Der Pfad des Druiden
Band 1: Schatten über Nasriel
(Arbeitstitel)
Robert-Lee Phillips
Prolog
Der Himmel über der Stadt Nasriel glich in jener Nacht einen schwarzem Meer, welches Abertausende von grellleuchtenden Bewohnern beherbergte, die reglos verharrten, als würden sie gespannt auf die Welt hinabblicken und sich an dem Kreislauf des Lebens darauf ergötzen.
Nasriel war eine große Stadt umgeben von endlos wirkenden Wäldern, doch ihre Architektur ließ sie nahezu mit ihrer natürlichen Umgebung verschmelzen. Beinahe jedes Gebäude bestand aus Holz, teils luxuriöse Villen mit farbenprächtigen, kunstvoll bemalten Fenstern und paradiesischen Gärten, teils einfache Hütten mit Dächern aus Stroh, von denen einige sogar in den Kronen der riesigen Laubbäume saßen. Unzählige, im Mondlicht glitzernde Flüsse durchzogen den von Moos und Wiesen bedeckten Boden, wodurch Nasriel wie eine große Ansammlung von Inseln erschien, ein von Mensch und Natur erschaffenes Mosaik.
Die Szenerie der Stadt war ein Spiegelbild der Harmonie, die zwischen ihren Bewohnern und der Natur herrschte. Die Osra, wie jenes Volk sich nannte, das diesen Teil der Welt Raaja bewohnte, waren eine religiöse Gemeinschaft, welche die Natur selbst als Gottheit anbetete.
In jener friedlichen, sternenklaren Nacht fand jedoch nicht jeder Bewohner Nasriels seinen wohlverdienten Schlaf.
Tunris Amakura schreckte schweißgebadet und zitternd zugleich auf.
Das mystische Licht der Nachtleuchten fiel durch ein großes, rundes Fenster in die Gemächer des alten Mannes, ließ die vielen Farben, die von den kostbaren Wandteppichen, Möbeln und anderen Kunstwerken ausgingen, geradezu zum Leben erwachen. Tunris atmete mehrmals kräftig durch, rieb sich die alten, müden Augen und versuchte sich angestrengt zu erinnern, was ihn so heftig aus dem Schlaf gerissen hatte.
Ein Alptraum? fragte er sich, während er mit dem Ärmel seines grünen Nachtgewandes den Schweiß von seiner bleichen Stirn wischte.
Nein, es war kein gewöhnlicher Alptraum gewesen. Vielmehr hatte ihn ein starkes Gefühl übermannt, eine schreckliche Furcht, die weit über alles hinausging, was der Osra in seinen sechzig Lebensjahren erlebt hatte.
Doch woher kam diese mächtige Emotion so plötzlich?
Tunris führte ein erfülltes Leben, als einer der fünf Erzdruiden Nasriels gehörte er zu den wohlhabendsten und einflussreichsten Menschen des Reiches, er genoss unter seinen Kollegen und Untergebenen großes Ansehen.
Natürlich überkamen ihn in einsamen Stunden wehmütige Erinnerungen an seine verstorbene Frau Serpia, doch sein Glaube an den Kreislauf des Lebens tröstete und überzeugte ihn, dass seine geliebte Gemahlin einst wiedergeboren werden würde, so wie es mit allen Lebewesen in der Welt geschah.
Der Glaube an die Essenz, eine Entität, welche, nach Überzeugung der Osra, einst die Welt Raaja erschaffen hatte, war stets das tragende Fundament im Leben des Erzdruiden gewesen, Trost und Ansporn zugleich. Doch als Tunris über seine Hingabe zur Essenz sinnierte, überkam ihn plötzlich wieder diese unbeschreibliche Angst und instinktiv fasste sich der alte Mann an die hagere Brust, als versuche er sein trommelfeuerartig schlagendes Herz davon abzuhalten zu zerbersten. Nach einigen Minuten, die dem gequälten Tunris wie eine Ewigkeit vorkamen, durchflutete eine unheilverkündende Gewissheit den Geist des Mannes in solcher Klarheit, als hätte die Essenz selbst ihm jenen Gedanken zugeflüstert.
Disharmonie.
Die Harmonie der Natur, welche die Osra seit jeher beschützten und pflegten, war gefährdet!
Tunris kam taumelnd auf die Füße, begann angestrengt in seinem Schlafzimmer auf und ab zu gehen.
Was mochte dies bedeuten?
Sein Volk strebte schon seit Gründung der Religionsgemeinschaft vor mehr als fünfhundert Jahren die Harmonie mit allem Leben auf Raaja an. Die Osra nahmen sich von der Natur nur das, was sie benötigten und sorgten immer dafür, dass dort, wo sie einen Baum gefällt hatten, ein Neuer wuchs und dass jene Tiere, die sie jagten, um von ihrem Fleisch zu speisen und ihr Fell zu verwerten, immer ausreichend Zeit besaßen sich fortzupflanzen, damit ihre Art erhalten blieb.
Tunris war vollkommen von dieser Lebensweise überzeugt, denn er und alle anderen seines Volkes erhielten die Bestätigung, dass ihr Handeln gerecht war, durch die Essenz selbst: Sie war es, die manchen Osra Zugang zu einer mystischen Magie gewährte, die weit über das Vermögen eines gewöhnlichen Menschen hinausging. So waren über die Jahrhunderte drei Disziplinen der natürlichen Macht in der Religion der Osra entstanden: Beschwörung, Verwandlung und Heilung.
Die Beschwörer konnten die Natur und ihre Elemente selbst beeinflussen, die Wandler vermochten die Gestalt von Tieren anzunehmen und schließlich war die Fähigkeit der Heiler, Krankheiten und Verletzungen auf magische Weise zu lindern. Jene Osra, die über derartige magische Kräfte verfügten, nannte man Druiden und einigen wenigen Osra war es vergönnt, alle drei Disziplinen zu meistern, um somit den Rang eines Erzdruiden zu erreichen. Diese Meister waren dazu berufen, über das Volk gemeinschaftlich zu herrschen, so wie Tunris nun mit vier anderen Erzdruiden regierte, nachdem er Jahrzehnte seines Lebens der Hingabe an die Essenz und des Studiums der druidischen Künste geopfert hatte.
Warum verspürte Tunris auf einmal dieses Gefühl von Disharmonie?
Die Osra hatten seit jeher der Essenz gedient, waren nie von ihrem Weg abgekommen.
Was war nur geschehen in der Welt? Konnte es sein, dass es sich um das Werk der anderen Völker von Raaja handelte, die nicht an die Essenz glaubten und in den Augen des alten Meisters primitiv und roh lebten?
Aber das ergab für Tunris keinen Sinn, schließlich war deren Zahl seinem Wissen nach gering im Gegensatz zum Großreich seines Volkes und sie hatten schon immer anders gelebt als die Osra.
Warum sollte es gerade jetzt dazu kommen, dass ihr Frevel Auswirkungen auf die Essenz hatte?
Nein, entschied Tunris, es musste etwas anderes sein.
Die Essenz war reine Harmonie, keine strafende, fordernde Gottheit, die Ungläubigen Tod und Leid anheimfallen ließ. Die Osra folgten ihrer Religion schließlich nicht aus Furcht, sondern aus der Überzeugung heraus, dass es der Weg der Wahrheit und des Guten sei.
Der alte Meister musste einsehen, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde, also ging er zum anderen Ende des weitläufigen Raumes, entzündete einige Kerzen auf dem Schreibtisch und ließ sich in seinen bequemen Sessel fallen. Tunris hielt es für das Beste, seine Erfahrungen und Gedanken jener Nacht schriftlich festzuhalten und so schlug er sein Tagebuch auf und begann einen Federhalter in blaue Tinte zu tauchen.
Als er gerade die Nadel auf das weiße Papier setzte, klopfte es leise an der Tür seines Gemaches.
Ein wenig verstimmt über diese nächtliche Störung erhob sich der Meister seufzend und begab sich schlürfend zu Tür, überlegte sich, wie er jenen Bediensteten, der sich vermutlich hinter der Tür verbarg, für seine Dreistigkeit rügen könnte.
Doch noch bevor er die Klinke berührte, die Tür öffnete und sein Gegenüber ansah, wusste Tunris intuitiv, um welche Person es sich handeln musste, die ihn genau in jenem schicksalhaften Augenblick aufsuchen würde.
Als er das dunkelhäutige, bärtige Gesicht seines langjährigen Freundes Anselm Ragnon erblickte, spiegelten Tunris Augen Gewissheit und Furcht zugleich wieder. Der in rotbraune Roben gehüllte, massige Anselm blickte Tunris auf die gleiche Weise an.
Einige wortlose Momente verstrichen, bis Anselm als Erster die Worte aus seinem trockenen Mund zwang, die sein Gegenüber ebenfalls ausgesprochen hätte, wenn es ihm gelungen wäre, den dicken Kloß in seinem Hals zu überwinden.
„Du spürst es ebenfalls, nicht wahr, alter Freund?“
Tunris atmete schwer, blickte zur Seite und vermochte nur mit dem Kopf zu nicken. Anselm ignorierte die üblichen Höflichkeitsfloskeln und trat ohne weitere Worte ein. Tunris wies auf seinen Sessel und, nachdem sein Freund sich niedergelassen hatte, nahm er selbst auf einem Hocker ihm gegenüber Platz.
„In all meinen Jahren als Erzdruide habe ich noch nie von einem solchen Phänomen gehört oder gelesen“, begann Tunris mit zitternder Stimme nach einigen weiteren Momenten unbehaglicher Stille. Anselm stimmte ihm nickend mit finsterer Miene zu, denn er gehörte ebenfalls zu den fünf Erzdruiden von Nasriel.
„Natürlich können wir das nicht mit Bestimmtheit wissen, schließlich könnte es möglich sein, dass nicht jeder Erzdruide all seine Erfahrungen an die nächste Generation weitergegeben hat“, erwiderte Anselm.
„Gleichzeitig fällt mir jedoch kein Grund ein, warum man etwas so Bedeutsames der Nachwelt verschweigen sollte.“
Tunris faltete die Hände und stütze sein spitzzulaufendes Kinn darauf ab, eine typische Pose für den stets nachdenklich wirkenden Meister.
„Glaubst du, dass unsere Kollegen ebenfalls...“ setze Tunris an, doch bevor er seinen Satz beendet hatte, nickte sein Gegenüber bereits wissend.
Auch wenn Anselm und Tunris die ältesten Mitglieder des Rates waren, so maß er sich dennoch nicht an, dass lediglich sie Zugang zu jenem Mysterium erhalten haben könnten, deren Ursprung nur die Essenz selbst sein konnte.
Vielleicht hatten gar alle Osra jenes schreckliche Gefühl der Angst und Disharmonie empfunden.
Tunris war derselben Meinung, jedoch lag es für ihn unbestreitbar auf der Hand, dass ausschließlich er und sein Freund Anselm aufgrund ihres Alters und ihrer langjährigen Hingabe an die Essenz in der Lage waren, jene Botschaft angemessen zu interpretieren.
„Wir werden eine öffentliche Versammlung abhalten, gleich morgen“, sagte Tunris mit fester Stimme.
Anselm schaute zuerst verwirrt drein, begriff jedoch nach einigen Momenten.
„Du glaubst auch, dass alle Osra es wahrnehmen konnten.“
Tunris nickte nachdenklich. Der mächtige Erzdruide konnte förmlich spüren, wie jenes Phänomen sich einer Welle gleich in der Stadt ausbreitete und die Bewohner aus dem Schlaf riss, als wäre es ein gewaltiges Phantom, dass durch Nasriel auf geisterhaften Schwingen glitt und allem, was es berührte, Angst und Schrecken bescherte.
Anselm erging es ebenso.
„Du willst dem Volk zeigen, dass wir Herr der Lage sind, damit es zu keiner Panik kommt. Eine weise Entscheidung, mein Freund.“
Anselm erhob sich schwerfällig, da er der Meinung war, dass alles Weitere am morgigen Tag im Dialog mit den anderen drei Meistern geklärt werden sollte.
In einer plötzlichen, impulsiven Bewegung packte Tunris ihn am Ärmel seines Gewandes und zwang den alten Erzdruiden damit, ihm in die Augen zu schauen. Anselm versuchte den ungewöhnlichen Ausbruch seines Freundes zu deuten, den er sonst als äußerst beherrscht und in sich ruhend kannte. Doch als er die Feuchtigkeit in den weitaufgerissenen Augen des Mannes sah, verstand der alte Meister.
Anselm legte seine freie Hand sanft auf Tunris verkrampfte Finger und lächelte traurig.
Er fühlte das Gleiche wie sein Freund.
Furcht.
Die Furcht vor Veränderungen.
1
Geheimnisse
Chigen Amakura starrte, wie so häufig in Gedanken versunken, auf das erwachende Nasriel herab. Von dem großen, halbkreisförmigen Balkon des mehrstöckigen Familienanwesens aus konnte man fast die gesamte Stadt überblicken, von den, im Zentrum aufragenden, majestätischen Bauten der Erzdruiden mit ihren prächtigen Gärten bis hin zu den einfacheren Holzhütten und Bauernhöfen des gemeinen Volkes am Rande Nasriels. Die Hauptstadt des Landes war auf einer großen Lichtung errichtet worden, aber dennoch wuchsen zahlreiche Laub- und Nadelbäume zwischen den Häusern und Pfaden. Flüsse und Bäche durchzogen Nasriel, wodurch es wie eine Vielzahl kleiner Inseln wirkte, verbunden durch Brücken und niedrige Furten.
Nasriel bot wahrlich einen schönen, ästhetischen Anblick, aber Chigen war dessen mehr als überdrüssig. Er hatte in den zweiundzwanzig Jahren seines Lebens nichts Anderes als die Stadt und die umliegenden, dichten Wälder gesehen, all die anderen Orte der Welt Raaja existierten lediglich als Fantasiegebilde in seinem Geist, gewonnen aus Büchern und Erzählungen. Seit langer Zeit fühlte sich Chigen unwohl in seiner Haut, was wahrscheinlich viele junge Männer seines Alters, denen es nicht vergönnt war, als Sohn eines der fünf Erzdruiden von Nasriel geboren zu sein, geradezu als Affront ansehen würden. Chigen lebte umgeben von Luxus, studierte an der höchsten Akademie des Landes und musste sich keinerlei Sorgen um seine Zukunft machen. Doch im Grunde seines Herzens hatte Chigen nichts davon je gewollt, hatte nie begriffen, warum er im Wohlstand leben durfte, während viele Andere dazu verdammt waren, täglich für ihr Abendbrot zu schuften.
Schließlich besagte die Lehre der Osra, dass alles Leben ein und denselben Ursprung hatte, dass jeder Mensch, jede Pflanze und jedes Tier der Essenz entstammten und damit als gleichwertig zu betrachten waren.
Warum aber umgaben sich die Erzdruiden mit Reichtum, während das Volk in Bescheidenheit lebte?
Der junge Chigen hatte schon früh begreifen müssen, dass die Realität sich nicht mit dem Ideal der Religion deckte. Auch wenn alle Osra dem gleichen Glauben folgten, so gab es dennoch eine große Masse, welche diente und Wenige, die herrschten. Natürlich beruhte diese Einteilung auf der Überzeugung, dass diejenigen, welche alle drei Disziplinen der natürlichen Macht beherrschten, dies nur aus dem Grunde vermochten, weil sie sich am stärksten dem Glaube hingaben und somit auch das Recht zugesprochen bekommen sollten, an der Spitze der religiösen Gemeinschaft zu stehen. Aber Chigen fragte sich immer wieder, wie viele Männer und Frauen es da draußen gab, die über das gleiche Potential wie ein Erzdruide verfügten, aber aufgrund mangelnder sozialer Reputation nicht die Möglichkeit besaßen, ihre Fähigkeiten in den Akademien zu schulen und zu vollenden. Er selbst verfügte nur über die Kraft der Beschwörung und laut Aussage seiner Lehrmeister würde Chigen weder diese Disziplin zur Meisterschaft bringen noch in die Sphären der anderen Magien aufsteigen können. Dennoch lebte der junge Druide in der Residenz eines Meisters und würde nach Abschluss seines Studiums der druidischen Lehre in einer gehobenen Position tätig werden, als Magistrat einer Schwesterstadt oder Berater eines Erzdruiden, obwohl er eigentlich nichts Anderes verdient hätte, als die vielen jungen Frauen und Männer, die an jenem Morgen ihre Waren auf dem Markt feilboten, die Felder bestellten oder in den Wäldern jagten und sammelten.
Chigen glaubte fest an die Essenz und die Gleichheit allen Lebens, glaubte fest daran, dass es das Richtige war, die Natur zu beschützen und zu pflegen.
Aber anscheinend reichte dies nicht aus, denn ihm würden die Fähigkeiten der natürlichen Disziplinen verwehrt bleiben.
Wie er es auch drehte und wendete, Chigen konnte es nicht mehr bestreiten:
er zweifelte.
Nicht an dem Glauben an die Essenz, sondern an dessen Umsetzung als Religion, an den von Menschen aufgestellten Regeln und Leitsätzen.
Aus diesem Grunde wirkten Chigens hellgrüne, schimmernde Augen auch am heutigen Morgen wieder traurig und entrückt.
Heute verspürte er jedoch noch etwas Anderes, ein Gefühl, dass in seinem Unterbewusstsein schlummerte, eine Furcht, die ihn in seinem Schlaf heimgesucht hatte. Doch für den unglücklichen Sohn des Erzdruiden Tunris Amakura stellte es keine Besonderheit dar, des nachts von Alpträumen heimgesucht zu werden; Es war für ihn einfach ein weiterer, düsterer Tag im Paradies.
Chigen verließ den Balkon und begab sich in sein geräumiges Gemach.
Er streifte das einfache, graue Schlafgewand ab und zog seine kostbaren Kleider an: eine dunkelblaue Robe mit einem grünen, an Efeuranken erinnernden Muster und dunkelgrünem Saum, der mit goldenen Stickereien verziert worden war, sowie eine dunkelgraue Stoffhose und blaue, bequeme Schuhe aus Stoff, die ebenfalls goldene Verzierungen aufwiesen.
Er betrachtete sich im, in seinen Augen verschwenderisch großen, Wandspiegel, musterte sein schmales, jungenhaftes Gesicht, das von rabenschwarzem Haar umgeben war und schüttelte resignierend den Kopf, als er daran dachte, dass seine „gewöhnliche“ Tageskleidung wahrscheinlich mehr Goldmünzen wert war, als eine Bauernfamilie an einem Tag schwerer Arbeit einnahm.
Bevor der junge Mann erneut ins Grübeln verfallen konnte, klopfte es leise an der Tür seines Zimmers. Chigen erkannte jenes Klopfen, schließlich vernahm er es an jedem Morgen. Seine Eskorte wartete auf ihn.
„Komm ruhig rein, Khandra“, sagte er laut, während er sich auf einen luxuriösen, azurblauen Diwan hockte, um seine Schuhe zuzubinden.
Die Tür öffnete sich langsam und eine hochgewachsene schlanke Frau trat herein. Khandra Solok war einige Jahre älter als Chigen, seines Wissens nach bewegte sie sich auf die Dreißig zu, hatte ebenso wie er eher bleiche Haut und schwarzes, kurzes Haar, jedoch wies ihr Gesicht weiche Züge und volle Lippen auf und die Iris ihrer Augen hatte eine hellbraune Farbe.
Sie trug enganliegende, schwarze Hosen aus festem Leder, sowie ein passendes Oberteil mit braunen Flächen an den Oberarmen, dem Bauch und den Seiten. An einer braunen Stoffschärpe hingen Khandras Zwillingsstiletts, schmale, kurze Klingen, welche, wie Chigen wusste, schon vielen Feinden den Tod gebracht hatten und um die Schulter trug die Kriegerin einen hölzernen, mit feinen Schnitzereien versehenen Bogen, der wahrscheinlich ebenso viele Gegner niedergestreckt hatte.
Nicht jeder Ort auf Raaja war so friedlich wie Nasriel, wilde Bestien lauerten in den Wäldern und marodierende Banden der Skar, einem barbarischen Volk aus den nördlichen Steppen, zogen plündernd durch die Lande, die auch nicht davor zurückschreckten, kleinere Dörfer der Osra zu überfallen, um zu rauben und zu töten. Bevor Khandra in den Dienst der Amakura-Familie getreten war, hatte sie als Waldläuferin gelebt und Handelskarawanen, die sich zwischen den Städten der Osra bewegten, vor eben jenen Gefahren beschützt. Doch dann hatte sie nach Chigens Wissen einen furchtbaren Verlust erlitten und daraufhin ihr Leben in der Wildnis aufgegeben. Khandra sprach nicht viel, dennoch fühlte sich der junge Mann seit ihrer ersten Begegnung mit ihr innerlich verbunden, so als ob sie gemeinsam trauerten und sich gegenseitig stützten, unabhängig davon, was die Quelle ihres persönlichen Leidens darstellte.
Die Waldläuferin nahm Haltung an.
„Seid gegrüßt, Herr. Ich hoffe, dass ihr eine angenehme Nacht hattet.“
Mit einem entnervten Seufzen erhob sich Chigen, während er die Frau enttäuscht anschaute.
Khandra setzte eine verwirrte Miene auf und fragte unsicher: „Habe ich etwas falsch gemacht, Herr?“
„In der Tat, Khandra“, begann Chigen erst tadelnd, was Khandra leicht zusammenzucken ließ, dann wieder sanfter: „Ich hatte dich doch gebeten, nicht so förmlich zu sein, wenn wir alleine sind. Ich weiß, dass mein Vater viel Wert auf Etikette legt, aber ich finde es in unserem Fall einfach nur peinlich.“
„Verzeiht, Herr... entschuldige, Chigen. Die Macht der Gewohnheit“, erwiderte Khandra und lächelte für einen kurzen Augenblick, ein eher seltener Anblick bei der nüchternen, stets ernsten Frau.
„Ist schon in Ordnung, Khandra. Eigentlich müsste ich ja dir jene Art von Respekt entgegenbringen. Du hast weitaus mehr in deinem Leben geleistet als ich es wahrscheinlich jemals tun werde“, erwiderte Chigen mit resigniertem Lächeln.
Khandra antwortete nicht, sondern nickte stattdessen kaum wahrnehmbar, dankbar für die freundlichen Worte ihres Herren, den sie für seine ehrliche und offene Art mochte und respektierte. Chigen hatte ihr nie das Gefühl gegeben, dass sie nur eine Dienerin war, so wie es viele der anderen privilegierteren Osra oft taten, sei es nun absichtlich oder aus Gewohnheit heraus.
„Nun, was steht heute Spannendes auf dem Tagesplan?“ begann Chigen, während er sein Bettzeug faltete. „Spaziergang am Waldrand? Teetrinken mit den Erzdruiden? Oder einfach sinnlos Gold unter die Händler bringen?“
Khandra räusperte sich, denn diese Art von Sarkasmus behagte ihr an Chigen überhaupt nicht. Sie hatte in solchen Situationen immer das Gefühl, dass der junge Mann gar nicht begriff, wie gut er es hatte, dass es eine große Ehre war, mit den Erzdruiden persönlich sprechen zu dürfen und das es ein Geschenk war, soviel freie Zeit zur Verfügung zu haben und Dinge kaufen zu können, von denen andere - sie eingeschlossen - nur träumen konnten. Natürlich hatte Chigen ihr schon oft angeboten, ihr bestimmte Luxusgüter zu schenken, aber sie hatte es immer aus Stolz abgelehnt, anfangs höflich, später dann energischer bis ihr Herr begriffen hatte, dass sie niemals solch teure Geschenke von ihm annehmen würde.
Khandra hoffte nur, dass er den Grund dafür auch wirklich verstanden hatte.
Die Waldläuferin schüttelte resignierend den Kopf, als sie ihren unverbesserlichen Herren beobachtete, wie er emsig damit beschäftigt war, sein chaotisches Zimmer aufzuräumen, um den Bediensteten ein wenig ihrer Arbeit abzunehmen, ohne zu realisieren, dass er die Meisten von ihnen damit in ihrem Stolz kränkte, da diese glücklich mit ihrem Schicksal waren, einem Erzdruiden und seiner Familie dienen zu dürfen.
Das Gleiche galt auch für Khandra.
„Und?“ fragte Chigen erneut.
„Nichts dergleichen. Euer... dein Vater hat mich beauftragt dich zur Halle des Rates zu geleiten.“
Chigen hielt inne und schaute Khandra fragend an.
„Am Mittag soll eine öffentliche Versammlung stattfinden.“
„Aus welchem Anlass?“
„Ich vermute aufgrund der Ereignisse dieser Nacht.“
Chigen hatte plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
War es vielleicht doch mehr als nur ein böser Traum gewesen, der ihn des Nachts um den Schlaf gebracht hatte?
„Erzähl bitte.“
„Nun, es scheint, als ob es einen tragischen Vorfall gegeben haben soll. Einige Waldläufer und Druiden sowie reisende Händler sollen dabei zu Tode gekommen sein.“
„Aber das ist doch eigentlich nichts Ungewöhnliches“, begann Chigen irritiert. „Versteh mich nicht falsch, es ist furchtbar, aber deswegen wird doch keine öffentliche Versammlung einberufen.“
Khandra nickte mit wissendem Ausdruck auf dem Gesicht.
„Das ist wohl wahr. Aber es handelte sich bei dem Überfall nicht um die Tat von Skar, sondern den Worten des einzigen Überlebenden nach um die von Bestien.“
Chigen verstand noch immer nicht ganz, was Khandra an seinem weiterhin fragenden Gesichtsausdruck ablesen konnte.
„Ich weiß, du denkst, dass auch dies nichts Alarmierendes sei. Aber laut Aussage des Mannes sollen es zahlreiche Bestien gewesen sein. Und sie sollen sich mordlustig, mit Wahnsinn in ihren Augen, auf die Karawane gestürzt haben. Als wären sie darauf aus gewesen, die Menschen zu töten, nicht zu fressen.“
Chigen schluckte hörbar. Die Bestien waren Raubtiere, teilweise von monströsen Ausmaßen und mit magischen Kräften versehen, aber dennoch verhielten sie sich wie ihre kleineren Artgenossen; sie jagten, um zu fressen und flohen, wenn sie bemerkten, dass ihre Beute ihnen überlegen war, was meistens der Fall war, wenn sie sich eine Handelskarawane zum Ziel gemacht hatten, die von Waldläufern und Druiden beschützt wurde.
Aber laut Khandras Schilderung hatte sich dieses Rudel eher wie eine Bande von Skar-Plünderern verhalten, wobei diese meist auch ihre Grenzen kannten.
Chigen spürte deutlich, wie jenes starke Gefühl, das er in der Nacht empfunden hatte, zurückkehrte, jene schreckliche Angst, die seinen Geist einem Blitzschlag gleich durchfuhr, sich wie ein kleines Feuer in einem trockenen Heuhaufen ausbreitete. Er stellte sich vor, dass es sich ungefähr so für jene Osra angefühlt haben musste, als sie realisierten, dass die Bestien sich dieses Mal nicht vertreiben lassen würden.
Chigen wurde plötzlich von einem unbändigen Drang erfasst jenem Rätsel auf den Grund zu gehen. Seine morgendliche Lethargie war wie weggefegt und mit entschlossener Miene sagte er: „Lass uns sofort aufbrechen, Khandra.“
Khandra nickte und wollte vorausgehen, doch Chigen stürmte bereits vor ihr aus dem Zimmer und eilte den Flur zum Treppenhaus entlang mit einer Entschlossenheit, welche die Kriegerin noch nie zuvor bei dem trübsinnigen, unzufriedenen Mann erlebt hatte. Auch sie verspürte einen gewissen Drang, mehr über die Geschehnisse in den Wäldern von Nasriel herauszufinden, bei ihr lag jedoch der Fokus mehr auf dem Wunsch, alles für den Schutz ihres Herren zu tun. Momentan war die erfahrene Waldläuferin davon überzeugt, dass es sich um einen Ausbruch der Tollwut handeln musste, eine Krankheit, die in der Vergangenheit schon häufiger Tiere in den Wahnsinn getrieben hatte.
Während Khandra noch über Chigens plötzlichen Aufbruch nachdachte und langsamen Schrittes die Stufen hinabstieg, befand sich der junge Mann bereits in den Gärten des Anwesens und hielt zielstrebig auf die breite Allee von Nasriel zu, die ihn zur Halle des Rates führen würde. Auch wenn es ihn mit Trauer erfüllte, dass letzte Nacht mehrere seiner Mitmenschen ums Leben gekommen waren, so stellte dieses Ereignis doch endlich etwas Spannendes im eintönigen Dasein des jungen Druiden dar.
Lange Zeit war er nicht mehr so aufgeregt gewesen wie am heutigen Morgen.
Auf jener breiten, von blühenden Laubbäumen flankierten Allee, die sich von Norden nach Süden durch die Stadt zog, herrschte an jenem angenehm warmen Frühlingsmorgen bereits reges Treiben.
