„Mensch: das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, was Grund dazu hat.“
Dieses Zitat von Mark Twain tanzte vor meinem inneren Auge, während mein schlechtes Gewissen sämtliche meiner Organe piesackte.
Im Moment hatte ich allen Grund, zu erröten, mich zu schämen.
Dabei hatte ich damals noch geglaubt, dass ich nicht so eine Person wäre…
Gemeinsam mit Sarah, meiner besten Freundin, schlenderte ich in der Fußgängerzone an den Geschäften vorbei. Ab und zu blieben wir stehen und sahen uns die Schaufenster genauer an.
Für den achtzigsten Geburtstag meiner Großmutter Theudelinde brauchte ich noch ein schönes Kleid. Welche Farbe es haben sollte, wusste ich bereits; es musste unbedingt orange sein, denn das war meine Lieblingsfarbe. Überhaupt mochte ich es bunt; eine Welt ohne Farben konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Plötzlich sichtete ich mein Traumkleid, von dem ich magisch angezogen wurde. Ohne auf Sarah, die gerade eine Freundin von ihr entdeckt hatte und ihr eifrig zuwinkte, zu achten, betrat ich den Laden und steuerte zielstrebig auf das Kleidungsstück zu.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, sprach mich eine Verkäuferin an.
„Ja, ich hätte gerne das schöne Kleid in Orange, das im Schaufenster ausgestellt ist“, antwortete ich, in freudiger Erwartung, es endlich am Körper zu tragen.
„Ich vermute, Sie tragen Größe 38“, meinte die Verkäuferin, was ich mit einem zaghaften Nicken quittierte.
Sie versprach, im Lager nach meiner Größe zu suchen, während ich meinen Blick durch das Geschäft schweifen ließ. Als ich mich selbst in einem Spiegel sah, schaute ich genauer hin, und ein gewisser Stolz strömte durch meine Adern. Noch vor einem Jahr hatte ich Kleidergröße 44 getragen und mich nicht sehr wohl gefühlt, weshalb ich mich bei einem Zumba-Kurs angemeldet und meine Ernährung umgestellt hatte. Seitdem waren die Pfunde gepurzelt, und ich hatte inzwischen mein Wohlfühlgewicht erreicht.
„Talina, hier bist du. Ich habe mich nur eben kurz mit Daniela unterhalten, und plötzlich warst du verschwunden.“ Sarah stürmte gehetzt auf mich zu, die Wangen gerötet, was bei ihr immer der Fall war, wenn sie sich aufregte.
„Sarah, ich habe das ideale Kleid für Omas Geburtstag gefunden. Es ist knielang, im 50er-Jahre-Stil geschnitten, orange, einfach perfekt, ein Traum“, schwärmte ich ihr vor.
„Schön, du hättest trotzdem Bescheid sagen können.“ Schnaufend verschränkte sie die Arme vor der Brust – typisch für sie; Sarah war schnell beleidigt, blieb jedoch nicht lange wütend.
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich hastig, als die Verkäuferin mit dem Kleid zurückkam.
„Bitteschön, ein Kleid haben wir noch in Ihrer Größe.“
Überglücklich nahm ich es entgegen und machte mich voller Euphorie auf den Weg zu den Umkleidekabinen.
Das Kleid schmiegte sich perfekt an meinen Körper, und ich fühlte mich sofort wohl darin. Ich zog den Vorhang zur Seite und trat hervor, um mich Sarah zu zeigen.
„Es ist wie gemacht für dich.“ Meine beste Freundin klatschte begeistert in die Hände.
„Ja, am liebsten würde ich es gleich anbehalten“, erwiderte ich und drehte mich schwungvoll im Kreis. „Ich kaufe es auf jeden Fall.“
Nachdem ich wieder meine Alltagskleidung trug, ging ich zur Kasse und kramte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche.
„Das macht dann 119,90 €“, sagte die Verkäuferin, wodurch ich tief Luft holen musste; auf den Preis hatte ich überhaupt nicht geachtet.
So viel Geld hatte ich nicht dabei; meine Mutter hatte mir einhundert Euro mitgegeben. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, maximal die Hälfte für ein Kleid auszugeben und den Rest zu sparen.
„Kann man da vielleicht noch etwas am Preis machen?“, versuchte ich, zu handeln.
„Einen Moment, bitte.“ Sie rief nach einer Frau Blume, die kurz darauf erschien.
„Guten Tag“, begrüßte sie mich, und ich schilderte ihr die Situation.
„Wir können den Preis auf 109,90 € senken“, teilte mir Frau Blume mit.
Enttäuscht erklärte ich, dass ich leider nicht genug dabeihatte. Sarah bot an, mir das restliche Geld zu leihen, wofür ich sie dankbar umarmte.
Meine Augen strahlten, als mir die Tüte mit dem Kleid überreicht wurde.
„Danke, Sarah, du hast meinen Tag gerettet“, seufzte ich, als wir den Laden verließen.
„Schon in Ordnung, das habe ich doch gerne gemacht.“
„Ich werde dir das Geld schnellstmöglich zurückzahlen“, versprach ich ihr. „Ach, Sarah, das wird so toll am Samstag; wir werden jede Menge Spaß auf dem Geburtstag haben.“
Ein Schatten huschte über Sarahs Gesicht, und sie wandte den Kopf ab. „Ähm, also, ich kann am Samstag leider nicht.“
„Was?“ Geschockt sah ich sie an, doch sie traute sich nicht, mit mir Blickkontakt aufzunehmen.
„Davids Band hat am Samstag einen Auftritt; ich soll ihn dabei unterstützen“, erzählte sie; ihr Gesicht hatte die Farbe einer vollreifen Tomate angenommen.
„Das glaube ich nicht. Warum hast du mir das nicht gesagt?“, regte ich mich auf.
