„Mensch: das einzige Lebewesen, das erröten kann. Es ist aber auch das einzige, was Grund dazu hat.“
Das Zitat von Mark Twain tanzte vor meinem inneren Auge, während mein schlechtes Gewissen sämtliche meiner Organe piesackte.
Im Moment hatte ich allen Grund, zu erröten, mich zu schämen.
Dabei hatte ich damals noch geglaubt, dass ich nicht so eine Person wäre…
Gemeinsam mit Sarah, meiner besten Freundin, schlenderte ich in der Fußgängerzone an den Geschäften vorbei. Ab und zu blieben wir stehen und sahen uns die Schaufenster genauer an.
Für den achtzigsten Geburtstag meiner Großmutter Theudelinde brauchte ich noch ein schönes Kleid. Welche Farbe es haben sollte, wusste ich bereits; es musste unbedingt orange sein, denn das war meine Lieblingsfarbe. Überhaupt mochte ich es bunt; eine Welt ohne Farben konnte ich mir gar nicht vorstellen.
Plötzlich sichtete ich mein Traumkleid, von dem ich magisch angezogen wurde. Ohne auf Sarah, die gerade eine Freundin von ihr entdeckt hatte und ihr eifrig zuwinkte, zu achten, betrat ich den Laden und steuerte zielstrebig auf das Kleidungsstück zu.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, sprach mich eine Verkäuferin an.
„Ja, ich hätte gerne das schöne Kleid in Orange, das im Schaufenster ausgestellt ist“, antwortete ich, in freudiger Erwartung, es endlich am Körper zu tragen.
„Ich vermute, Sie tragen Größe 38“, meinte die Verkäuferin, was ich mit einem zaghaften Nicken quittierte.
Sie versprach, im Lager nach meiner Größe zu suchen, während ich meinen Blick durch das Geschäft schweifen ließ. Als ich mich selbst in einem Spiegel sah, schaute ich genauer hin und ein gewisser Stolz strömte durch meine Adern. Noch vor einem Jahr hatte ich Kleidergröße 44 getragen und mich nicht sehr wohl gefühlt, weshalb ich mich bei einem Zumba-Kurs angemeldet und meine Ernährung umgestellt hatte. Seitdem waren die Pfunde gepurzelt, und ich hatte inzwischen mein Wohlfühlgewicht erreicht.
„Talina, hier bist du. Ich habe mich nur eben kurz mit Daniela unterhalten, und plötzlich warst du verschwunden.“ Sarah stürmte gehetzt auf mich zu, die Wangen gerötet, was bei ihr immer der Fall war, wenn sie sich aufregte.
„Sarah, ich habe das ideale Kleid für Omas Geburtstag gefunden. Es ist knielang, im 50er-Jahre-Stil geschnitten, orange, einfach perfekt, ein Traum“, schwärmte ich ihr vor.
„Schön, du hättest trotzdem Bescheid sagen können.“ Schnaufend verschränkte sie die Arme vor der Brust – typisch für sie; Sarah war schnell beleidigt, blieb jedoch nicht lange wütend.
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich hastig, als die Verkäuferin mit dem Kleid zurückkam.
„Bitteschön, ein Kleid haben wir noch in Ihrer Größe.“
Überglücklich nahm ich es entgegen und machte mich voller Euphorie auf den Weg zu den Umkleidekabinen.
Das Kleid schmiegte sich perfekt an meinen Körper und ich fühlte mich sofort wohl darin. Ich zog den Vorhang zur Seite und trat hervor, um mich Sarah zu zeigen.
„Es ist wie gemacht für dich.“ Meine beste Freundin klatschte begeistert in die Hände.
„Ja, am liebsten würde ich es gleich anbehalten“, erwiderte ich und drehte mich schwungvoll im Kreis. „Ich kaufe es auf jeden Fall.“
Nachdem ich wieder meine Alltagskleidung trug, ging ich zur Kasse und kramte meinen Geldbeutel aus meiner Tasche.
„Das macht dann 119,90 €“, sagte die Verkäuferin, wodurch ich tief Luft holen musste; auf den Preis hatte ich überhaupt nicht geachtet.
So viel Geld hatte ich nicht dabei; meine Mutter hatte mir einhundert Euro mitgegeben. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, maximal die Hälfte für ein Kleid auszugeben und den Rest zu sparen.
„Kann man da vielleicht noch etwas am Preis machen?“, versuchte ich, zu handeln.
„Einen Moment, bitte.“ Sie rief nach einer Frau Blume, die kurz darauf erschien.
„Guten Tag“, begrüßte sie mich und ich schilderte ihr die Situation.
„Wir können den Preis auf 109,90 € senken“, teilte mir Frau Blume mit.
Enttäuscht erklärte ich, dass ich leider nicht genug dabeihatte. Sarah bot an, mir das restliche Geld zu leihen, wofür ich sie dankbar umarmte.