Von zahlreichen Marktständen aus wurden Kleider aus feinen Stoffen, Früchte und Gemüse in allen Formen und Farben sowie frisch gefangener Fisch und Fleisch feilgeboten. Es duftete nach Kräutern und Blumen, vermengt mit starken Fischgeruch und den Aromen frisch gepflückter Gewürze. Die Sonne strahlte wärmend und hell auf die Menschen herab, die sich in einem stetig anschwellenden Gewimmel zwischen den Ständen tummelten, oder auf den Terrassen von Lokalen und Gasthöfen ihr Frühstück einnahmen.
Im Falle des hünenhaften und wohlbeleibten Ginzo Jagoh handelte es sich dabei um mehrere Teller mit krossem Speck und Rührei, sowie einem halben Laib Brot und einer Kanne kräftigen Schwarztees. Für den in die Jahre gekommenen Druiden stellte das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages dar, auch wenn er nicht abgeneigt war ebenso ausschweifend zu Mittag und zu Abend zu essen. Wenn ihn jemand darauf aufmerksam machte, dass es bei solchen Mengen an täglicher Nahrung kein Wunder war, dass er das ein oder andere Pfund zu viel mit sich herumtrug, antwortete Ginzo stets schmunzelnd, dass er ja schließlich für zwei essen müsse. Damit bezog sich der alte Abenteurer auf sein anderes Ich, denn Ginzo war einer der wenigen Wandler unter den Druiden, er hatte die Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln, was als die Schwierigste der drei Disziplinen der natürlichen Macht galt. Vielen Osra mangelte es an der mentalen Stärke, in die Gestalt eines Tieres zu wechseln ohne sich von dessen wildem Instinkt übermannen zu lassen, was schon häufig zu tragischen Unfällen geführt hatte.
Bei Ginzo handelte es sich bei dem Tier seiner Wahl um einen Twahoo, eine kolossale, zottelige Bestie, die an eine Mischung aus einem Gorilla und einem Faultier erinnerte, was für Ginzo auch der hauptsächliche Grund war, es zu wählen. Ginzo war der Meinung, dass er im Grunde nur eine zivilisierte Form des Twahoos war, faul und stets hungrig, aber im Kampf flink und kräftig.
Ein seliges Lächeln breitete sich auf dem wettergegerbten, pausbäckigen Gesicht des Druiden aus, als der Wirt des Lokals einen weiteren Teller mit dampfenden Speck auf den Tisch vor ihm stellte.
„Ich hab das Gefühl, dass dein Appetit noch mit dem Alter wächst, anstatt zu schrumpfen“ meinte der untersetzt wirkende Wirt Aglus mürrisch, mit welchem Ginzo schon seit vielen Jahren befreundet war.
„Ach weißt du, mein lieber Aglus, ich mag zwar schon alt und grau sein, aber meine bessere Hälfte kann bis zu zweihundert Jahre alt werden. Er befindet sich also in der Blüte seiner Jugend und muss doch schließlich noch groß und stark werden.“ Ginzo lachte polternd, während sein alter Freund verärgert schnaubte, der allmählich die Ausreden für das dekadente Schlemmen Ginzos nicht mehr hören wollte.
Natürlich entsprach es der Wahrheit, dass Twahoos in der Regel so alt werden konnten, aber Ginzos Twahoo existierte nicht wirklich, sondern stellte nur eine andere Form des alten Osras dar. Wenn Ginzo aufhören würde zu existieren, dann würde es der Twahoo natürlich auch, das war beiden Männern bewusst. Aglus wusste jedoch, was tatsächlich hinter dem exzessiven Speisen, das am Abend meist noch durch ausschweifende Trinkgelage ergänzt wurde und dem schelmischen, albernen Verhalten seines alten Freundes steckte.
Ginzo hatte einst zu den angesehensten und ehrgeizigsten Druiden des gesamten Reiches gehört, viele hatten ihm eine glorreiche Zukunft als Lehrmeister an der Akademie von Nasriel oder einen anderen hohen Posten in der Gemeinschaft prophezeit. Doch das Schicksal hatte dem gutmütigen Mann übel mitgespielt: erst war seine Frau an einer seltenen Krankheit verstorben, dann war sein einziger Sohn bei einer Expedition zu den damals noch unerforschten Splitterinseln im Nordwesten Osra Dilgarms verschollen und nie wieder zurückgekehrt.
Ginzo hatte diese Verluste nie überwunden, hatte all seine Ambitionen fallen lassen und war zu einem Rumtreiber geworden, der seinen fragwürdigen Lebensstil durch das gelegentliche Eskortieren von Karawanen durch die gefährliche Wildnis finanzierte. Erst heute Morgen war Ginzo von einer langen Reise aus den Haradris-Sümpfen im Süden Nasriels zurückgekehrt und wie Aglus wusste, würde der Druide erst wieder in einigen Wochen nach Arbeit suchen, nachdem er seinen gesamten Lohn für Essen und Wein ausgegeben haben würde. Aglus hatte oft versucht, seinen alten Freund wieder auf den rechten Weg zu führen, aber allmählich war er es einfach leid, ständig nur Witze und Blödeleien als Erwiderungen für seine ernstgemeinten Ratschläge zu kassieren.
Ginzo stieß wie zur Bestätigung von Aglus Verdruss einen donnernden Rülpser aus, was dem alten Druiden mehr als nur einen abfälligen Blick von den anderen Gästen einbrachte, die ihr Frühstück ebenfalls auf der Terrasse verzehrten.
„Mensch, Twahoo, nimm Rücksicht auf die anderen Gäste!“ sagte Ginzo daraufhin zu sich selbst und lachte wieder polternd.
Aglus verdrehte nur stöhnend die Augen.
„Entschuldigung“ flüsterte Ginzo in gespielt schamvollem Tonfall.
Der Wirt machte nur ein wegwerfende Handbewegung und wendete sich seinen anderen Gästen zu.
Verschmitzt grinsend beendete Ginzo seine Mahlzeit hastig und lehnte sich mit aufgeblähtem Bauch auf seinem Stuhl zurück. Er strich sich das strähnige, graue Haar aus dem Gesicht und fuhr sich mit der Hand durch den wilden Vollbart auf der Suche nach Krümeln oder anderen Resten seines Frühstücks, um nicht völlig würdelos zu erscheinen.
Selbstverständlich war sich der alte Druide seiner Lage bewusst, verstand die Sorge seines Freundes und die abschätzigen Blicke seiner Mitmenschen. Aber all das kümmerte Ginzo wenig, seit ihm seine geliebte Irenyes und sein geliebter Saihto genommen wurden. Genauso wenig scherte er sich noch um die Regeln seines Volkes und dessen Religion.
Einst war er den Lehren der Essenz geradezu blind gefolgt, aber was hatte es ihm gebracht? Nur Kummer und Leid.
Seine Glaube hatte ihn sogar daran gehindert bei seiner Frau zu sein, als sie ihn am meisten gebraucht hätte. Anstatt bei ihr zu bleiben, als sie gesagt hatte, dass sie sich krank fühle, war er zu einem Treffen von Wandlern aus ganz Osra Dilgarm in Yokun gereist, um über verschiedene Formen der Verwandlung zu philosophieren. Als Ginzo zwei Wochen später zurückkehrte, hatte man sie bereits beerdigt.
Aber nicht genug, statt seinen Sohn auf die gefährliche Expedition zu den Splitterinseln zu begleiten, hatte er seine Arbeit als Lehrmeister in Nasriel vorgeschoben. Saihto kehrte nie wieder heim, ebenso wie der Rest seiner Truppe.
Ginzo hätte ihn beschützen müssen, er hätte Irenyes Hand halten sollen, als sie ihre Reise ins Jenseits antrat. Aber sein Glaube und sein Ehrgeiz hatten seine wahren Pflichten verschleiert.
Ein gewisser Teil seiner damaligen Überzeugungen war geblieben, Ginzo glaubte fest daran, dass seine Lieben wieder Teil der Essenz, des Ursprungs geworden waren und als neue Wesen wiedergeboren werden würden, aber mit der Religion und ihren weltlichen Vertretern hatte Ginzo abgeschlossen.
Alleine die Tatsache, dass er weiterhin über die Magie der Verwandlung verfügte, bestätigte seine Ansicht, dass die religiösen Regeln und Rituale der Osra eine Farce waren. Entweder man besaß das Potential der druidischen Magien, oder man tat es nicht, daran konnte kein Gebet oder Selbstaufopferung etwas ändern.
Ginzo holte seinen treuen Begleiter, eine längliche Pfeife aus Ebenholz, aus der Bauchtasche seines beigefarbenen Stoffhemdes und kramte in seinen braunen kurzen Hosen nach Tabak und Zündhölzern. Als der alte Osra endlich fündig geworden war, stopfte er das stark duftende, dunkle Kraut in die vom Ruß geschwärzte Kammer und entzündete es, während er kräftig am Mundstück zog.
Mit einem erleichterten Seufzen blies er den dicken Qualm aus seinem Mund und legte seine, in abgelatschte Sandalen gehüllten, schwieligen Füße auf den Tisch, was ihm einen weiteren wütenden Seitenblick von Aglus einbrachte. Während der Tabak seine beruhigende Wirkung in Ginzos Leib verbreitete, beobachtete der Wandler satt und zufrieden das Treiben auf der Hauptstraße Nasriels.
Aus irgendeinem Grunde beschlich ihn das Gefühl, dass die Menschenmenge am heutigen Morgen um ein Vielfaches größer war als an sonstigen Tagen, was nicht an besonderen Angeboten der Marktstände lag. Es bildeten sich Gruppen, in denen teils heftig diskutiert wurde, auch patrouillierten mehr Wachen als sonst auf den Straßen und um Nasriel herum, wie Ginzo bei seiner Ankunft am frühen Morgen festgestellt hatte.
Als Aglus an seinem Tisch vorbeikam, stoppte ihn Ginzo mit einem Winken, ohne den Blick von dem Geschehen abzuwenden.
„Jetzt sag bloß nicht, dass du noch mehr willst!“ plusterte sich der Wirt mit rotem, schwitzenden Gesicht bereits auf, aber Ginzo schüttelte mit ungewohnt ernster Miene seinen Kopf.
„Ist irgendetwas in meiner Abwesenheit vorgefallen?“
„Ach ja, du bist ja erst heute wiedergekommen. Gestern Nacht soll irgendwas im Wald nördlich der Stadt passiert sein. Keine Ahnung, was es genau damit auf sich hat, aber es scheint etwas Schlimmes gewesen zu sein. Der Rat hält gleich eine öffentliche Versammlung ab.“
„Gehst du nicht hin?“
„Nein, ich hab zu tun. Meine Frau wird mir nachher alles erzählen.“
Immer noch auf die Menschenmenge fokussiert nickte Ginzo nur und Aglus ließ es dabei bewenden und begrüßte neue Kundschaft, die auf der Terrasse eintraf.
Es hatte schon seit Monaten keine öffentliche Ratsversammlung mehr gegeben, was alleine schon ungewöhnlich genug war. Aber zudem beschlich Ginzo ein merkwürdiges Gefühl von Unsicherheit, was seiner Meinung nach noch von einem schrecklichen Alptraum herrührte, der ihn in der gestrigen Nacht heimgesucht hatte. Doch der alte Druide beschäftigte sich nicht länger mit diesem Gedanken, denn eine imposante Gestalt bewegte sich schnellen Schrittes an ihm vorbei, gefolgt von einem Tross von Waldläufern und Druiden.
Meister Yockt Valken hielt zielstrebig auf die mitten im Stadtzentrum liegende Halle des Rates zu, während sein Gefolge emsig versuchte mit ihm Schritt zu halten.
Der hochgewachsene, hellhäutige Osra hüllte sich in ausladende, blaue Roben mit hellblauen, gezackten Linien, die von einem grellen Orange umrandet wurden und sich von den Ärmeln bis zum Rücken des Gewandes zogen.
Sein blondes, beinahe goldenes, langes Haar trug er streng zurückgekämmt, sein Gesicht wies markante, männliche Züge auf und seine dunkelblauen Augen spiegelten eine furchteinflößende Entschlossenheit wieder.
Valken war der Jüngste der fünf Erzdruiden von Nasriel und galt zudem als der Zielstrebigste und Impulsivste. Aufgrund der Tatsache, dass er bereits im jungen Alter von dreiunddreißig Jahren alle drei Disziplinen der natürlichen Macht gemeistert hatte, genoss Valken hohes Ansehen in der Glaubensgemeinschaft. Schließlich hatte er mit dieser beachtlichen Leistung manche seiner Amtskollegen um mehr als ein Jahrzehnt überflügelt und musste, laut Lehre der Osra, der Frommste aller Jünger der Essenz sein.
Valken amüsierte sich innerlich über die ehrfürchtigen Mienen seiner Mitmenschen, wie sie sich vor ihn auf den Boden warfen, um ihm, den Frommsten der Frommen, zu huldigen. Er war in Wirklichkeit nie besonders gottesfürchtig gewesen und seinen Status als jüngster Erzdruide in der Geschichte von Osra Dilgarm verdankte Valken seines Erachtens nach seiner schon beinahe krankhaften Disziplin und seinem unbeugsamen Ehrgeiz, seine Ziele um jeden Preis zu erreichen. Aus der festen Überzeugung heraus, dass man die Gaben der Essenz nicht durch Gebete empfing, hatte sich Valken während seines Studiums vollkommen abgekapselt. Täglich hatte er Stunde um Stunde damit verbracht, jene komplizierten magischen Vorgänge zu verinnerlichen und hatte auch nicht davor zurückgeschreckt, die geheimen Schriften seiner Lehrmeister unerlaubt zu lesen und auswendig zu lernen. Wie sehr er es genossen hatte, seine Mitschüler wie Dilettanten dar stehen zu lassen, während er sie reihenweise um mehrere Jahre des Studiums der Magien überflügelt hatte. Nach Abschluss der Lehre war es nur noch reine Formsache gewesen, Valken zum Erzdruiden zu ernennen.
Natürlich gab er nach außen hin den religiösen Meister, den barmherzigen Hirten, der aufgrund seiner geistlichen Macht und seines Charismas hohes Ansehen, vor allem unter den jüngeren Osra, genoss, aber sein eigentliches Anliegen bestand in schnörkelloser, politischer Macht.
Valken träumte seit seiner Jugend von einem straff organisierten Staat, von Fortschritt und Expansion. Doch er hatte bereits früh lernen müssen, dass er seine Ansichten innerhalb der starren, von Tradition und Dogmatismus durchfluteten Strukturen der Osra-Gesellschaft für sich behalten musste, um nicht der Blasphemie angeklagt zu werden, wie es schon vielen Freidenkern vor ihm ergangen war. Valkens Wissen nach stagnierte das Reich der Osra seit seiner Gründung vor mehr als fünfhundert Jahren. Der einzige, wahrnehmbare Fortschritt schien das stetige Wachstum der Bevölkerungszahl zu sein, sowie der daraus resultierende Bau größerer Städte. Doch Valken wollte wesentlich mehr, es verlangte ihn nach einem mächtigen politischen Staatsgefüge, dass sich von einem bis zum anderen Ende Raajas erstrecken sollte, anstatt einer altertümlichen, verweichlichten Religionsgemeinschaft, die für alle Ewigkeit im Status Quo verharren würde.
Jetzt, nach Jahren der Selbstgeißelung und völligen Aufgabe jeglicher persönlicher Gelüste und Freuden, war er seinem Ziel sehr nahe, sein Einfluss innerhalb des Machtkonstruktes von Osra Dilgarm wuchs mit jedem verstreichenden Tag.
Doch mit den alteingesessen Meistern Tunris Amakura und Anselm Ragnon hatte Valken noch zwei mächtige Widersacher, welche die anderen beiden eher unbedeutenden Meister, Auris und Brijes zu kontrollieren wussten und sich gegen jede noch so kleine Änderung der Politik sperrten. Natürlich könnte Valken abwarten bis die Greise das Zeitliche segneten, aber so wie er die beiden kannte, würden diese schon dafür sorgen, dass ihr Erbe von neuen, handverlesen Erzdruiden weitergeführt werden würde.
Valken war allmählich mit seiner Geduld am Ende und hatte bereits drastischere Möglichkeiten in seinem Geiste durchgespielt, um seine Vorstellungen in die Realität umsetzen zu können.
Doch durch die Geschehnisse der letzten Nacht hatte sich alles verändert.
Während jenes mystische Phänomen und der Vorfall in den nördlichen Wäldern den Großteil der Osra in Nasriel beunruhigt hatten, stellten sie für Valken eine Chance dar, eine weitere Sprosse auf der Leiter der Macht.
Denn nicht wenige Mitglieder seines Volkes hassten die wilden, barbarischen Skar, deren Lebensweise sich in keiner Weise mit jener der Osra deckte und wie ihm sein Netzwerk an Informanten innerhalb Nasriels in den frühen Morgenstunden berichtet hatte, glaubten viele Männer und Frauen, dass die Geschehnisse der letzten Nacht auf blasphemische Taten der Skar zurückgingen, dass sie es waren, die den Zorn der Essenz entfesselt haben könnten, der sich in der Form angsteinflößender Träume und dem tollwutartigen Angriff der Bestien manifestiert hatte. Für Valken spielte es keine Rolle, ob dies tatsächlich die Ursache der Geschehnisse war, es lieferte ihm einfach einen triftigen Grund, um mit den räuberischen Skar abzurechnen, die er seit jeher als niedere Wesen betrachtet hatte, als Parasiten, die keinen Platz in seiner Vorstellung eines Staates besaßen.
Doch es gab noch einen viel persönlicheren Grund für seinen Hass auf die Skar, ein dunkler Fluch, der ihn seit seiner Kindheit verfolgte.
Der junge Erzdruide straffte die Schultern und begrub jene traumatischen Erinnerungen unter dem Schleier der Gegenwart.
Vielleicht war es Zeit für einen offenen Krieg, Etwas, dass es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Valken hatte unlängst dafür im Rat plädiert, endlich den ständigen Plünderungen durch die Skar ein Ende zu bereiten, aber stets war er an Tunris und Anselm gescheitert, die sich darauf beriefen, dass es nicht den Lehren der Essenz entsprach, ein anderes Volk anzugreifen, egal wie feindselig es sich ihnen gegenüber verhielt.
Wieder warfen sich Bürger zu Valkens Füßen in den Staub und priesen den Erzdruiden an. Valken konnte sich beim besten Willen nicht ein hinterlistiges Grinsen verkneifen angesichts dieses ironischen Anblickes, zu sehr genoss er die prickelnde Euphorie seines anstehenden Triumphzuges.
Genau in jenem unpassenden Moment kreuzte ein junger Mann den Weg des Meisters und rempelte diesen unsanft zur Seite.
Chigen wurde ebenso unsanft aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich mit Meister Valken zusammenstieß. Seit seinem Aufbruch vom Anwesen seiner Familie Richtung Stadtzentrum, war er gedankenversunken über die Allee geeilt und unbewusst mehreren Zusammenstößen entgangen, doch ausgerechnet in diesem kritischen Moment musste ihn sein Glück verlassen.
Valken bäumte sich mit finsterer Miene vor dem jungen Osra auf, überragte ihn um fast anderthalb Köpfe, was alleine schon ausreichte um den jungen Druiden sichtlich einzuschüchtern. Ein kurzer Blick auf die Leibgarde des Meisters genügte Chigen um festzustellen, dass diese ebenso verwirrt waren, hätten sie doch jeden anderen, der es gewagt hätte, den Erzdruiden anzurempeln, entweder grob niedergeschlagen oder in Gewahrsam genommen. Doch natürlich erkannte ein jeder von ihnen den jungen Mann auf der Stelle als Sohn von Tunris Amakura und sie verharrten mit unschlüssigen Mienen, traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
Valkens Arm schnellte plötzlich einer angreifenden Schlange gleich nach vorne und seine große, kräftige Hand ergriff den Kragen von Chigens Robe. Es kostete ihn kaum Mühe, den jungen Mann einige Zoll vom Boden hochzuheben.
„Wen haben wir denn da, Tunris Amakuras einzigen Spross“ zischte Valken, wobei er den Namen von Chigens Vater auf ein abwertende Art und Weise betonte.
Chigen versuchte sich trotzig aus dem Griff des Mannes zu befreien, aber er hätte auch genauso gut versuchen können, mit bloßen Händen eine alte Eiche zu entwurzeln.
„Hat dich dein Vater keinen Anstand gelehrt, Junge? Was soll ich jetzt mit dir machen? Ein paar Tage in der Arrestzelle wären vielleicht genau das Richtige.“
Chigen suchte nach einer schlagkräftigen Antwort, um seinem aufgeplusterten Gegenüber ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber alleine der herrische Blick, mit dem ihm der Erzdruide bedachte, ließ ihn nur ein paar unverständliche Worte stottern. Valken genoss sichtlich die Verunsicherung des Sohnes von jenem Mann, der ihm unter seinen Amtskollegen am Meisten verhasst war. Aus dem Augenwinkel nahm der stets wachsame Valken eine Gestalt war, die sich mit bedächtigen Schritten näherte, die Hände bereits an den Heften ihrer Klingen.
Khandra fühlte sich elend in jenem Augenblick.
Wie hatte sie es zulassen können, dass ihr Herr in eine solch prekäre Situation geraten war? Doch sie war bereit auf Meister Valken loszugehen, falls dieser in irgendeiner Form versuchten sollte, Chigen etwas anzutun, denn ihre Loyalität galt in erster Linie der Familie Amakura und nicht dem Rat der Erzdruiden. Zudem fand sie das Verhalten des unsympathischen Meisters mehr als übertrieben und nicht eines Geistlichen würdig.
Valkens Lächeln wurde nur noch breiter, als er die Absichten der Waldläuferin erkannte. Er wollte die Nerven der Frau bis aufs Äußerste strapazieren. Doch die Situation änderte sich plötzlich, als ein massiger, alter Mann neben ihm auftauchte und mit übertrieben krächzender, vom Alter beeinträchtigter Stimme sagte: „Entschuldigt, ehrwürdiger Meister. Aber den jungen Mann trifft keine Schuld. Ich war es, der ihn als erstes angerempelt hat. Er geriet ins Taumeln und traf euch. Bitte, bestraft mich an seiner Statt.“
Ginzo unterstrich seine Aussage, in dem er schwerfällig und röchelnd auf die Knie sank.
Valkens Blick schwankte zwischen Abscheu und Irritation über das Auftreten des alten Kauzes. Doch allmählich wurde er sich der neugierigen Blicke der Passanten bewusst und erkannte, dass es für ihn eher nachteilig wäre, dieses Spiel fortzusetzen, galt doch Chigen Amakura aufgrund seiner contra elitären Einstellung als beliebt unter den einfachen Leuten. Zudem hatte er weitaus wichtigere Dinge am heutigen Tag zu erledigen als einen tagträumenden Taugenichts zu bestrafen. Also ließ Valken es dabei bewenden, setzte Chigen, der mittlerweile vor Wut und Peinlichkeit puterrot angelaufen war, behutsam auf den Boden ab und verließ die Szenerie schnellen Schrittes.
Khandra eilte sofort an die Seite ihres Herren, das Gesicht von Sorge und Scham gezeichnet.
Chigen lächelte nur beschwichtigend, nachdem er tief durchgeatmet hatte.
“Mach dir nichts draus, Khandra. Hilf lieber meinem edelmütigen Retter auf die Beine.“
Die Waldläuferin nickte dankbar und ergriff den Arm des alten Mannes, doch dieser erhob sich auch ohne Hilfe überraschend schnell, was die beiden jüngeren Osra stutzen ließ.
„Habt Dank, junges Fräulein, aber ganz so alt und gebrechlich bin ich nun auch wieder nicht“, sagte Ginzo in seiner gewöhnlichen, fröhlichen Stimmlage, mit schelmischem Grinsen auf den pausbäckigen Gesicht, während er sich den Staub von den Hosenbeinen klopfte.
„Na ja, wenigstens noch nicht.“ Er schloss mit einem polternden Lachen.
Chigen, der zwar immer noch dankbar war, aber die grobe, alberne Art des alten Osras bereits jetzt als übertrieben empfand, reichte diesem zögerlich die Hand.
„Ich danke euch...“ setzte er an, um seinem Gesprächspartner einen Namen zu entlocken.
„Ginzo Jagoh, zu euren Diensten, Chigen Amakura, Sohn von Erzdruide Tunris Amakura“, antwortete Ginzo lächelnd und schüttelte dem jungen Mann so kräftig die Hand, wie es nach Chigens Auffassung ansonsten nur Meister Valken in ganz Nasriel vermochte.
Khandra erkannte den Namen des alten Druiden, ließ sich jedoch vorerst nichts anmerken, sondern nickte nur höflich, als Chigen sie Ginzo vorstellte, was die meisten anderen Aristokraten niemals für ihre Untergebenen tun würden.
„Ich will nicht undankbar erscheinen, aber warum habt ihr mir geholfen, Ginzo? Hattet ihr keine Angst, dass euch Meister Valken hart bestrafen könnte?“
„Eine gute Tat an einem jeden Tag, das hat Mutter mir immer gesagt!“ antwortete Ginzo und stimmte erneut in sein ihm typisches Gelächter ein.
Chigen schüttelte nur verwirrt den Kopf. „Ihr seid ein wenig seltsam.“
„Nun, das hat mir meine Mutter auch immer gesagt!“
Ginzo begann so heftig zu lachen, dass sein Kopf rot anlief und Schweißperlen seine Stirn herabliefen.
Chigen war langsam seines Gegenübers überdrüssig.
„Wie dem auch sei, habt Dank. Wir müssen jetzt gehen.“
Chigen wollte sich bereits abwenden, als Ginzo plötzlich ernst erwiderte: „Seid auf der Hut, junger Chigen. Ich werde nicht immer da sein können, um euch zu beschützen.“
Der junge Osra musterte Ginzo interessiert und befremdet zugleich.
Er nickte ihm noch einmal zu und begab sich dann mit Khandra Richtung Ratshalle.
Als sie außer Hörweite des Druiden waren, sagte Chigen: „Ein merkwürdiger Mann, das Alter scheint ihm zugesetzt zu haben.“
„Da bin ich mir nicht so sicher, Chigen. Ich kenne ihn, oder besser gesagt, ich weiß, wer er war. Einst zählte Ginzo Jagoh zu den mächtigsten Wandlern des Reiches.“
Chigen verlangsamte seinen Schritt und blickte seine Freundin mit fragendem Ausdruck auf dem Gesicht an.
„Schlimme Ereignisse in seiner Vergangenheit sollen ihn gebrochen haben. Aber man munkelt, dass unter der Fassade des albernen, verrückten Kauzes ein hellwacher Geist steckt.“
Während sich die beiden jungen Osra durch die Menschenmenge gen Haupteingang drängelten, sah sich Chigen noch einmal zu Ginzo um.
Dieser stand mit leerem Blick am Straßenrand und murmelte leise vor sich hin: „Ich konnte Saito schließlich auch nicht beschützen“
Der Innerraum der Halle des Rates war rund angelegt, halbkreisförmig erhoben sich Sitzbänke aus hellbraunem Holz wie die Stufen einer Treppe, während in der Mitte ein ovales, steinernes Podium mit gepolsterten, komfortablen Stühlen für die Erzdruiden und ihre Begleiter stand. In der kuppelartigen, von Efeuranken überwucherten Decke befanden sich mehrere Oberlichter, durch die warme Sonnenstrahlen ins Innere fielen, wie durch Löcher einer Wolkendecke.
Auf der gesamten Wand hinter dem Podium der Erzdruiden hatte ein begnadeter Künstler das Symbol des Osra-Glaubens abgebildet; eine hellblaue, schimmernde Sphäre, von der weiße Wurzeln in alle Himmelsrichtungen ragten, umgeben von den Bildnissen verstorbener Erzdruiden in Ausübung der drei Magien der Essenz. So war zu sehen, wie ein Erzdruide über kranken Menschen aufragte und grünliches Licht von ihm ausstrahlte, das ihnen ihre Leiden nahm. Andere Meister dirigierten mit ihren Händen beschworene Flutwellen oder lebendig gewordene Bäume und wieder andere waren zur einen Hälfte als Mensch und zu Anderen als Bestie dargestellt.
Chigen befand, dass jenes wundervolle Kunstwerk allmählich verblich und vielleicht aufgefrischt werden sollte.
Er stellte sich gar vor, dass dieser Umstand auch symbolisieren könnte, dass die Gemeinschaft, für das jenes Bild stand, eine Auffrischung benötigte.
Als Chigen und Khandra in die Halle eintraten, hatten bereits einige Meister auf dem Podium Platz genommen. Die hagere, blasse Brijes, die sich mit dem stets nervös wirkenden, kleinwüchsigen Auris unterhielt, sowie Valken, der Chigens Auftauchen sofort mit einem abschätzigen Blick quittierte.
Doch die Aufmerksamkeit des jungen Druiden beschränkte sich bald nur noch auf seinen Vater Tunris, der vor dem Podium stand und sich mit seinem Amtskollegen und besten Freund Anselm Ragnon beriet. Der wohlbeleibte, dunkelhäutige Anselm bemerkte Chigen als Erster und nickte ihm freundlich lächelnd zu. Chigen erwiderte die Begrüßung, doch wirkte sein Lächeln gezwungen, was jedoch nicht sein Verhältnis zu Anselm widerspiegelte, welchen er beinahe als eine Art Onkel schätzte und verehrte. Alleine die Anwesenheit seines strengen Vaters nahm Chigen den Wind aus den Segeln, ließ jenen euphorischen Tatendrang, den er nach Khandras Bericht verspürt hatte, wie eine Seifenblase zerplatzen.