„Talina, es tut mir leid. Der Auftritt sollte eigentlich am Freitag stattfinden. Daniela hat mir gerade erzählt, dass er auf Samstag verschoben worden ist. Ich hatte bis eben selbst keine Ahnung; David hat es mir auch nicht gesagt“, versuchte sie, mich zu beschwichtigen.
Meine Enttäuschung, dass sie nicht auf den Geburtstag meiner Großmutter kam, versuchte ich, so gut ich konnte, zu verbergen.
David war Sarahs Freund; die beiden waren bereits seit zwei Jahren ein Paar. Genau wie Danielas Freund Robin war er in einer Hard Rock-Band; David spielte Gitarre und Robin Bass.
Sarah hatte mich schon einige Male zu überreden versucht, dass ich sie doch einmal zu einem der Auftritte begleiten sollte. Allerdings war Hard Rock überhaupt nichts für mich; ich bevorzugte die leisen Töne und hörte am liebsten Balladen und Soul. Instrumente konnte ich auch spielen, Klarinette und Kontrabass. Seit ich sieben Jahre alt war, sang ich außerdem im Chor, jedoch nur als Backgroundsängerin. Ich war keine Person, die gerne im Mittelpunkt, und schon gar nicht im Rampenlicht, stand. Deswegen käme es auch nie für mich in Frage, in einer Band zu spielen, erst recht nicht in einer Hard Rock-Band. Für mich war das keine Musik, sondern einfach nur Krach.
Auf dem Nachhauseweg überfiel mich das schlechte Gewissen; immerhin hatte das Kleid ein Drittel meines monatlichen Azubi-Gehaltes gekostet. Als Steuerfachangestellte im ersten Ausbildungsjahr verdiente ich nicht gerade viel, um nicht zu sagen, kaum etwas. So gerne würde ich endlich in eine eigene Wohnung ziehen, doch leider konnte ich es mir einfach nicht leisten.
Mein Handy klingelte und zeigte eine eingegangene SMS an; sie war von Vanessa, die von allen jedoch bloß Nessi genannt wurde.
Talina, wo bleibst du denn? Deine Stunde läuft schon seit zwanzig Minuten.
Hektisch warf ich einen Blick auf die Uhr; tatsächlich war ich zu spät für die Musikstunde. Nessis Mutter war Musiklehrerin und gab mir Klarinetten- und Kontrabass-Unterricht. Ihr Vater leitete den Chor. Damals hatte er mich zu einer Probestunde eingeladen, was mir so Spaß bereitet hatte, dass ich seitdem so gut wie keine Stunde verpasst hatte.
Meine Mutter war davon nicht gerade begeistert; mit Musik wollte sie nichts zu tun haben. Dabei war mein Vater sogar Mitglied einer Band, doch er hatte uns verlassen, als ich gerade vier Jahre alt gewesen war, weil er auf den großen Durchbruch gehofft hatte, und wir für ihn ein Klotz am Bein gewesen waren. Auf den großen Durchbruch hoffte er immer noch.
Meiner Großmutter hatte ich es zu verdanken, dass ich Instrumente spielen und singen durfte, denn sie unterstützte mich, so gut sie konnte.
Während des Gehens tippte ich schnell eine Antwort ein.
Tut mir leid, ich musste noch ein Kleid für Omas Geburtstag kaufen. Ich komme jetzt sofort zu euch.
„Sarah, ich muss mich beeilen; ich habe die Musikstunde komplett vergessen“, entschuldigte ich mich bei meiner besten Freundin.
„Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die vergesslich ist. Talina, schon in Ordnung. Geh!“ Sarah lächelte mich aufmunternd an; ihre dunkelbraunen Augen sahen mich freundlich an und zeigten mir, dass sie nicht wütend auf mich war.
Zum Abschied umarmte ich sie, winkte ihr noch einmal zu und rannte zur U-Bahn-Station.
Völlig außer Atem erreichte ich schließlich Nessis Haus, wo ich erst einmal durchschnaufen musste.
„Hallo Talina, da bist du ja“, begrüßte mich Frau Rose, Nessis Mutter.
„Es tut mir so leid; ich habe es vergessen.“ Das schlechte Gewissen konnte man mir deutlich ansehen; es war mir ins Gesicht geschrieben.
„Schon in Ordnung, Talina. Komm doch herein!“
Fast schon schüchtern trat ich ein und folgte ihr in den schallisolierten Raum, in dem der Unterricht stattfand.
Die Instrumente, die ich spielte, gehörten Frau Rose; eine eigene Klarinette oder ein eigener Kontrabass war mir einfach zu teuer. Da meine Mutter meine Hobbys nicht guthieß, konnte ich von ihr hierfür keinen Zuschuss erwarten; meine Großmutter hätte mir sofort ein Instrument gekauft, doch das fand ich zu viel. Schließlich finanzierte sie mir bereits den Unterricht; da wollte ich ihr nicht noch mehr auf der Tasche liegen.
Heute war ich nicht ganz bei der Sache, was Frau Rose nicht unbemerkt blieb.
„Stimmt irgendetwas nicht, Talina?“, fragte sie besorgt nach.
„Es ist alles in Ordnung, Frau Rose“, antwortete ich, wobei ich selbst nicht wusste, ob das stimmte.
Vermutlich war es die Enttäuschung darüber, dass mich Sarah nicht auf den Geburtstag begleitete. Natürlich konnte ich sie verstehen, dass sie lieber den Auftritt ihres Freundes besuchen wollte, als mit achtzigjährigen Rentnern den Samstag zu verbringen.
„Na ja, ich glaube, das macht keinen Sinn mehr. Machen wir also Schluss für heute. Wir sehen uns dann nächste Woche.“ Frau Rose erhob sich und streckte mir ihre Hand entgegen, die ich zögerlich ergriff.
Normalerweise übte ich jeweils fünfundvierzig Minuten pro Instrument mit ihr.
