„Jasmin, ich muss mit dir reden“, begann Till, mein Freund, und ich wusste genau, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte.
„Worüber denn?“, erwiderte ich und lächelte ihn an, mein ungutes Gefühl im Bauch ignorierend.
„Jasmin, dir ist das Springreiten sehr wichtig.“
„Ja“, sagte ich eintönig und überlegte, worauf er hinaus wollte.
Springreiten war in der Tat wichtig für mich; es bestimmte mein ganzes Leben. Bereits meine Eltern waren begeisterte Springreiter gewesen, die sogar bei Olympia einige Medaillen gewonnen hatten.
Meine Mutter erzählte mir immer, dass ich reiten konnte, bevor ich überhaupt laufen konnte.
Mit zwölf Jahren erhielt ich mein eigenes Pferd, den Hannoveraner Excuse my Beauty, den ich allerdings nur Beauty oder auch liebevoll Knuffel nannte. Mit diesem Wallach, einem eleganten Apfelschimmel, wollte ich an den nächsten Olympischen Spielen teilnehmen. Da ich auf eine Medaille spekulierte, trainierte ich natürlich oft.
Leider hatte Till weder Zeit noch Lust, mich zu einer Trainingsstunde oder gar einem Turnier zu begleiten. Vielleicht änderte es sich jetzt; immerhin erkannte er, dass mir dieser Sport wichtig war. Konnte es tatsächlich sein, dass er seine Meinung änderte, und mir eine Freude bereiten wollte, indem er zu meinem nächsten Turnier kam?
„Jasmin, ich finde dein Hobby ziemlich kindisch.“
Wie war das? Ich hatte mich doch bestimmt verhört und hakte deswegen nach, was er eben gesagt hatte.
„Für dich dreht sich alles nur um Pferde; das finde ich sehr kindisch.“
Empört schnappte ich nach Luft und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist daran bitte kindisch?“
„Bist du nicht langsam zu alt, um dich für Pferde zu interessieren?“, fragte Till und sah mich herausfordernd an.
„Spinnst du?“, fauchte ich ihn wütend an. „Was soll das denn heißen? Zu alt, um sich für Pferde zu interessieren? Ich mache Springreiten, das ist genauso Sport wie dein Handball.“
„Für mich hast du kaum noch Zeit; ständig hängst du bei deinem dummen Gaul herum“, regte er sich auf, womit er mich richtig wütend machte.
„Knuffel ist kein dummer Gaul“, verteidigte ich mein Pferd. „Er ist ein Hannoveraner mit bester Abstammung.“
„Alleine der Name: Knuffel, so kindisch. Jasmin, ich mache Schluss.“
Daraufhin musste ich laut auflachen. „Du machst Schluss, weil du den Namen meines Pferdes kindisch findest?“
„Nein, ich finde dich im Allgemeinen zu kindisch. Meine Freundin soll nicht so unreif sein.“
„Und hast du schon eine neue Freundin in Aussicht?“ Meine Stimme sollte gehässig klingen, doch leider erinnerte sie eher an eine Maus.
„Nicht nur in Aussicht; ich habe bereits eine neue Freundin.“
Dieser Satz riss mir den Boden unter den Füßen fort, während ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
„Wer ist es?“, hakte ich nach, obwohl ich es besser nicht wissen sollte.
„Mona“, lautete die knappe Antwort, die mich endgültig aus der Fassung brachte.
Mona war einmal meine beste Freundin gewesen. Damals war sie genauso pferdeverrückt wie ich gewesen und hatte sich immer ein eigenes Pferd gewünscht. Irgendwann verschwand ihr Interesse am Reiten und sie widmete sich einem anderen Hobby, dem Schwimmen. So verbrachten wir immer weniger Zeit miteinander, bis sie mir mitteilte, dass ihrerseits kein Bedarf an der Fortführung unserer Freundschaft bestand. Ausgerechnet Mona hatte mir meinen Freund ausgespannt.
„Es tut mir leid“, stammelte er, als ob das die Situation verbessern würde.
Ich merkte, dass meine Augen feucht wurden, doch unter keinen Umständen wollte ich vor ihm weinen.
Wortlos drehte ich mich um und rannte fort, auch wenn er dieses Verhalten wahrscheinlich erst recht kindisch fand.
