigen?“

Lächelnd nickte ich, ergriff seine Hand und folgte ihm. Bisher war ich immer nur im Wohnzimmer, in der Küche und im Keller gewesen. Den Rest der Wohnung hatte ich noch nicht gesehen. Ich wusste, dass das Haus seinen Eltern gehörte, in dem drei weitere Mietparteien lebten. Neben Wohnzimmer, Küche und Bad hatte Jens noch ein kleines Arbeitszimmer, ein Gästezimmer und ein Schlafzimmer. Mir fiel auf, dass die gesamte Wohnung recht düster und gar nicht einladend wirkte. Sämtliche Wände waren in Grau oder einer Farbe, die mich an Schlamm erinnerte, gestrichen; die Möbel waren allesamt schwarz, die Anbauküche ebenfalls. Pflanzen suchte man vergeblich- ebenso wie Bilder. Irgendwie fühlte ich mich nicht so wohl hier und würde am liebsten etwas Farbe an die Wand werfen.

Jens war aufmerksam und bemerkte meinen Gemütszustand. „Talina, ist irgendetwas nicht in Ordnung?“

„Na ja, deine Wohnung ist so dunkel eingerichtet. Du hast sogar schwarze Bettwäsche. Das ist nicht gerade ein Zuhause, in dem man sich wohlfühlen kann“, gab ich offen zu.

„Meine Lieblingsfarbe ist eben Schwarz. Dein Zimmer bei deiner Oma ist mir viel zu bunt; trotzdem habe ich nichts dagegen gesagt“, entgegnete Jens.

Vorsichtig fragte ich nach, ob er wütend auf mich wäre, woraufhin er seinen Arm um meine Schultern legte.

„Nein, bin ich nicht, aber ich will, dass du mich so akzeptierst, wie ich bin. Auch wenn ich dein Freund bin, werde ich nicht meine Vorlieben für dich ändern.“

Den Kopf an Jens gelehnt, seufzte ich. „Ich will dich doch gar nicht ändern.“

„Okay, und ich verspreche, dich auch nicht ändern zu wollen.“

„Gut, dann ist das geklärt.“

„Ich habe eine gute Idee, was wir jetzt machen könnten“, begann Jens und grinste. „Schach.“

„Darauf habe ich keine Lust. Hast du vielleicht Memory? Das spiele ich immer mit meiner Oma“, erwiderte ich schmunzelnd.

„Memory klingt gut. Wir werden es nach meinen Regeln spielen.“

„Deinen Regeln?“

„Wir werden uns komplett ausziehen, und später versuchen wir, uns daran zu erinnern, wem welche Sachen gehören.“

„Diese Variante habe ich ja noch nie gespielt.“ Lachend schaute ich ihn an.

„Irgendwann ist immer das erste Mal.“ Jens küsste meinen Hals, während er wie in Zeitlupe mein Shirt nach oben zog.

Ich streckte meine Arme nach oben. „Hm, ich glaube, diese Version könnte mir gefallen.“

 

An Jens gekuschelt war ich glücklich eingeschlafen. Mein Traum allerdings war ziemlich merkwürdig: Wie eine Primaballerina tanzte ich auf Wolken, aber nicht mit Jens, sondern mit Yves, meinem Exfreund. Plötzlich tauchte meine Mutter auf, deren bodenlanges, weinrotes Kleid ihren zierlichen Körper umspielte. Ihre Haare, die sie eigentlich nie offen trug, fielen ihr als Locken auf die Schulter. Sie lachte und zeigte sich ausgelassen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie sah wunderschön aus.

„Talina, ich habe eine Überraschung für dich“, säuselte sie mit engelhafter Stimme und formte etwas aus den Wolken, das mich an eine menschliche Gestalt erinnerte.

Meine Mutter tippte ihr Werk vorsichtig an, woraufhin Jens aus der Wolke stieg und lächelnd auf mich zutrat.

„Deine Mutter ist damit einverstanden, dass wir zusammen sind“, flüsterte er mir ins Ohr, bevor er mich stürmisch küsste.