„Es tut mir leid, dass ich Ihre Zeit verschwendet habe.“
„Du hast doch nicht meine Zeit verschwendet. Ich merke bloß, dass du heute nicht so fit bist.“
Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Erst erschien ich viel zu spät zur Stunde; dann verspielte ich mich andauernd. Wenn es Frau Rose ärgerte, so zeigte sie es jedenfalls nicht.
Müde und niedergeschlagen schlurfte ich nach Hause. „Mama, ich bin da.“
„Hast du ein schönes Kleid gefunden?“, rief mir meine Mutter zu, deren Stimme aus dem Wohnzimmer drang.
Die Tüte mit dem Kleid fest in der Hand, stiefelte ich zu ihr und zeigte ihr meinen Kauf. „Ist es nicht schön?“
„Orange“, war die einzige Reaktion meiner Mutter.
Zustimmend nickte ich. „Ja, es ist eben meine Lieblingsfarbe.“
„Konntest du nicht ein Kleid in einer etwas unauffälligeren Farbe aussuchen? Es ist Oma Theudis achtzigster Geburtstag. Du wirst damit auffallen wie ein bunter Hund.“
„Vielleicht möchte ich ja auffallen wie ein bunter Hund“, konterte ich und packte das Kleid wieder in die Tüte, als es an der Haustür klingelte.
„Hast du jemanden eingeladen?“, wollte sie von mir wissen.
„Nein, habe ich nicht“, erwiderte ich schulterzuckend und eilte zur Tür, um zu öffnen.
Der Besuch, oder besser gesagt, die Besucherin, war meine Großmutter, die mich stürmisch umarmte. „Talina, meine Große.“
„Oma, schön, dich zu sehen.“ Schlagartig änderte sich meine Laune, und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen.
„Ich habe großartige Neuigkeiten für dich. Darf ich denn hereinkommen?“
„Klar, Oma. Ich habe endlich ein schönes Kleid für deinen Geburtstag gefunden“, berichtete ich ihr und zog sie mit mir ins Wohnzimmer.
„120 Euro für ein Kleid? Talina, bist du denn noch bei Trost?“ Vorwurfsvoll schaute mich meine Mutter, die das Preisschild entdeckt hatte, an.
„Mama, lass mich erklären! Ich habe mich unsterblich in dieses Kleid verliebt“, versuchte ich, sie zu besänftigen.
„Kerstin, reg dich doch nicht so auf!“
„Mutter, misch dich da nicht ein! Voller Vertrauen habe ich deiner Enkelin einhundert Euro mitgegeben, und sie missbraucht dieses Vertrauen, indem sie ein schreckliches Kleid für 120 Euro kauft.“ Vor lauter Aufregung hatte meine Mutter rote Flecken im Gesicht.
Wenn ich jetzt anmerken würde, dass es nur 110 Euro gekostet hatte, würde sie komplett ausrasten.
„Warum siehst du darin einen Vertrauensmissbrauch? Das ist unlogisch“, meinte meine Großmutter dazu, womit sie recht hatte.
Was meine Mutter da eben gesagt hatte, machte überhaupt keinen Sinn.
„Sieh dir das Kleid doch an! Es ist abscheulich.“
Enttäuscht senkte ich den Blick. Ich hatte mir schon gedacht, dass sie nicht in Jubelgesänge über das Kleid ausbrechen würde. Dass sie aber so gemein wurde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Meine Großmutter, die für ihr Alter noch erstaunlich fit war, betrachtete das Kleid genauer. „Mir gefällt es sehr gut. Talina, du siehst bestimmt wunderschön in diesem Kleid aus.“
„Trotzdem finde ich es viel zu teuer; wenn das Kleid wenigstens schön wäre.“ Meine Mutter schien sich nicht zu beruhigen.
„Weißt du was, Kerstin? Ich werde das Kleid bezahlen; dann hast du auch keinen Grund mehr, dich aufzuregen.“ Meine Großmutter zückte bereits ihren Geldbeutel, als meine Mutter abwehrend ihre Hände hob.
„Oh nein, Mutter, das wirst du nicht. Du verwöhnst Talina sowieso schon genug, bezahlst ihr diese unnützen Musikstunden.“
„Sie sind nicht unnütz, sie machen mir Spaß“, rechtfertigte ich mich, und meine Großmutter stimmte mir nickend zu.
„Talina hat recht. Ihr macht die Musik Spaß. Du solltest sie unterstützen, statt ihr Vorwürfe zu machen.“
„Denkst du, ich möchte, dass sie so wie ihr Vater enden wird? Er hatte diesen verrückten Traum, von der Musik leben zu können, und dafür seine Familie verlassen. Gebracht hat es ihm rein gar nichts.“
„Ich glaube es nicht, dass du nach all den Jahren immer noch nicht über Florian hinweg bist. Nur weil er dich verlassen hat, um mit seiner Band durchzustarten, verbietest du deiner Tochter die Musik. Das ändert nichts an der Situation, und dadurch kommt er auch nicht zu dir zurück.“
„Er hat nicht nur mich verlassen, sondern auch seine erst vierjährige Tochter.“
„Ich weiß; trotzdem solltest du ihr nicht etwas verbieten, das sie wirklich mag.“
Da ich ahnte, dass diese Diskussion noch ein wenig dauern konnte, wechselte ich schnell das Thema. „Oma, du hast doch von großartigen Neuigkeiten gesprochen.“
„Ach ja, stimmt. Also, du hast mir doch erzählt, dass du gerne ausziehen würdest“, begann meine Großmutter, wurde von meiner Mutter jedoch sofort unterbrochen.
„Was soll das heißen? Talina will doch nicht ausziehen.“
„Nun ja“, druckste ich herum, weil ich meine Mutter nicht verletzen wollte.