Beauty begrüßte mich wiehernd, als ich den Stall betrat. Langsam näherte ich mich ihm, öffnete seine Box und schlang meine Arme um seinen Hals.
Endlich konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen.
~ Zwei Wochen später ~
Die letzten beiden Wochen hatte ich heulend in meinem Zimmer gesessen. Hunger hatte ich keinen verspürt; nur weil meine Mutter mich quasi dazu gezwungen hatte, hatte ich ab und zu einen Happen zu mir genommen. Die einzige Freude bereiteten mir die Ausritte mit Beauty; nur dann verließ ich mein Zimmer.
Irgendwann schien es meine Mutter nicht mehr auszuhalten und meinte, ich sollte mich doch mit meinen Freunden treffen. Tja, Freunde hatte ich zwar, doch die Anzahl war recht überschaubar. Genau genommen hatte ich gerade einmal zwei Menschen, die ich auch wirklich als Freunde bezeichnen konnte: Lena und Moritz, die ich bereits seit dem Kindergarten kannte.
Im Moment waren Sommerferien und Lena verbrachte die gesamten sechs Wochen bei ihrer Oma auf Sylt. Also bliebe noch Moritz übrig, aber ich war mir nicht sicher, ob er mich überhaupt sehen wollte. Die Sache mit Till hatte einige Schichten meines Selbstbewusstseins abgekratzt, sodass ich mir inzwischen nicht einmal bei meinem besten Freund sicher war, ob er das Springreiten nicht auch kindisch fand. Meine Mutter sagte immer, dass man es nie herausfinden würde, wenn man es nicht versuchte.
Ja, sie hatte recht damit; außerdem war Moritz doch mein bester Freund. Noch nie hatte er angedeutet, dass es für ihn peinlich war, dass ich mich so sehr für Pferde interessierte. Er begleitete mich sogar mit Lena stets auf Turniere und die beiden feuerten mich an.
Ich kämpfte gegen meinen inneren Schweinehund an, der sich lieber wieder unter der Bettdecke verkrochen hätte, und ich errang den Sieg.
Nachdem ich tief durchgeatmet hatte, griff ich zum Telefonhörer und wählte Moritz´ Nummer.
„Quell“, meldete er sich.
„Hallo Moritz, ich bin´s, Jasmin.“ Ein Frosch hatte es sich plötzlich in meinem Hals gemütlich gemacht und ich musste mich räuspern.
„Jasmin, hallo. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“, erkundigte er sich und eine gewisse Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.
„Nein, alles in Ordnung“, log ich; die Wahrheit, dass für mich die Welt untergegangen war, wollte ich ihm nicht erzählen. „Ich dachte nur, wir könnten uns treffen. Es sind doch Ferien und wir fahren beide nicht in Urlaub.“
„Meine beiden Cousins aus Spanien sind gerade zu Besuch“, berichtete er mir und ich ahnte, dass er sich vermutlich nicht mit mir treffen wollte.
„Ach so, na dann“, murmelte ich nur; die Enttäuschung war leider schneller als mein Reflex, sie zu verbergen, sodass sie deutlich zu hören war.
„Ehrlich gesagt gehen sie mir ganz schön auf die Nerven. Möchtest du vielleicht vorbeikommen?“
Verwirrt bat ich ihn, die Frage zu wiederholen; bestimmt hatte ich mich verhört.
„Würdest du gerne vorbeikommen?“
Erleichtert nickte ich, auch wenn er das durch das Telefon natürlich nicht sehen konnte. „Gerne. Wann soll ich da sein?“
„Du kannst dich sofort auf den Weg machen, wenn dir das recht ist“, erwiderte er.
„Ist es, bis gleich.“ Ich legte auf und eilte zum Kleiderschrank, damit ich mir etwas anderes anziehen konnte.
Dabei fiel mein Blick in den Spiegel und ließ mich erschrocken zusammenzucken. War das wirklich ich, die mich so niedergeschlagen anschaute? Meine Haare glichen der einer Vogelscheuche und mein Gesicht war so blass wie ein Gespenst; dafür waren meine Augen vom vielen Weinen gerötet. Kurzum, ich sah einfach schrecklich aus.