Eine kleine Nachtmusik von Mozart ertönte, und riss mich aus meinem Traum. Die Anruferin war meine Mutter, der ich diesen Klingelton zugeordnet hatte. Verschlafen schaute ich auf den Wecker, der auf dem Nachttischschrank stand. Es war erst kurz nach 6 Uhr am Morgen. Warum rief sie mich so früh an?

Noch halb im Tiefschlaf griff ich nach meinem Handy und drückte auf Annehmen.

„Hallo“, nuschelte ich und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.

„Talina, wo bist du?“ Meine Mutter klang hysterisch und nicht wie in meinem Traum, in dem sie eine Stimme wie ein Engel gehabt hatte.

„Mama, ich würde gerne noch schlafen. Ist irgendetwas los?“

„Talina, wo bist du?“, wiederholte sie ihre Frage.

„Im Bett“, antwortete ich ihr.

„Bei wem? Ich habe versucht, dich bei Oma Theudi zu erreichen, aber da bist du nicht“, keifte meine Mutter mich an.

Vorsichtig löste ich mich aus Jens’ Umarmung und krabbelte aus dem Bett. „Ich bin bei Sarah.“

„Lüg mich nicht an! Ich habe bei Sarah angerufen; sie hat ihr Handy ausgeschaltet.“

„Weil sie schläft“, erwiderte ich und tapste langsam ins Wohnzimmer, wo ich mich auf der Couch niederließ und die dünne Decke um mich schlang.

Ja, es war gelogen, dass ich bei Sarah war. Meine beste Freundin war gerade mit ihrem Freund David in Dänemark in Urlaub. Ich konnte nicht zugeben, dass ich bei Jens übernachtete. Das wollte ich ihr lieber persönlich sagen.

„Dann wecke sie auf und gib sie mir!“, forderte mich meine Mutter auf.

„Das werde ich mit Sicherheit nicht“, gab ich zurück. „Mama, gibt es irgendeinen wichtigen Grund, warum du mich so früh anrufst? Wenn nicht, würde mich gerne noch ein wenig hinlegen und schlafen.“

„Ja, es ist wichtig. Ich bekomme kaum Luft, und mein Herz verursacht mir schreckliche Schmerzen. Ich glaube, ich habe einen Herzinfarkt; das spüre ich ganz genau.“

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Sie fing tatsächlich wieder mit dieser Masche an, damit ich sofort zu ihr kommen und ihre Hand halten sollte.

„Dann ruf den Notarzt!“, meinte ich, während meine Augen schwer wurden.

Wenn ich nicht gleich zurück ins Bett käme, würde ich noch hier auf der Couch einschlafen.

„Das kann ich nicht; mir geht es so schlecht. Talina, du musst sofort herkommen!“

„Mama, dann werde ich den Notarzt rufen“, entschied ich.

„Nein, das wirst du nicht. Ich brauche keinen Notarzt, ich brauche dich.“

„Ich kann dir nicht helfen, wenn du wirklich einen Herzinfarkt hast.“

„Na schön, ich merke, dass ich dir überhaupt nichts bedeute. Ich hoffe, du kannst es mit deinem Gewissen vereinbaren, wenn ich heute sterbe, und du mich nicht mehr vorher gesehen hast.“

Sie drückte mich einfach weg, und ich legte das Handy beiseite. Meine Mutter brauchte nicht zu denken, dass ich jetzt zu ihr fahren würde. Schon früher hatte sie diese Spielchen mit mir getrieben und irgendeine Krankheit vorgetäuscht. Damals hatte mich mein schlechtes Gewissen fast aufgefressen, sodass ich Sarah oder den anderen direkt abgesagt hatte, wenn sie etwas mit mir hatten unternehmen wollen.

Doch ich hatte weder Lust noch Nerven mehr dafür, weshalb ich das Handy auf lautlos schaltete und müde zurück ins Bett schlurfte. Dort lag Jens immer noch und schlief friedlich.