Wenn Tunris Amakura Eines im Leben des jungen Mannes darstellte, dann war es die absolute, unumstößliche Autorität, ein Staudamm, der Chigens Fluss der Sehnsüchte stets aufhielt. Wann immer Chigen den Wunsch verspürt hatte, aus dem Gefängnis seines Blutes auszubrechen, in andere Städte zu reisen oder sich Expeditionen in fremde Länder anzuschließen, war es sein Vater gewesen, an dem er letztendlich gescheitert war. Tunris hatte für Chigen einen ganz bestimmten Lebensweg vorgesehen, ein Leben des Studiums als Vorbereitung darauf, irgendwann in seine Fußstapfen zu treten und Meister der Osra zu werden.
Doch mittlerweile schien es offensichtlich, dass es dazu nie kommen würde, schließlich war Chigen nicht im Stande dazu, die Auflagen, um in die Sphären der Erzdruiden vorzustoßen, zu erfüllen. Ein jeder Lehrmeister der Akademie hatte Chigen bedauernd mitgeteilt, dass er niemals alle drei Disziplinen meistern würde. Natürlich hatte man auch Tunris davon ins Bild gesetzt, aber trotzdem hielt dieser an seinem Plan fest und gestattete seinem Sohn in keinster Weise, von dem Weg, den er für ihn vorgesehen hatte, abzuweichen. Hinter verschlossenen Türen äußerten sich viele Druiden kritisch über Tunris Entscheidungen, was seinen Sohn betraf, aber Chigen selbst glaubte, den wahren Grund dafür zu kennen: Sein Vater hatte Angst. Er fürchtete sich davor, Chigen zu verlieren, so wie er seine Frau, Chigens Mutter, Serpia, verloren hatte. Natürlich verstand der junge Osra die Ängste seines Vaters, aber es erfüllte ihn immer wieder mit Wut und Resignation, dass dieser sich ihm nie mitteilte, ihm niemals wirklich sagte, was er empfand. Auch hatte Tunris ihm nie erzählt, woran seine Mutter gestorben war.
So lebten die beiden nun schon seit Jahren aneinander vorbei, entfremdeten sich mit jedem verstreichenden Tag ein wenig mehr voneinander.
Chigen fühlte sich wieder kraftlos und traurig, spielte bereits mit dem Gedanken umzukehren und den Rest des Tages im Bett zu verbringen.
Tief in seinen Gedanken versunken, bemerkte er nicht einmal, wie Tunris, nachdem dieser noch ein paar Worte mit Anselm gewechselt hatte, sich auf ihn zu bewegte. Khandra sank ehrerbietig auf ein Knie und senkte den Kopf.
„Ich grüße euch, ehrwürdiger Meister Amakura.“
Tunris erwiderte auf die huldigende Begrüßung seiner Dienerin nur ein knappes: „Khandra“ und sprach dann weiter an Chigen gewandt: „Komm, Sohn. Nimm an meiner Seite Platz, die Versammlung wird gleich beginnen.“
Chigen blickte mit seinen traurigen, hellgrünen Augen eindringlich in jene gräulichen seines Vaters, als versuchte er, all seine Frustration mit einem Blick auszudrücken. Tunris starrte ihn verwirrt an, ahnte nicht, wie sehr sein Sohn litt.
Chigen entgegnete mit heiserer Stimme: „Dort ist kein Platz für mich.“
Tunris´ enttäuschte Miene sprach Bände und sein Blick wanderte von links nach rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand Zeuge jener unangenehmen Situation zwischen Vater und Sohn geworden war.
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, begab sich Chigen in Richtung Tribüne um in einer der obersten und am weitesten von den Meistern entfernten Reihen, die eigentlich für das einfache Volk bestimmt waren, Platz zu nehmen. Khandra folgte dem jungen Osra stillschweigend und Tunris wandte sich ab, bemüht, sich seine Enttäuschung nicht ansehen zu lassen.
So verhielt man sich schließlich in der Familie Amakura.
Man schwieg und behielt seine Geheimnisse, die eigentlich keine waren, für sich.
2
Oligarchie
Allmählich füllten sich die Ränge der Halle des Rates und das Flüstern von mehr als Eintausend Osra schallte in der Aula wieder.
Chigen lehnte im Schneidersitz an einem der vielen, von wilden Pflanzen umwucherten Stützbalken, welche die gewölbte Decke des Gebäudes trugen und beobachtete schweigend das Treiben um sich herum. Khandra tat es ihm gleich, stand jedoch die ganze Zeit über hinter ihrem Schützling.
Seit dem kurzen Gespräch mit seinem Vater Tunris, hatte Chigen kein einziges Wort gesagt und Khandra konnte sich nur zu gut vorstellen, worin der Grund für sein betrübtes Schweigen lag. Als langjährige Dienerin der Amakura-Familie hatte sie beobachten müssen, wie Vater und Sohn sich entfremdeten, unfähig über ihre Gefühle und ihr Leid zu sprechen. Doch im Gegensatz zu Chigen, der die unnahbare Strenge seines Vaters als krankhafte Sorge interpretierte, hatte Khandra das beunruhigende Gefühl, dass sich mehr hinter dem kühlen Verhalten des Erzdruiden verbarg. Unter den Dienern der Familie wurde viel getuschelt, dass Meiste waren nicht mehr als Tratsch und hanebüchene Gerüchte. Aber eine der Geschichten, welche die Waldläuferin vom ältesten Bediensteten im Haus, dem kauzigen Gärtner Vranjo gehört hatte, wollte ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Einst hatte dieser ihr im Geheimen erzählt, dass die Gemahlin von Meister Amakura, Serpia, nicht an einer Krankheit vor zehn Jahren gestorben sein sollte, sondern dass ihr Tod in irgendeiner unbekannten Weise Chigen zu verschulden gehabt hatte. Tunris Strenge und Unnachgiebigkeit konnten demnach seine Art sein, Chigen für seine Tat zu bestrafen. Das klang zwar in gewisser Weise plausibel für Khandra, aber der junge Druide war einer der rechtschaffensten und fürsorglichsten Menschen, denen Khandra jemals begegnet war, weswegen sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass er seiner eigenen Mutter Etwas antun würde. Zudem hatte sie auch nicht das Gefühl, dass Chigen sich in irgendeiner Weise schuldig fühlte. Aber dennoch grübelte sie von Zeit zurzeit darüber nach, ob nicht ein Fünkchen Wahrheit in den Worten des alten Vranjo gesteckt hatte.
Eine junge Frau bahnte sich ihren Weg über die Tribüne und hielt zielstrebig auf Chigen zu. Sie hüllte ihre zierliche, weibliche Gestalt in ein dunkelrotes, ärmelloses Stoffhemd mit weißen, blumenähnlichen Symbolen sowie einem dunkelbraunen, bis zu den Knien reichenden Rock mit weißen Fransen. Braune Locken umrandeten ihre weichen, jungen Gesichtszüge und unterstrichen ihre strahlenden, eisblauen Augen.
„Entschuldige, ist der Platz neben dir noch frei?“ fragte sie mit melodischer, wohlklingender Stimme, als sie Chigen erreicht hatte.
Dieser reagierte nicht auf ihre Frage, da er gebannt dem Gespräch zweier Männer lauschte, die eine Reihe vor ihm saßen. Sie diskutierten über eine mögliche Schuld der Skar an den Ereignissen der gestrigen Nacht, ob diese den Zorn der Essenz durch ihre heidnische Lebensführung heraufbeschworen haben könnten.
Chigen hielt diese Begründung für vollkommenen Schwachsinn, da es seiner Meinung nach dem Wesen der Essenz widersprach, die Sterblichen zu bestrafen. Die Essenz war der Kreislauf des Lebens, die Harmonie in der Welt selbst, kein rachsüchtiges, forderndes Wesen. Zudem lebten die Skar seines Wissens nach ähnlich stark verbunden mit der Natur, wie es die Osra taten.
Lediglich ihre Einstellung gegenüber anderen Völkern erschien feindselig.
Die junge Druidin wiederholte ihre Frage höflich, aber erst nach einem leichten Tippen auf Chigens Schulter, realisierte der abgelenkte Osra ihre Anwesenheit.
„Oh, entschuldige..., natürlich, nimm bitte Platz“, sagte Chigen verlegen.
„Vielen Dank“, antwortete das Mädchen und setzte sich.
Chigen wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Diskussion vor sich zu, wodurch er die erwartungsvollen Seitenblicke der jungen Osra nicht wahrnahm.
Khandra räusperte sich übertrieben laut, da sie im Gegensatz zu dem des Öfteren zerstreuten Chigen die junge Frau als Marisol Narita erkannt hatte, eine Kommilitonin ihres Herren und angehende Druidin, welche die Magie der Heilung beherrschte. Als Chigen endlich auch zur Seite blickte, wurde ihm sein Fauxpas bewusst und sein Gesicht nahm eine rötliche Farbe an.
Marisol lächelte nur amüsiert über die Tollpatschigkeit ihres Freundes.
„Schon in Ordnung. Ich scheine ja keinen besonderen Eindruck bei dir hinterlassen zu haben“, meinte sie gespielt verärgert.
„Nein, nein. So ist das nun wirklich nicht. Ich war nur abgelenkt, natürlich hast du Eindruck bei mir hinterlassen“, stotterte der junge Osra unbeholfen.
Als Chigen sich der Zweideutigkeit seiner Aussage bewusst wurde, lief er erneut rot an und wendete verlegen den Blick ab.
Marisol lächelte erneut, jedoch keineswegs in der Absicht den jungen Mann zu verspotten. Insgeheim mochte sie Chigens ungeschickte Art auf eine verdrehte Weise, es unterschied ihn angenehm von anderen Druiden, denen sie an der Akademie begegnete, die meist darauf bedacht waren, eloquent und rational zu wirken.
Das Privileg, ihr Talent zur Magie der Heilung vervollkommnen zu dürfen, in dem sie die Akademie Nasriels besuchte, verdankte Marisol ihrer älteren Schwester Linnga. Diese zählte zu den mächtigsten Heilern des Reiches und hatte den Posten der Bürgermeisterin der nördlich von Nasriel gelegenen Stadt Yokun inne, der Heimatstadt der Familie Narita. Vor einem Jahr hatte Marisol ihr Studium in Nasriel begonnen, machte jedoch bereits große Fortschritte in ihrer Disziplin und die Lehrmeister prophezeiten ihr eine ähnlich glorreiche Zukunft wie die ihrer hochangesehen Schwester.
Im Gegensatz zu Chigen, der es allem Anschein nach eher als Last ansah, einen solch berühmten Vater zu haben, empfand Marisol Stolz darüber, die Schwester einer solch tiefreligiösen und vorbildlichen Person sein zu dürfen und versuchte dem durch eifriges Studieren und gewissenhafte Ausübung ihrer Religion gerecht zu werden.
Chigen bewunderte Marisols gesunden Ehrgeiz, doch empfand er einen gewissen Verdruss über ihre Naivität, die es ihr beinahe unmöglich machte, die Gesetze und Strukturen der Gemeinschaft der Osra zu hinterfragen.
Aber vielleicht hat sie dadurch auch ein sorgenfreieres Leben, anstatt ständig unzufrieden vor sich hin zu grübeln, dachte Chigen.
Ja, er mochte ihre Unbeschwertheit, die so sehr im Kontrast zu seiner eigenen Trägheit stand.
„Ich bin schon sehr gespannt, was uns die ehrwürdigen Meister verkünden werden“, begann Marisol, wie stets geschwätzig. „Mich persönlich hat die letzte Nacht sehr beunruhigt, vor allem, als ich erfuhr, dass viele andere Osra ähnliche Träume oder Gefühle wahrgenommen haben.“
„Ja, mir erging es ebenso“, erwiderte Chigen knapp, einmal mehr in Gedanken versunken.
„Aber ich habe vollstes Vertrauen, dass die Erzdruiden Gewissheit darüber haben, um was für ein Phänomen es sich handelte und was es für die Osra bedeutet“, erwiderte Marisol überzeugt.
Ich würde nicht darauf wetten, dachte Chigen, sprach es jedoch nicht aus.
Er hatte aus irgendeinem Grunde das Gefühl, dass die Erzdruiden ebenso ratlos waren wie der Rest des Volkes.
Sein Vater wirkte heute wesentlich angespannter als sonst und auch die feindselige Art von Meister Valken ihm gegenüber fand er mehr als merkwürdig.
„Wie hast du es wahrgenommen, Chigen?“ fragte Marisol einen Moment später.
„Ich kann es nicht genau beschreiben. Es war eine Mischung aus Traum und Gefühl, es fühlte sich so an, als würde ich fallen, geradezu ewig fallen.“
„So war es bei mir auch!“ rief die junge Druidin euphorisch aus. „Ich habe von einigen Leuten gehört, dass sie sogar Stimmen vernommen haben sollen, andere erzählten etwas über Farben und verschwommene Bilder, die vor ihrem geistigen Auge erschienen.“
„Ich denke, dass darunter der ein oder andere war, der durch eine ausgeschmückte Geschichte auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Ich würde nicht zu viel darauf geben“, erwiderte Chigen mit einer gewissen Arroganz in der Stimme, die Marisol missfiel.
Sie musterte Chigen irritiert, setzte dann jedoch ein herausforderndes Grinsen auf und erwiderte: „Kühne Worte.“
Chigen lächelte müde und sagte:
„Entschuldige, das ist der reine Pessimismus in mir, der da spricht. Beachte mich am besten einfach gar nicht.“
„Das würde mir allerdings schwer fallen“, erwiderte Marisol verschmitzt lächelnd.
Chigen wollte gerade, ein wenig aus der Fassung geraten, Etwas erwidern, als plötzlich Ruhe im Saal einkehrte, als hätte sich eine Glocke der Schweigens über die Versammelten gelegt.
Die fünf Erzdruiden hatten sich erhoben und damit prompt alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Tunris sprach laut und mit fester Stimme: „Seid gegrüßt, Kinder der Essenz.“
In diesem Moment wurde Chigen wieder bewusst, wie viel Macht sein Vater besaß, welch große Verantwortung er mit sich trug. Der junge Osra senkte von Tunris Autorität eingeschüchtert seinen Blick gen Boden, als dieser fortfuhr: „Wir haben uns heute hier versammelt, um über die Ereignisse der letzten Nacht zu sprechen. Viele von euch sind Zeuge jenes Phänomens geworden, das eure Herzen mit Angst erfüllt hat. Und dass heute verkündet wurde, dass es zu einem tragischen Vorfall in den nördlichen Wäldern gekommen ist, gab dieser Angst noch Nahrung. Kein Sterblicher weiß mit absoluter Gewissheit, was die Bestien in einem solchen Maß in Mordlust versetzt hat, aber ich kann euch versichern, dass die Wachen unserer Stadt ihre Bemühungen verstärkt haben und dafür sorgen werden, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen wird.“
Tunris entschlossener Tonfall und sein warmes Lächeln zeigten ihre Wirkung, denn ein zustimmendes Raunen ging durch die Ränge der Anwesenden und vereinzelt waren Lobpreisungen zu vernehmen.
Chigen saß völlig teilnahmslos dar, wenig beeindruckt von den Worten seines Vaters. Tunris fuhr mit fester Stimme fort:
„Was jenes Phänomen angeht, nun, meine Kollegen und ich sind uns einig, dass es sich um eine von der Essenz ausgesandte Warnung handelte, eine Warnung vor dem Schrecken, der sich wenige Stunden danach ereignete. Es scheint, als gäbe es ein Übel in unserer Welt, dass von den Bestien Besitz ergriffen hat, ihre natürliche Art pervertierte und sie in mordlüsterne Kreaturen verwandelte.
Aber gleichzeitig zeigt uns die Essenz damit, dass sie uns beisteht, dass egal was auch passieren wird, wir an unserem Glauben festhalten müssen. Was auch immer für Leid wir erfahren werden, so wie es die Familien der gefallenen Männer und Frauen, die in der Nacht den Bestien zum Opfer fielen, erfuhren, dürfen wir nicht von unserem Weg abkommen. Denn die Essenz ist die einzige Wahrheit, wir sind Teil von ihr und was auch immer uns im Diesseits geschehen mag, wird uns im Jenseits vergolten werden.“
Viele der Osra in der Halle wiederholten unter ehrfürchtigen Verneigungen diesen Leitsatz des Glaubens, manche Tränen der Freude vergießend.
Tunris lächelte und senkte ebenfalls ergeben das Haupt.
Chigen regte sich nicht. Er konnte nicht begreifen, wie leicht sich diese Menschen von den Worten seines Vaters einlullen ließen. Wie sollte denn ein Mensch auch nur im Entferntesten dazu im Stande sein, die Absichten der Essenz zu begreifen?
Der junge Osra erschrak ob dieser blasphemischen Gedanken und schaute sich ängstlich um, als fürchtete er, jemand könnte seine Gedanken lesen und ihn als Ketzer entlarven.
Aber er sah nur selige Gesichter um sich herum, Marisols eingeschlossen.
Chigen fühlte sich elend und fehl am Platze.
Tunris erhob nach einigen Minuten der stillen Andacht wieder das Wort, seine Stimme von Wärme und Mitgefühl durchflutet: „Fürchtet euch also nicht, meine Freunde. Was auch immer die Bestien dazu bewogen hat, unsere Brüder und Schwestern so sinnlos zu töten, ich verspreche euch, wir werden es herausfinden und der Essenz den Dienst erweisen, jenes Übel aus der Welt zu vertreiben.“
Jubel und Applaus brach in der Halle aus, viele Osra erhoben sich von ihren Plätzen und priesen ihren Erzdruiden an.
Chigen gehörte nicht dazu.
Als die Euphorie abschwoll, beendete Tunris seine Rede mit den Worten:
„Ich denke, dass meine Kollegen sich ebenfalls gerne dazu äußern möchten.“
Er wandte sich um und suchte den Blick von Anselm, denn die beiden Meister hatten zuvor genauestens den Ablauf der Versammlung geplant. Während Tunris die religiöse Seite mit seiner Rede abgedeckt hatte, sollte Anselm die Vorgehensweise erläutern, wie mit dieser ungewohnten Situation umzugehen sei. Doch bevor der alte Meister etwas sagen konnte, erhob sich Meister Valken bereits.
„Meister Amakura, wenn ich dürfte?“ fragte er respektvoll.
Tunris versuchte seine freundliche Miene aufrecht zu erhalten, obwohl ihm eher danach war, den aufmüpfigen Valken zurückzuweisen. Der Erzdruide wusste nur allzu gut, was sein aufbrausender, jüngerer Kollege im Sinn hatte, aber angesichts dessen Beliebtheit im Volk konnte er ihm schlecht vor den Versammelten den Mund verbieten. Laut den Leitsätzen der Gemeinschaft waren alle Erzdruiden gleichberechtigt, auch wenn es kaum der Realität entsprach, da Tunris und Anselm den größten Anteil der politischen und religiösen Macht innehatten.
„Natürlich, Meister Valken“, brachte Tunris, so freundlich wie es ihm möglich war, hervor.
„Ich danke euch, Meister“, erwiderte Valken mit einem leichten Hauch von Sarkasmus in der Stimme.
Dann wandte sich der hochgewachsene Osra den Anwesenden zu und begann mit fester, lauter Stimme: „Meine Freunde, ich habe die mutigen Männer und Frauen betrauert, die in der gestrigen Nacht in Ausübung ihrer Pflicht, gefallen sind, aber die Gewissheit, dass sie nun wieder eins mit der Essenz sind, erfüllt mein Herz mit Frieden.“
Nicken und zustimmendes Gemurmel ging von dem Großteil der Anwesenden aus. Tunris, der wieder Platz genommen hatte, biss sich verlegen auf die Lippen, da er es versäumt hatte, seine Betroffenheit über den tragischen Tod der Osra dem Publikum mitzuteilen.
Der erste Punkt ging an Valken.
Dieser fuhr feierlich fort: „Aber da gab es noch etwas Anderes, dass ich jenem Augenblick der Gewissheit verspürte. Den Wunsch, zur Tat zu schreiten.“
Wieder kam Zustimmung von den Anwesenden und selbst Chigen ertappte sich dabei, dass er bekräftigend nickte. Doch dann wurde ihm wieder bewusst, wer da gerade sprach und er schalt sich für seine Unaufmerksamkeit. Chigen vermutete, dass Meister Valken etwas im Schilde führte und er wollte diesem unsympathischen Kerl auf keinen Fall auf den Leim gehen. Valken strahlte in Chigens Augen Etwas aus, das der Frömmigkeit anderer Osra widersprach, in seinem Blick lag eine gefährliche Gier nach Macht.
„Wie Meister Amakura bereits sagte, wuchert ein Übel auf Raaja, Etwas, das die Tiere in mordende Monster verwandelt. Aber wer oder was ist dazu im Stande, eine solche Veränderung hervorzurufen, eine solche Perversion der natürlichen Ordnung?“ fragte der Erzdruide geheimnisvoll.
Valken ließ sich einen Moment Zeit, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, über seine Worte nachzudenken.
„Wir Osra streben seit jeher die Harmonie mit der Natur an, wir preisen sie, schützen sie, kultivieren sie. Doch nicht alle Menschen auf Raaja folgen der Wahrheit der Essenz“, sagte der Meister, wobei seine Stimme bei den letzten Worten einen anklagenden Ton anschlug.
Chigen kniff misstrauisch die Augen zusammen. Jetzt glaubte der junge Druide zu wissen, worauf Valken hinauswollte. Man munkelte bereits seit Langem an der Akademie, dass der junge Erzdruide offensiv gegen die Skar vorgehen wollte, während die anderen Meister eher auf eine defensive Strategie vertrauten.
Valken verstärkte den feindseligen Ton in seiner Stimme, als er fortfuhr:
„Die Skar ziehen plündernd und brandschatzend durchs Land, holzen unachtsam ganze Wälder ab, töten Tiere zum Vergnügen.“
Ein Raunen der Empörung schwappte durch die Halle, als Valken seinen Satz beendete.
Tunris´ Blick durchbohrte den Rücken seines Rivalen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, worauf die Rede des jungen Meisters hinauslief, einmal ganz davon abgesehen, dass er in Bezug auf die Skar maßlos übertrieb. Valkens Aussage über Plünderungen und Brandschatzungen war zwar korrekt, aber die Skar nahmen sich von der Natur nicht mehr, als es die Osra auch taten, so viel musste man den rauen Barbaren zugestehen.
„Es sind die Skar, welche die Natur schänden, während wir versuchen sie zu erhalten“, fuhr Valken mit gifttriefender Stimme fort. „Es sind die Skar, die unsere Dörfer und Karawanen überfallen, während wir nur in Frieden unser Leben führen wollen.“ Er machte eine kurze Pause, um dann unheilvoll hinzuzufügen: „Vielleicht sind es ja auch die Skar, die für den Zorn verantwortlich sind, der die Bestien wie eine Krankheit befallen hat. Vielleicht ist es der Zorn der Essenz selbst, den sie heraufbeschworen haben.“
Während unsicheres Flüstern und Gemurmel durch die Reihen der Anwesenden ging, erhob Meister Anselm Ragnon das Wort: „Aber, verehrter Valken, wie erklärt ihr euch dann, dass die Bestien uns, die Kinder der Essenz, angriffen?“
Tunris nickte Anselm dankbar zu, erfreut darüber, dass sein Freund die Konfrontation mit dem lästigen Valken aufgenommen hatte.
Der junge Meister nahm sein mit Traubensaft gefülltes Glas vom Tisch vor sich und trank von der kühlen, süßen Flüssigkeit, um die, durch Nervosität hervorgerufene Trockenheit in seinem Mund zu bekämpfen. Sein Plan erreichte jetzt die kritische Phase, der Schlagabtausch mit seinen bittersten Rivalen begann. Er durfte sich jetzt nicht von dem cleveren Anselm den Schneid abkaufen lassen.
„Eine gute Frage, Meister Ragnon. Lasst mich...“
Der gewiefte Anselm fiel ihm sofort ins Wort: „Ja, ich weiß, dass es eine gute Frage ist. Eigentlich müsste sich ja der Zorn der Essenz gegen die Skar wenden, da unser Volk ja völlig unschuldig in dieser Angelegenheit ist, nicht wahr?“
Valken lächelte künstlich, um seinen aufschäumenden Zorn zu verbergen.
„Ganz richtig. Aber...“
„Aber, wollt ihr damit sagen, dass die Essenz sich geirrt hat, dass sie nicht zwischen ihren treuen Jüngern und den Barbaren unterscheiden kann? Wollt ihr etwa behaupten, die Essenz sei dumm?“
Anselms anklagende Frage überraschte Valken so sehr, dass er vor Schreck sein Glas fallen ließ. Das klirrende Geräusch, als es auf den Boden aufschlug und zersprang, hallte in der gesamten Halle wieder. Peinlich berührt wies Valken wild gestikulierend eine seiner Dienerinnen an, die Scherben zu entfernen.
Chigen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, vor allem in Hinblick auf seine für ihn peinliche Begegnung mit dem Meister vor der Versammlung.
Valken schluckte hörbar, rieb sich die schweißnassen Hände und lächelte erneut künstlich, als er an Anselm gewandt fortfuhr:
„Keineswegs, verehrter Kollege. Aber wollt ihr ausschließen, dass jenes angsteinflößende Gefühl, dass uns gestern überkam, jene Warnung, wie Meister Amakura es so treffend formuliert hat, nicht vielleicht eine Art Weckruf war?“
Meisterin Brijes, die wie ihr Kollege Auris lieber den anderen Erzdruiden folgte, als selbst zu bestimmen, fragte, um nicht völlig teilnahmslos zu wirken: „Ein Weckruf? Wofür, Meister Valken?“
„Ich glaube, dass die Essenz uns mitteilen möchte, dass die Zeit zum Handeln gegen die Skar gekommen ist“, kam die entschlossene Antwort, die auch einen Hauch von einer Anklage gegen die anderen Meister beinhaltete, die bisher wenig gegen die Skar unternommen hatten.
Tunris´ Miene zeigte unverhohlen seine Wut über die Dreistigkeit seines Kontrahenten, der in seinen Augen ganz offensichtlich die Botschaft der Essenz und den Vorfall der letzten Nacht ausnutzte, um seine eigenen politischen Bestrebungen voranzutreiben. Der alte Meister glaubte zwar daran, dass es ein Übel in der Welt gab, aber er war sich sicher, dass es sich nicht um die Skar handelte, schließlich hatten diese seit jeher ihren eigenen Glauben, oder was es auch immer darstellte, praktiziert und nie hatte die Essenz daraufhin in solch drastischer Weise reagiert. Wahrscheinlich glaubte Valken selbst nicht daran, hatte aber keine Scheu davor, es dem Volk so zu vermitteln, um seinen Einfluss zu festigen.
„Und von welcher Art von Handlung sprecht ihr?“ fragte Anselm, obwohl er die Antwort schon kannte.
„Wir müssen im Namen der Essenz die Skar für ihren Frevel bestrafen!“ rief Valken aus und einige Osra stimmten ihm lautstark zu, während andere besorgt untereinander flüsterten.
„Mit anderen Worten, ihr wollt einen Krieg führen?“ begann Tunris energisch und erhob sich von seinem Platz. „Die Skar sind ein mächtiger Feind, es wird zahlreiche Opfer geben. Wollt ihr dafür verantwortlich sein, viele Osra in den Tod zu schicken?“
„Ich bin es nicht, der diesen Krieg begonnen hat. Die Skar waren es, als sie begannen, die Essenz mit ihrem Heidentum zu vergiften“, entgegnete Valken ruhig und bestimmt, gestärkt durch die immer lauter werdenden Rufe seiner Sympathisanten.
Gleichzeitig erhoben sich aber auch Stimmen gegen den Kriegsgedanken, vor allem von den älteren Osra, die noch die letzten größeren Auseinandersetzungen mit den brutalen, unerbittlichen Skar miterlebt hatten.
Ehemalige Erzdruiden hatten vor mehr als dreißig Jahren versucht, die Skar zu besiegen, aber nach jahrelangen, verlustreichen Kämpfen hatten sie nur erreicht, dass die Barbaren sich in den nördlichen Teil des Landes zurückzogen. Seither hatten die Osra nie wieder die Skar angegriffen, aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Überfälle in letzter Zeit häuften.
Tunris war dieser ganzen Situation allmählich überdrüssig. Es war an der Zeit, seine Autorität in die Waagschale zu werfen, um dieser Kriegstreiberei ein jähes Ende zu bereiten.
„Ich danke euch für eure Meinung, Meister Valken. Aber solange es keinen eindeutigen Beweis für eure Anschuldigungen gibt, werden wir nichts dergleichen unternehmen.“
Valken plusterte sich verärgert auf: „Und was wollt Ihr in der Zwischenzeit tun, wenn ich fragen darf, ehrwürdiger Meister Amakura?“
„Schön, dass ihr fragt“, entgegnete Tunris selbstsicher, dem es gefiel, wenn Valken die Fassung verlor und damit einen Großteil seiner Überzeugungskraft einbüßte.