Vierzehn Tage hatte ich keinen einzigen Blick in den Spiegel geworfen, nicht einmal, als ich mit Beauty ausgeritten war. Wozu auch, mein Pferd störte sich nicht daran, wie ich aussah; es war meinem Knuffel schlichtweg egal. Auf unseren Reitwegen begegnete uns auch niemals jemand; ich nahm gerne geheime Pfade.
Doch unter keinen Umständen konnte ich so unter Menschen treten. Hastig rannte ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Ich konnte förmlich spüren, wie nicht nur der Schmutz und Gestank, der an mir haftete, sondern auch ein klitzekleiner Anteil meiner Sorgen, fortgespült wurden.
Nachdem ich mein Lieblingskleid – grün und knielang – angezogen und meine Haare ordentlich gekämmt hatte, sah ich wieder einigermaßen passabel aus.
Es war nicht weit bis zu Moritz´ Haus, weswegen ich zu Fuß gehen konnte. Die Sonne zeigte sich heute von ihrer besten Seite und strahlte vom wolkenlosen Himmel. Wahrscheinlich würde ich mir einen schönen Sonnenbrand einfangen; leider hatte ich mich nicht eingecremt, obwohl ich diesbezüglich sehr empfindlich war und meine Haut schnell krebsrot wurde.
Gerade wollte ich klingeln, als die Tür geöffnet wurde und Moritz seinen Kopf herausstreckte. „Jasmin, hallo, komm doch herein!“
Aus dem Wohnzimmer hörte ich albernes Gelächter.
„Meine Cousins“, klärte er mich auf. „Die beiden machen sich über mich lustig, weil ich immer noch keine Freundin habe.“
Gemeinsam betraten wir den Raum, in dem sich seine Cousins vor lauter Lachen die Bäuche hielten.
„Was ist denn so lustig?“, fragte ich und sie sahen mich überrascht, aber auch erschrocken, an.
„Wer bist du denn?“, wollte einer der beiden wissen.
Ein plötzlicher Geistesblitz trieb mich dazu, meine Arme um Moritz zu legen und ihn zuckersüß anzustrahlen. „Ich bin Jasmin, seine Freundin.“
Der Ausdruck auf den Gesichtern seiner Cousins war wirklich zum Schießen.
„Was?“, war Moritz´ einzige Reaktion; der Gute war selbst ziemlich geschockt.
Lächelnd sah ich ihn an und griff nach seiner Hand, die ich fest drückte. „Du kannst es ruhig zugeben, Moritz.“
„Moritz hat doch keine Freundin; das hat er uns selbst erzählt“, erwiderte einer der Cousins schnaubend.
„Naja, wir sind frisch verliebt und wollen es eigentlich nicht an die große Glocke hängen“, log ich ohne mit der Wimper zu zucken; mein schlechtes Gewissen schien gerade ein gemütliches Nickerchen zu machen; ich spürte einfach nur Genugtuung.
„Woher kennt ihr euch?“
„Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten; zwischen uns gefunkt hat es jedoch erst vor ein paar Wochen.“ Irgendwie bereitete mir dieses Spiel eine gewisse Freude; vor allem ließ es mich die Trennung von Till vergessen.
„Was höre ich da? Ihr beiden seid zusammen?“ Plötzlich stand Frau Quell mit offenem Mund im Raum.
„Äh, äh“, stammelte Moritz nur, während ich wusste, dass ich jetzt keinen Rückzieher machen konnte.
Nein, ich musste jetzt weiter seine Freundin spielen.
„Ja, es ist noch ganz frisch“, erzählte ich auch ihr.
„Warum hast du mir denn nichts erzählt, Moritz?“, wandte sich Frau Quell an ihren Sohn.
„Bis vorhin habe ich das selbst noch nicht gewusst“, wisperte er so leise, dass vermutlich nur ich es verstanden hatte.
„Was hast du da eben in deinen Bart genuschelt?“, hakte Moritz´ Mutter nach.
„Ich“, begann er, doch ich unterbrach ihn sofort. „Wir wollten eigentlich abwarten, wie sich alles entwickelt.“
Frau Quell klatschte in die Hände. „Das ist richtig schön, dass ihr ein Paar seid. Ich habe ja schon immer gedacht, dass ihr beiden gut zusammenpasst.“
Aufgeregt rief sie nach ihrem Mann. „Thomas, komm mal her! Das wirst du nicht glauben.“
„Was ist denn, Svenja?“ Herr Quell stürmte ins Wohnzimmer, als wäre eine Horde wilder Bären hinter ihm her.