Ich schlüpfte unter die Decke, legte Jens’ Arm um mich und kuschelte mich an ihn. Es dauerte nicht lange, da war ich wieder eingeschlafen. Erneut hatte ich den gleichen Traum. Ob er irgendetwas zu bedeuten hatte? Warum war Yves darin aufgetaucht? Ich war doch schon längst über ihn hinweg. Hoffentlich wollte mir der Traum damit nicht sagen, dass Yves plötzlich auf der Bildfläche erscheinen würde. Das würde mir jetzt noch fehlen.

 

 

 

Kapitel 5

 

Von den Sonnenstrahlen geblendet, erwachte ich und musste blinzeln. Zuerst wusste ich nicht, wo ich war, bis ich mich umblickte, und es mir wieder einfiel. Ich hatte bei Jens übernachtet, der allerdings nicht mehr neben mir lag. Die LED-Leuchte meines Handys blinkte fleißig rot, und ich nahm es in die Hand, um zu prüfen, wer versucht hatte, mich zu erreichen. Mich traf fast der Schlag, als ich erkannte, dass mich meine Mutter zwölf Mal angerufen hatte. Sie hatte mir außerdem eine SMS geschickt, die ich eigentlich gar nicht lesen wollte. Mir war klar, dass diese Nachricht mit Vorwürfen, dass ich nicht zu ihr gefahren war, gewürzt war.

 

Talina, mir geht es sehr schlecht. Du hast nicht den Anstand, deine todkranke Mutter zu besuchen. Bei meiner Beerdigung möchte ich dich nicht dabeihaben.

 

Im Lexikon war neben Übertreibung ein Foto meiner Mutter abgebildet. Die SMS war absolut typisch für sie. Mit solchen Aussagen hatte sie schon immer versucht, mir Schuldgefühle einzureden. Anfangs hatte sie damit auch Erfolg gehabt, doch irgendwann waren mir ihre Psychospielchen zu viel geworden. Angst hatte ich nur ein wenig, dass sie irgendwann einmal wirklich schwer krank wurde, ich ihr das allerdings nicht mehr abkaufte. Um mein aufkeimendes schlechtes Gewissen zu beruhigen, beschloss ich, sie später zu besuchen.

Ich schwang meine Beine aus dem Bett und tapste in die Küche, wo Jens gerade dabei war, das Frühstück vorzubereiten.

„Morgen, du Schlafmütze“, begrüßte er mich.

„Morgen“, erwiderte ich und nahm am Tisch Platz.

„Ich hoffe, du isst morgens ein Frühstücksei.“

Zustimmend nickte ich, und er überreichte mir ein gekochtes Ei.

Er hockte sich neben mich und entschuldigte sich dafür, dass es nicht mehr zu essen gab.

„Du musst dich nicht entschuldigen; das reicht vollkommen aus“, entgegnete ich und nahm eine Scheibe Brot, die ich dünn mit Margarine bestrich.

„Ich muss heute dringend einkaufen gehen, damit du nächstes Mal wenigstens Belag für das Brot hast. Oder isst du morgens lieber Brötchen?“

„Jens, es ist wirklich in Ordnung. Du musst dir meinetwegen keine Umstände machen.“ Summend pulte ich die Schale ab, schnitt das Ei in Scheiben und verteilte diese auf dem Brot.

„Kommst du mit mir einkaufen?“, fragte Jens, doch ich schüttelte den Kopf.

„Normalerweise gerne, aber ich muss nach Mama schauen.“ Ich erzählte ihm von dem Anruf heute Morgen und zeigte ihm die Nachricht, die mir meine Mutter geschickt hatte.

Fassungslos las Jens die Nachricht. „Damals im Krankenhaus habe ich schon gemerkt, dass deine Mutter merkwürdig ist. Ich hätte aber niemals gedacht, dass sie so verrückt ist. Sei mir nicht böse, Talina; ich finde nur, dass sie ärztliche Hilfe benötigt.“

„Es ist eben schwer für sie, seit mein Vater sie verlassen hat“, versuchte ich, das Verhalten meiner Mutter zu entschuldigen, auch wenn ich genau wusste, dass es nicht normal war.