„Doch, Talina möchte ausziehen, und ich habe eine Wohnung für sie.“
„Mutter, du wirst ihr doch nicht etwa die Miete für eine Wohnung zahlen?“
„Keine Sorge, meine Tochter, das kann Talina ganz allein.“ Meine Großmutter lächelte mich freundlich an, während ich nur geschockt den Kopf schüttelte.
„Oma, ich kann mir bestimmt keine Miete leisten.“
„Doch, du wirst nämlich in eine WG einziehen.“
„Eine WG?“, erwiderten meine Mutter und ich wie aus einem Mund.
„Die Enkeltochter meiner besten Freundin Gertrude wohnt in einer WG. Gerade ist dort ein Mädchen ausgezogen, und sie suchen dringend eine Nachmieterin“, erzählte meine Großmutter.
„Wo ist denn die WG?“, hakte ich nach.
„In der Hafenstraße; dann kannst du auch zu Fuß zur Arbeit gehen. Da in der WG noch drei weitere Mädchen wohnen, beträgt dein Anteil an der Miete nur ein Viertel.“
Das klang zu schön, um wahr zu sein. Überglücklich fiel ich ihr um den Hals, doch als ich den Ausdruck im Gesicht meiner Mutter erkannte, wurde meine Freude etwas getrübt.
„Du verlässt mich also“, murmelte sie und die Enttäuschung war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören.
Manchmal schien sie zu vergessen, dass ich bereits achtzehn und kein kleines Kind mehr war.
„Mama, ich ziehe bloß aus; das bedeutet doch nicht, dass ich dich verlasse. Ich werde dich oft besuchen; das verspreche ich dir.“
„Hallo, du musst Tatjana sein.“ Das Mädchen, das mir die Tür öffnete, lächelte mich freundlich an.
„Nicht ganz, mein Name ist Talina“, verbesserte ich sie und streckte ihr meine Hand entgegen.
„Entschuldige, Talina. Das ist aber ein ungewöhnlicher Name; den habe ich jedenfalls noch nicht gehört. Ich heiße Kim-Sophie, aber bitte nenn mich nur Sophie! Komm herein! Ich zeige dir das Zimmer.“
In ihren mörderhohen High Heels stöckelte sie selbstsicher voran, und ich folgte ihr nachdenklich. Ob ich mich mit ihr und den anderen beiden Mädchen verstehen würde?
Das Zimmer, das für mich bestimmt war, war vielleicht nicht gerade groß, aber gemütlich – und ich hatte es für mich allein.
Neben den vier Schlafzimmern gab es noch eine Küche, ein Bad und ein Wohnzimmer.
„Sophie, ist sie schon da?“, rief eine glockenhelle Stimme; kurz darauf erschienen zwei Mädchen in der Küche, in der Sophie und ich gerade saßen und Kekse aßen.
„Ja, das ist Talina, unsere neue Mitbewohnerin – also, wenn sie das möchte“, entgegnete Sophie und stellte uns gegenseitig vor.
Annika hatte lange, braune Haare mit roten Strähnchen, blaue Augen, und ein Drachentattoo zierte ihren linken Arm, während Ronja lockige, hellblonde Haare und grüne Augen hatte. Sophies Haare waren kurz und schwarz und ihre Augen braun.
Eine Weile unterhielten wir uns und ich beschloss, die drei sympathisch zu finden; ich konnte mir gut vorstellen, mit ihnen in einer WG zu wohnen.
„Und, was sagst du, Talina?“, wollte Ronja wissen und plötzlich waren alle Augen auf mich gerichtet.
„Ich denke, ich nehme das Zimmer.“ Mein ganzer Körper kribbelte vor lauter Glücksgefühlen; es war einfach zu schön, um wahr zu sein.
„Wir finden, du passt gut zu uns“, meinte Annika nickend.
Sophie stimmte ihr zu und wandte sich mir zu. „Dein Mietanteil beträgt 250 Euro.“
Geschockt hielt ich die Luft an; das war viel zu viel für mich. Wie sollte ich meinen Mietanteil zahlen, wenn ich gerade einmal 350 Euro im Monat verdiente? Nein, ich hätte es wissen müssen; es war tatsächlich zu schön, als dass es wahr sein konnte.
„Stimmt irgendetwas nicht?“, erkundigte sich Sophie.
Mein Gesicht hatte sich inzwischen vermutlich rot gefärbt, da ich immer noch nicht atmete. Annika stupste mich an, und ich stieß die Luft geräuschvoll aus.
„Das, also, ähm, d…d… das ist mir zu teuer“, gestand ich stotternd und schämte mich.
„Deine Großmutter hat gesagt, dass es in Ordnung geht“, sagte Sophie und warf einen strengen Blick zu Ronja, die sich gerade eine Zigarette anzünden wollte. „Ronja, du weißt genau, dass ich nicht will, dass du in der Wohnung rauchst. Geh auf den Balkon!“
Ronja murmelte irgendetwas Unverständliches, erhob sich jedoch und stiefelte auf den Balkon.
„Rauchst du?“, fragte mich Annika.
Skeptisch schaute ich sie an. „Ist das jetzt eine Fangfrage?“
„Nein, ich würde es nur gerne wissen.“
„Nein, ich bin höchstens Passivraucher.“
Sophie klatschte in die Hände. „Zum Glück, eine Raucherin als Mitbewohnerin reicht mir vollkommen.“
„Oma, du hast doch gesagt, dass ich mir die Wohnung leisten kann. Das stimmt aber nicht; mein Mietanteil wäre 250 Euro. Das ist mir etwas zu viel.“ Sophie, Annika und Ronja hatte ich gebeten, mich einen Moment zu entschuldigen, damit ich meine Großmutter anrufen konnte.
„Ich werde dir natürlich einen kleinen Zuschuss geben.“
„Nein, Oma, das wirst du nicht. Du bezahlst schon die Musikstunden. Was meinst du überhaupt mit kleinem Zuschuss? Du hast doch nicht vor, den kompletten Anteil zu tragen.“
Meine Großmutter lachte; es war ein warmes, freundliches Lachen. „Ich würde dir jeden Monat 150 Euro dazugeben.“
Daraufhin musste ich heftig schlucken. „Oma, das ist viel zu viel.“
„Lass mir doch die Freude!“, bat sie mich.