Meine Augen strahlten, als mir die Tüte mit dem Kleid überreicht wurde.
„Danke, Sarah, du hast meinen Tag gerettet“, seufzte ich, als wir den Laden verließen.
„Schon in Ordnung, das habe ich doch gerne gemacht.“
„Ich werde dir das Geld schnellstmöglich zurückzahlen“, versprach ich ihr. „Ach, Sarah, das wird so toll am Samstag; wir werden jede Menge Spaß auf dem Geburtstag haben.“
Ein Schatten huschte über Sarahs Gesicht und sie wandte den Kopf ab. „Ähm, also, ich kann am Samstag leider nicht.“
„Was?“ Geschockt sah ich sie an, doch sie traute sich nicht, mit mir Blickkontakt aufzunehmen.
„Davids Band hat am Samstag einen Auftritt; ich soll ihn dabei unterstützen“, erzählte sie; ihr Gesicht hatte die Farbe einer vollreifen Tomate angenommen.
„Das glaube ich nicht. Warum hast du mir das nicht gesagt?“, regte ich mich auf.
„Talina, es tut mir leid. Der Auftritt sollte eigentlich am Freitag stattfinden. Daniela hat mir gerade erzählt, dass er auf Samstag verschoben worden ist. Ich hatte bis eben selbst keine Ahnung; David hat es mir auch nicht gesagt“, versuchte sie, mich zu beschwichtigen.
Meine Enttäuschung, dass sie nicht auf den Geburtstag meiner Großmutter kam, versuchte ich, so gut ich konnte, zu verbergen.
David war Sarahs Freund; die beiden waren bereits seit zwei Jahren ein Paar. Genau wie Danielas Freund Robin war er in einer Hard Rock-Band; David spielte Gitarre und Robin Bass.
Sarah hatte mich schon einige Male zu überreden versucht, dass ich sie doch einmal zu einem der Auftritte begleiten sollte. Allerdings war Hard Rock überhaupt nichts für mich; ich bevorzugte die leisen Töne und hörte am liebsten Balladen und Soul. Instrumente konnte ich auch spielen, Klarinette und Kontrabass. Seit ich sieben Jahre alt war, sang ich außerdem im Chor, jedoch nur als Backgroundsängerin. Ich war keine Person, die gerne im Mittelpunkt, und schon gar nicht im Rampenlicht, stand. Deswegen käme es auch nie für mich in Frage, in einer Band zu spielen, erst recht nicht in einer Hard Rock-Band. Für mich war das keine Musik, sondern einfach nur Krach.
Auf dem Nachhauseweg überfiel mich das schlechte Gewissen; immerhin hatte das Kleid ein Drittel meines monatlichen Azubi-Gehaltes gekostet. Als Steuerfachangestellte im ersten Ausbildungsjahr verdiente ich nicht gerade viel, um nicht zu sagen, kaum etwas. So gerne würde ich endlich in eine eigene Wohnung ziehen, doch leider konnte ich es mir einfach nicht leisten.
Mein Handy klingelte und zeigte eine eingegangene SMS an; sie war von Vanessa, die von allen jedoch bloß Nessi genannt wurde.
Talina, wo bleibst du denn? Deine Stunde läuft schon seit zwanzig Minuten.
Hektisch warf ich einen Blick auf die Uhr; tatsächlich war ich zu spät für die Musikstunde. Nessis Mutter war Musiklehrerin und gab mir Klarinetten- und Kontrabass-Unterricht. Ihr Vater leitete den Chor. Damals hatte er mich zu einer Probestunde eingeladen, was mir so Spaß bereitet hatte, dass ich seitdem so gut wie keine Stunde verpasst hatte.
Meine Mutter war davon nicht gerade begeistert; mit Musik wollte sie nichts zu tun haben. Dabei war mein Vater sogar Mitglied einer Band, doch er hatte uns verlassen, als ich gerade vier Jahre alt gewesen war, weil er auf den großen Durchbruch gehofft hatte, und wir für ihn ein Klotz am Bein gewesen waren. Auf den großen Durchbruch hoffte er immer noch.
Meiner Großmutter hatte ich es zu verdanken, dass ich Instrumente spielen und singen durfte, denn sie unterstützte mich, so gut sie konnte.
Während des Gehens tippte ich schnell eine Antwort ein.
Tut mir leid, ich musste noch ein Kleid für Omas Geburtstag kaufen. Ich komme jetzt sofort zu euch.
„Sarah, ich muss mich beeilen; ich habe die Musikstunde komplett vergessen“, entschuldigte ich mich bei meiner besten Freundin.
„Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die vergesslich ist. Talina, schon in Ordnung. Geh!“ Sarah lächelte mich aufmunternd an; ihre dunkelbraunen Augen sahen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Stella-Anien Holz
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3781-5
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