„Wann hat dein Vater euch verlassen? Als du vier Jahre alt warst. Du wirst bald neunzehn; so langsam müsste sie darüber hinweg sein.“

„Du hast recht. Ich weiß selbst, dass sie ein Problem hat. Aber du musst mich auch verstehen; sie ist immerhin meine Mutter. Denkst du, es fällt mir leicht, ihr zu sagen, dass sie psychologische Hilfe benötigt? Mein Vater war ihre große Liebe; er ist es vielleicht heute noch. Sie hat sich nie wieder einen anderen gesucht.“

„Na, dann ist die Sache einfach. Vielleicht beruhigt sie sich wieder, wenn sie erkennt, dass es auch andere Männer als deinen Vater gibt.“

„Was hast du vor, Jens?“, hakte ich nach.

„Wir melden sie bei einer dieser Online-Singlebörsen an“, schlug er grinsend vor.

„Bist du verrückt? Meine Mutter hat Angst, persönlich mit anderen Menschen in Kontakt zu treten“, warf ich ein.

„So schnell geht das sowieso nicht; zuerst schreibt man sich E-Mails.“

„Hast du irgendwelche Erfahrung mit solchen Singlebörsen?“, zog ich ihn auf.

„Nein, aber das kann ich mir denken. Also, was sagst du, Talina?“

„Ohne das Wissen meiner Mutter? Der Schuss kann nach hinten losgehen“, gab ich zu bedenken.

Jens dagegen schien sich nicht mehr von der Idee abbringen zu lassen. Er verschwand aus der Küche, nur um kurze Zeit später mit seinem Laptop zurückzukehren.

Jens startete ihn und tippte Singlebörse in die Suchmaschine, nachdem er den Internetbrowser geöffnet hatte. Direkt den ersten Link klickte er an, wodurch wir auf Gemeinsam, statt einsam – Nicht länger Single gelangten. Wenn man den Worten auf der Website Glauben schenken durfte, war dies die beste Partnerbörse Deutschlands, die zudem kostenlos war.

Jens fand die Seite, auf der man sich für die Singlebörse registrieren konnte. Als Benutzername wählten wir Translate.my.love als Anspielung, weil meine Mutter als Übersetzerin tätig war. Fleißig füllten wir das Formular aus, was mir irgendwie Spaß bereitete. Schließlich sollten wir ein Foto hinzufügen, was Voraussetzung war, um sich anzumelden.

„Hast du ein Foto von deiner Mutter? Oder findet man eins von ihr im Internet?“, hakte Jens nach.

Meine Mutter hatte zwar eine Homepage für ihren Übersetzungsdienst, allerdings ohne Bild. Sie mochte es einfach nicht, wenn man sie fotografierte. In meinem Geldbeutel hatte ich ein schönes Foto von ihr, das sie vor zwei Jahren zeigte. Sie sah glücklich aus, sodass Jens dieses Bild mit seinem Handy abknipste, und auf der Seite hochlud.

„Registrierung abschließen“, kommentierte er sein Handeln und klickte auf den Button.

„Herzlich willkommen bei GSE-NLS! Auch Sie werden bald einen geeigneten Partner finden“, las ich laut vor und konnte nur den Kopf schütteln. „Na, die sind aber schwer von ihrem Service überzeugt.“

„Du wirst sehen; sobald deine Mutter einen netten Mann kennengelernt hat, wird sie nicht mehr wie eine Klette an dir hängen wollen“, meinte Jens dazu.

„Hoffentlich hast du recht“, seufzte ich.

„Ich habe immer recht“, sagte er aus tiefster Überzeugung und brachte mich damit zum Lachen.

„Okay. Ich fahre jetzt zu meiner Mutter und schaue nach dem Rechten. Geh du schön einkaufen!“

„Soll ich dich mitnehmen?“, bot Jens an, was ich dankend ablehnte.

„Das ist nett von dir. Ich kann mit dem Bus fahren; das habe ich vor meinem Führerschein auch immer getan.“

„Talina, das ist kein Problem für mich. Ich habe eine Idee“, begann er, wurde allerdings von mir unterbrochen.