Bevor sie weitersprechen konnte, unterbrach ich sie. „Oma, es ist dir eine Freude, mir Geld zu geben?“
„Natürlich ist es das; du bist meine einzige Enkelin. Mir geht es gut, wenn du dich freust. Ich weiß doch ganz genau, dass du davon träumst, endlich auszuziehen.“
„Ach, Oma. Ja, ich würde sehr gerne ausziehen, aber ich habe auch ein schlechtes Gewissen Mama gegenüber; sie wäre dann ganz allein.“
Meine Mutter hatte keine Freunde; auch mit unseren Nachbarn redete sie seit Jahren nicht mehr, und mit ihrer Mutter nur das Notwendige. Nachdem mein Vater uns verlassen hatte, war ich eigentlich der einzige Mensch, den sie hatte.
Ja, sie klammerte sehr, und manchmal hatte ich das Gefühl zu ersticken. Gleichzeitig hatte ich auch Angst, in die WG zu ziehen, weil ich nicht wollte, dass sie allein war.
„Talina, du kannst nicht dein ganzes Leben auf deine Mutter Rücksicht nehmen. Sie ist alt genug, um allein auf sich aufzupassen; du musst nicht länger ihr Babysitter sein. Außerdem verlässt du sie doch nicht; du kannst sie jederzeit besuchen“, versuchte mich meine Großmutter zu überreden, was ihr gelang.
„Du hast recht, Oma. Also, wenn dein Angebot immer noch gilt, würde ich es gerne annehmen; die Wohnung ist wirklich toll“, entschied ich mich schließlich.
Meine Großmutter lachte herzlich. „Natürlich gilt das Angebot noch.“
Es sah wohl ganz danach aus, als hätte ich eine Wohnung.
Inzwischen wohnte ich fast einen Monat in der WG und hatte mich einigermaßen eingelebt.
Der Geburtstag meiner Großmutter Theudelinde vor vier Wochen war toll gewesen; entgegen den Befürchtungen meiner Mutter war mein Kleid ausschließlich gelobt worden.
Mit Sophie verstand ich mich besonders gut, auch, oder gerade weil wir so unterschiedlich waren. Sie war eine richtige Chaotin, die ständig etwas verlegte, sodass wir anderen anschließend die gesamte Wohnung auf den Kopf stellen mussten. Mit Annika hatte ich weniger Kontakt; wenn ich richtig verstanden hatte, war sie gerade frisch verliebt und verbrachte jede freie Minute mit ihrem Freund. Ronja dagegen war frisch von ihrem Freund getrennt und dementsprechend nicht immer bester Laune. Sie meinte, er hätte sie nur verlassen, weil sie zu dick wäre, und so hatte sie verschiedene Ratgeber gekauft, die schnellen Diäterfolg versprachen. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie es war, wenn man sich nicht wohl in seinem Körper fühlte, doch bei Ronja konnte ich es überhaupt nicht verstehen; sie war nun wirklich keine Person, die eine Diät nötig hatte. Leider prallten jegliche Versuche diesbezüglich an ihr ab; sobald ich mit ihr darüber sprechen wollte, suchte sie schnell das Weite.
So waren meist nur Sophie und ich diejenigen, die Zeit miteinander verbrachten; wir gingen ins Kino, Eis essen oder machten es uns auf der Couch mit Salzstangen, Chips und einem Film bequem. Ab und zu war auch Sarah dabei, wenn wir etwas unternahmen.
Zweimal in der Woche, immer nach dem Chor und den Musikstunden, hielt ich mein Versprechen und schaute bei meiner Mutter vorbei, die sich noch immer nicht an den Gedanken gewöhnt hatte, dass ich ausgezogen war.
Eines Tages, als Annika und Ronja wieder unterwegs waren, kündigte Sophie Besuch eines Freundes von ihr an.
„Oh, nur ein Freund oder dein Freund?“, fragte ich schmunzelnd nach.
„Nur ein Freund; ich kenne Jens schon seit dem Kindergarten; da läuft wirklich absolut nichts“, erwiderte sie sofort.
„Hast du denn einen Freund?“, hakte ich neugierig nach.
Sophie schüttelte den Kopf. „Im Moment will ich auch keinen; ich habe erst einmal genug von Kerlen. Olivia, die vor dir hier gewohnt hat, hat mir meinen letzten Freund ausgespannt. Dabei war ich so naiv gewesen, zu glauben, dass wir Freundinnen wären.“
„Das ist ja schrecklich. Sie kann keine Freundin gewesen sein, sonst hätte sie das ja wohl kaum getan. Ist sie deshalb ausgezogen?“
Sie nickte zur Bestätigung und öffnete eine Tüte mit Minibrezeln, die sie in eine Schüssel füllte. „Sie wohnt jetzt mit ihm zusammen.“
„Oh.“ Verzweifelt überlegte ich, was ich sonst noch sagen konnte.
„Na ja, egal. Hast du eigentlich einen Freund?“
„Nein“, war meine einzige Reaktion.
„Und gab es einmal jemanden?“ Eindringlich sah mich Sophie an, sodass ich den Kopf abwandte.
„Talina?“ Sie ließ sich neben mir auf der Couch nieder.
Sollte ich mit der Wahrheit herausrücken? So lange kannte ich sie nicht, obwohl ich gerne mit jemanden darüber sprechen würde. Sophie hatte mir auch erzählt, warum ihre letzte Beziehung gescheitert war, weswegen ich beschloss, sie einzuweihen.