In der Osra-Gesellschaft schätzte man Geduld und Gelassenheit, während impulsives und überstürztes Verhalten eher verpönt war.
„Wir müssen vorerst herausfinden, wie weitreichend jener Wahnsinn ist, der die Bestien befallen hat, schließlich gab es bisher nur diesen einen Vorfall. Hiermit verfüge ich, dass Repräsentanten in unsere Nachbarstädte entsandt werden, um einen Überblick über die Lage im Reich zu gewinnen. Wir müssen uns mit unseren Brüdern und Schwestern in den anderen Städten Osra Dilgarms verständigen und gemeinsam nach jenem Übel suchen.“
Damit schienen die meisten Anwesenden zufrieden zu sein, obwohl es auch einige gab, an deren enttäuschten Gesichtern man ablesen konnte, dass ihnen Valkens Vorgehensweise besser zu behagen schien.
Bis auf Valken stimmten die übrigen Erzdruiden der Entscheidung ihres Kollegen durch Nicken zu.
Valken wollte noch etwas entgegnen, ermahnte sich jedoch, dass er sonst Gefahr laufen würde, als allzu kriegslüstern dar zu stehen. Er musste das Volk so manipulieren, dass es wirklich daran glaubte, dass der einzig richtige Weg war, die Skar anzugreifen, um das Übel aus der Welt zu verbannen.
Er konnte mit sich zufrieden sein, denn der Keim war gesät und er hatte mit Sicherheit weitere Anhänger gewonnen, die seine Botschaft unters Volk bringen würden. Vorerst musste Valken Geduld walten lassen und Tunris die Führung überlassen.
Meister Amakura wandte sich wieder dem Volk zu und sagte mit freundlicher, erhobener Stimme: „Meine Freunde, wir werden nichts unversucht lassen, um diesen Vorfall zu klären und die Ordnung wiederherzustellen. Lasst uns nun gemeinsam für die Gefallenen und für den Segen der Essenz beten. Die Essenz ist die einzige Wahrheit, wir sind Teil von ihr...“
Die Bürger Nasriels stimmten ergeben in das Gebet mit ein.
Chigen beteiligte sich aus Gewohnheit, jedoch schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Er verabscheute Valkens Ansicht, wollte einfach nicht glauben, dass die Essenz den Osra den Auftrag gab, einen Krieg mit den Skar zu beginnen, egal wie falsch deren Verhalten sein mochte. Es musste einen anderen Grund für all das geben und Chigen spürte das unbändige Verlangen, dieses Rätsel zu lösen. Aber wie konnte er darauf hoffen, die Gelegenheit dafür zu bekommen, wenn ihm der mächtigste Mann von ganz Osra Dilgarm dabei im Weg stand, sein Vater, der oberste Erzdruide des Rates?
Es erfüllte sein Herz mit Trauer, als er einmal mehr erkennen musste, dass Tunris Amakura dem Volk mehr Vater war, als er es jemals für ihn sein würde.
Als das Glaubensbekenntnis endete und die Ränge sich allmählich leerten, saß Chigen wieder mit gesenktem Kopf dar und verlor sich einmal mehr in Hoffnungslosigkeit, während die Bürger Nasriels im Vertrauen auf die Worte ihres Meisters zu ihrem Tageswerk zurückkehrten.
Es gab noch einen weiteren Osra, der es nicht allzu eilig hatte, die Halle des Rates zu verlassen. Ginzo Jagoh lehnte an der Wand neben dem Ausgang des Saals und wartete geduldig darauf, dass die Erzdruiden aufbrachen. Auris und Brijes passierten ihn als Erstes, ohne von dem heruntergekommenen Druiden Notiz zu nehmen und auch Valken schien Ginzo nicht mehr wiederzuerkennen oder hatte einfach kein Interesse daran, sich mit ihm auseinander zu setzen.
Ginzo bewegte sich in Richtung des Podiums, auf dem nur noch Tunris und Anselm standen und einige Worte wechselten. Als die beiden Meister seine Anwesenheit wahrnahmen, reagierten sie auf höchst unterschiedliche Art und Weise.
Tunris´ Blick spiegelte all seine Abneigung gegenüber Ginzo wieder, während Anselm ihm freundschaftlich zunickte.
Die drei alten Männer verband eine weit zurückliegende Vergangenheit.
Einst waren sie Freunde gewesen, als sie gemeinsam an der Akademie von Nasriel zu studieren begannen. Ihre Freundschaft hatte auf dem gemeinsamen Ziel beruht, in die Ränge der Erzdruiden aufzusteigen und über das Reich zu herrschen.
Alle drei waren stark im Glauben gewesen, hatten dieselben Vorstellungen, wie das Reich geführt werden sollte. Damals hatten sich die Osra im Krieg mit den Skar befunden und die Glaubensgemeinschaft drohte unterdessen Schrecken zu zerbrechen. Die drei ehrgeizigen Freunde hatten den Willen gehabt, das Reich wieder zu vereinen und die Osra-Gesellschaft auf ihren alten Tugenden zurückzuführen.
Doch ihre Wege hatten sich getrennt, als bekannt geworden war, dass Ginzo nur über die Magie der Verwandlung verfügte und dass ihm deshalb der Rang des Erzdruiden für immer verwehrt bleiben würde. Als Ginzo einige Jahre später seine Magie gemeistert und die Akademie verlassen hatte, hatten ihm seine beiden Freunde Tunris und Anselm geschworen, dass sie ihn als höchsten Berater einstellen würden, sobald sie ihr großes Ziel erreicht hatten.
Doch das Schicksal hatte einen anderen Weg für Ginzo vorgesehen und nach dem Tod seiner Frau und dem Verschwinden seines Sohnes, war die Freundschaft zwischen den drei Männern auseinandergebrochen. Ginzo hatte seiner Wut und Trauer freien Lauf gelassen, hatte die Essenz und ihre Anhänger in aller Öffentlichkeit verflucht. Tunris hatte kein Verständnis für den blasphemischen Zorn seines einstigen Freundes aufbringen können und hatte ihn verhaften lassen.
Nur durch Anselms barmherzigen Einfluss war der verbitterte Druide einer Anklage wegen Ketzerei, die damals in der raueren Zeit der Gemeinschaft der Osra seinen sicheren Tod bedeutet hätte, entgangen, zum Verdruss von Tunris, der rigoros gegen jede Art der Blasphemie vorgegangen war. Ginzos Begnadigung hatte einen heftigen Streit zwischen Tunris und Anselm zu Folge gehabt, der beinahe ihre langjährige Freundschaft zerstört hatte. Ginzo war für zehn Jahre aus Nasriel verbannt worden und es hatte einige Jahre gedauert, bis Tunris und Anselm ihren Streit beigelegt hatten, um gemeinsam über das Reich zu herrschen.
Seit jener Zeit hatten sich die Wege der drei ehemaligen Freunde nicht mehr gekreuzt, bis zu jenem schicksalhaften Morgen in der Halle des Rates von Nasriel.
„Ich grüße dich, alter Freund“, sagte Anselm verunsichert und reichte Ginzo die Hand.
Dieser verneigte sich nur und entgegnete: „Ist es nicht unangemessen, wenn ein Erzdruide einem Gemeinen die Hand schüttelt?“
„Vor allem, wenn es sich dabei um einen Ketzer handelt“, zischte Tunris abfällig, das Gesicht zu einer Maske des Zorns verzerrt.
Anselm, wie immer bemüht, den Frieden zu wahren, meinte: „Tunris, das ist lange her. Lass die Vergangenheit doch ruhen.“
„Und so tun, als wäre nichts gewesen? Dieser Mann ist eine Schande für unsere Gemeinschaft.“
Ginzos Miene verfinsterte sich bei diesen Worten. Durch jene tragischen Umstände, die den Bruch zwischen Tunris und ihm verursacht hatten, hatte Ginzo wenigstens erkennen können, wie kaltblütig und fanatisch sein ehemaliger Freund im Grunde seines Herzens war.
Tunris fuhr abschätzig fort: „Ich habe gehört, wie du jetzt deine Zeit verbringst, Ginzo. Es wundert mich, dass du noch nüchtern bist. Wird es nicht langsam Zeit deine erste Flasche Wein zu leeren?“
Seinem Gegenüber fest in die Augen blickend, erwiderte Ginzo: „Und wird es für dich nicht langsam Zeit, deinem Sohn ein Vater zu sein?“
„Was willst du damit andeuten?“ fragte Tunris mit vor Wut bebender Stimme.
„Es gibt Wichtigeres im Leben eines Mannes, als sich mit Glaube und Politik zu befassen. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche“, antwortete Ginzo ruhig und bestimmt.
Tunris grinste ihn schief an und stürmte ohne ein weiteres Wort aus der Halle.
„Immer noch der Alte“, sagte Ginzo und kicherte vergnügt über seinen kleinen Sieg über den verbohrten Tunris.
„Na ja, nicht ganz, mittlerweile ist er ein Erzdruide und du ein Vagabund. Verscherze es dir nicht wieder mit ihm“, fügte Anselm ernst an, was Ginzos Kichern verstummen ließ.
„Wenn es nach Tunris gehen würde, wäre ich jetzt nicht mehr hier.“
„Dein Abfall vom Glaube hat ihn schwer getroffen, genauso wie mich“, gestand Anselm mit einem Hauch von Trauer in der Stimme.
„Mein Glaube an die Essenz ist noch da, alter Freund. Aber mit eurer fadenscheinigen Gemeinschaft habe ich nichts mehr am Hut.“
„Das habe ich nie begriffen, Ginzo“, begann Anselm verstimmt. „Wie soll denn unsere Gemeinschaft Schuld an deinem Leid gewesen sein? Deine Frau ist eines natürlichen Todes gestorben und dein Sohn...“
In einem plötzlichen Ausbruch brüllte Ginzo: „Sprich nicht von ihnen, Anselm!“
„Ganz ruhig, alter Freund“, sagte Anselm und hob beschwichtigend die Hände.
Ginzo fuhr zornig fort: „Es ist die Saat, die ihr in den Menschen sät, die ich verachte. Ihr fordert sie auf, ihren Glauben zu praktizieren, also mit anderen Worten ihr Leben der Essenz zu opfern. Aber weißt du, darin irrt ihr euch gewaltig und ich hoffe, dass ihr das noch begreifen werdet, bevor es zu Ende geht.“
„Du redest von Familie?“
„Natürlich, was sonst? Wann hast du das letzte Mal mit deinen Töchtern gesprochen, Anselm? Ich hörte, dass sie seit über fünf Jahren in Vidnia leben und du bist sie nicht einmal besuchen gegangen.“
Anselm entgegnete ungehalten: „Ich habe meine Pflichten. Unser Reich würde im Chaos ersticken, wenn wir alle so fahrig wären wie du es zurzeit bist.“
„Aber was nützt einem Ordnung, wenn man keine Liebe erfährt, kein Glück?“ fragte Ginzo verzweifelt.
„Ich erfahre an jedem einzelnen Tag Glück, mit jedem Sonnenauf- und Untergang, mit jeder Handlung im Dienste der Essenz“, entgegnete Anselm, doch Ginzo hatte das Gefühl, eine gewisse Müdigkeit in der Stimme des Meisters zu vernehmen, einen Unwillen.
„Glaub mir, das ist nur Schall und Rauch. Ich hoffe, dass du deine Töchter noch einmal wiedersiehst, bevor du stirbst, alter Freund.“
Anselm musterte Ginzo noch einen Moment, schaute tief in seine traurigen, verbitterten Augen. Er tätschelte die Schulter seines alten Freundes, dann brach der alte Erzdruide auf.
Ginzo verharrte noch einige Augenblicke, starrte auf das Symbol des Glaubens, dass in seinen Augen kalt und leblos wirkte, wie es dort an die Wand gemalt worden war.
Warum vergeudet ihr nur alle euer Leben?, fragte er sich und wandte sich zum Gehen ab. Da bemerkte Ginzo, dass ihn zwei Gestalten von den oberen Rängen beobachtet hatten.
Während Chigen verwirrt war über die überraschende Verbindung zwischen dem alten Ginzo und seinem Vater, empfand Khandra tiefes Verständnis für die Haltung des Druiden. Auch sie hatte einen geliebten Menschen verloren und begriffen, dass ihr der Glaube alleine nicht helfen würde, diesen Verlust zu verschmerzen. Doch im Gegensatz zu Ginzo verurteilte sie nicht die Gemeinschaft dafür. Das lag vielleicht daran, dass es in ihrem Fall tatsächlich jemanden gab, der die Schuld für den Tod ihres geliebten Seamus trug.
Vielleicht würde einmal der Tag kommen, an dem sie Rache üben könnte.
Mit einem traurigem Lächeln nickte Ginzo den beiden jungen Osra zu und verließ die Halle des Rates, bahnte sich seinen Weg durch das Getümmel auf den Straßen Nasriels zur nächsten Taverne, um seinen Kummer im Alkohol zu ertränken.
3
Veränderungen
Nachdem die Versammlung aufgelöst worden war, kehrte allmählich der Alltag auf den erdigen Pfaden von Nasriel ein. Die Osra gingen unter dem wolkenlosen, hellblauen Himmel, ihren täglichen Geschäften nach, in dem festen Glauben, dass die Erzdruiden Herr der Situation waren und der tragische Vorfall in den Wäldern bald aufgeklärt sein würde.
Chigen war allerdings alles andere als überzeugt und saß mit unzufriedener Miene am Ufer eines der zahlreichen Bäche, welche die Stadt gitterartig durchzogen. Der junge Druide ließ seine nackten Füße im Wasser baumeln und stütze sich auf seinen Händen ab, während er das Treiben auf den Straßen beobachtete. Khandra lehnte am Stamm eines turmhohen Laubbaumes und behielt ihren Herren wachsam im Auge.
Chigen bemerkte erst nach einigen gedankenverlorenen Minuten, dass sich Marisol einmal mehr zu ihm gesellt hatte und ebenfalls die Füße ins kühlende Nass eintauchte.
Anders als Chigen war die junge Druidin fest der Überzeugung, dass die Meister ihres Volkes die Zeichen richtig gedeutet hatten, aber sie spürte auch das Verlangen, bei der Aufklärung jenes Mysteriums zu helfen, anstatt wieder zur Akademie zu gehen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Sie glaubte, dass Chigen einen ähnlichen Wunsch hatte, doch sie wusste auch um die gespannte Situation in der Familie Amakura. Marisols Vertrauen in Meister Amakura war, was Entscheidungen für das Volk betraf, uneingeschränkt, aber sein Verhalten gegenüber seinem eigenen Sohn konnte sie nicht nachvollziehen. Es sollte ihrer Meinung nach jedem Menschen in der Gesellschaft der Osra freistehen, seinen eigenen Lebensweg zu wählen, solange jener von Tugend und Glaube geleitet würde.
„Worüber denkst du nach?“ fragte sie Chigen mit sanfter Stimme, nachdem sie einige Minuten vergeblich auf eine Reaktion des jungen Mannes gewartet hatte.
„Über dies und jenes“, kam die knappe Antwort.
„Zum Beispiel?“ bohrte Marisol lächelnd weiter.
„Ich möchte nicht darüber sprechen.“
Chigen wünschte sich in jenem Moment nichts sehnlicher, als alleine zu sein und sich in seiner Traurigkeit zu verlieren. Er mochte Marisol wirklich, aber ihre unbeschwerte Art hielt ihm den Spiegel vor und was er darin sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Wenn sie Optimismus und Lebensfreude verkörperte, dann verkörperte Chigen Pessimismus und Melancholie.
„Darüber zu sprechen hilft manchmal, Chigen.“
„Ja, manchmal vielleicht. Aber in meinem Fall ist es sinnlos.“
„Du hegst den Wunsch, Nasriel zu verlassen und dich an der Suche nach Antworten zu beteiligen“, mutmaßte Marisol.
„Und du gehst mir allmählich auf die Nerven“, antwortete Chigen in gereiztem Tonfall und seine hellgrünen Augen warfen ihr einen zornigen Blick zu.
Marisol ignorierte die Feindseligkeit ihres Freundes, wusste sie doch, dass diese nur seinen Verdruss wiederspiegelte.
„Aber ich habe Recht, nicht wahr?“
„Und wenn schon, was ändert das? Mein Vater wird mich niemals gehen lassen. Er wird sagen, dass es zu gefährlich und mein Platz hier sei. Und was kümmert es dich überhaupt?“
„Du bist ein Freund und ich möchte dir helfen, das ist alles.“
„Es wäre mir eine große Hilfe, wenn du mich einfach in Frieden lassen würdest.“
Marisol nickte und wendete gekränkt ihren Blick ab.
Einige Minuten des Schweigens verstrichen, ehe Chigen reumütig begann:
„Entschuldige bitte, Marisol. Ich danke dir für deine Anteilnahme, aber meine Situation ist hoffnungslos. Ich werde für den Rest meines Lebens in Nasriel bleiben und irgendeiner langweiligen Aufgabe nachgehen, als Berater eines Erzdruiden oder etwas Ähnlichem.“
„Du glaubst nicht, dass du selbst ein Erzdruide werden könntest?“ fragte die junge Frau, innerlich darüber erfreut, dass Chigen das Gespräch wieder aufgenommen hatte.
Seufzend erklärte Chigen:
„Dazu wird es wohl nicht kommen. Die Lehrmeister der Akademie sind sich darüber einig, dass ich nie in die Sphären aller drei Disziplinen aufsteigen werde.“
„Das muss hart für dich sein.“
Marisol wusste schon längere Zeit, dass auch sie nicht dazu im Stande sein würde, alle Magien zu meistern, doch sie hatte nie den Wunsch gehegt, über andere zu herrschen. Ihrem Verständnis von Chigens Seelenleben nach wollte Chigen ebenso wenig ein Erzdruide werden, aber in seinem Fall lasteten die Erwartungen seines Umfeldes schwer auf seinen Schultern, schließlich war er der Sohn von Tunris Amakura, des wohl mächtigsten Erzdruiden des Reiches.
„Keine Sorge, es hat mich nicht allzu hart getroffen. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht verdient“, erwiderte Chigen in resignierendem Tonfall.
„Warum sagst du so Etwas?“
„Mein Glaube ist schwach“, gestand Chigen mit leiser Stimme.
Marisol riss erschrocken die Augen auf.
„Nein, verstehe mich nicht falsch, nicht was den Kern unserer Religion angeht“, fügte Chigen hastig hinzu. „Vielmehr zweifele ich an ihrer Umsetzung in unserer Gesellschaft.“
„Was meinst du damit genau?“
Chigen hielt einen Moment inne, um sich seine Argumente zurecht zu legen.
„Nun, sieh dich um, Marisol. Sieh dir Nasriel an. Was siehst du?“
„Eine wunderschöne Stadt im völligen Einklang mit der Natur, ein Zentrum des Glaubens an die Essenz“, antwortete die junge Osra überzeugt, nachdem sie ihren Blick über jenen kleinen Teil von Nasriel streifen ließ, den sie von hier aus überblicken konnte.
„Fällt dir nichts auf? Merkst du nicht, dass etwas fehl am Platze ist?“ fragte Chigen energisch.
Marisol entging keineswegs die Veränderung in Chigens Stimme. Seine Resignation war einem inneren Feuer gewichen, das die junge Druidin so noch nie bei ihm erlebt hatte.
„Ich weiß nicht was du meinst“, erwiderte Marisol etwas irritiert.
„Steht nicht in den Lehren unseres Glaubens geschrieben, dass alles Leben ein und denselben Ursprung hat und deshalb als gleich zu behandeln ist?“
„Natürlich.“
„Warum besteht dann dieser offensichtliche Klassenunterschied? Warum leben die Erzdruiden und Kaufleute im Luxus und ein Großteil des Volkes in klapprigen Holzhütten?“, fragte Chigen herausfordernd.
Marisol musste einen Moment darüber nachdenken.
„Ich denke, dass die Meister es sich durch ihren Glauben und ihre Disziplin verdient haben, ein wenig wohlhabender zu sein.“
„Glaubst du das wirklich, Marisol? Glaubst du wirklich, dass der Glaube eines Bauern geringer ist, als der eines Meisters?“
„Ich schätze ja“, antwortete die junge Osra zögerlich. Marisol fühlte sich allmählich unbehaglich, denn sie musste sich eingestehen, dass sie sich selbst solche Fragen noch nie gestellt hatte.
„Wenn das wahr wäre, dann würde das ja bedeuten, dass ein Großteil der Bevölkerung gar nicht wirklich an die Essenz glaubt“, entgegnete Chigen aufgebracht. Er bemerkte, dass er es in gewisser Weise genoss, Marisol an den Pranger zu stellen. Andererseits realisierte er auch, dass die junge Osra nur als Sündenbock für seine Wut auf seinen Vater und die Gesellschaft, die er repräsentierte, herhalten musste.
„Das habe ich nicht gemeint. Ich glaube nur, dass die Erzdruiden ihren Glauben stärker praktizieren, sich ihm völlig hingeben.“
Chigen war auf diese Antwort gefasst, hatte gehofft, dass Marisol so argumentieren würde.
„Es ist also eine Frage des Aufwandes? Ist dir denn nicht bewusst, warum die Erzdruiden und Menschen in unserer privilegierten Situation ihren Glauben stärker praktizieren können?“
„Nein“, antwortete Marisol mit einem Hauch von Verärgerung in ihrer Stimme.
„Dann werde ich dich aufklären. Weil sie nichts Besseres zu tun haben. Weil sie genügend Geld haben. Weil sie Bedienstete haben, die alles Alltägliche für sie erledigen.“
„Und?“, kam die schwache Antwort der jungen Frau.
„Und was? Realisierst du denn nicht, dass ein einfacher Bauer schlicht und ergreifend weder die Zeit noch die Muße hat, seinen Glauben ausgiebig zu praktizieren? Dass er jeden Tag in der Frühe aufstehen muss um die Felder zu bestellen, sein Vieh zu füttern und so weiter und so fort?“ entgegnete Chigen mit einem arroganten Lächeln auf dem jungen Gesicht, seinen Triumph über die Borniertheit seiner Gesprächspartnerin auskostend.
„Nein, so habe ich es noch nicht gesehen“, gestand die sichtlich peinlich berührte Marisol.
„Das dachte ich mir. Weißt du, ich glaube, dass es in unserem Reich schon viele Menschen gegeben hat, die das gleiche Potential wie ein Erzdruide besaßen, aber einfach nicht die Gelegenheit bekamen, es unter Beweis zu stellen, aufgrund der simplen, aber entscheidenden Tatsache, aus einfachen Verhältnissen zu stammen.“
Marisol lief rot an. Chigen hatte genau ins Schwarze getroffen. Aber noch gab sie nicht auf.
„Du magst zwar recht haben, aber du musst auch zugeben, dass es seit Hunderten von Jahren, so wie es ist, funktioniert.“
„Woher willst du das wissen, Marisol? Es gibt nur wenige Aufzeichnungen von der Gründung unserer Religion. Vielleicht war es damals anders, vielleicht lebten alle Osra auf der gleichen Stufe, als wahre Gemeinschaft.“
„Vielleicht aber auch nicht. Warum bist du so erpicht darauf, nach Fehlern zu suchen, Chigen? Nicht alle Menschen sind so unglücklich wie du es anscheinend bist!“
Chigen bemerkte den Zorn in der Stimme der jungen Druidin. Er ermahnte sich, nicht mehr so energisch auf sie einzureden, schließlich war sie nur Eine von Vielen, die blind den Regeln der Gemeinschaft folgten und dazu noch Eine der Wenigen, die zumindest ein offenes Ohr für Kritik an jener hatten. Bei Dogmatikern wie seinem Vater würde Chigen mit seinen logischen, stichhaltigen Argumenten auf Granit beißen.
„Es beschäftigt mich einfach und ich kann diese Tatsachen nicht ignorieren. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
Marisols Züge wurden wieder sanfter, als Chigen seine hochmütige Art wieder abstreifte.
„Ich verstehe dich, Chigen. Aber ich bin zufrieden so wie es ist. Die Erzdruiden sorgen gut für uns und wir leben in Frieden und Einigkeit.“
„Stellt sich nur die Frage, wie lange noch. Meister Valken scheint andere Pläne zu haben“, fügte Chigen mit finsterer Miene hinzu.
Marisol nickte und schwieg nachdenklich. Meister Valkens Aufruf zu den Waffen hatte sie beunruhigt, ja geradezu abgeschreckt. Zwar verstand sie die Beweggründe des jungen Erzdruiden, aber Gewalt hatte für sie immer den falschen Weg repräsentiert, um Konflikte beizulegen.
Es wiedersprach ihrem Verständnis von Harmonie, das die Essenz ausmachte. Natürlich konnte Marisol nicht ignorieren, dass die Skar schreckliche Dinge taten, aber auch dafür musste es ihrer Meinung nach eine plausible Erklärung geben. Sie wollte einfach nicht daran glauben, dass ein ganzes Volk sich dem Bösen verschrieben hatte.
„Was wirst du jetzt tun, Chigen? Ich meine wegen deines Vaters?“ fragte sie nach einigen wortlosen Augenblicken, um das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zu lenken.
„In diesem Punkt bin ich machtlos, Marisol. Er wird mich nicht gehen lassen.“
„Willst du nicht wenigstens versuchen, mit ihm zu sprechen?“
„Was soll das bringen“, antwortete Chigen und begann, seine Schuhe wieder anzuziehen, von dem Wunsch erfüllt, sich in die Einsamkeit seiner Gemächer zurückzuziehen.
„Es handelt sich aber doch um eine besondere Situation. Wenn du ihm erklärst, wie wichtig es dir wäre, an der Suche teilzunehmen...“
„Ich weiß, du meinst es gut, aber das wird nichts werden“, unterbrach Chigen seine Freundin. „Gerade weil es eine besondere und gefährliche Situation ist wird er es mir nicht erlauben. Lass es gut sein.“
Chigen wandte sich ab und winkte Khandra zu, um ihr zu signalisieren, dass er aufbrechen wollte. Die Waldläuferin eilte an seine Seite und nickte dabei Marisol freundlich zu.
„Versprich mir, dass du es wenigstens versuchst, in Ordnung?“
Chigen drehte sich noch einmal zu Marisol um.
„Ich werde darüber nachdenken“, lenkte er ein.
„Gut, dass genügt mir“, sagte Marisol lächelnd.
„Was ist mit dir, wirst du Nasriel verlassen?“
„Such mich auf, wenn du mit deinem Vater gesprochen hast, Chigen. Wenn du ihn überzeugen kannst, dann wirst du es bei mir nicht schwer haben“, antwortete Marisol mit einem verführerischen Lächeln.
Chigen wusste nichts darauf zu entgegen und wandte sich von der jungen Druidin ab, die sich mit geschlossenen Augen auf die Wiese sinken ließ und begann, vor sich hin zu träumen.
Tunris schritt nervös in dem geräumigen Arbeitszimmer auf und ab, während Anselm sich in seinem Sessel zurücklehnte und an seiner Pfeife zog.
Die beiden Erzdruiden hatten sich nach der Ratsversammlung in Anselms Anwesen zurückgezogen, um sich über den Verlauf des Tages zu beraten. Das Arbeitszimmer des wohlbeleibten Meisters strotzte nur so vor Komfort, gepolsterte Sessel standen um einen polierten Holztisch herum, kostbare Teppiche in hellen Farben zierten die Wände und durch das große, grün und rot bemalte, runde Fenster fielen sanft die wärmenden Strahlen der Mittagssonne hinein, den Raum in ein beruhigendes, unwirkliches Licht tauchend.
Doch während Anselm es sich bequem gemacht hatte und seine müden Glieder schonte, schien Tunris viel zu aufgedreht, um sich auszuruhen.
Innerlich brodelte es gewaltig in dem alten Meister. Die Ratsversammlung hatte durch Valkens Hetzrede einen Verlauf genommen, der ihn in arge Bedrängnis versetzte. Schließlich erschien sein Entschluss, Repräsentanten in die anderen Städte des Reiches zu entsenden, um nach dem Rechten zu sehen, im Gegensatz zu Valkens mitreißender Kriegstreiberei, wenig überzeugend, geradezu halbherzig. Tunris hoffte inständig, dass sein schwerverdientes Ansehen beim Volk ausreichte, um sie vorerst bei der Stange zu halten und nicht blind den egoistischen Zielen des jungen Meisters folgen zu lassen.
„Das könnte sich zur größten Krise aller Zeiten entwickeln“, sagte Tunris mit bebender Stimme.
„Das können wir doch gar nicht wissen, Tunris. Vielleicht waren wirklich nur einige Bestien davon befallen, was auch immer es sein mag. Vielleicht war es einfach nur die Tollwut.“
Tunris fuhr wütend herum: „Aber wie erklärst du dir dann die kollektive Angst, die uns überkam? Die Essenz hat sich mit uns in Verbindung gesetzt und das bestimmt nicht nur, um uns vor ein paar kranken Tieren zu warnen!“
Anselm hob beschwichtigend die Hände.
„In diesem Punkt stimme ich dir zu. Aber vielleicht hatte die Vision oder wie man es auch immer nennen möchte, trotzdem nichts mit den Bestien zu tun.“
Tunris musterte seinen Freund skeptisch und nahm ihm gegenüber Platz.