„Wieder etwas mit Singlebörsen?“

„Nein, also, dein Auto steht ja noch bei deiner Oma.“

„Gut, dass du das erwähnst; ich habe mich schon gewundert, wo es ist“, erwiderte ich schmunzelnd.

„Lass mich ausreden! Ich nehme dich mit und setze dich bei deiner Mutter ab; in der Zwischenzeit gehe ich einkaufen. Wenn du genug von der Klette hast, sagst du mir Bescheid, und ich hole dich wieder ab. Was hältst du davon, wenn wir heute schwimmen gehen?“

„Jens, ich glaube, das ist keine gute Idee. Meine Mutter wird ausrasten, wenn sie uns zusammen sieht. Das mit dem Schwimmbad sollten wir auch lassen, nicht dass uns noch jemand Bekanntes über den Weg läuft.“

Jens schien überhaupt kein Problem zu sehen. „Wenn du willst, kann ich dich ein Stück vor ihrem Haus herauslassen. Ich dachte auch nicht an das Schwimmbad, sondern ans Meer. Außerdem ist doch nichts dabei, wenn man uns zusammen sieht. Wir sind Freunde, und Freunde unternehmen eben ab und zu etwas gemeinsam.“

Über seine Argumente dachte ich kurz nach. Er hatte recht; wir brauchten keine Rechenschaft vor anderen abzulegen, wenn wir etwas zusammen unternahmen. Ans Meer, das etwas über eine Stunde entfernt lag, zu fahren, würde ich zwar gerne, war mir jedoch nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Jens’ Zwillingsschwester war mit elf Jahren im Meer ertrunken. Ich wollte nicht, dass er daran erinnert wurde, und Panik bekam; andererseits war es sein Vorschlag gewesen.

Vorsichtig fragte ich nach, ob ein Tag am Meer für ihn in Ordnung wäre.

„Warum denn nicht? Sonst hätte ich es kaum vorgeschlagen.“

„Ich meinte nur… wegen deiner Schwester“, stammelte ich und traute mich nicht so recht, mit ihm Blickkontakt zu halten.

Er schien meine Gedanken lesen zu können, dass ich befürchtete, er könnte eine Art Panikattacke am Meer erleiden. „Süß, dass du dich um mich sorgst, aber das brauchst du wirklich nicht. Ja, als ich noch klein war, hatte ich Angst, wenn ich das Meer gesehen hatte. Doch inzwischen kann ich gut damit leben; ich schwimme sogar im Meer.“

„Okay, dann lass uns nachher an den Strand fahren! Ich war schon so lange nicht mehr dort.“

 

Meiner Großmutter musste ich Bescheid sagen, damit sie sich keine Sorgen machte. Auch wenn ich volljährig war, wollte ich nicht einfach ans Meer fahren, ohne dass sie davon wusste. Schließlich hatte ich ihr erzählt, dass ich nur bei Jens übernachten wollte und gegen Mittag wieder zurück wäre.

„Theudelinde Granat“, meldete sich meine Großmutter.

„Oma, hallo, ich bin es, Talina.“

„Talina, alles in Ordnung?“

„Ja, Oma, ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute erst später nach Hause komme. Jens und ich möchten noch ans Meer fahren. Das ist doch für dich in Ordnung, oder?“

Meine Großmutter lachte. „Warum sollte ich etwas dagegen haben? Ich finde es gut, dass du mir Bescheid gesagt hast. Dann wünsche ich dir und Jens viel Spaß am Strand.“

Bevor ich auflegte, musste ich sie noch dringend auf meine Mutter ansprechen. Meine Großmutter berichtete mir, dass ihre Tochter angerufen und mich verlangt hatte.

„Was hast du gesagt, wo ich bin?“, hakte ich nach.

„Bei Freunden. Talina, du bist alt genug. Du musst dich vor deiner Mutter nicht rechtfertigen, wenn du etwas mit Jens unternimmst. Meine Große, du musst dir wirklich keine Gedanken machen. Du kennst doch deine Mutter; es ist nur wieder eins ihrer Spielchen, weil sie es nicht erträgt, dass wenigstens du Freude am Leben hast.“

„Na gut, aber ich werde sie trotzdem besuchen.“

„Das kannst du ja. Aber bitte lass dir von ihr nicht irgendetwas einreden!“, bat mich meine Großmutter.