„Moritz und Jasmin sind ein Paar“, fiel sie sofort mit der Tür ins Haus.
„Svenja, dafür rufst du mich? Ich dachte schon, es wäre etwas Schlimmes passiert.“ Lachend schüttelte er den Kopf.
„Ist es nicht großartig? Gestern hatten wir noch die Befürchtung, er würde niemals eine Freundin finden.“ Frau Quell steigerte sich richtig in die Sache hinein; hoffentlich hatte sie nicht vor, noch heute das Aufgebot zu bestellen.
Zuzutrauen war es ihr, so euphorisch, wie sie sich gerade zeigte.
Moritz dagegen fühlte sich sichtlich unbehaglich; er rutschte auf der Couch wie auf Glatteis hin und her, wobei er stumm wie ein Fisch blieb.
„Könnte ich mit Jasmin einen Augenblick unter vier Augen sprechen?“, fand er endlich seine Sprache wieder.
Frau Quell nickte eifrig. „Oh, wir verstehen. Geht ruhig in dein Zimmer! Aber ihr wisst doch bestimmt, dass… also Oma will ich noch nicht werden.“
Moritz und ich verschluckten uns beide und mussten heftig husten.
„Bist du verrückt, meiner Familie zu erzählen, dass wir zusammen sind?“ Wütend stapfte er in seinem Zimmer auf und ab, während ich versuchte, ihn wieder zu beruhigen.
„Moritz, es tut mir leid, aber du hast doch gesagt, dass dich deine Cousins ärgern, weil du mit achtzehn Jahren immer noch keine Freundin hast.“
„Und was ist mit Till? Wenn er das erfährt, kann ich von Glück reden, wenn ich mit einem Veilchen davonkomme.“
Oh, das hatte ich ganz vergessen; Moritz wusste gar nicht, dass Till schon vor zwei Wochen mit mir Schluss gemacht hatte. In dieser Zeit hatte ich ja den Kontakt zur Außenwelt vermieden und mich heulend in meinem Brett verkrochen.
„Till hat mich für Mona verlassen; im Moment habe ich also keinen Freund“, klärte ich ihn seufzend auf und merkte, wie sich mein Herz vor Schmerzen ein wenig zusammenzog.
Ob ich wohl jemals über Till hinwegkommen würde?
„Für Mona, diese Zicke?“ Mit offenem Mund starrte mich Moritz an und ich nickte.
„Aber warum? Und warum ausgerechnet diese Person?“, wollte er wissen, wobei er das Wort Person voller Verachtung aussprach.
„Er meinte, ich wäre zu kindisch, weil ich gerne reite. Mona ist da eben anders; sie zieht gerne Kleider und hochhackige Schuhe an, während ich mich am wohlsten in einfachen Shirts und Turnschuhen fühle“, erzählte ich ihm.
„Jasmin, dein Hobby ist doch nicht kindisch. Ich wünschte, ich wäre in irgendetwas so gut wie du. Hör nicht auf diesen Idioten! Spätestens, wenn du die Goldmedaille um deinen Hals hängen hast, wird er begreifen, was für einen Fehler er gemacht hat.“
Daraufhin musste ich lächeln; Moritz wusste nur allzu gut, wie er mich aufmuntern konnte. „Du glaubst, ich könnte Gold bei Olympia gewinnen?“
„Du kannst doch alles erreichen, was du willst; du hast die Motivation und das Talent dazu.“
Wider Willen wurde ich leicht rot; so viel Lob hatte mir noch niemand entgegen gebracht; selbst meine Eltern nicht, die wollten, dass ich bodenständig blieb und nach einem Sieg nicht größenwahnsinnig wurde. Ja, ich wurde von ihnen gelobt, wenn ich etwas gut gemacht hatte, doch nicht zu überschwänglich.