„Sprich bitte weiter!“
„Nun, vielleicht ist es eine Prüfung. Vielleicht will die Essenz sehen, wie wir mit der Situation umgehen, welchen Weg wir einschlagen.“
Tunris nickte und faltete die Hände, um sein Kinn darauf abzustützen.
„Aber warum sollte die Essenz so Etwas tun? Sie hat noch nie etwas von uns gefordert, wir folgen ihr freiwillig.“
„Natürlich, daran besteht kein Zweifel. Aber es gibt wohl einige unter uns, die nur vorgeben ihr zu folgen.“
„Du meinst solche wie Valken.“
Tunris schnalzte verärgert mit der Zunge. Seit seiner Ernennung zum Erzdruiden war Yockt Valken ein Dorn in Tunris Auge gewesen, ein junger, eigensinniger Möchtegernherrscher, dem seine persönliche Macht mehr am Herzen lag, als dem Volk ein gerechter Beschützer und Führer zu sein.
„Es ist schon eine Ironie, dass ein solch gieriger und eigensinniger Mensch so schnell in die Sphären der Macht aufsteigen konnte“, sagte Anselm mit verdrießlicher Miene und schüttelte mit schiefem Grinsen den Kopf.
„Ja, ich hege auch schon seit Langem Zweifel an Valkens Glauben. Wie konnte die Essenz ihm dennoch solche Macht gewähren?“ fragte Tunris mit einer gewissen Verbitterung in der rauen, alten Stimme.
„Aber, aber, Tunris, wir wissen doch beide allzu gut, dass die druidischen Kräfte nicht durch Hingabe an den Glauben allein, sondern mindestens zum gleichen Teil durch Disziplin und jahrelange Übungen hervorgerufen werden.“
Tunris nickte zustimmend. Dem gemeinen Volk vermittelte man seit jeher, dass nur der Glaube allein die Pforten zur Magie der Essenz öffnen könne, aber in Wirklichkeit musste man zu einem das Glück haben, die Gabe in sich zu tragen und zum anderen benötigte es viele Jahre der Disziplin und des Studiums, um die Magien zu vervollkommnen. Diese Lüge war nur eine der vielen Mechanismen, die dazu dienten, den Glaube im Volk aufrechtzuerhalten, ein notwendiges Übel, dass die Meister bereit waren einzugehen, um ihren Status zu wahren.
„Bei Valken war es vermutlich der Ehrgeiz und die völlige Selbstaufgabe. Ich hörte, dass er sich während des Studiums jede freie Minute mit den Geheimnissen der natürlichen Macht befasst haben soll“, fügte Tunris hinzu.
Anselm stimmte seinem Freund nickend zu. Es war schon erschreckend, wie vollkommen Valken die Magie beherrschte. Vor allem stellten seine Fähigkeiten der Beschwörung und der Verwandlung ein furchtbare, zerstörerische Waffe dar. Einst hatte Anselm mit ansehen müssen, wie Valken es mit einer Gruppe von Skar aufgenommen hatte, die sich bis in die nördlichen Wälder Nasriels vorgewagt hatten. Valkens Zorn über die Dreistigkeit der Barbaren hatte die Erde zum Beben gebracht, gewaltige Spalten hatten sich auf sein Geheiß aufgetan und einen Großteil der zwanzigköpfigen Jagdtruppe wie hungrige Mäuler verschlungen. Die verbliebenen Krieger hatten sich ihm mit der, für die Skar typischen, Bereitschaft ehrenvoll im Kampf zu sterben, entgegengestellt, nur um von einem wütenden Glutdrachen, einer äußerst seltenen Bestie, deren Gestalt der mächtige Erzdruide angenommen hatte, regelrecht zerrissen oder bis zur Unkenntlichkeit im flammenden Odem verbrannt zu werden. In jenem Moment war Anselm bewusst geworden, dass er in einem Kampf auf Leben und Tod gegen Valken nicht den Hauch einer Chance haben würde. Tatsächlich hatte der alte Meister bisher erst einmal um sein Leben kämpfen müssen, als er Teil einer kleinen Reisegruppe Richtung Süden zur Hafenstadt Havris gewesen war und ein Rudel von Morastjägern, an Affen erinnernde, flinke Bestien die Osra attackiert hatten. Doch außer eine der Kreaturen mit heraufbeschworenen Wurzeln einzufangen, hatte Anselm nicht viel bei dem Kampf geleistet. Die Waldläufer hatten die Wesen schnell mit ihren Pfeilhageln in die Flucht getrieben. Anselm verstand nicht viel vom Kampf, sein Metier war eher die Politik.
Er hoffte inständig, dass ihn Valken nicht auch noch in diesem Bereich der Macht überflügeln würde.
„Nun hat ihn sein Ehrgeiz in eine Position gebracht, die für uns und das Volk sehr gefährlich werden könnte“, stellte Anselm seufzend fest.
„Du hast recht, wir müssen ihn im Auge behalten, Anselm. Aber wenn wir keine andere Antwort für die Ereignisse der letzten Nacht finden, wird sein Einfluss im Volk wachsen.“
„Krieg“, begann Anselm schwermütig. „Ich glaube, dass es kein größeres Übel gibt. Es stellt sich zudem die Frage, ob ein Sieg über die Skar ausreichen würde, um Valkens Machtgier zu befriedigen. Schließlich gibt es ja da noch die Quashuk.“
„Wenn sie sich nicht schon längst selbst vernichtet haben“, begann Tunris in abschätzigem Tonfall. „Laut den Aufzeichnungen unserer Vorgänger sind die Quashuk noch unzivilisierter und barbarischer als die Skar. Als vor zweihundert Jahren drei ihrer Stämme in Havris einfielen, soll es keine zwei Tage gedauert haben, bis sie untereinander in Konflikt gerieten und sich gegenseitig bekämpften.“
„Ich kann nicht begreifen, warum die anderen Völker nicht im Stande sind, eine Zivilisation aufzubauen, die unserer ähnlich ist. Stell dir vor, wir könnten Handelsabkommen mit ihnen schließen, Botschafter austauschen. Wir könnten so viel voneinander lernen“, träumte Anselm laut vor sich hin.
„Vergiss es, alter Freund. Es war nur uns, den Osra, vergönnt, dass Licht zu sehen, die Wahrheit zu erkennen. Die anderen Völker sind verloren in ihrer Selbstsucht und ihrem primitiven Trieben. Als wir das letzte Mal versuchten, mit den Skar friedlichen Kontakt aufzunehmen, fanden viele Osra einen grausamen Tod.“
„Traurig aber wahr“, schloss Anselm und stopfte seine Pfeife erneut.
Es klopfte an der Tür und Anselm rief als Antwort: „Herein.“
Eine zierliche, hellhäutige Osra mit blondem, langen Haar betrat den Raum, gehüllt in grüne Roben mit weißen, gestickten Symbolen auf den Ärmeln.
„Entschuldigt die Störung, Meister Ragnon“, sagte die Frau und verneigte sich tief.
„Was gibt es, Liahra?“ fragte Anselm seine persönliche Beraterin, die ihm schon seit vielen Jahren treu ergeben diente.
„Die von euch zusammengestellten Gruppen von Repräsentanten sind aufgebrochen.“
„Gute Arbeit.“
Liahra nickte, schaute jedoch unbehaglich zu Boden.
„Gibt es noch etwas?“ fragte Anselm, dem die Reaktion seiner Dienerin nicht entgangen war.
„Ich weiß nicht, ob es von Wichtigkeit ist, aber Meister Valken ist ebenfalls aufgebrochen, Richtung Vidnia.“
Tunris riss entsetzt die Augen auf. Valken hatte ihm schon wieder ein Schnippchen geschlagen, als ob er geahnt hätte, dass Tunris vorhatte, ihn genauestens zu beobachten. Jetzt hatte er sich kurzer Hand dem Einfluss der beiden alten Meister entzogen.
„Danke, Liahra“, sagte Anselm und signalisierte seiner Beraterin damit, dass sie sich zurückziehen sollte.
Diese verneigte sich noch einmal ergeben und verließ dann den Raum.
In dem Moment, als sich die Tür schloss, sprang Tunris auf und bellte: „Was denkt sich dieser Kerl bloß!“
„Es steht ihm als Erzdruide frei, hinzugehen, wohin er will“, entgegnete Anselm ruhig und gefasst, etwas überrascht über Tunris heftige Reaktion, schließlich war es unmöglich, dass Liahra seinen Ausruf nicht gehört haben könnte. Ein solches Verhalten war in Anselms Augen sehr untypisch für seinen alten Freund, der doch stets darauf bedacht war, nach außen hin unnahbar und in sich ruhend zu wirken.
„Aber er hätte uns davon in Kenntnis setzten müssen!“, ereiferte sich Tunris und schmetterte die Faust auf den polierten Holztisch.
„Wahrscheinlich hat er Brijes und Auris informiert, was laut unseren Statuten ausreicht. Er weiß, wie wir über ihn denken und dass wir ihn nicht hätten gehen lassen.“
„Und ausgerechnet Vidnia, nahe an der Grenze des Territoriums der Skar. Dort wird er mit Sicherheit noch mehr Sympathisanten für seinen schwachsinnigen Feldzug finden. Einmal ganz davon abgesehen, dass es seine Heimatstadt ist“, brüllte Tunris fassungslos.
Anselm konnte dem nur zustimmen, obwohl er erneut irritiert war von Tunris´ offener Zurschaustellung seines Zorns. Die Bevölkerung der nördlichen Hafenstadt hatte mehr als jede Andere im Reich unter den Angriffen der Barbaren gelitten und eignete sich damit als perfektes Publikum für Valkens Kriegsbemühungen.
Aber er musste sich eingestehen, dass der clevere Valken ihnen wieder einmal einen Schritt voraus war.
„Ich werde selbst aufbrechen“, verkündete Tunris entschlossen und wandte sich der Tür zu.
„Du kannst jetzt nicht gehen, Tunris, und das weißt du. Noch hast du die Oberhand in Nasriel, aber deine Abwesenheit könnte von Auris und Brijes ausgenutzt werden“, redete Anselm auf seinen Freund ein.
„Ach, diese beiden Speichellecker würden sich niemals trauen, nach der Macht zu greifen“, spie Tunris verächtlich aus.
Anselm runzelte über die feindselige, unbeherrschte Aussage seines Freundes die Stirn. Anscheinend überforderte die Situation Tunris zunehmend, denn er hatte am heutigen Tage schon häufiger die Fassung verloren.
„Früher vielleicht nicht, aber meine Informanten berichten mir in letzter Zeit von zahlreichen Treffen zwischen Valken und den beiden Meistern. Wohlmöglich hat er sie schon in seine Pläne eingespannt.“
Tunris bebte vor Zorn und ließ sich in den Sessel gegenüber Anselm fallen.
„Tunris, wir beide sind schon alt und haben unseren Zenit längst überschritten“, begann Anselm in beruhigendem Tonfall. „Auris und Brijes denken wahrscheinlich, dass Valken im Gegensatz zu uns noch viele Jahrzehnte herrschen wird und es deshalb von Vorteil sein könnte, sich jetzt mit ihm zu verbünden, um später nicht in Abseits zu geraten.“
Nachdem er einige Momente nachdenklich ins Leere gestarrt hatte, erwiderte Tunris ruhiger: „Du hast recht, Anselm. Entschuldige meinen Ausbruch. Ich habe nur den Eindruck, dass sich unsere Situation von Stunde zur Stunde verschlechtert.“
„So empfinde ich ebenfalls, aber wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Wir können selbst nicht aufbrechen, deshalb sollten wir einen Loyalisten entsenden, der die Situation in Vidnia zumindest zu beobachten kann.“
„Denkst du an jemanden bestimmtes, Anselm?“
Der wohlbeleibte, dunkelhäutige Erzdruide dachte einen Moment nach, dann fragte er:
„Was ist mit Chigen?“
Tunris schüttelte heftig den Kopf.
„Das kommt nicht in Frage.“
„Aber haben wir denn sonst eine große Auswahl? Die meisten der uns treu ergebenen Druiden wurden bereits in die anderen Städte entsandt oder werden in Nasriel gebraucht. Chigen hingegen....“
„Lass es gut sein, Anselm. Chigen wird Nasriel nicht verlassen“, entgegnete Tunris erzürnt.
Wie kannst du es wagen, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen, dachte der alte Erzdruide aufgewühlt.
„Ich dachte nur, dass es vielleicht eine gute Chance für ihn wäre, sich zu beweisen“, erklärte Anselm, wieder bemüht, beruhigend auf seinen Freund einzureden.
„Chigen ist noch ein Anwärter, außerdem ist er Valken in keiner Weise gewachsen.“
„Das ist wohl wahr. Aber zumindest könnte er sich einen Überblick über die Situation verschaffen und in deinem Namen mit Bürgermeister Zavius sprechen, als Gegenstimme zu der von Valken. Natürlich würden wir ihm auch eine Eskorte von unseren besten Kämpfern zur Seite stellen für seine sichere Reise in den Norden“, sagte Anselm mit einem herausfordernd klingenden Ton in der Stimme.
Tunris blickte seinem Gegenüber zornig in die Augen. Genau darin lag nämlich der Grund für Tunris ablehnende Haltung gegenüber Anselms Vorschlag. Der alte Erzdruide hatte Angst davor, dass seinem Sohn etwas zustoßen könnte. Er könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren.
Aber da gab es noch etwas, ein Geheimnis, dass er selbst Anselm nicht anvertrauen konnte.
„Ich werde jemand anderen finden“, entgegnete Tunris bestimmt und erhob sich wieder.
Anselm wollte gerade etwas erwidern, als sein Freund ihm das Wort abschnitt.
„Das ist mein letztes Wort. Ich gehe jetzt, wir sprechen uns heute Abend, nach dem Ritual des Sonnenuntergangs.“
Mit diesen Worten verließ Tunris schnellen Schrittes das Arbeitszimmer seines Freundes.
Anselm zog an seiner Pfeife und schloss die Augen. Er fühlte sich auf einmal so müde und ausgelaugt, als ob sein Geist dieser ganzen Situation allmählich überdrüssig wurde. Der alte Erzdruide sehnte sich schon lange nach Ruhe, war bereit, seine sterbliche Hülle hinter sich zu lassen und wieder eins mit der Essenz zu werden. Doch Anselm ermahnte sich, dass er noch eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Seinem Freund in dieser Krise beizustehen bis sie überstanden war, das war in Anselms Augen der letzte Dienst, den er der Essenz und seinem Volke schuldig war. Aber trotzdem ließ er sich einige Momente Zeit um von der Herrlichkeit und Harmonie zu träumen, die ihn im Jenseits erwarten würde.
Wenige Stunden später, als die Frühlingssonne ihren höchsten Punkt überschritten hatte, saß Familie Amakura zu Tisch, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Wie üblich zu jener angenehm warmen Jahreszeit, servierte man Chigen und seinem Vater ihre Speisen im prächtigen Garten des Anwesens. In allen Farben erblühende Blumen umgaben die Holztafel und ein kleiner, im Sonnenschein schimmernder Bach suchte sich seinen natürlichen Weg zwischen den Beeten und Steinen hindurch.
Die Bediensteten kredenzten den Druiden am heutigen Tage gebratenen Haradris-Barsch aus den gleichnamigen Sümpfen im Süden des Landes mit dampfenden Kartoffeln in heller Soße. Dazu wurde frisches Obst und bläulicher Salat von den hiesigen Bauern serviert.
Chigen starrte gedankenverloren auf seinen vollen Teller, hatte bisher vor lauter Aufregung noch keinen Bissen herunterbekommen. Bevor er zum Essen gerufen worden war, war Chigen fest entschlossen gewesen, seinen Vater um Erlaubnis zu bitten, als Repräsentant Nasriels in eine der anderen Städte des Landes aufbrechen zu dürfen. Doch sobald er ihn im Garten angetroffen hatte, war jegliche Entschlossenheit einer nagenden Nervosität gewichen und seit ihrer knappen Begrüßung und dem Tischgebet hatten die beiden Osra kein Wort miteinander gewechselt. Tunris hatte bereits das Hauptgericht beendet und würde nach einigen verspeisten Früchten vom Tisch aufstehen, um sich wieder seinen zahlreichen Pflichten als Erzdruide zu widmen. Aber wie sollte Chigen gegen diese Mauer aus strenger, unumstößlicher Autorität ankommen?
Scheinbar hielt sich der Appetit seines Vaters in Grenzen, denn bereits nach einem Stück der saftigen Melone, hatte er die Finger mit seiner Servierte abgeputzt und war im Begriff sein Weinglas zu leeren. Wenn Chigen jetzt nicht aussprach, was ihm auf der Seele lastete, würde er wahrscheinlich bis zum morgigen Tag ausharren müssen und er befürchtete, dass die zarte Knospe seiner Euphorie diesen nächtlichen Winter voller Resignation und Angst nicht überstehen würde.
Er nahm all seinen Mut zusammen, schluckte den Klos in seinem Hals herunter, stützte die schweißnassen Hände auf dem glatten Holz ab und öffnete den Mund, um endlich etwas zu sagen.
Doch bevor er einen Ton hervorbrachte, kam ihm Tunris mit strenger Stimme zuvor: „Dein Verhalten bei der Ratsversammlung war inakzeptabel, Chigen.“
Der junge Osra schluckte hörbar ob der Rüge seines Vaters. Im ersten Moment wusste er sogar gar nicht mehr, worauf sein Vater hinaus wollte.
„Mit deiner Weigerung an meiner Seite Platz zu nehmen, hast du mich vor meinen Kollegen blamiert, Sohn“, fuhr Tunris fort und starrte weiterhin auf sein halbgeleertes Glas.
Chigen musste sich eingestehen, dass Tunris damit recht hatte und er biss sich verlegen auf die Lippen, hatte er doch mit diesem Affront keine besonders gute Vorarbeit geleistet, um seinen Vater jetzt um einen Gefallen zu bitten.
Reumütig begann er: „Es tut mir leid, Vater. Ich fühlte mich nicht besonders gut und hätte es nicht ertragen, die ganze Versammlung über im Blickfeld des Volkes zu verharren.“
„Das ist keine Entschuldigung, Sohn. Du musst endlich lernen, dich deiner Verantwortung zu stellen. Du bist kein Kind mehr, dass die Schule schwänzt, in dem es vortäuscht, Bauchschmerzen zu haben.“
Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich mir wünsche, mehr Verantwortung tragen zu dürfen, dachte Chigen, brachte es jedoch nicht zur Sprache. Allerdings kam ihm beim Stichwort Schmerz eine Idee, wie er die Schuld auf jemand Anderen abwälzen könnte.
„Du hast recht, Vater. Es lag nicht an meiner körperlichen Verfassung“, begann Chigen und bemerkte, dass sich die Züge seines Vaters verhärteten. Rasch fügte er hinzu: „Ich weiß nicht, ob man es dir bereits berichtet hat, aber ich hatte heute Morgen eine unerfreuliche Begegnung mit Meister Valken.“
Über Tunris strenges Gesicht huschte für einen Moment ein Ausdruck von Sorge und er musterte seinen Sohn aufmerksam.
„Nein, das hat man nicht. Sprich!“
Chigen fühlte sich ein wenig verwegen, aber er musste die offenkundige Abneigung seines Vaters gegenüber Valken ausnutzen, damit er vielleicht noch eine Chance hatte, auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen. Zudem empfand Chigen gegenüber dem arroganten, jungen Erzdruiden wenig Sympathie oder gar Schuldgefühle.
„Ich bin auf meinem Weg zur Halle des Rates aus Versehen mit Meister Valken zusammengestoßen. Natürlich wollte ich mich umgehend für mein Missgeschick entschuldigen, aber bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, packte mich Meister Valken grob am Kragen und begann herrisch auf mich einzureden. Es war eine sehr unangenehme Erfahrung, von ihm bloß gestellt zu werden und ich hatte danach nicht das Bedürfnis, an seiner Seite sitzen zu müssen“, log Chigen und bemerkte, wie Tunris sich bei jedem weiteren Wort verkrampfte.
„Dafür habe ich natürlich Verständnis, Sohn. Die Reaktion meines Kollegen war mehr als übertrieben, als ob er es mit einem Bauern zu tun gehabt hätte.“
Chigen versuchte die abfällige Erwähnung des Bauern zu überhören, die einen weiteren Beweis der Überheblichkeit seines Vaters widerspiegelte.
Was würde es für einen Unterschied machen, ob ein Bauer oder ein Druide ein solches Missgeschick geschah? Aber im elitären Verständnis seines Vaters spielte die Herkunft nun mal eine entscheidende Rolle und Chigen hatte nicht vor, am heutigen Nachmittag auch noch eine Grundsatzdiskussion über jenes Thema vom Zaun zu brechen. Es bestand zwar die Chance, dass er sich argumentativ mit seinem Vater messen konnte, aber dieser würde einfach seine unumstößliche Autorität in die Waagschale werfen und damit die Diskussion für sich entscheiden, so wie er es schon so oft getan hatte, zumindest in der Vergangenheit, als die beiden noch häufiger miteinander gesprochen hatten.
„Aber sag, was geschah anschließend?“ fragte Tunris, innerlich erzürnt darüber, dass sein Rivale seinen Sohn auf offener Straße verspottet hatte. Eine weitere Schuld, die er Valken eines Tages heimzahlen würde.
„Nun, ein alter Herr kam mir zur Hilfe und behauptete, er habe zuerst mich angerempelt was schließlich zu meinem Zusammenstoß mit Meister Valken geführt hatte. Der Meister schien dies zu akzeptieren, bestrafte aber meinen Erretter glücklicherweise nicht. Damit gingen wir auseinander.“
„Wer war der Mann, Sohn?“ fragte Tunris und leerte sein lieblichen Wein mit einem Zug.
Chigen überlegte, ob es weise wäre, in dieser Situation angesichts jener Auseinandersetzung, die er am Ende der Ratsversammlung beobachtet hatte, die wahre Identität jenes Mannes seinem Vater zu offenbaren, aber beflügelt durch das angenehm flüssige Gespräch, dass die beiden führten –was sehr selten der Fall war- sagte Chigen ehrlich: „Sein Name war Ginzo Jagoh.“
Tunris Miene nahm einen verärgerten Ausdruck an.
„Sagt dir der Name etwas, Vater?“ fragte Chigen scheinheilig.
„Du solltest dich lieber von diesem Mann fernhalten, Chigen. Er ist ein Vagabund, dessen Lebensweise den Lehren der Essenz widerspricht“, meinte Tunris und erhob sich von seinem Platz.
„Wie du meinst, Vater. Aber eigentlich wollte ich mit dir über etwas Anderes sprechen“, sagte Chigen hastig.
Als ob er ahnen würde, um was es sich bei Chigens Anliegen handelte, erwiderte Tunris: „Das wird warten müssen, Sohn. Ich habe noch viel Arbeit vor mir.“
„Aber, Vater...“
„Es war schön, einmal wieder mit dir zu sprechen, Sohn. Wir reden später weiter“, unterbrach ihn der Erzdruide mit einem freundlichen, wenn auch gezwungen wirkenden Lächeln auf dem faltigen Gesicht.
Chigens Herz hätte einen Sprung gemacht, wenn er nicht geahnt hätte, dass sein Vater ihn nur mit diesen freundlichen Worten abspeisen wollte. Tunris wandte sich ab und Chigen stand einmal mehr an der Schwelle der Resignation. Aber dieses Mal wollte der junge Druide seinen Vater nicht so einfach davon kommen lassen.
„Vater, mein Anliegen kann nicht warten“, rief er aus und stand von seinem Platz auf.
Tunris drehte sich wieder zu ihm um und musterte den aufbrausenden Osra mit ungehaltener Miene, die auch einen Hauch von Nervosität offenbarte, ein Anblick, der etwas sehr Befremdliches für Chigen hatte, auch wenn es ihm für einen kurzen Moment eine gewisse Befriedigung bescherte.
„Entschuldige, aber ich muss es jetzt loswerden“, fuhr der junge Mann mit zitternder Stimme fort.
Tunris seufzte schwer, wohlwissend, was sein Sohn von ihm fordern würde.
Als Chigen es endlich aussprechen wollte, wurde er jäh unterbrochen, als eine vor Erschöpfung schwer atmende Khandra in den Garten gestürmt kam.
„Entschuldigt die Störung, Meister Amakura“, brachte sie keuchend hervor und sank auf ein Knie, den Kopf gesenkt.
„Was ist los, Khandra?“ fragte Tunris mit ernster Miene, aber innerlich mehr als erleichtert über die Störung durch die Waldläuferin.
„Meister Ragnon wünscht eure Anwesenheit am westlichen Rand von Nasriel, bei den Nassfeldern“, antwortete Khandra. Mit einem Seitenblick zu Chigen erkannte sie einen Ausdruck von Verärgerung auf seinem jugendlichen Gesicht und hielt inne, versuchte herauszufinden, in welche Situation sie da hineingestolpert war.
„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Khandra!“ herrschte Tunris sie rüde an und die Waldläuferin zuckte angesichts der Schärfe in der Stimme ihres Meisters sichtlich zusammen.
„Ich bitte um Verzeihung. Eine Bestie ist aufgetaucht und hat völlig unvermittelt die Bauern auf den Feldern angegriffen. Es gab bedauerlicherweise einige Tote.“
Tunris Augen weiteten sich vor Entsetzen und ohne ein weiteres Wort stürmte er los.
Chigen blickte Khandra ebenso entsetzt an und die beiden jungen Osra folgten ihrem Erzdruiden schnellen Schrittes.
Angesichts dieser furchtbaren Neuigkeiten konnte Chigens Anliegen tatsächlich warten.
4
Visionen
Der Himmel über der gewaltigen, futuristischen Metropole, die als der Nexus bekannt war, wurde wie an jedem Tag von trüben Abgaswolken verdunkelt.
Die Stadt glich einem schwarzen Fleck in der bergigen, verschneiten Landschaft jenes kargen Landes im Nordwesten Raajas, getrennt von Osra Dilgarm durch das schier endlos erscheinende Meer der Äonen.
Das Land trug den Namen Niita und war die Heimat des Volkes der Quashuk, während der Nexus das Herz ihrer Nation darstellte.
Von Neonlicht durchflutete Hochstraßen durchzogen den Nexus in komplizierten Mustern, während festungsartige Bauten aus Beton und dunklem Stahl sich wie die Speere einer aufmarschierenden Armee gen Himmel reckten.
Doch während der obere Teil der Stadt ausreichend mit künstlichem Licht versorgt wurde, lagen die unteren Bezirke, die das Fundament der Hochstraßen und Wolkenkratzer bildeten, fast vollständig in Finsternis.
In jenen Ghettos lebte die arbeitende Unterschicht, während die oberen Bezirke den Privilegierteren vorbehalten waren.
Lärmende Fahrzeuge rollten in endlosen Kolonnen über die Hochstraßen, Tausende von vermummten Menschen schritten über die Bürgersteige, sich zum einen durch ihre Kleidung, die häufig auch Masken oder Tücher vor dem Gesicht beinhaltete, sowohl gegen die beißende Kälte, als auch vor der, von jenen Automobilen und unzähligen Kraftwerken, vergifteten Luft schützend.
Im Zentrum des dunklen Bollwerks erhoben sich drei Türme, die wie die Punkte eines Dreiecks angeordnet waren, in dessen Mitte ein Vierter, höher als jedes Gebäude der Stadt, aufragte.
Jener gewaltige, kantige Obelisk glänzte in einem kränklich orangefarbenen Farbton und wirkte dadurch im Kontrast zur finsteren Stadt wie eine künstliche Sonne.
Über eine der zahlreichen, treppenartigen Brücken, welche die drei äußeren Türme mit dem Hauptturm verbanden, schritt der Psioniker Rushin Wade, umgeben von seiner zwanzigköpfigen Leibgarde. Der Quashuk hatte die für sein Volk typische, blasse, fast kreideweiße Hautfarbe, trug sein graumeliertes, dunkles Haar kurz und sein Gesicht wies kantige, knochige Züge auf. Sein drahtiger Körper wurde von einem enganliegenden, zugeknöpften Mantel aus dunkelgrauem, matten Leder umhüllt, zudem trug er schwarze Stoffhosen und Stiefel.
Die Leibgarde des Psionikers hingegen hüllte sich in schwarze Plattenrüstungen, die perfekt an die Körperform angepasst worden waren und durch Knochenartige Erhebungen wie ein Außenskelett wirkten. Zudem zierten ihre Köpfe schwarze Helme, die lediglich einen Schlitz für die Augen aufwiesen. Mit der rechten Hand schulterten oder hielten die meisten von ihnen in Schwertscheiden verborgene schmale, gekrümmte Langschwerter, andere führten schnellfeuernde Armbrüste mit sich.
Wade vermochte zwar auch mit einer Waffe umzugehen, aber falls sich ihm tatsächlich hier ein Feind in den Weg stellen würde, könnte er ihn mit seinen mentalen Kräften vernichten.