„Versprochen, Oma. Ich höre ihr nur ein wenig zu, dann lasse ich mich von Jens abholen und fahre mit ihm ans Meer.“

„Ach Talina, bevor ich es vergesse, hast du überhaupt deine Badesachen dabei?“

„Äh“, stammelte ich, als mir bewusst wurde, dass ich natürlich meinen Bikini zuhause hatte.

„Also nicht. Ich packe dir alles ein, wenn dir das recht ist. Dann braucht ihr deine Tasche nur schnell abzuholen und könnt sofort weiterfahren.“

„Oma, das musst du nicht. Ich kann meine Badesachen auch selbst zusammensuchen.“

„Talina, das ist wirklich kein Problem für mich.“

„Danke, Oma. Was würde ich nur ohne dich machen?“

 

Jens setzte mich eine Straße vorher ab, sodass ich den restlichen Weg zu Fuß ging.

Meine Mutter musste am Fenster gestanden haben, denn ich war noch nicht einmal an der Treppe angekommen, als sie bereits die Tür aufriss.

„Talina, was machst du hier?“

„Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich besuche.“

„Wo warst du heute Morgen, als ich dich gebraucht habe?“

„Lass mich erst einmal ins Haus, Mama! Wir müssen das wirklich nicht hier draußen regeln.“

Schweigend folgte ich ihr ins Haus, wo sie sofort begann, Vorwürfe wie ein Maschinengewehr auf mich zu feuern. In ihren Augen war ich eine schlechte Tochter, die aus purem Egoismus handelte. Für sie war ich eine Person, deren Mutter, die sie unter Qualen zur Welt gebracht hatte, ihr vollkommen egal war. Sie sprach sogar von unterlassener Hilfeleistung, und dass ich froh sein sollte, dass sie deswegen nicht die Polizei gerufen hätte.

Das genervte Augenrollen konnte ich nur mit Mühe unterdrücken. Sie hatte eine merkwürdige Sichtweise, die ich nicht verstand. Um sie nicht weiter zu reizen, nickte ich, als hätte ich Verständnis für ihr Verhalten. Nur als sie damit anfing, ich sollte mir niemals einen Freund suchen, da dieser mir nur wehtun würde, konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen.

„Mama, nur weil Papa dich verlassen und damit verletzt hat, heißt das nicht, dass alle Männer so sind“, meinte ich, wobei ich um einen freundlichen Ton bemüht war.

„Talina, du bist so naiv. Ich spreche aus Erfahrung. Mich hat der Mann, von dem ich dachte, er würde mich lieben, verlassen. Ich will meine Tochter vor dieser Enttäuschung beschützen.“

„Du beschützt mich damit nicht; du nimmst mir die Luft zum Atmen“, entwich es mir unüberlegt.

„Talina, das nimmst du zurück!“, forderte sie mich keifend auf.

„Mama, ich will eigentlich sagen, dass du außer Papa keinen anderen geliebt hast. Deine Erfahrung basiert also genau auf einem Mann. Das ist nicht gerade ausreichend, um eine aussagekräftige Statistik aufzustellen.“

„Oh doch, kennst du einen, kennst du alle.“

Es war zwecklos, mit ihr darüber zu diskutieren. Ebenso gut konnte ich gegen Windmühlen kämpfen.

Ich entschied, mich die restliche Zeit zurückzuhalten, und lenkte das Gespräch auf ihre Arbeit, ein Thema, über das meine Mutter gerne mit mir redete. So erzählte sie von den Texten, die sie in letzter Zeit übersetzt hatte, während ich mich im Sessel zurücklehnte, und ihr zuhörte. Anderthalb Stunden wollte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Stella-Anien Holz
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2016
ISBN: 978-3-7396-6798-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Conny, Tim und Fabian. Danke, dass ihr mir immer mit Rat und Tat zur Seite steht. Freude lässt sich nur voll auskosten, wenn sich ein anderer mitfreut. (Mark Twain)

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