„Jetzt hör aber auf mit den Lobeshymnen! So gut bin ich dann doch nicht; ich bin schon froh, wenn ich es überhaupt zu Olympia schaffe“, wiegelte ich ab, auch wenn ich hoffte, dort eine Medaille zu gewinnen, und wechselte schnell das Thema. „Wie machen wir das jetzt eigentlich? Sind wir für deine Familie ein Paar?“
„Weißt du was? Ich glaube, das ist vielleicht gar nicht so eine schlechte Idee. Wer kann schon behaupten, dass er eine erfolgreiche Nachwuchs-Springreiterin zur festen Freundin hat? Damit kannst du auch Till eifersüchtig machen; vielleicht kommt er dann wieder zu dir zurück.“
Natürlich hatte ich mir vorgestellt, dass Till erkennen würde, dass Mona eine (verzeiht meine Ausdrucksweise!) blöde Kuh war, und sie in den Wind schießen würde, um wieder mit mir zusammenzukommen. Doch wäre es in der Praxis so einfach? Könnte ich ihn mit Moritz eifersüchtig machen? Würde er wirklich mit Mona Schluss machen? Hätte ich bald wieder einen Freund, also einen richtigen, festen Freund? Die Gedanken rasten wie Rennautos in meinem Kopf. Zu verlieren hatte ich nichts, also konnten Moritz und ich auch vor allen anderen ein glückliches, verliebtes Paar spielen.
„Ja, das klingt gut. Wir werden allen eine glückliche Beziehung vorspielen“, sagte ich und lächelte ihn an, bevor wir wieder nach unten ins Wohnzimmer gingen – mein Fake-Freund und ich.
„Wir sollten uns zusammen am Baggersee sehen lassen“, meinte ich, als wir später alleine im Wintergarten saßen.
Moritz schien davon nicht gerade begeistert zu sein. „Muss das sein?“
„Wie soll Till mich denn sonst mit dir sehen? Außerdem ist das Wetter zu schön, um im Haus zu hocken. Lass uns schwimmen gehen!“, versuchte ich ihn umzustimmen.
„Na schön, du hast gewonnen. Hast du Badekleidung dabei?“, gab er schließlich nach.
„Ich laufe schnell nach Hause und hole meine Badesachen. Wir treffen uns dann in einer halben Stunde am Baggersee.“
Moritz stimmte mir nickend zu und ich verabschiedete mich winkend. „Bis gleich dann.“
Wie von der Tarantel gestochen, rannte ich nach Hause, um meinen Bikini, Sonnencreme, Sonnenbrille und ein Badetuch zu holen, was ich hastig in meine Sommertasche stopfte. Meine Flip Flops fand ich allerdings nicht und musste eine ganze Weile danach suchen, als plötzlich Balto, mein Gordon Setter, mit einem Badeschuh im Maul auf mich zutrottete.
„Balto, aus!“, befahl ich streng und mein Hund ließ ihn sofort fallen.
Leider war er nicht mehr zu gebrauchen; dafür war er viel zu zerkaut. Verärgert, da ich schon zu viel Zeit verloren hatte, entschied ich, dass die Ballerinas reichen mussten. Es war zu spät, noch schnell in den Laden zu laufen, und mir neue Flip Flops zu kaufen.
Balto leise verfluchend, eilte ich in den Keller, wo mein Fahrrad stand. Zum Glück hatte es keinen Platten; das hätte mir gerade noch gefehlt. So kräftig ich konnte, trat ich in die Pedalen, und kam nass geschwitzt am Baggersee an. Warum hatte ich auch das Deo vergessen? So würde sich Till nur über mich lustig machen.
Natürlich war er am – oder besser gesagt – im See und spritze Mona nass, die wie ein kleines Mädchen kreischte. Na toll, auf so jemand stand Till, der wieder einmal zum Anbeißen gut aussah, auch wenn Lena mich immer gefragt hatte, was ich ausgerechnet an ihm fand. So gutaussehend wäre er gar nicht, meinte sie, doch ich konnte ihr da nicht zustimmen.
„Jasmin, da bist du ja.“ Moritz stürmte auf mich zu und umarmte mich zaghaft.
Unauffällig blinzelte ich zu den anderen und bemerkte, dass alle Blicke – außer Tills und Monas – auf uns gerichtet waren.
„Moritz, mein Schatz“, rief ich laut, in der Hoffnung, Tills Aufmerksamkeit zu gewinnen.