Der alternde Quashuk gehörte der Elite seines Volkes an, den magisch begabten Psionikern. Diese verfügten über geistige Fähigkeiten, die sich auf unterschiedliche Art und Weise manifestierten: Soldaten wie Wade waren dazu im Stande, ihren Feinden mentalen Schmerz zuzufügen, der weit über physischen hinausging, oder Dinge durch Telekinese zu bewegen, während andere Psioniker die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen oder gar kontrollieren konnten, oder sich durch ein übermenschliches Verständnis für Mathematik und andere Wissenschaften hervortaten.
Wade hatte jedoch schon seit geraumer Zeit keinem Gegner mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, bekleidete er doch nun schon seit fünf Jahren den Rang eines Generals, des höchsten Grades im Militär der Nation. Unter seinen Kollegen galt er als meisterhafter Stratege und Anführer, der schon unzählige Schlachten gegen die marodierenden Stämme der barbarischen Skar und abtrünnige Quashuk geführt und gewonnen hatte.
Möglicherweise war dies der Grund, warum Wade und nicht einer seiner Kollegen am heutigen Morgen zu einer Audienz mit den Visionären gerufen worden war.
Jene uralten Wesen waren die unangefochtenen Herrscher der Nation, wurden von den Quashuk wie Götter verehrt.
Die Visionäre besaßen die einmalige psionische Fähigkeit, mit dem großen Intellekt, einer abstrakten Entität, die außerhalb der Welt der Sterblichen existierte, zu verschmelzen. In den Träumen, die ihnen durch den großen Intellekt gewährt wurden, ersannen die Visionäre Tag für Tag innovative Erfindungen und Errungenschaften. Durch ihre Anleitung war es den Quashuk gelungen, aus einer Vielzahl miteinander rivalisierender Stämme eine mit eiserner Hand geführte Nation zu erschaffen, die nicht länger in einfachen Dörfer und Siedlungen lebte, sondern in drei gigantischen, fortschrittlichen Metropolen, von denen der Nexus das Zentrum bildete.
Wade konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass seine Vorfahren vor zweihundert Jahren noch eine ähnlich unzivilisierte, barbarische Lebensart besessen hatten wie es die Skar auch heute noch taten.
Woher jene Heilsbringer stammten und wie sie an die Macht gelangten, war eines der vielen Geheimnisse, die Niita wie die dunklen Abgaswolken einem Schatten gleich einhüllten.
Aber Wade erwartete nicht, jemals Antworten auf solche Fragen zu erhalten, er diente den Visionären und damit dem Volk, mehr brauchte er nicht zu wissen.
Die Visionäre hatten es durch ihre Träume den Quashuk ermöglicht, Jahrhunderte der Entwicklung zu überspringen, dem einfachen Dasein als barbarische Stämme zu entfliehen.
Dennoch betrachtete der sich in den Fünfzigern befindende Wade mit schwermütigem Blick in seinen dunkelroten Augen die Metropole, die ihn umgab.
Ihm war mehr als den meisten anderen Quashuk bewusst, wie hoch der Preis des rapiden Fortschritts war, war er doch Zeuge geworden, wie die Menschen an den Krankheiten, die von der immensen Luftverschmutzung herrührten, zu Grunde gingen.
Er glaubte fest an den Fortschritt und dessen Notwendigkeit, doch allmählich fragte er sich, ob die Visionäre dabei vergaßen, dass die Menschen seit jeher die Natur benötigten um zu überleben. Zehntausende von Kindern hatten noch nie die Sonne gesehen, schließlich verdunkelte seit zwanzig Jahren die stetig wachsende Schicht aus Abgasen den Himmel. Auch versäumten es die Visionäre seiner Meinung nach, die medizinische Forschung voranzutreiben, um der Belastung durch jene schädlichen Ausstöße der Kraftwerke entgegenzuwirken.
Zudem kam es in der breiten Masse der Arbeiter zu Unruhe aufgrund der katastrophalen Bedingungen, die jene Quashuk in den dunklen, vergessenen Bezirken unterhalb der Hochstadt ertragen mussten.
Mittlerweile hatte Wade mehr damit zu tun, Aufstände unter der Arbeiterschaft niederzuschlagen, als die feindlichen Stämme der Skar zu dezimieren, die noch immer vereinzelt im bergigen Innenland Niitas existierten.
Doch wie jeder andere Quashuk klammerte sich Wade an das Versprechen der Visionäre, das eines Tages die Quashuk in einer vollkommenen Welt des Fortschritts leben würden, in der kein Mensch mehr Leid oder Hunger ertragen müsse.
War es möglich, dass jener Tag kurz bevor stand und die Visionäre ihn deshalb zu sich gerufen hatten?
Wade hoffte es inständig, denn mit jedem verstreichenden Tag in dieser trostlosen, brodelnden Stadt verblasste jener Traum mehr und mehr zu einer Farce.
War es denn überhaupt möglich, dass all die Millionen von Arbeitern eines Tages ein Leben in Wohlstand und Harmonie führen könnten?
Oder galt dieses Versprechen in Wahrheit nur den Privilegierten, die schon jetzt unter wesentlich angenehmeren Voraussetzungen lebten?
Als sich sein Tross dem Haupttor der Turms der Visionäre näherte, jenem orangefarbenen Obelisken, ermahnte sich Wade, dass er seine Ängste und Zweifel ausblenden musste, schließlich waren die mentalen Kräfte seiner Herren so omnipotent, dass sie sogar seine Gedanken -und Wade zählte zu den mächtigsten Psionikern des gesamten Reiches und vermochte sich gut gegen das Eindringen in seinen Geist zu schützen- wie ein offenes Buch lesen konnten.
Bevor sie das kunstvoll gestaltete, an ein Mosaik erinnernde Tor passierten, gedachte er noch einmal seiner verstorbenen Frau Zaril, die vor einigen Monaten den Kampf gegen eine schreckliche Krankheit verloren hatte, dann verbannte er jeden Gedanken, der als schwächlich oder aufrührerisch ausgelegt werden könnte, aus seinem Geist und konzentrierte sich vollkommen auf das Hier und Jetzt.
Die Visionäre hatten ihn rufen lassen, um ihm eine Order von größter Wichtigkeit zu übermitteln und Wade war gespannt, um was es sich handelte, obwohl er sich insgeheim auch davor fürchtete.
Der General war des Kampfes müde.
Schnellen Schrittes eilten Wade und sein Gefolge durch einen breiten, orangeschimmernden Korridor, an dessen Seiten hünenhafte Gestalten aus dem gleichen Metall erschaffen ruhten, sogenannte Golems, die stärksten Kriegsmaschinen der Armee. Die zehn Fuß hohen Kreaturen erinnerten in ihrer Gestalt an Menschen, jedoch bestanden sie aus dicken, unförmigen Plattensegmenten, unter denen sich Zahnräder und Bügel verbargen, die es ihnen ermöglichten, sich fortzubewegen und mit ihren Klingenarmen anzugreifen. Diese denkenden Konstrukte registrierten die Anwesenheit des Generals und nahmen, soweit es ihre schwerfälligen Körper zuließen, Haltung an, als dieser sie passierte.
Am Ende des beleuchteten Ganges öffnete sich automatisch ein weiteres Tor, das in einen dunklen Schacht führte. Als das Tor sich wieder schloss, setzte sich der Boden unter den Füßen der Quashuk in Bewegung und begann mit einem dumpfen, mechanischen Ton, nach oben zu steigen, passierte mehrere Etagen, bis er in der obersten Halt machte.
Wade und seinen Mannen befanden sich in einer hohen Kammer, die nur insoweit von einem schwachen, fahlen Licht erhellt wurde, dass die Umrisse jener zwölf Gestalten sichtbar wurden, die über den Ankömmlingen aufragten. Es waren zwölf Männer, bis zum Halse umgeben von metallenen Kokons, die im Halbkreis angeordnet aus der Wand hervorragten. Die Gesichter der Visionäre wirkten leblos und ausgemergelt, graues Haar hing wild von ihren Köpfen herab, zottelige Bärte umgaben ihre faltigen Gesichter.
Mit trüben, blinden Augen starrten sie in die Leere.
Während Wades Soldaten, die selbst über keine mentalen Kräfte verfügten, angesichts dieses Anblickes, der die Vermutung zuließ, dass ihre großen Herrscher schon längst nicht mehr unter den Lebenden weilten, nervös wurden, registrierte Wade die unbeschreiblich starke, psionische Aura, die von diesen uralten Wesen ausging, eine Macht, stark genug um jedes Lebewesen wie ein Insekt zu zermalmen.
Jene Kokons hielten die Visionäre am Leben, regelten ihren Stoffwechsel, ernährten und wärmten sie. Sie waren ein notwendiges Übel, um jene Männer, die schon längst nicht mehr körperlich existierten, ans Diesseits zu binden.
Mit einer knappen Handbewegung befahl Wade seinen Mannen, niederzuknien und sofort gehorchten sie.
Der General spürte das telepathische Eindringen, als einer der namenlosen Visionäre Kontakt zu ihm aufnahm.
Die Zeit ist gekommen, Wade. Deine größte Aufgabe stets kurz bevor.
Wade verneigte sich ergeben und antwortete in seinem Geist:
Was auch immer ihr befehlt, ich werde mein Leben dafür hergeben um euren Wunsch zu erfüllen.
Ein anderer Visionär sprach tief und dröhnend: Unsere Nation hat schon Vieles erreicht, doch sie steht noch in der Blüte ihres Wachstums. Niita ist vollständig erschlossen, die Ressourcen sind leider erschöpft.
Eine andere, weinerliche Stimme warf ein: Doch die Welt ist groß und reichhaltig an Land und Ressourcen.
Wade lauschte gehorsam.
Wir hatten eine Vision von einer vereinten Welt, einem vollendeten Staat, der sich von einem Pol zum anderen erstreckte. Es wird deine Aufgabe sein, unsere Vision in die Tat umzusetzen.
Was soll ich tun, Herr?
Eine monotone Stimme sprach: Sammle unsere Truppen und stelle die größte Armee auf, die jemals das Antlitz der Welt erblickt hat.
Dir stehen alle militärischen Ressourcen zur Verfügung, merkte eine weitere, flüsternde Stimme an.
Was ist unser Ziel, Herr? fragte Wade, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
Schon seit vielen Jahren hofften die Generäle darauf, mit der Invasion des Reiches der Osra beginnen zu dürfen. Einst hatten die unterentwickelten Stämme der Quashuk versucht, die Osra zu besiegen, waren jedoch stets an der druidischen Magie ihrer Feinde und den fragilen Bündnissen untereinander gescheitert. Doch in den letzten zweihundert Jahren hatte sich vieles verändert, nun konnten die Quashuk auf eine gewaltige Armee und fortschrittlichste Mittel der Kriegsführung zurückgreifen.
Zudem hatte es damals noch keine Psioniker gegeben, denn erst durch die Lehre der Visionäre hatte sich jene Macht entwickeln können.
Osra Dilgarm, der große Kontinent des Ostens. Reich an Land und Ressourcen, bestätigte eine raue Stimme die Vermutung des Generals.
Wade antwortete huldigend: Ich werde in eurem Namen die Flotte in die Schlacht führen. Es wird eine glorreiche Eroberung werden. Wir werden die Osra vernichtend schlagen und unterwerfen. Dafür verbürge ich mein Leben.
Eine zischende Stimme erwiderte:
Falsch. Dein Geist ist zu leer um die Tragweite unserer Vorstellung zu begreifen. In unserer Vision ist kein Platz für die Osra.
Wade übermittelte schweigend seine Verwirrung.
Einer der Visionäre antwortete darauf mit kehliger Stimme: Wir verlangen nicht die Unterwerfung der Osra.
Wir verlangen ihre Ausrottung.
Wade riss erschrocken die Augen auf.
Völkermord?, schoss es ihm durch den Kopf, bevor er sein Entsetzen über jenen Befehl vor den wachsamen, mentalen Augen seiner Herren verbergen konnte.
Zweifelst du? fragte ihn die weinerliche Stimme argwöhnisch.
Wade konzentrierte sich darauf, seine Gedanken auf den Gewinn dieses Feldzuges zu fokussieren, um seine Abneigung gegenüber der Aufgabe, ein ganzes Volk zu vernichten, zu verschleiern.
Was immer ihr befehlt, wird geschehen, antwortete er knapp und verneigte sich tief.
Gehe nun, Wade. Verwirkliche unsere Vision, wies ihn die dröhnende Stimme an.
Nach einer tiefen Verneigung, verließ Wade mit seinen Soldaten die Kammer der Visionäre, in dem sich die Plattform wieder in Bewegung setzte und nach unten fuhr.
Die Reaktion ihres am meisten geschätzten General ließ die namenlosen Männer stutzen, während sich sie wortlos austauschten.
Hatten sie bei ihren Plänen zur Auslöschung der Osra den menschlichen Aspekt vernachlässigt?
Die Visionäre hatten längst jedwede Menschlichkeit hinter sich gelassen, gemeinsam mit ihren körperlichen Gelüsten. Solche Dinge empfanden sie als hinderlich und irrational, doch sie konnten nicht ignorieren, dass genau diese Art von Emotionalität ihren Plan gefährden könnte. Wenn selbst Rushin Wade, der als kaltblütiger, über alle Maßen loyaler General galt, von der Idee, die Osra auszumerzen abgeneigt war, wie würden erst die emotionaleren Generäle reagieren?
Natürlich konnten die Visionäre rein pragmatisch nachvollziehen, dass die Vernichtung der Osra eine unprofitable Maßnahme darstellte, wären sie doch viel besser geeignet, um den Quashuk als Arbeiter zu dienen. Aber die Visionäre hatten nach langen Überlegungen und Versuchen erkennen müssen, dass es den Aufwand nicht wert wäre, mühsam die Osra zu assimilieren. Zudem pochte die Vision einer Welt des Fortschritts beinahe schmerzhaft in ihren Köpfen, als würde sie der große Intellekt solange foltern, bis sie seiner Eingebung Rechnung getragen hatten.
Es gab keinen anderen Weg, die Osra mussten ausgelöscht werden.
Was die Zweifel der Generäle betraf, so konnten sich die Visionäre auf ihren loyalsten Diener verlassen, der ihrem Ideal eines Quashuk am nächsten kam.
Raxa würde keine Skrupel zeigen, wenn ihm die Visionäre auftragen würden, mögliche abtrünnige Generäle zu liquidieren.
Mit einem tonlosen Seufzen der Erleichterung tauchten die namenlosen Männer wieder in die Herrlichkeit ihrer Träume ein, sahen vor ihren geistigen Augen die monumentalen Metropolen erblühen, die jegliche Erdmasse Raajas bedecken würden.
Eine vollkommene Welt.
Eine Welt der Quashuk.
Nichts Anderes zählte für sie.
5
Zwielicht
Chigen war mehr als überrascht, als er seinen Vater auf dem von Sträuchern und wild wachsenden Blumen umgebenen Pfad antraf, der vom Anwesen der Familie Amakura in die Stadt führte. Eigentlich hatte der junge Druide erwartetet, dass Tunris ohne Umschweife zum Ort des Geschehens eilen würde, aber der Erzdruide schien tatsächlich auf Chigen und Khandra gewartet zu haben.
„Kommt an meine Seite“, wies er die beiden jüngeren Osra an.
Als sie sich neben ihm aufgestellt hatten, schloss der alte Erzdruide die Augen und streckte seine Hände zu den Seiten aus. Er konzentrierte seine ihm innewohnende Magie auf den Boden unter ihren Füßen, rief die Erde an, seinem Wunsch Folge zu leisten. Einen Herzschlag später antwortete die Natur auf den Ruf der Erzdruiden.
Der Boden begann leicht zu erzittern und sich anzuheben, geführt von Tunris Armen, die langsam gen Himmel fuhren. Plötzlich standen die Osra auf einem kleinen Hügel und auf Tunris stillen Befehl hin, begann der Hügel einer Welle gleich zu wandern und trug die Passagiere auf seinem Rücken in hohem Tempo über die Straßen von Nasriel Richtung Westen, zahlreiche Passanten staunend hinter sich lassend, von denen einige sich sogar in Anbetung ihres Erzdruiden auf die Knie warfen.
Chigen starrte seinen hochkonzentrierten Vater ehrfurchtvoll an, war tief beeindruckt von dieser Zurschaustellung druidischer Macht, die er selbst vermutlich nie erlernen würde. Der junge Osra übte sich nun schon seit drei Jahren in der Magie der Beschwörung, aber außer leichten Windstößen, die Grashalme auf und ab wiegen ließen oder seichten Wellen auf der Oberfläche eines Teiches hatte Chigen bisher noch nichts Bemerkenswertes vollbracht. Die Vorstellung, dass die Beschwörung dieser Erdwelle nur einen Bruchteil der Macht seines Vaters ausmachte, ließ den selbstkritischen Chigen geradezu resignieren.
Binnen weniger Minuten überwandten die drei Osra eine Strecke, für die sie zu Fuß mehr als eine Stunde gebraucht hätten und bald verließen sie das dichtbevölkerte Zentrum Nasriels und erreichten eine weite, offene Ebene, auf der sich kreisrunde, feuchte Felder befanden, auf denen Reis angebaut wurde. Dahinter erhoben sich die dichten Laubwälder, welche die Stadt umgaben und sich in jede Himmelsrichtung meilenweit durch das Reich der Osra zogen.
Tunris steuerte die magische Erdwelle auf eine Gruppe von Waldläufern und Druiden zu, die sich um eine große, am Boden liegende Kreatur gescharrt hatten.
Durch ein rasches Absenken seiner Hände ließ Tunris den heraufbeschworenen Hügel abrupt im Erdreich verschwinden. Während er selbst und Khandra darauf gefasst waren und sicheren Schrittes weitergingen, war der gedankenverlorene Chigen nicht darauf gefasst, plötzlich selbst wieder gehen zu müssen und stolperte unbeholfen nach vorne, um schließlich mit den Händen voran im Matsch zu landen. Peinlich berührt richtete sich der junge Druide wieder auf und blickte für einen Moment verärgert zu seinem Vater, doch einen Herzschlag später richtete sich seine gesamte Aufmerksamkeit auf das riesige Wesen, das zwischen den Versammelten im bewässerten Feld lag.
Es handelte sich um einen massigen Vierbeiner mit ledriger, brauner Haut und gespaltenen Hufen, die breiter waren als Chigens Oberkörper. Die Kreatur maß eine Länge von zwölf Fuß und müsste nach Chigens Vorstellung etwa halb so hoch sein, wenn sie aufrecht stehen würde. Der breite Schädel der Bestie wies ein großes, mit scharfen Zähnen bewehrtes Maul auf, aber das Beindruckende stellte eine massive Knochenwulst an der Stirn des Monstrums dar.
Chigen wusste aus verschiedenen Werken renommierter Tierkundler, die er in seiner Zeit an der Akademie gelesen hatte, dass der Skrolk, wie man diese Bestien-Art bezeichnete, jenen mächtigen Knochen als Rammbock einsetzte, um seine Feinde mit unglaublicher Wucht zu zerschmettern. Entsetzt musste Chigen feststellen, dass es diesem Skrolk anscheinend gelungen war, seinen berühmt berüchtigten Angriff durchzuführen, denn abseits der Gruppe lagen mehrere leblose, menschliche Körper, die man mit Tüchern abgedeckt hatte, höchstwahrscheinlich Bauern, die der monströsen Kraft der Bestie nichts entgegensetzten konnten.
Doch auch der Skrolk regte sich nicht mehr, Dutzende Pfeilschafte ragten aus seinem voluminösen Leib hervor und heraufbeschworene Wurzeln hatten noch immer seine kräftigen Beine umschlungen. Chigen vermutete, dass die anwesenden Druiden die wütende Bestie mit den Wurzeln eingefangen hatten, damit die Waldläufer ihre blutige Arbeit effizient verrichten konnten.
Obwohl es vollkommen unmöglich erschien, hatte Chigen, je länger er den Kadaver betrachtete, das beunruhigende Gefühl, dass ihn das ihm zugewandte, trübe, leblose Auge des Skrolk noch immer hasserfüllt anstarrte. Die Gespräche um sich herum ausblendend, ging der junge Druide noch ein wenig näher heran und konzentrierte sich vollkommen auf das Auge der Bestie. Der Skrolk war mit absoluter Sicherheit tot, weder regte er sich, noch hob und senkte sich der gewaltige Brustkorb.
Aber dennoch erschien es Chigen beinahe so, als ob das Wesen ihn bewusst anstarrte. Je intensiver er das Auge des Skrolk betrachtete, desto mehr schien sich der Hass in dessen Blick zu einer Art Traurigkeit zu verändern, als ob die Bestie Chigen um Vergebung bitten würde.
„Tritt bitte beiseite, Chigen“, wies Tunris seinen Sohn zum wiederholten Male mit strenger Stimme an.
Unwillkürlich zusammenzuckend, machte Chigen gehorsam Platz für seinen Vater, der nun den Kadaver genauer betrachtete, sowohl mit gewöhnlichen, als auch magischem Blick, der ihm durch die Magie der Heilung gewährt wurde. Durch diese Fähigkeit waren Druiden im Stande, Verletzungen und andere Leiden zu entdecken, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren.
Mit verwirrten Ausdruck auf dem jungen Gesicht, suchte Chigen noch einmal den Blick des Skrolk, doch nun starrte das Auge des Wesens ausdruckslos in die Leere.
Habe ich mir das gerade nur eingebildet?, fragte sich Chigen und bemerkte erst jetzt, dass ihn einige der Waldläufer und Druiden mit argwöhnischen Blicken musterten.
Wie lange war ich denn weggetreten?, fragte er sich erneut und trat an Khandras Seite, die etwas abseits stand.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ fragte Khandra mit flüsternder Stimme ihren Schützling. Dieser antwortete nur ausweichend: „Es ist nichts weiter. Ich habe nur noch nie zuvor einen Skrolk gesehen. Ein wahrhaft monströses Wesen.“
Das schien Khandra als Erklärung zu genügen, da sie nun wieder ihre volle Aufmerksamkeit den drei anwesenden Erzdruiden schenkte.
„Wie ist das möglich?“ fragte der ewig nervös wirkende Meister Hadon Auris an Anselm gewandt. Mit beinahe anklagender, weinerlicher Stimme fuhr der kleinwüchsige Mann fort:„Skrolks sind friedliche Herdentiere, Pflanzenfresser, die bisher nur Menschen angriffen, wenn sie sich von ihnen bedroht fühlten.“
Anselm zuckte als Antwort nur mit den Schultern, während Tunris seine Begutachtung des Kadavers beendete und sich wieder aufrichtete.
„Es sind keine Anzeichen von Tollwut zu erkennen“, begann er nachdenklich und bedachte Auris mit einem abschätzigen Blick, da es seiner Meinung nach nicht eines Erzdruiden würdig war, in Anwesenheit von Dienern ratlos, ja geradezu hysterisch zu wirken. „Ich kann auch keine ältere Verletzung feststellen, welche die Kreatur vielleicht gequält hat und sie deshalb in den Wahnsinn trieb“, fuhr er fort.
Chigen nickte zustimmend, obwohl ihn sein Vater gar nicht beachtete.
Seines Wissens nach kam es manchmal vor, dass sich Tiere verletzen, sei es nun im Kampf mit anderen Tieren oder Skar-Wilderern, und dass eine solche Wunde aufgrund einer ungünstigen Lage nicht abheilte und die Kreaturen buchstäblich wahnsinnig werden ließ. Es war unter anderem die Aufgabe der Druiden, solche Tiere zu fangen und ihre Leiden mit ihrer Magie der Heilung zu lindern, oder sie schlimmstenfalls zu töten. Aber selbst wenn der Skrolk auf eine solche Weise verletzt worden war, erklärte das noch längst nicht, warum er sich von seiner Herde gelöst hatte und den ganzen weiten Weg von der Westküste Osra Dilgarms, die den natürlichen Lebensraum dieser Art bildete, bis nach Nasriel gewandert war und sich dann auf friedfertige Bauern gestürzt hatte.
Während Chigen darüber nachdachte, merkte Anselm genau diesen Sachverhalt im Gespräch mit seinen Amtskollegen an.
„Wir müssen uns wohl eingestehen, dass dieses arme Geschöpf von dem gleichen Wahnsinn getrieben wurde, der auch jene Bestien befiel, die in der Nacht die Handelskarawane im Norden attackiert haben“, führte der wohlbeleibte Meister seine Schlussfolgerung zu Ende.
Ein Raunen fuhr einer Welle gleich durch die Reihen der anwesenden Druiden und Waldläufer und auch Meister Auris machte keinen Hehl aus seinem Entsetzen über die Feststellung seines Kollegen.
Chigen empfand eher Interesse als Furcht und mit jeder verstreichender Minute mehr das Bedürfnis, jenes Mysterium aufzuklären.
Sich der Angst seiner Diener bewusst, sprach Tunris in beruhigendem Tonfall: „Der Angriff des Skrolk ist nur eine weitere Bestätigung für die Warnung der Essenz, die wir in der Nacht empfingen. Freunde, sorgt für die Sicherheit unserer Stadt, während unsere Verbündeten im Reich nach Antworten suchen.“
Die Kämpfer nickten entschlossen und dankbar über die Worte ihres Erzdruiden. Chigen fand es einmal mehr verwunderlich, wie einfach es seinem Vater gelang durch wenige Worte seine Mannen zu beruhigen.
„Jinnos“, begann Tunris an einen jungen, stämmigen Druiden mit dunkler Haut gerichtet, der jenen Verband von Stadtwachen anführte. „Verstärkt die Verteidigung rund um die Felder, nehmt euch so viele Kämpfer wie nötig, um die Grenze zum Wald zu sichern. Es gibt ganze Herden von Skrolks in dieser Richtung, also müssen wir damit rechnen, dass bald wieder eines der Tiere unsere Bauern attackieren könnte.“
„Sehr wohl, Meister Amakura“, erwiderte der stets grimmig dreinblickende Jinnos mit einer tiefen Verbeugung.
Dann wies er einige seiner Kämpfer an, in die Stadt zu eilen, um die benötigte Verstärkung zu holen und begab sich daraufhin selbst mit dem Rest seiner Truppe zur Waldgrenze.
„Was geschieht hier nur?“, fragte Auris hilflos, nachdem die Stadtwachen fort waren.
„Bewahrt Ruhe, Meister Auris!“ wies Tunris seinen Kollegen barsch an, der daraufhin trotzig schnaubte und sich abwendete.
Chigen fühlte sich unwohl in Anwesenheit der drei Meister und fragte sich, warum sein Vater ihn überhaupt an diesen Ort geführt hatte. Aber gleichzeitig war es für den jungen Druiden auch interessant zu sehen, wie die Führer der Osra mit dieser bedrohlichen Situation umgingen. Die Hilflosigkeit, die sich in Meister Auris Verhalten und Gestik wiederspiegelte, zeigte Chigen deutlich, dass jene Männer auch nur Menschen waren, die genauso wie alle anderen Osra nicht begriffen, was in Nasriel in diesen Tagen geschah.
„Vielleicht handelt es sich ja trotzdem um eine Krankheit, die der Tollwut ähnlich ist, aber bisher noch nicht von uns erkannt wurde“, überlegte Anselm laut.
„Warum erkranken dann nicht unsere Damatras?“ fragte Auris mit angespannter Miene.
Das hatte sich Chigen auch schon gefragt. Damatras waren die einzigen Tiere, die von den Osra domestiziert worden waren, einzig und allein zum Zwecke, die schweren Karren und Kutschen auf den Handelsrouten hinter sich herzuziehen.
Gewöhnlicher weise zogen es die Osra aufgrund ihres Glaubens vor, Tiere in keiner Weise in ihrem natürlichen Trieb zu beeinflussen, aber mit dem Wachstum der Städte und dem daraus resultierendem Wachstum der Wirtschaft, hatte man jene Pferdeähnlichen Wesen als einzige Ausnahme unterworfen. Auch wenn man sie schonend und respektvoll behandelte, empfand Chigen diese Entscheidung als Heuchelei, aber er verdrängte diese kritischen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf die vor ihm liegende Situation.
Genauso wenig wie die Damatras wurden die kleineren Geschöpfe der Wälder wie Vögel oder auch Insekten von diesem Wahnsinn beeinflusst.
Es musste sich also um etwas handeln, dass nur die großen Bestien befiel.
„Sohn, ich möchte gerne deine Meinung hören“, sagte Tunris plötzlich zur Überraschung aller Anwesenden.
Chigens Augen weiteten sich vor Schreck und im ersten Moment brachte er keinen Ton heraus.
Warum wollte sein Vater auf einmal seine Meinung hören?
Bisher war der junge Druide bei Treffen mit den anderen Meistern stets zum Schweigen verdonnert worden. Aber nun blickte Tunris ihn freundlich lächelnd und erwartungsvoll an.
„Nun, Vater, verehrte Erzdruiden...“ begann Chigen stotternd „Ich glaube nicht, dass es sich um eine Krankheit handelt.“
„Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?“, fragte ihn Anselm interessiert, während Auris abwechselnd Tunris und dessen Sohn mit skeptischen Blick musterte.