„Also, ja, bis vor ein paar Monaten war ich noch mit jemand zusammen.“
„Woran ist die Beziehung zerbrochen?“
Ich musste heftig schlucken; plötzlich fühlte sich mein Hals trocken an. „Wegen meiner Mutter.“
„Deine Mutter hat dir die Beziehung verboten?“
„Na ja, nicht direkt; sie wusste überhaupt nichts davon.“
Die Verwirrtheit war Sophie buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
„Meine Mutter will nicht, dass ich einen Freund habe. Sie hat furchtbare Angst, allein zu sein; sie hält es auch für keine gute Idee, dass ich ausgezogen bin. Irgendwann habe ich mich in einen Jungen verliebt und er sich in mich. Alles war so schön, und ich war überglücklich; er stellte mich eines Tages sogar seinen Eltern vor“, erklärte ich ihr und nahm einen großen Schluck Wasser.
„Das klingt doch traumhaft. Wo ist der Haken?“, erkundigte sie sich.
„Irgendwann wollte er meine Mutter kennenlernen; das musste ich um jeden Fall verhindern. Leider verstand er es falsch und dachte, ich würde mich seinetwegen schämen, und wollte ihn deshalb nicht meiner Mutter vorstellen. Er hat Schluss gemacht.“ Mein Herz fühlte sich schwer an, während ich davon berichtete.
„Ich weiß gar nicht so recht, was ich dazu sagen soll.“ Sophie griff nach einer Brezel und schob sie sich in den Mund. „Dann kann ich wohl den Gedanken vergessen, dich mit Jens zu verkuppeln.“
Geschockt blickte ich sie an. „Das hattest du vor?“
„Nein, das war nur ein Scherz.“ Sie winkte lachend ab, doch ich konnte ihr ansehen, dass sie vermutlich – zumindest für einen Augenblick –, daran gedacht hatte.
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür und Sophie sprang hastig auf. „Das muss Jens sein.“
Langsam erhob ich mich und strich mein orange-gelbes Sommerkleid glatt, während sie zur Tür stöckelte und öffnete.
„Jens, komm doch herein!“ Sie trat zur Seite, sodass dieser Jens hereinkommen konnte.
Als mein Blick auf ihn fiel, erschrak ich zunächst; er sah leicht furchteinflößend aus. Er war breit gebaut, die Arme – und wer wusste schon, welche Körperstellen noch –, waren voller Tattoos; die Jeans war ebenso tiefschwarz wie das T-Shirt, auf dem groß und in dunkelgrau The Agonist stand. Seine mausgrauen Augen sahen mich mit einer Mischung von Arroganz und Provokation an, während seine kurzen, braunen Haare dagegen schon fast brav wirkten. Von Sophie erfuhr ich, dass Jens vor ein paar Tagen dreiundzwanzig Jahre alt geworden war, weshalb ich ihm mit der Standardfloskel zum Geburtstag gratulierte. Unhöflich wollte ich nicht sein, auch wenn ich ihn überhaupt nicht kannte.
Meine Mutter bekäme einen Schock für ihr Leben, wenn sie ihn sehen würde. Sie hatte das Vorurteil, dass Menschen mit Tattoos böse sein mussten, was vermutlich daran lag, dass mein Vater tätowiert war. Obwohl sie ständig versuchte, mir das auch einzutrichtern, war ich anderer Ansicht. Es waren auch nicht Jens’ Tattoos, die mich erschrocken hatten, sondern sein Auftreten; er wirkte so selbstsicher und gleichzeitig einschüchternd auf mich.
„Wer ist das?“, fragte er Sophie.
Irrte ich mich, oder war sein Tonfall tatsächlich herablassend?
Fast wie in Zeitlupe hob ich meine Hand zum Gruß. „Hallo, mein Name ist Talina.“
Jens kam schnellen Schrittes auf mich zu, sodass ich ein kleines Stück nach hinten trat. Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich zögerlich ergriff.
„Jens“, sagte er mit tiefer Stimme. „Magst du Metal?“
„W… was?“, stotterte ich perplex.
War seine erste Frage an mich wirklich, ob ich Metal mochte?
„Jens steht total auf Metal; für ihn gibt es nichts anderes“, klärte mich Sophie auf und ich musste zerknirscht lächeln.
„Ach so, äh, ich bin nicht gerade ein Fan von Metal, aber Freunde von mir sind in einer Hard Rock-Band“, gestand ich.
„Hard Rock? Das ist doch so lahm“, meinte Jens dazu, und ich konnte nicht anders, als ihn entsetzt anzustarren.
Er fand Hard Rock zu lahm? Was würde er erst dazu sagen, dass ich Soul und Balladen hörte? Vermutlich rief er dann einen Exorzisten, um mir meinen – in seinen Augen beziehungsweise Ohren – grauenhaften Musikgeschmack auszutreiben.
„Wenn du meinst, du Idiot“, murmelte ich nur, in der Hoffnung, dass er es nicht gehört hatte.
„Was hörst du denn?“, wollte er wissen, worauf ich am liebsten nicht antworten wollte, weswegen ich schnell das Thema wechselte.
„Möchtest du vielleicht ein paar Minibrezeln?“
Jens schüttelte den Kopf und wiederholte seine Frage.
„Soul und Balladen“, gab ich schließlich zu, womit ich Jens lauthals zum Lachen brachte.
„Das ist so verrückt, Balladen. Wahrscheinlich findest du auch Hard Rock zu heftig“, grinste er und hielt sich den Bauch.
„Nein, natürlich nicht“, log ich und merkte, wie mir vor Scham die Hitze ins Gesicht stieg.
Zum Glück kam mir Sophie zu Hilfe. „Jens, was möchtest du trinken?“
„Bier“, entgegnete Jens.
Sie wandte sich mir zu. „Talina, ein Glas Wasser?“
Stumm nickte ich und ließ mich in den Sessel sinken.
„Bier magst du wohl auch nicht?“ Jens musterte mich genau und hob eine Augenbraue.