„Du musst mich jetzt küssen“, flüsterte ich Moritz zu, was ich zweimal wiederholen musste, bis er es verstanden hatte.
Der Kuss war seltsam, ganz anders als Tills Küsse; ich merkte, dass ich für Moritz nur freundschaftliche Gefühle hegte.
Mein Fahrrad sicherte ich mit der Kette und schlenderte anschließend Hand und Hand mit Moritz zum See. Inzwischen hatten Till und Mona ihre Plantschspielereien aufgegeben und starrten uns an. Ich versuchte, Moritz möglichst verliebte Blicke zuzuwerfen, was mir gelang, da ich mir vorstellte, dass Till derjenige war, der gerade neben mir ging.
Sabrina, eine Klassenkameradin von uns, stapfte neugierig auf uns zu. „Was läuft denn da zwischen euch?“
Was für eine blöde Frage, dachte ich, sprach es jedoch nicht laut aus.
„Tja, Überraschung, Moritz und ich sind zusammen“, antwortete ich stattdessen und lächelte.
„Seit wann?“, mischte sich Helena, ihre beste Freundin, ein.
„Seit einer Woche“, erwiderte ich und drückte fest Moritz´ Hand, der daraufhin nickte.
Mona näherte sich uns, wobei sie Till fest umklammert hielt. „Was ist hier denn los?“
„Stell dir vor, Jasmin und Moritz sind zusammen“, erzählte ihr Sabrina.
„Zusammen?“ Monas Tonfall war mehr als verächtlich; herablassend blickte sie uns an.
Der gelbe Bikini stand ihr ausgezeichnet und unterstrich ihre natürliche Bräune, die sie ihrem italienischen Vater zu verdanken hatte. Sie war eine ausgesprochene Schönheit, das musste ich neidvoll zugeben. Ihre langen, dunkelbraunen Haare waren leicht gewellt und völlig frei von Spliss, was ich von mir nicht behaupten konnte. Warum konnte sie nicht wenigstens dumm sein? Warum musste sie auch noch eine ziemlich gute Schülerin sein? Manchmal war das Leben ungerecht. Plötzlich fühlte ich mich unwohl in meiner Haut. Vereinzelte Strähnen klebten in meinem Gesicht und der Schweiß lief in Strömen meinen Rücken herunter. Ich musste endlich aus diesem Kleid heraus und mich ins kühle Nass stürzen, doch zuerst musste ich mich umziehen; mein Bikini war ja immer noch in meiner Tasche.
„Ja, wir sind zusammen. Hast du ein Problem damit?“, entgegnete ich und hoffte, dass meine Stimme gefestigt klang.
„Nein, irgendwie passt ihr ja zusammen.“ Gehässig grinste sie mich an, während sie über Tills nackten Bauch strich, was mich beinahe aus der Fassung brachte.
Am liebsten hätte ich sie an ihren splissfreien Haaren ins Wasser gezogen und ertränkt. Diese Vorstellung ließ mich erschaudern; so weit war es schon mit mir gekommen, dass ich Mordgedanken hatte.
„Du bist mit Mo-Po zusammen?“ Till schaute mir direkt in die Augen und ich versuchte zwanghaft, mit ihm Blickkontakt zu halten.
„Nenn ihn nicht so! Sein Name ist Moritz“, verteidigte ich Moritz. „Aber ja, wir sind zusammen.“
„Ich dachte eigentlich, du hättest einen besseren Geschmack diesbezüglich“, meinte Till.
„Tja, dass ich anscheinend einen schlechten Geschmack habe, habe ich bestens unter Beweis gestellt, als ich mit dir zusammen war“, konterte ich. „Ich bin überglücklich mit Moritz und liebe ihn. Er gibt mir das, was du mir nicht geben kannst.“ Langsam beugte ich mich zu Moritz und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Ach ja, was denn? Herpes?“, sagte Till, womit er alle anderen zum Lachen brachte.
Dann nahm er Mona fest in seine Arme und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss, was mir einen Stich versetzte.
Anscheinend konnte ich es vergessen, Till mit Moritz eifersüchtig zu machen.
Traurig wandte ich mich ab und murmelte: „Ich gehe mich umziehen; ich will schwimmen gehen.“
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2016
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