Als Chigen sich einigermaßen von der überraschenden Aufforderung seines Vaters, erholt hatte, erklärte er zögerlich: „Nun, meines Wissens nach, werden Krankheiten entweder durch die Luft oder durch Speichel übertragen. Nehmen wir einmal an, dass jene Kreaturen, welche die Handelskarawane angriffen, mit einer Krankheit infiziert waren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Skrolks, die etwa ein Dutzend Tagesreisen entfernt ihr Revier haben, an der gleichen Krankheit leiden und das auch noch zur selben Zeit. Auch wenn es eine Krankheit ist, die sich über die Luft überträgt, so ist doch mehr als unwahrscheinlich, dass sie eine solche Strecke überdauern könnte.“
Anselm und Tunris nickten zustimmend, während Auris anscheinend mehr damit beschäftigt war, sich darüber zu ärgern, von einem Schüler belehrt zu werden.
„Das ist ein gutes Argument, Sohn“, sagte Tunris und lächelte erfreut, was Chigen nur noch mehr verwirrte, aber gleichzeitig ein wohliges Gefühl bescherte.
Er musste sich eingestehen, dass diese kleine Geste seines Vaters trotz aller Vorbehalte bereits ausreichte, die Sonne in seinem Herzen scheinen zu lassen.
Genau das hatte Tunris mit seinem ungewöhnlichen Verhalten bezweckt.
Der alte Erzdruide war längst zu der gleichen Schlussfolgerung gekommen, was die Theorie einer möglichen Krankheit betraf, wollte aber seinem Sohn die Gelegenheit geben, seine Meinung Kund zu tun. Er hoffte, dass wenn er Chigen größeren Anteil am politischen Geschehen in Nasriel in diesen Tagen gewährte, er ihn von seinem Wunsch ablenken könnte, die Stadt verlassen zu wollen.
Denn was auch immer sein Sohn tun oder sagen würde, das würde und könnte ihm der Erzdruide niemals erlauben.
Tunris hatte einst, was Chigen betraf, einen Schwur geleistet und er würde ihn nicht brechen.
„Khandra, bring bitte meinen Sohn zurück in die Stadt. Es wird bald dämmern“, wies Tunris die Waldläuferin an und nickte noch einmal Chigen lächelnd zu.
Khandra verneigte sich und erwiderte: „Natürlich, Meister Amakura.“
In dem Glauben, endlich einen Zugang zu seinem stets verschlossenen Vater gefunden zu haben, lächelte Chigen zufrieden und ließ sich von seiner Freundin nach Osten, ins Innere Nasriels, geleiten.
„Ich bin sicher, dass er sich gefreut hat“, sagte Anselm zu seinem alten Freund, als Chigen und Khandra außer Hörweite waren.
Tunris erwiderte: „Es wird Zeit für ihn, mehr Anteil am politischen Geschehen zu nehmen. Er muss sich seiner Position in unserer Gesellschaft bewusst werden.“
„Natürlich“, antwortete Anselm mit wissendem Grinsen auf dem bärtigen Gesicht.
Er glaubte seinem Freund kein einziges Wort, denn er ahnte, dass Tunris eigentlich nur das Ziel verfolgte, seinen Sohn an Nasriel zu binden und von den Bestrebungen, die Stadt zu verlassen, abzubringen. Aber solange es Chigen dabei besser ging, konnte Anselm dieser Vorgehensweise nur zustimmen.
„Könnten wir jetzt bitte wieder über die unmittelbare Gefahr für unser Volk sprechen, statt uns mit Familienangelegenheiten zu befassen?“ fragte Auris gereizt, ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippelnd.
Die beiden alten Freunde seufzten gleichzeitig und mussten verhalten lachen, was ihren nervösen Kollegen nur umso mehr aufbrachte.
Auch wenn sich ihre Welt in diesen Tagen scheinbar wandelte, würden sich einige Dinge wohl niemals ändern.
6
Nacht über Nasriel
Als die Sonne, einem dunkelroten Feuerball gleich, am westlichen Horizont, hinter den endloswirkenden Wäldern, versank, kehrte für einige Augenblicke andächtige Stille auf Nasriels Straßen ein.
Die Bauern ließen von ihrer Arbeit auf den Feldern ab, die Kinder hörten auf zu spielen, selbst die wachsamen Waldläufer wandten ihren Blick gen Himmel.
Alle Osra starrten wie gebannt auf den Sonnenuntergang und sanken langsam auf die Knie, selbst die Erzdruiden, die gewöhnlicher Weise vor nichts und niemanden niederknieten.
Mit den letzten, aufblitzenden Strahlen der Sonne, verneigten sich die Bürger Nasriels im stillen Gebet.
Die Osra dankten in diesem Ritual der Essenz, einen weiteren Tag von ihrer Herrlichkeit umgeben existieren zu dürfen, dass sie durch ihr strahlend helles Auge über ihre Kinder gewacht hat, symbolisiert durch die Sonne.
Das Ritual des Sonnenuntergangs war eine der ältesten Tradition in der Glaubensgemeinschaft der Osra. Laut uralter Aufzeichnungen war es bereits an den ersten Tagen der Menschheit entstanden.
Die ersten Menschen hatten befürchtet, dass die Sonne für alle Zeit verschwunden sein würde, als sie das erste Mal untergegangen war und dass die, über das Land ziehenden, Schatten böse Kreaturen waren, die sie verschlingen und ewige Qualen leiden lassen würden.
Doch nach einer unendlich lang erscheinenden Nacht voller Ängste, war sie wieder am anderen Horizont aufgetaucht und hatte die Finsternis mit ihrem wärmenden Schein vertrieben.
Von da an hatten die Menschen darauf vertraut, dass sie nicht alleine auf der Welt waren, dass es eine höhere Macht gab, die über sie wachte, die ihnen und der Natur mit ihrem ewigen Licht Leben und Schutz spendete.
Laut den ältesten Schriften war das Ritual des Sonnenuntergangs auf diese Weise entstanden und so wurde es bis heute gewissenhaft von den Osra praktiziert.
Als die Dunkelheit den Himmel einhüllte und die Sterne zu funkeln begannen, erhoben sich die Osra wieder, erfüllt von einem Gefühl der Sicherheit, dass selbst an jenem beunruhigenden Tage die Essenz über sie wachte.
Bald darauf erleuchteten verschiedenfarbige Lampions, die von den Kanten der Dächer herabhingen, mit warmen, milchigem Schein die Straßen der Stadt.
Die Terrassen und Gärten der Wirtshäuser waren an jenem Abend gut besucht, die Bürger empfanden allem Anschein nach das Bedürfnis über die mysteriösen Vorkommnisse des Tages zu plaudern, während sie Wein und frisch zubereitete Speisen zu sich nahmen.
Chigen schlenderte gemeinsam mit Khandra langsamen Schrittes über die belebten Straßen, beobachtete die Osra in den Lokalen bei ihren angeregten Unterhaltungen, lauschte den fröhlichen Melodien der Straßenmusiker und genoss die appetitanregenden Düfte, die aus den Küchen hervorströmten.
Mit Ausnahme der verstärkten Präsenz von Wachen, erschien es dem jungen Druiden so, als wäre es ein gewöhnlicher Abend in Nasriel, wie er schon bereits viele erlebt hatte.
Meistens jedoch kehrte Chigen zu dieser Tageszeit trübsinnig in sein Heim zurück und vergrub sich solange in Büchern über die Geschichte der Länder und Völker Raajas, bis ihm die Augen zufielen und er in einen unruhigen Schlaf versank. Doch seit dem Gespräch mit seinem Vater und dessen ungewöhnlichem Entgegenkommen, fühlte Chigen sich auf angenehme Weise belebt und erheitert.
„Soll ich dich nach Hause geleiten, Chigen?“ fragte Khandra ihren Schützling, ein wenig verwundert darüber, dass dieser sich nicht schon längst Richtung Anwesen bewegte.
„Nein, ich denke, dass ich noch ein wenig in der Stadt bleiben möchte“, antwortete er lächelnd.
„Wie du wünschst“, meinte Khandra, innerlich erfreut darüber, dass Chigen so gut gelaunt war, was zu ihrem Bedauern nicht sehr häufig vorkam.
Die meiste Zeit verbrachte der junge Osra alleine mit seinen Büchern oder in der Akademie, wo er jedoch auch meist den Kontakt zu seinen Mitschülern vermied.
Die Waldläuferin konnte die Motive für sein introvertiertes Verhalten durchaus nachvollziehen, schließlich beschritt auch sie seit Jahren ihr Leben als Einzelgängerin, die sich nur selten anderen Menschen öffnete. Doch gerade weil sie ein solch einsames Leben nur zu gut kannte, hoffte sie inständig, dass Chigen nicht den gleichen Weg einschlagen würde. Khandra würde natürlich nicht versuchen, ihn zu bedrängen, ein solches Vorgehen hatte bei ihr in der Vergangenheit auch immer nur dazu geführt, dass sie sich noch stärker abkapselte. Insgeheim hoffte sie jedoch, dass Marisol es gelingen würde, Chigen aus der Reserve zu locken. Auch wenn er Khandra noch nie etwas über seine Gefühle gegenüber der jungen Druidin mitgeteilt hatte, so hatte sie doch den Eindruck, dass er etwas mehr als Freundschaft für Marisol empfand.
„Chigen!“ erschallte plötzlich ein Ruf, der die allgegenwärtige Geräuschkulisse auf der Straße durchbrach. Als Khandra die Stimme als jene von Marisol identifizierte, kam sie sich beinahe ertappt vor, als hätte sie durch ihre Überlegungen diese Begegnung heraufbeschworen.
Die zierliche Druidin lief winkend auf die beiden Osra zu und Khandra bemerkte einen Anflug von Nervosität auf Chigens jugendlichen Gesichtszügen.
„Was für ein Glück, dass ich euch treffe!“ sagte Marisol ein wenig außer Atem, als sie die beiden erreicht hatte.
„So sieht man sich wieder“, erwiderte Chigen etwas unsicher.
„Habt ihr Lust etwas essen zu gehen? Ich treffe mich gleich mit einigen Mitschülern in Garodins Köstlichkeiten.“
Chigen biss sich unabsichtlich auf die Lippen. Zwar hatte er das Bedürfnis, heute länger in der Stadt zu bleiben und auch mit Marisol und Khandra über die Ereignisse des heutigen Tages zu sprechen, aber die Vorstellung, mit mehreren Mitschülern zusammenzusitzen, schreckte ihn ab. Er hatte in solchen Runden immer das Gefühl, dass man sich besonders gewählt ausdrücken müsse, eine Art von Konkurrenzkampf, der ihm abging. Zudem schienen sich gerade Männer in solchen Situationen gegenseitig übertrumpfen zu wollen, was Chigen für infantil und prahlerisch hielt.
„Tja, also...“ begann er unsicher, aber Marisol unterbrach ihn, wie immer einen besonderen Scharfsinn für die Gedankengänge des jungen Osras beweisend:
„Wir können natürlich auch nur zu Dritt uns irgendwo hinsetzen und plaudern.“
„Sehr gerne“, antwortete Chigen sichtlich erleichtert.
„Dann folgt mir!“ sagte Marisol lächelnd und führte ihre Begleiter zu einem Wirtshaus nahe der Hauptallee von Nasriel. Das Gebäude wurde von einer erhöhten, kreisförmigen Terrasse umgeben, auf der Dutzende von Tischen standen, die mit bequem gepolsterten Stühlen ausgestattet waren.
Im Mondschein hatten sich bereits viele Gäste eingefunden, die bei Speis und Trank angeregte Gespräche führten. Marisol wählte für die Gruppe einen abseitsgelegenen Tisch am Rand der Terrasse, von dem man aus einen kleinen Teich überblicken konnte, auf dessen glänzender Oberfläche sich der gelbliche Halbmond und das Sternenmeer spiegelten.
Nachdem eine höfliche Kellnerin ihre Bestellung aufgenommen hatte, begann Marisol ernst: „Ich habe gehört, dass es vor einigen Stunden in den Nassfeldern einen weiteren Angriff der Bestien gegeben haben soll. Wisst ihr etwas darüber?“
„Ja, das ist leider wahr. Wir waren dort und haben die Kreatur gesehen. Es handelte sich um einen Skrolk“, erklärte Chigen.
„Als wir eintrafen, hatten jedoch Hauptmann Jinnos Dai und seine Truppe die Bestie bereits erlegt“, fügte Khandra hinzu.
„Ein Skrolk? Sind das nicht eigentlich friedliche Herdentiere?“
„Ja. Jetzt wissen wir, dass dieser Wahnsinn selbst die friedfertigsten Bestien in mordlüsterne Monster verwandeln kann“, erwiderte Chigen und bedankte sich bei der Kellnerin, die ihnen Wein und in Khandras Fall Traubensaft an den Tisch brachte, schließlich war die Waldläuferin immer noch im Dienst.
„Die Erzdruiden konnten des Weiteren keine Anzeichen einer Krankheit oder einer Verletzung an dem Kadaver ausmachen.“
„Genauso wie bei den Schattenwölfen, die gestern Nacht die Karawane überfielen“, stellte Marisol nachdenklich fest.
Chigen schaute sie fragend an und die junge Druidin erklärte: „Ich habe heute Nachmittag mit Sheredon Brijes, Meisterin Brijes Sohn über den Vorfall gesprochen. Er gehörte zu jenen Druiden, die noch einmal in die nördlichen Wälder gingen, um den Ort des Angriffs zu untersuchen. Es sollen mehr als zwanzig Tiere gewesen sein.“
„Die Karawane hatte keine Chance gegen eine solche Übermacht“, merkte Khandra mit finsterer Miene an.
Chigen stimmte ihr nickend zu, denn seines Wissens nach gehörten Schattenwölfe zu den gefährlichsten Bestien in den Wäldern Nasriels. Sie arbeiteten perfekt im Rudel zusammen, als ob sie die Gedanken des anderen lesen konnten. Zudem besaßen sie die Fähigkeit vor allem bei Nacht mit ihrer Umgebung förmlich zu verschmelzen, was ihnen auch ihren Namen Schattenwölfe eingebracht hatte.
„Und wenn doch die Skar dahinter stecken?“ fragte Marisol, nachdem sie einen Schluck des lieblichen Weins zu sich genommen hatte.
„Wie kommst du darauf?“ fragte Chigen ein wenig ungehalten, da er diese Theorie als blanken Unsinn betrachtete.
„Nun, es ist keine Krankheit, so viel steht fest. Vielleicht haben die Skar den Bestien etwas Anderes angetan. Man munkelt, dass ihre Schamanen über dunkle Magie verfügen, Flüche und Verwünschungen.“
„Aber wie kannst du dir dann erklären, dass ein Skrolk aus den westlichen Ebenen davon befallen ist? Die Skar leben ausschließlich im Norden Osra Dilgarms“, argumentierte Chigen.
„Das stimmt schon, aber kannst du mit absoluter Sicherheit behaupten, dass die Schamanen nicht trotzdem dazu im Stande sein könnten?“ konterte Marisol.
„Wenn dem so wäre, warum haben sich nicht schon früher diese Magie benutzt, als ihr Volk noch im offiziellen Krieg mit uns lag?“
Marisol musste darüber nachdenken, aber Khandra warf ein: „Vielleicht planen sie ja einen erneuten Krieg.“
Stutzig Khandra musternd erwiderte Chigen: „Du klingst beinahe wie einer von Valkens Anhängern.“
„Ich gehöre bestimmt nicht zu seinen Anhängern“, verbesserte Khandra den jungen Druiden. „Ich habe nicht den Wunsch, in den Krieg mit den Barbaren zu ziehen. Aber man könnte die Warnung, welche die Essenz uns offenbarte, auf eine solche Art und Weise interpretieren. Das musst du zugeben.“
„Wenn man den Wunsch nach Krieg verspürt, dann durchaus“, erwiderte Chigen schneidend und nahm einen tiefen Schluck Wein.
Für einen Moment herrschte angespanntes Schweigend in der Runde, bis Marisol einen Versuch unternahm, das Thema zu wechseln.
„Hast du schon mit deinem Vater gesprochen, Chigen?“
Khandra warf Chigen einen fragenden Blick zu und dieser legte eine zerknirschte Miene auf.
„Leider hat sich bisher noch nicht die Gelegenheit ergeben.“
„Habe ich etwas verpasst?“ fragte Khandra überrascht.
„Chigen möchte seinen Vater um Erlaubnis bitten, die Stadt verlassen zu dürfen, damit er als Repräsentant Nasriels in andere Städte des Landes reisen kann“, erklärte Marisol und Khandra versteifte sich leicht bei diesen Worten.
Nicht nur, dass sie es geradezu für unmöglich hielt, dass Meister Amakura es Chigen erlauben würde, sondern alleine die Tatsache, dass es da draußen vor wahnsinnigen Bestien wimmeln könnte, erhob sich zu einem inneren Protest gegen diesen waghalsigen Plan. Aber Khandra behielt ihre Gedanken vorerst für sich, schließlich würde es nicht dazu kommen, dass Chigen die Stadt verließ.
„Ich werde es morgen beim Frühstück zur Sprache bringen“, versprach Chigen und Marisol beließ es dabei.
Die freundlich lächelnde Kellnerin näherte sich wieder ihrem Tisch und brachte ihnen die bestellten Speisen, für Chigen Brot mit verschiedenen Gewürzpasten, für Marisol einen bunten Salat und Khandra Hähnchenflügel mit pikanter Marinade.
Feierlich begann Marisol mit geschlossenen Augen: „Essenz, wir danken dir für diese Speisen und dein ewigwährendes Opfer, um uns, deine Kinder, zu ernähren.“
Als sie geendet hatte, meinte sie breit lächelnd: „Dann lasst es euch schmecken!“
Chigen und Khandra taten es ihr gleich, wobei Chigen noch darüber nachdachte, ob es wirklich notwendig war, bei jeder Mahlzeit dieses Gebet herunterzurasseln.
Wenn man ein Tier tötete und von seinem Fleisch nahm, machte es da einen Unterschied, ob man ein kurzes, auswendig gelerntes Gebet sprach oder nicht?
Während des vorzüglichen Essens erzählte Marisol freimütig über ihr Leben an der Akademie und Chigen steuerte die eine oder andere Anekdote bei, während Khandra, wie stets, die meiste Zeit über schwieg.
Auch wenn Chigen sich teilweise am Gespräch - wobei Marisol eigentlich die ganze Zeit über sprach – beteiligte, kehrte er im Geist doch immer wieder zu den Reisfeldern im Westen Nasriels zurück, zu jenem toten Skrolk und seinem hasserfüllten und doch so traurigen Blick.
„Chigen?“ fragte Marisol und am Klang ihrer Stimme erkannte der nachdenkliche Druide, dass sie ihn nicht zum ersten Mal angesprochen hatte.
„Hm?“ brachte er als Antwort hervor und schaute sie verwirrt an.
„Ich hatte dich gerade gefragt, wie dein Essen geschmeckt hat“, erklärte die junge Druidin und musterte ihn besorgt.
„Ausgezeichnet, sagte ich das nicht bereits?“
„Wo bist du mit deinen Gedanken, Chigen?“
„Es ist nichts“, erwiderte dieser abweisend und senkte den Blick.
„Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir. Als wir an den Reisfeldern angekommen waren, hast du dich auch so merkwürdig benommen“, stellte Khandra fest.
„Hat dich der Anblick der toten Kreatur erschreckt?“
Chigen schüttelte den Kopf und schloss die Augen, um sich die Situation erneut vor Augen zu führen.
„Nein, das ist es nicht. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.“
„Versuch es doch einfach mal“, erwiderte Marisol und beugte sich erwartungsvoll vor, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt.
„Als ich dem Skrolk in die Augen sah, hatte ich das furchteinflößende Gefühl, dass er mich ansah“, erklärte Chigen zögerlich, hatte tatsächlich für einen Moment Angst, dass ihn seine beiden Freundinnen auslachen könnten.
„Nun, das ist doch nichts Außergewöhnliches, oder?“ fragte Khandra.
„Nein, ihr versteht nicht. Ich sah in seinem Blick einen unvorstellbaren Hass. Doch bald darauf veränderte sich dieser Hass und wurde zu einer tiefen Trauer. Ich kann es mir nicht erklären, aber als ich erneut hinsah, starrten seine Augen tot und matt ins Leere.“
Chigen schaute zaghaft auf und las in den Gesichtern der Frauen Verwirrung.
„Glaubst du, dass es eine Art Vision war?“ fragte Marisol ernst.
„Ich weiß es nicht. Aber warum sollte die Essenz mir eine Vision gewähren?“
„Warum nicht?“
Chigen schüttelte abwehrend den Kopf. Den Maßstäben seines Volkes nach war er kein besonders frommer Mensch, er zweifelte an der Struktur der Gemeinschaft, scherte sich wenig um Rituale und Gebete und besaß kaum magische Fähigkeiten. Andererseits könnten diese Maßstäbe falsch sein, doch auf dieses Terrain wollte sich Chigen beim besten Willen nicht vorwagen. Es war in der Gesellschaft der Osra ein immenser Unterschied ob man ein Zweifler oder ein Ketzer war.
Aber warum sollte es nicht eine Vision gewesen sein?
Welcher Mensch könnte das Gegenteil behaupten?
„Ich begreife nicht, warum uns die Bestien hassen sollten“ warf Khandra ein.
„Die Osra haben seit jeher über die Natur und ihre Bewohner gewacht, sich nur das genommen, was sie benötigten. Warum auf einmal dann dieser gemeinschaftliche Hass?“
Weder Chigen, noch Marisol wussten darauf eine plausible Antwort und so saßen die drei Osra schweigend dar und starrten gedankenverloren in das endlose Meer der Sterne.
„Jetzt beruhige dich wieder, Ginzo. Du verscheuchst meine Kundschaft“, fuhr Aglus, der Wirt, seinen alten Freund hitzig an.
„Ich will mich aber nicht beruhigen, du Narr!“ brüllte Ginzo lallend und kam schwankend auf die Beine.
Seit der Ratsversammlung hatte sich der alte Druide auf der Terrasse von Aglus Schenke niedergelassen und dem Brandwein heftiger zugesprochen, als er es für gewöhnlich tat.
Vorerst hatte sich Aglus keine Sorgen gemacht, es kam schließlich häufiger vor, dass Ginzo sich betrank und dabei vor sich hin murmelte, doch plötzlich hatte der Wandler begonnen lauthals seinem Frust Gehör zu verschaffen.
„Ihr seid alle Narren, wisst ihr das eigentlich nicht?“ fuhr Ginzo zornig fort und die anderen Gäste starrten ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Beunruhigung an.
„Ihr folgt blind den Gesetzten eurer Erzdruiden, denn die müssen es ja schließlich wissen, was? Aber die wissen nicht mehr als ihr, sie sind genauso dumm und schwach!“
Aglus zuckte erschrocken zusammen und packte seinen Freund am Kragen.
„Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Du kannst doch so was nicht in der Öffentlichkeit herausposaunen!“ zischte der Wirt Ginzo an.
„Lass mich los, du Wurm!“ entgegnete der alte Osra und stieß den kräftigen, aber wesentlich kleineren Mann von sich weg.
Aglus stolperte rückwärts und landete schließlich unsanft auf dem Hosenboden.
„Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der noch bei klarem Verstand ist!“ verkündete Ginzo und die Tatsache, dass er dabei fürchterlich lallte, ließ seine Behauptung mehr als absurd erscheinen.
Mittlerweile erhoben sich Stimmen unter den Anwesenden, die den alten Kauz als Ketzer bezichtigten und einige riefen auf die Straße, dass jemand die Stadtwache holen solle.
Aglus erhob sich und näherte sich wieder Ginzo, dieses Mal langsam und bedächtig, die Hände beruhigend erhoben.
„Geh nach Hause, alter Freund. Schlaf dich aus. Ich bitte dich, hör auf solchen Unsinn von dir zu geben. Du machst dich nur unglücklich.“
„Keine Sorge, Aglus, unglücklich bin ich schon längst“, erwiderte Ginzo und lachte laut auf. „Und weißt du auch warum? Weil ich einst genauso blind den Lehren gefolgt bin. Und was hat es mir eingebracht? Ich konnte nicht bei ihnen sein, als sie mich am meisten gebraucht hätten!“
Bittere Tränen rannen über seine rote Wangen, als er sich wieder den Umstehenden zuwandte. Doch er sah sie gar nicht wirklich, sondern vor seinem geistigen Auge schwebten die Gesichter seiner verstorbenen Frau Irenyes und seines verschollenen Sohnes Saihto.
„Glaubt ihr wirklich, dass die Essenz möchte, dass ihr euer Leben mit Ritualen und Gebeten vergeudet? Ihr sollt leben, verdammt noch mal! Ihr sollt euer Leben genießen, denn eins, das kann ich euch versichern, wenn es einmal vorbei ist, dann ist es vorbei!“
Aglus starrte seinen alten Freund, nein, das was aus ihm geworden war, fassungslos an, unfähig etwas zu erwidern. Ginzo war verloren und es gab nichts, was er noch daran ändern könnte.
Als der Wirt eine Bewegung hinter dem alten Druiden wahrnahm, zog er sich ängstlich hinter einen Tisch zurück und wandte beschämt den Blick ab.
„Keine Bewegung, Ketzer“, erschallte plötzlich ein Ruf hinter Ginzo.
Langsam drehte er seinen Kopf und blickte über die Schulter hinter sich, sah einen Trupp Waldläufer mit erhobenen Bögen, sowie einige Druiden, die bereits in ihre Magie vertieft waren.
Ginzo grinste sie nur schief an.
„Ketzer?“ fragte er den vordersten Druiden, einen schlanken Mann mit heller Haut und blondem, langen Haar, anscheinend der Anführer der Truppe.
„Dann verrate mir eins, mein junger Freund: Wenn ich tatsächlich ein Ketzer sein soll, warum kann ich dann immer noch das hier?“
Ginzo schloss die Augen und konzentrierte sich voll und ganz auf sein Inneres.
Er rief sein zweites Ich an, die Bestie, die in ihm schlummerte.
Wahrscheinlich würden sie ihn trotzdem töten können, aber er wollte wenigstens noch einige von diesen Narren mitnehmen.
Es spielte alles keine Rolle mehr.
Sein Leben war in dem Moment verwirkt gewesen, als er realisierte, dass sein Glaube ihn davon abgehalten hatte, bei seiner Familie zu sein, als sie ihn am meisten gebraucht hätte. Jetzt waren sie fort, unwiderruflich, und Ginzo hoffte inständig, dass sie wieder Teil der Essenz waren und Frieden gefunden hatten. Vielleicht würden sie ihm vergeben, wenn er zu ihn stoßen würde, aber er erwartete es nicht.
Wütend aufbrüllend stürzte sich Ginzo den Stadtwachen entgegen, doch es geschah...
Nichts.
Der Twahoo in ihm regte sich nicht und bevor Ginzo sich dessen richtig bewusst wurde, bohrte sich ein Pfeil tief in seinen rechten Arm.
Er stieß einen kurzen Schrei aus, doch dieser klang nicht schmerzerfüllt, sondern eher verblüfft. Die Druiden reagierten blitzschnell und aus dem Erdreich um Ginzo schossen Dutzende von armdicken Wurzeln empor, die auf Befehl der Beschwörer binnen eines Herzschlages seine Gliedmaßen umwickelten und ihn mit übermenschlicher Stärke zu Boden rissen.
Das Letzte, was Ginzo bewusst wahrnahm, war der dumpfe Aufschlag und den Geschmack warmen Blutes in seiner Mundhöhle.
Dann verschwamm alles um ihn herum zu einem Matsch aus Braun und Grün, der sich allmählich in Dunkelheit verwandelte.
Ginzo hoffte, dass er nicht mehr erwachen würde.
Wo bin ich?, fragte sich Chigen, als er plötzlich seine Augen aufriss.
Farblose Wälder umgaben ihn und der Himmel ähnelte einer grauen Masse. Die Sonne hing als matter, kränklich gelber Fleck am Firmament, ihre Strahlen trugen keine Wärme mit sich.
Bin ich noch immer in Nasriel?
Die großen Laubbäume hatten tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen, die rund um die Osra-Hauptstadt wuchsen, doch es wirkte so, als sei ihnen jegliche Farbe, nein, jegliches Leben entzogen worden, als seien sie nur noch Phantome ihrer selbst.
Chigen bemerkte, dass er kniete und griff instinktiv in den erdigen Boden, als ob er sich vergewissern wollte, dass dieser tatsächlich real war. Was er fühlte, war in der Tat Erde, doch sie war körnig und trocken, leblos, wie die Bäume.
Was ist nur geschehen?
Chigen erhob sich rasch, getrieben von einem tiefgreifenden Gefühl von Panik, ähnlich jenem Gefühl, dass er in der gestrigen Nacht empfunden hatte, als er, wie alle anderen Osra in Nasriel, diese angsteinflößende Träume gehabt hatte.
Träume ich? Es muss ein Traum sein. Aber warum fühlt es sich so echt an?
Der junge Druide versuchte sich zu orientieren, irgendein Anzeichen zu finden, wo genau er sich befand, aber nach einigen Minuten gab er es auf, schließlich hatte er bisher nur wenige Male die Wälder Nasriels aufsuchen dürfen und sein Orientierungssinn war mehr als unterentwickelt.
„Ist da jemand?“ rief Chigen und suchte angestrengt die Wälder mit seinen Augen ab.