„Im Moment nicht“, antwortete ich.
Die Wahrheit war, dass ich überhaupt keinen Alkohol trank. Das lag daran, dass ich mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen war. Es schränkte mich nicht weiter ein; die Tabletten, die ich täglich einnehmen musste, halfen mir, ein weitestgehend normales Leben zu führen. Alkohol war dabei, genau wie Extremsport, für mich tabu, womit ich gut leben konnte.
Sophie kehrte mit den Getränken zurück. „Was macht deine Band, Jens?“
„Diese Luschen wollen einfach keine richtige Musik machen; deswegen bin ich ausgetreten und habe meine eigene Band gegründet.“ Jens nahm einen großen Schluck Bier.
„Hast du schon Mitglieder gefunden?“, erkundigte sich Sophie. „Kenne ich jemanden davon?“
„Ja, du kennst sie allerdings nicht. Zum Glück mögen sie auch alle Thrash Metal. Okay, ein Bassist fehlt mir noch, aber den werden wir auch noch finden.“ Er nahm eine Handvoll Brezeln und stopfte sie sich in den Mund.
„Talina, du spielst doch Bass“, warf Sophie ein, und Jens verschluckte sich an seinem Snack.
Verlegen strich ich eine Haarsträhne hinter mein Ohr.
„Moment, du spielst Bass?“ Ungläubig schaute er mich an.
„Kontrabass“, erwiderte ich, während mein Herz ruckartig – wie ein Stein – Richtung Bauchnabel fiel.
„Da ist doch kein großer Unterschied“, meinte Sophie, obwohl sie von Instrumenten überhaupt keine Ahnung hatte. „Du wirst dich bestimmt schnell umgewöhnen.“
„Ich halte das für keine gute Idee“, betonte Jens, und ich stimmte ihm zu, doch Sophie schien ihren Vorschlag unglaublich großartig zu finden.
„Überleg es dir, Jens! Talina ist sehr musikalisch; sie spielt außerdem Klarinette und singt im Chor; so hättet ihr auch gleich eine Sängerin.“
In diesem Moment wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Wieso erzählte sie ihm, dass ich Klarinette spielte und im Chor sang? Das bestätigte ihn doch nur darin, dass ich eine Lusche – um es mit seinen Worten auszudrücken –, wäre. Gleichzeitig ärgerte ich mich über mich selbst, dass es mir überhaupt peinlich war. Warum konnte ich denn nicht einfach zu meinen Interessen stehen?
„Sie passt überhaupt nicht zu uns“, grummelte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Da hatte er vollkommen recht; ich passte nicht in seine Band. Bevor ich einer Thrash Metal Band beitreten würde, müsste erst die Hölle zufrieren.
„Ich wette, du schaust keine richtigen Filme.“ Jens hatte inzwischen sein Bier leergetrunken, das er jetzt mit einem Knall auf den Couchtisch stellte.
Genervt rollte ich die Augen. Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
„Was verstehst du unter richtigen Filmen?“, fragte ich nach.
„Richtige Filme eben, keine kitschigen Liebesschnulzen“, erwiderte er grinsend.
„Du glaubst, ich schaue kitschige Liebesschnulzen? Dann schätzt du mich vollkommen falsch ein.“
„Was schaust du denn für Filme?“, hakte er neugierig nach.
„Das geht dich doch überhaupt nichts an“, fuhr ich ihn gereizt an und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Also doch kitschige Liebesschnulzen.“ Lachend schüttelte Jens den Kopf.
„Wenn du das meinst“, entgegnete ich und verließ erhobenen Hauptes das Wohnzimmer.
Mein Bedarf an weiteren Gesprächen mit dieser merkwürdigen Person war vorerst gedeckt. Die ganze Zeit hatte er mich nach meinen Vorlieben ausgefragt, nur, um sich darüber lustig zu machen. Auf dieses Spielchen hatte ich einfach keine Lust mehr. Meinetwegen sollte er denken, dass ich mir Liebesfilme grundsätzlich nur mit Taschentüchern anschaute. In Wahrheit mochte ich zwar solche Filme, allerdings nur, wenn sie nicht ins Kitschige abdrifteten. Am liebsten sah ich jedoch Komödien, bei denen man nicht großartig nachdenken musste, um zu lachen. Ich vertrat die Meinung, dass das Leben schon ernst genug war, weswegen ich mir grundsätzlich keine Dramen anschaute. Für mich sollte ein Film einfach Spaß machen und einen nicht gefühlsmäßig herunterziehen. Vielleicht stand ich mit dieser Meinung allein da, was mir jedoch egal war.
„Talina, bleib hier!“, rief mir Sophie hinterher, doch ich stellte mich taub und betrat mein Zimmer.
Kurz darauf flog die Tür auf und meine Mitbewohnerin stand im Raum. „Hat dir irgendjemand etwas getan?“
„Dieser Jens nervt mich; außerdem finde ich ihn unverschämt“, antwortete ich und suchte nach dem Fantasybuch, das ich im Moment las. Ich liebte es, in andere Welten einzutauchen, und es war eine willkommene Abwechslung zu den ganzen Gesetzestexten, mit denen ich auf der Arbeit und in der Berufsschule zu tun hatte.
„Er war nicht unverschämt. Es ist doch nett, dass er dich nach deinen Interessen fragt.“ Sophie lächelte mich aufmunternd an.
„Nur, um sie direkt ins Lächerliche zu ziehen“, äußerte ich mich und schlug meine Lektüre auf.
„Talina, komm bitte wieder ins Wohnzimmer!“, versuchte sie durchzusetzen. „Es ist unhöflich; wir haben einen Gast.“
„Er ist dein Gast“, warf ich ein.
„Trotzdem, ich bitte dich. Jens ist ein sehr guter Freund von mir, vielleicht sogar der beste, den ich habe. Ich möchte, dass ihr beiden euch gut versteht.“ Sophies Stimme klang beinahe flehend, und sie warf mir Blicke zu, die mich an einen winselnden Hund erinnerten.
„Na gut, Sophie, du hast gewonnen.“ Mein Buch schlug ich zu und warf es sachte auf mein Bett; heute Abend konnte ich es immer noch weiterlesen.
Strahlend fiel sie mir um den Hals. „Danke, das werde ich dir nie vergessen.“
Schmunzelnd befreite ich mich aus ihrer Umarmung. „Ja, ist schon in Ordnung. Übertreib nicht!“
„Könnte ich heute bei euch übernachten?“, wollte Jens wissen.
Während ich sofort energisch den Kopf schüttelte, stimmte Sophie begeistert zu.
„Du doch immer; du kannst auf der Couch schlafen; die kann man zur Liegefläche ausziehen.“
„Und wenn Annika und Ronja damit nicht einverstanden sind?“, versuchte ich, ein Argument zu finden, das gegen Jens’ Übernachtung bei uns sprach.
Sophie winkte grinsend ab. „Annika wird sowieso bei ihrem Freund schlafen, und Ronja hat bestimmt kein Problem damit.“
„In Ordnung; wenn Ronja damit einverstanden ist, sage ich auch nichts dagegen“, lenkte ich schließlich ein.
Mein Handy vibrierte auf dem Tisch und ich griff hastig danach. Die Nachricht war von meiner besten Freundin Sarah.
Hey Talina. Lust, nachher mit mir ins Kino zu gehen?
Sie war meine Rettung; so musste ich den Rest des Tages nicht mehr mit Jens verbringen. Vielleicht konnte ich heute bei Sarah übernachten; aufgeregt schrieb ich ihr eine Antwort.
Gerne, Sarah, ich freue mich schon. An welchen Film hast du gedacht?
Nur wenig später zeigte mein Handy den Eingang einer neuen Nachricht an.
Diese neue Liebeskomödie mit Aaron Jeffrey Scott. Läuft heute um 20:00 Uhr.
Aaron Jeffrey Scott war der Lieblingsschauspieler von Sarah. Es gab keinen Film mit ihm, den sie nicht gesehen hatte.
„Wem schreibst du da die ganze Zeit?“, fragte mich Sophie, doch ich ignorierte sie und tippte schnell die nächste SMS ein.
Das klingt gut, ich bin dabei. Darf ich vielleicht bei dir übernachten?
Klar, kein Problem. Bist du dann um 19:30 Uhr bei mir?
19:30 Uhr. Ist notiert. Bis später. Ich freue mich schon.
Da sich meine Laune schlagartig gebessert hatte, fügte ich noch fünf fröhliche Smileys hinzu.
„Talina, was strahlst du plötzlich wie ein Honigkuchenpferd? Hast du eine Nachricht von einem Verehrer bekommen?“
Erschrocken hob ich den Kopf und merkte, dass die Blicke von Sophie und Jens auf mich gerichtet waren.
„Oh, äh, nein, ich habe mit meiner besten Freundin Sarah geschrieben“, klärte ich die beiden auf.
„Ich dachte mir schon, dass du keinen Freund hast“, meinte Jens und ließ mich empört nach Luft schnappen.
„Woher willst du wissen, dass ich keinen Freund habe?“
„Du bist so merkwürdig.“
„Wie bitte? Ich bin merkwürdig? Was ist mit dir?“
„Ich bin zufrieden mit mir, und das merken die anderen. Du dagegen scheinst dich unwohl in deiner eigenen Haut zu fühlen.“
„Du liegst falsch; ich fühle mich pudelwohl. Und weißt du was? Sarahs Bruder und ich sind verliebt. Er geht jetzt gleich mit mir ins Kino“, log ich und hoffte, dass ihm meine zittrige Stimme nicht auffiel.
Sarah hatte zwar tatsächlich einen älteren Bruder, für den ich sogar einmal geschwärmt hatte, doch ein Paar würden Oliver und ich niemals werden. Vor einem Jahr hatte er seine Jugendliebe geheiratet, und die beiden erwarteten jetzt ein Baby.
„Uh, du und der Bruder deiner besten Freundin, wie wunderbar.“ Der Sarkasmus triefte ihm förmlich aus allen Poren. „Bestimmt schaut ihr euch irgendeinen schnulzigen Film an.“
„Ja, eine romantische Komödie, obwohl wir wahrscheinlich vom Film nicht viel mitbekommen, weil er die ganze Zeit seine Zunge in meinen Hals steckt.“
Das musste ich einfach loswerden, auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach. Normalerweise hielt ich überhaupt nichts von solch kindischen Spielen; diesem Idioten hatte ich es einfach zeigen wollen.
„Du hast mir doch erzählt, dass du im Moment keinen Freund hast“, mischte sich Sophie ein.
Meine Kinnlade schoss nach unten, während mein Gesicht feuerrot wurde.
„Äh, äh“, stammelte ich nur, womit den beiden klar sein dürfte, dass ich eben gelogen hatte.
Na klasse, jetzt hatte dieser Jens noch mehr Grund, sich über mich lustig zu machen.
Millionen imaginärer Ameisen liefen über meinen Körper und verbreiteten ein unangenehmes Kribbeln. Ich versuchte, Haltung zu bewahren, schnappte mir mein Handy, meine Handtasche sowie meine Herztabletten und stiefelte, ohne mich zu verabschieden, aus der Wohnung.
Es tat so gut, mit Sarah ausgelassen zu lachen. Wir hatten Riesenspaß im Kino, wobei wir vor lauter Lachen Tränen in den Augen hatten. Es ließ mich vorerst den Stress
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Stella-Anien Holz
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2016
ISBN: 978-3-7396-4700-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die kleine Pauline, die in ihrem jungen Leben schon viel durchstehen musste, und ihren Vater Julian.
Danke, dass es euch gibt.