Niemand antwortete ihm, aber der junge Druide konnte sich auch nicht vorstellen, dass etwas an diesem Ort leben konnte.
Diese Wälder waren tot, sie waren wie Geister, wie Schatten.
Plötzlich spürte Chigen eine Präsenz neben sich, vernahm das Geräusch von dumpfen, schwerem Atmen.
Sein Herz begann zu rasen, er spürte wie seine Handflächen feucht und sein Rachen trocken wurde.
Der Boden erzitterte unter schweren, stampfenden Schritten, als sich die Präsenz dem verängstigten, am ganzen Leibe zitternden Osra näherte.
Chigen spürte den kalten Atem der Kreatur in seinem Nacken.
In der Erwartung eines furchtbaren Schmerzes, wenn das Wesen sich auf ihn stürzte, verkrampfte er sich, doch nichts geschah.
Was auch immer es war, es wollte ihn anscheinend nicht angreifen, sonst hätte es ihn einfach zerschmettert, so hilflos und klein, wie er war.
Seinen ganzen Mut zusammennehmend, wandte sich Chigen dem Wesen ruckartig zu und wich sofort einige Schritte zurück, als er sein Antlitz erhaschte.
Es war der Skrolk, den er am Nachmittag gesehen hatte, die bullige Kreatur ragte bedrohlich über ihm auf und starrte ihn mit ihren trüben Augen an.
Noch immer ragten Dutzende von Pfeilschäften aus seinem voluminösen Leib und dickes, schwarzes Blut tropfte aus dem breiten Maul. Genauso wie die Wälder, hatte das Monstrum jegliche Farbe verloren.
Wie furchtbar schwach sich Chigen in diesem Moment vorkam, wie ein Wurm, der sich zu Füßen eines Titans wand.
Mittlerweile pochte sein Herz so heftig, dass er befürchtete, dass es einfach stehen bleiben würde.
Der Skrolk regte sich nicht, starrte ihn einfach nur an.
Einige Momente verstrichen und erst als Chigen endlich begriff, dass die Bestie ihm nichts tun würde, konzentrierte er sich wieder auf ihre Augen, versuchte in ihnen zu lesen, wie er es schon zuvor getan hatte. Dieses Mal war keinerlei Anzeichen von Hass zu erkennen, sondern nur diese unglaubliche Traurigkeit, so elementar, dass Chigen das Gefühl hatte, dass sie von ihm Besitz ergreifen würde.
„Was hat man dir nur angetan?“ fragte der junge Druide, obwohl er sich bewusst war, dass ihn der Skrolk weder verstehen, noch ihm antworten konnte.
Trotzdem reagierte die Kreatur, in dem sie ein tiefen, grollenden Laut von sich gab und sich abwandte, um rasch in die Wälder zu galoppieren.
Bevor Chigen diese Veränderung auch nur realisiert hatte, war der Skrolk verschwunden.
„Sie leiden, Chigen. Genauso wie du es tust“, vernahm er plötzlich eine vertraute, weibliche Stimme hinter sich.
Der junge Druide drehte sich um und sah Marisol in einiger Entfernung stehen.
Doch auch sie wirkte farblos und schattenhaft.
„Marisol, was machst du hier?“ stammelte Chigen völlig verwirrt und schritt langsam auf seine Freundin zu.
„Bald werden wir alle leiden, Chigen“, antwortete Marisol mit tonloser Stimme.
„Wovon sprichst du da? Was geht hier vor?“
Chigen begann zu laufen.
Doch auf einmal packte ihn etwas mit einer Stärke, die jeden Widerstand im Keim erstickte. Riesige Wurzeln wickelten sich um seinen Leib, pressten die Luft aus seinen Lungen.
Bald ragte nur noch sein Kopf aus dem Wirrwarr an Wurzeln hervor und als er erneut zu Marisol blickte, stand an ihrer Stelle sein Vater, einem dunklen Phantom gleich, das Gesicht zu einer Grimasse aus Zorn und Hass verzogen.
„Vater, warum tust du das?“ brachte Chigen atemlos hervor, doch bevor er noch etwas sagen konnte, schnürten sich die Wurzeln so fest um seinen Leib, dass der heftige Schmerz ihn übermannte, denn unter der unnachgiebigen Kraft begannen seine Knochen zu brechen.
„Sieh hin, mein Sohn. Werde Zeuge deiner wahren Natur!“ brüllte ihn Tunris an, mit einer Stimme, die vor Abscheu troff.
Kaum mehr bei Sinnen, folgte Chigen mit seinem Blick der zur Seite ausgestreckten Hand seines Vaters.
Dort sah er eine undurchdringliche Wolke aus reiner Finsternis, die einen Teil des Waldes verschluckt hatte.
Plötzlich raste ihm diese Dunkelheit entgegen und Chigen erkannte Klauen und ein schreckliches, aufgerissenes Maul.
Er spürte einen Hass, so stark und unbändig, als könne er alleine durch seine Existenz die Welt bis in ihr Innerstes erschüttern.
Chigen vermochte nichts anderes zu tun, als einen letzten schrecklichen Schrei der Verzweiflung auszustoßen.
Dann war da nur noch Dunkelheit.
7
Zahnräder
Der Nexus war ein dunkler, brodelnder Ort, der nur spärlich vom künstlichen Licht erhellt wurde. Sogar als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, schafften es nur vereinzelte Strahlen die grauen Abgaswolken über der gewaltigen Metropole zu durchbrechen.
Im Zentrum des Nexus befand sich das größte Gebäude der Stadt, der Palast der Visionäre. Jener aus orangeschimmerndem Metall erbaute Obelisk stieß wie einen leuchtender Speer in den schwarzen Himmel, während Brücken ihn mit drei äußeren Türmen verbanden, welche jeweils symbolischerweise als das Refugium einer der drei Stützpfeiler der Nation dienten und den äußersten Punkt der ihnen zugehörigen Zone markierten: Der schwarze Turm der Generäle, der den von Kasernen und Militärhäfen beherbergenden Süden der Stadt überragte, der dunkelrote Turm der Konstrukteure, dessen westlich gelegene Zone von Fabriken und Kraftwerken geprägt wurde, sowie den grauen Turm der Philosophen, das höchste Gebäude des Nordens, in dem sich die Schulen und Akademien befanden.
Unterhalb der Hochstraßen und Plattformen der jeweiligen Zonen befand sich die dunkle Unterstadt, ein Bollwerk aus Ghettos für die unzähligen Arbeiter, deren Gebäude als Fundament für die Zonen der privilegierten Bevölkerung dienten.
Im obersten Stockwerk des Turms der Philosophen fand am heutigen Morgen ein Treffen der höchsten Regierungsvertreter statt. Diese hatten sich in einem Versammlungsraum eingefunden, dessen Wände fast ausschließlich aus Glas bestanden und den Blick auf die unendlich erscheinende, von Neonlicht durchflutete Metropole gewährten.
Eine große, ovale Tafel aus schwarzem, polierten Holz nahm fast den gesamten Raum ein, umgeben von bequemen Stühlen mit ausschweifend hohen Lehnen, auf denen die Regierungsvertreter platzgenommen hatten.
Die Sitzaufteilung verriet einem außenstehenden Betrachter bereits viel über die Verhältnisse zwischen den drei Fraktionen: Geographisch gesehen im Norden, an dem einen Kopfende der Tafel, saßen die in dunkle Roben gehüllten Philosophen, ihnen gegenüber, also im Süden, die Ledermantel tragenden Generäle und im Westen, ihrer Zone und Einstellung entsprechend zwischen den beiden anderen Mächten, die in vornehmen Anzügen auftretenden Konstrukteure.
Nachdem die üblichen Begrüßungsfloskeln ausgetauscht worden waren, herrschte angespannte Stille im Raum, ein kurzes Innehalten, bei dem nur misstrauische Blicke ausgetauscht wurden, als wolle man den ersten Zug seines Gegenübers abwarten.
General Rushin Wade erhob sich und schritt langsam zur Südseite des Tisches, jener Seite, durch deren Fenster man auf das Meer der Äonen blicken konnte.
„In den frühen Morgenstunden wurde ich zu einer Audienz mit den Visionären gerufen“, begann er mit fester Stimme, mit dem Blick über die Anwesenden wandernd.
Brijanda Garrus, eine hochgewachsene Frau mittleren Alters mit schlanker, weiblicher Statur, legte leicht den Kopf schräg, während Wade sprach.
Die Philosophin, die als die Einflussreichste ihrer Zunft bekannt war, bemerkte bereits zwei Fehler in der Aussage des Generals: Zum Einen wurde man nicht zu einer Audienz gerufen, sondern die Visionäre befahlen es. Zum Anderen nannte man die Herrscher der Quashuk nicht einfach nur die Visionäre, sondern wenigstens die ehrwürdigen Visionäre. Aber Brijanda erwartete nichts anderes von einem Soldaten, der nur fürs Kämpfen gut war und in ihren Augen auf gleicher Stufe mit den Arbeitern stand, Psionik hin oder her, obwohl sie Wade durchaus ein gewisses Maß an Respekt entgegenbrachte für seine ausgezeichnete Arbeit.
Vielleicht ärgerte sie es gerade deshalb, dass die Visionäre sich ihm und nicht ihr in dieser anscheinend äußerst wichtigen Angelegenheit anvertraut hatten.
Die Philosophin strich sich eine Strähne ihres aschblonden Haares aus dem hübschen, dennoch abweisend und kühl wirkenden Gesicht, was nicht zuletzt an dem schwarzen Lippenstift, den sie auf ihren vollen Lippen trug und ihren schlangenartigen, gelben Augen lag. Brijanda umgab eine Aura des Verhängnisses, eine Versuchung für willensschwache Männer, die nur im Leid enden konnte. Desinteressiert zupfte die Philosophin an den schwarzen Federn, die den Kragen ihrer enganliegenden, schwarzen Robe verzierten, während Wade fortfuhr:
„Ich erhielt den Auftrag, eine Armee von nie da gewesenem Ausmaßes zu formieren und in Bewegung zu setzten.“
„Mit welchem Ziel, General?“ fragte ein junger Konstrukteur im dunkelblauen Anzug, das Arroganz ausstrahlende, jungenhafte Gesicht von hellbraunem Haar umgeben. Sein Name war Levar Tusson und wie bei den meisten anderen Konstrukteuren lagen seine Prioritäten bei jeder Angelegenheit in drei Punkten: Profit, Aufstieg in der Karriereleiter und persönlicher Wohlstand.
Mit der zunehmenden Industrialisierung des Landes war der Einfluss der Konstrukteure immens gestiegen und mittlerweile waren sie den beiden traditionellen Mächten mehr als ebenbürtig.
Als die Visionäre einst vor vielen Jahrhunderten erschienen waren und das Land blutig einten, waren es die Generäle gewesen, die jeglichen physischen, äußeren und die Philosophen die jeden psychischen, inneren Widerstand zerschlagen hatten. Damals hatte die Aufgabe der Konstrukteure lediglich darin bestanden, für die nach und nach annektierten Stämme der Quashuk neue Städte zu bauen.
Je mehr Land zum Herrschaftsgebiet der Visionäre erklärt wurde, desto komplexer waren die Aufgaben der Konstrukteure geworden. Die Zeit der großen Kriege gegen die barbarischen Skar und die restlichen Stämme der Quashuk hatte ein Ende gefunden und die Visionäre hatten technischen Fortschritt gefordert, um die Grenzen ihres Reiches zu festigen.
Die Verwaltung der aufkeimenden Industrie war den Konstrukteuren aufgetragen worden, während das Militär aufgrund mangelnder Feinde im Reichsinneren ins Hintertreffen geraten waren. Bevor die Visionäre ihr striktes Geburtengesetz, dass jedem Paar nur einen Nachkommen zugestand, ausgesprochen hatten, waren die Städte durch das exponentielle Bevölkerungswachstum geradezu explodiert. Aufgrund mangelnder Versorgung mit Lebensmitteln war es zu ersten Revolten unter dem Proletariat gekommen und die Philosophen waren mit der Aufgabe, die Massen unter Kontrolle zu halten, vollkommen überfordert gewesen. Einer Schlange gleich, die sich selbst in den Schwanz biss, war es einmal mehr die Aufgabe der Generäle gewesen, diese Aufstände mit roher Gewalt niederzuschlagen. Doch die Visionäre hatten bald erkannt, dass jene Missstände ihr erträumtes Reich vernichten könnten und so hatten sie wiederum die Konstrukteure beauftragt, Arbeitsplätze zu erschaffen, um die Bevölkerung zu beschäftigen.
Was einst einen strikten Kommunismus darstellte, avancierte allmählich zu einem von den Konstrukteuren kontrolliertem Kapitalismus, ein Theaterstück der Freiheit und der Möglichkeiten, orchestriert für die Arbeiterklasse.
Jetzt waren jene Männer und Frauen, die als die Konstrukteure bezeichnet wurden, nicht länger privilegierte Sklaven, sondern hielten die Fäden der Wirtschaft zusammen, eine Entwicklung die mehr als missgünstig von den anderen Mächten beobachtet wurde.
Wade erwiderte auf die Frage des Konstrukteurs mit fester Stimme: „Die Invasion von Osra Dilgarm.“
Überraschtes Raunen ging durch die Reihen, aber vor allem von Seiten der Generäle kamen zustimmende Bemerkungen wie „Endlich können wir unser volles Potential zur Geltung bringen.“
Die Generäle sehnten sich schon lange nach einem äußeren starken Feind, um ihren inneren Machtstatus im Reich zu festigen, der mit der zunehmende Befriedung Niitas zu bröckeln begonnen hatte. Zudem waren sie es satt, kleinere Rebellionen von ausgehungerten Arbeitern niederzuschlagen oder die wenigen noch verbliebenen Skar zu jagen, wie sie es einst mit den Bestien getan hatten, die mittlerweile vollständig ausgerottet waren. Die Quashuk studierten schon viele Jahre ihre naturverbundenen Nachbarn und waren übereingekommen, dass die Osra aufgrund ihrer mystischen, druidischen Magie eine echte Herausforderung darstellten.
Gleichzeitig hatte man jedoch die Gewissheit, dass es keine Macht auf Raaja gab, die ihre Kriegsmaschinerie aufhalten konnte, wenn diese sich erst einmal in Bewegung gesetzt hatte.
Als jener Augenblick der Ausrufe und Prahlerei verstrichen war, fragte ein anderer Konstrukteur sachlich: „Von welchen Ausmaßen sprechen wir hier, General? Wie groß soll diese Armee sein und welche Güter wird sie benötigen?“
„Alle, die wir aufbringen können“, antwortete Wade bestimmend, was wieder Ausrufe zur Folge hatte, dieses Mal jedoch von ungläubiger Natur seitens der Wirtschaftsvertreter.
„Werter General, das kann unmöglich euer Ernst sein“, begann Tusson selbstgefällig grinsend. „Wenn ich das mal kurz ausrechnen darf... Ihr sprecht von grobüberschlagen fünfzigtausend Soldaten, die Proviant und Ausrüstung benötigen, dazu etwa dreitausend Golems, gepaart mit zahlreichen Belagerungsmaschinen, die von Mechanikern gewartet und repariert werden müssen. Und das alles soll quer über den Ozean transportiert werden, in etwa eintausend Kreuzern. Habt ihr auch nur die leiseste Ahnung, was für Kosten dabei entstehen? Das könnte das Reich wirtschaftlich ruinieren.“
Die Konstrukteure lachten zur Bestätigung höhnisch, während die Generäle sie mit hasserfüllten Blicken durchbohrten.
Bevor Wade etwas erwidern konnte, kam ihm überraschenderweise Brijanda mit ruhigem, jedoch bedrohlichem Tonfall in der Stimme zuvor: „Ihr zweifelt doch nicht etwa den Befehl der gottgleichen Visionäre an, oder Tusson?“
„Natürlich nicht, Brijanda, ich wollte damit...“ setzte der Konstrukteur beschwichtigend an, wurde jedoch von der Philosophin unterbrochen: „Eure Kalkulationen sind irrelevant. Wenn die ehrwürdigen Visionäre uns einen Befehl geben, dann wird er bedingungslos ausgeführt, oder haben sie uns jemals in die Irre geführt? Könnt ihr euch auch nur im Entferntesten daran erinnern, dass eine ihrer Entscheidungen dem Volk und dessen Fortschritt abträglich war?“
„Nein, gewiss nicht“, antwortete Tusson mit gesenktem Blick, wirkte gar nicht mehr so selbstbewusst, ebenso wenig wie seine Kollegen.
Die Konstrukteure mochten mittlerweile großen Einfluss im Reich haben, aber die stärkste Macht stellte noch immer der von den Philosophen indoktrinierte, bedingungslose Glaube an die Weisheit der Visionäre dar. Zwar hatten die uralten Herrscher schon lange Zeit keine direkten Befehle mehr erteilt und die Regierung fast vollständig ihren Vertretern übergeben, aber sobald sie es doch taten, spielte jegliche subjektive Meinung keine Rolle mehr.
Die Visionäre waren die Götter, die Quashuk ihre Diener.
Auch wenn die Konstrukteure insgeheim versuchten sich loszulösen, würden sie ohne den Rückhalt durch das Volk gnadenlos untergehen.
Das war das unumstößliche Prinzip der Nation der Quashuk: die einzelnen Fundamente der Regierung konnten nicht autark existieren. Jede Gruppe verfolgte das Ziel der absoluten Kontrolle über die Massen, doch nur gemeinsam konnten sie jenes erreichen.
Die Philosophen formten die Gesellschaft psychologisch, aber wenn es keine Beschäftigung und keine Nahrung gab für die Massen gab, würde sie zusammenbrechen, also brauchten sie die Konstrukteure, um jene Bedürfnisse zu stillen und die Generäle, um den Prozess der Indoktrination militärisch abzusichern.
Das Militär vernichtete äußere und innere Feinde, aber ohne neue Rekruten und Versorgung mit Waffen und Proviant würden die Aufstände nicht mehr einzudämmen sein, also benötigte es die Unterstützung der anderen Mächte.
Schließlich bestand die Kontrolle der Konstrukteure in der Industrie, aber ohne willige Arbeiter, die in ihren Fabriken schufteten und Soldaten, die ihre Kriegsmaschinen bedienten und Waffen führten, wären sie hoffnungslos der Willkür der Massen ausgeliefert.
Das Machtkonstrukt der Quashuk glich einer Maschine, in der sich alle Zahnräder nur dann bewegten, wenn ihre Zähne geschliffen und aufeinander abgestimmt waren.
„Gut. Dann können wir ja fortfahren“, schloss Brijanda mit einem boshaften Lächeln auf den schwarzen Lippen, genoss sichtlich die unbehaglichen Blicke der Wirtschaftsvertreter.
Wade nickte Brijanda anerkennend zu, obwohl ihm bewusst war, dass Brijanda ihn nur unterstützt hatte, um die Konstrukteure in ihre Schranken zu weisen.
Wade hielt diese Machtkämpfe persönlich für unnötigen Ballast, schließlich dienten alle drei Machtorgane den Visionären und ihre Aufgabe bestand einzig und allein darin, in ihrem Namen die Nation der Quashuk zu führen und voranzutreiben. Innere Konflikte hemmten seiner Meinung nach diesen Prozess, aber sie waren wohl ein unumgängliches Übel, wenn drei so unterschiedliche Mächte aufeinander prallten.
Einer der älteren Generäle, der untypischer Weise für einen Quashuk einen eher massigen Körperbau aufwies, was bösen Gerüchten zu Folge auf eine unzulässige Verbindung zwischen Quashuk und Skar zurückzuführen war, fragte mit tiefer Stimme an Wade gerichtet: „Haben wir denn schon eine Strategie, Wade? Ich meine, wir können schließlich nicht geradewegs in das Reich der Osra einmarschieren. Sie mögen uns zwar technisch weit unterlegen sein, aber ihre Druiden sind mächtige Wesen. Sie können sogar das Meer beeinflussen. Es wäre sehr tragisch, wenn unsere Armada vor der Küste Osra Dilgarms versenkt werden würde.“
„Natürlich, Haiva.“
Wade wies einen seiner Untergebenen mit einer knappen Handbewegung an, ein Gerät auf dem Tisch zu positionieren. Dieses erzeugte ein flackerndes Hologramm des Globus von Raaja in roten Farben, das nun über der Tafel, in der Größe eines Menschen, schwebte. Der Diener überreichte dem General eine Art Fernsteuerung, mit der er das Hologramm beeinflussen konnte.
Als erstes markierte Wade die drei Metropolen des Reiches der Quashuk, die sich allesamt an der Ostküste des sichelförmigen Niitas befanden.
„Jeder unserer Häfen wird eine Armada entsenden. Vinus und Diamat“, die südliche und die nördliche Hafenstadt leuchteten auf, „Werden zwei kleinere Flotten von je fünfhundert Schiffen entsenden. Die Vinus-Armada wird im Süden Osra Dilgarms landen, in einer eher kleinen Hafenstadt namens Havris.“
Wade zog mit der Fernsteuerung eine gestrichelte Linie von Vinus bis zur Südspitze Osra Dilgarms.
„Diamats Flotte wird dementsprechend den nördlichsten Punkt des Reiches angreifen, wo sich unseres Geheimdienstes nach Siedlungen der Skar befinden. Die Nexus-Flotte von eintausend Schiffen hält auf die im Nordwesten gelegene Hafenstadt Vidnia zu.“
Einer der Philosophen, ein grauhaariger, knochiger Quashuk, unterbrach Wade: „Was ist mit dem Stützpunkt auf den Splitterinseln? Wenn die dortigen Osra die Hauptflotte entdecken, werden sie Boten auf Festland entsenden und den Druiden genügend Zeit geben, sich auf unsere Invasion vorzubereiten.“
Wade nickte wissend und erwiderte:„Da kommt unsere Phantomeinheit ins Spiel.“
Die Phantomeinheit war eine Truppe von Spähern und Assassinen, deren Aufgabe darin bestand, feindliches Territorium zu infiltrieren und das Schlachtfeld für die Hauptarmee vorzubereiten, in dem sie gezielt Befehlshaber ausschalteten oder andere Art von Sabotage betrieben, die den Feind schwächten, bevor der eigentliche Kampf begann.
So waren beispielsweise Phantome vor fünf Jahren in eine Siedlung der Skar eingedrungen und hatten ihre Wasserquellen vergiftet und als dann die Armee vorrückte, war bereits die Hälfte der Barbaren dem tückischen Gift zum Opfer gefallen. Nicht nur, dass die Phantome eine spezielle Ausbildung in Spionage, Infiltration und Kampfkunst genossen, viele Mitglieder der Einheit besaßen zudem psionische Fähigkeiten, die darauf abzielten, die Sinne des Feindes zu manipulieren, was es ihnen erlaubte, sich völlig ungehindert ins feindliche Gebiet vorzuwagen, in dem sie sich beispielsweise unsichtbar machten oder gar ihre Gestalt in den Augen des Feindes veränderten, um sich ungehindert in ihren Reihen bewegen zu können.
Die Phantomeinheit war der größte Stolz der Generäle, sie entschieden meist bereits die Schlacht, bevor die schweren Truppen überhaupt die Front erreichten.
„Die Phantome werden der Armada vorauseilen und den Stützpunkt der Osra auf den Splitterinseln infiltrieren und ihnen so ihre Augen und Ohren nehmen.“
Der Befehlshaber der Phantome, einer der ältesten Generäle mit dem Namen Oka Yenrai, nickte Wade zustimmend zu.
„Von Vidnia im Norden und Havris im Süden werden unsere Truppen dann die Hauptstadt Nasriel in die Zange nehmen und dann ist der Sieg unser“, schloss Wade und ballte entschlossen die Faust.
Die anderen Generäle stimmten dem Plan flüsternd zu.
Brijanda fragte mit listigem Grinsen auf den schwarzen Lippen: „Wie werden wir dann fortfahren? Wird Osra Dilgarm von uns besiedelt werden?“
„Ich denke, dass dies der Wunsch der Visionäre ist. Das Land ist reich an Ressourcen. Wie die Besiedlung vonstattengehen wird, ist dann eure Aufgabe und die der Konstrukteure. Wir werden euch lediglich den Weg ebnen.“
„Die Visionäre werden uns in eine glorreiche Zukunft führen. Ich kann es sehen, unser Reich wird sich über den gesamten Globus erstrecken“, verkündete Brijanda feierlich und ihre religiösen Kollegen stimmten in ihr Loblied mit ein.
Ein Großteil der Generäle war von dieser Zukunftsvorstellung nicht besonders begeistert, denn schließlich könnte dieser große Krieg der letzte sein, der jemals geführt werden würde.
Was würde dann mit ihnen geschehen, wenn es keine Feinde mehr gab, die es zu bekämpfen galt, wenn sie dem Reich nicht mehr von Nutzen waren?
Auch Wade hatte bereits darüber nachgedacht, aber ihn erfüllte dieser Gedanke mit Hoffnung, denn er sehnte sich nach Frieden, auch wenn das bedeuten würde, seinen Machtstatus zu verlieren. Wenn die Welt Raaja erst einmal in den Händen der Quashuk liegen würde, wäre seine Aufgabe für die Visionäre erfüllt.
Vielleicht konnte dann sein Volk endlich heilen und gedeihen.
Eine junge Konstrukteurin warf ein: „Was geschieht mit den gefangenen Osra? Ich meine, die Osra werden kapitulieren, sobald ihre Hauptstadt belagert wird. Werden wir sie als Sklavenarbeiter einsetzen?“
Wade fixierte die Anwesenden mit seinen dunkelroten Augen und sagte mit düsterer Miene. „Es wird keine Gefangenen geben.“
Der General erntete verwunderte Mienen von allen Seiten.
General Haiva meinte zweifelnd: „Aber die Osra sind nicht wie die Skar. Sie werden nicht bis zum letzten Mann kämpfen, das ist euch doch schon bewusst, Wade.“
„In diesem Punkt waren die Visionäre recht deutlich. Sie verlangen, dass wir die Osra töten, jeden Mann, jede Frau, jedes Kind. Sie sollen ausgerottet werden.“
Wade musste ob dieser folgenschweren Ankündigung selbst hörbar schlucken und den anderen Anwesenden erging es nicht anders. Selbst Brijanda, welche die fremden Völker als minderwertige Lebensformen ansah, war überrascht über diesen Befehl der Visionäre. Überrascht, aber in keiner Weise widersprechend, oder gar erschüttert.
Die Visionäre hatten es befohlen und so würde es ausgeführt werden.
Wenn jemand sich dem widersetzte, würde Brijanda persönlich dafür sorgen, denjenigen ersetzten zu lassen.
„Aber, wenn ich anmerken darf, wäre es nicht viel sinnvoller, die Osra zu unterwerfen und als Arbeiter einzusetzen?“ wagte der alte, massige General Haiva einzuwerfen, sichtlich erschüttert von der Vorstellung, einen Völkermord zu begehen.
Wade zuckte nur hilflos mit den Schultern, denn natürlich war er derselben Meinung.
„Um sie dann durchzufüttern, General Haiva?“ fragte Brijanda mit zischender Stimme.
„Die Ressourcen von Niita sind so gut wie erschöpft, deswegen führen wir ja diese Invasion überhaupt durch. Was für einen Sinn soll das ergeben, wenn wir die Hälfte der Beute an diese Tiere verfüttern müssen? Unser Volk wird diese Ressourcen selbst benötigen.“
„Es ist nicht richtig“, kam die simple, aber folgenschwere Antwort des alten Generals und nicht wenige der Anwesenden schnappten entsetzt nach Luft.
Die Anweisungen der Visionäre zu hinterfragen war schon ein Affront, aber sie so offen anzuprangern war reine Blasphemie.
„Haiva“, flüsterte Wade schneidend, in dem Versuch, seinen Kollegen zu bremsen.
Brijanda lehnte sich zurück, ein diabolisches Grinsen auf den Lippen.
„General Haiva, darf ich eure Aussage so verstehen, dass ihr euch dem Befehl der ehrwürdigen Visionäre widersetzt?“
Sag jetzt bitte nichts, was du später bereuen wirst, dachte Wade, sprach es aber nicht aus. Auch versuchte er nicht seine Gedanken telepathisch zu übermitteln, denn die anderen anwesenden Psioniker würden diese wahrscheinlich ebenfalls aufschnappen.
„Nein, aber ich denke, dass es sinnvoll wäre, über Alternativen nachzudenken, wie mit den Osra verfahren werden sollte“, erwiderte Haiva so beherrscht, wie es ihm in seinem aufgewühlten Zustand möglich war.
„Das klingt vernünftig“, warf einer der Konstrukteure ein.
„Was maßt ihr euch an, General?“, plusterte sich Brijanda auf, erhob sich von ihrem Stuhl und schmetterte die Hände auf den Tisch.
„Glaubt ihr tatsächlich, dass die gottgleichen Visionäre nicht bereits jede Alternative, die sich uns bietet, sorgfältig abgewogen haben? Wollt ihr euch tatsächlich anmaßen, zu behaupten, dass ihr intelligenter als die Visionäre seid, Soldat?“
Eine fast greifbare Spannung entstand im Raum, die sogar einige der anwesenden Soldaten und Wachen zu ihren Waffen greifen ließ.
„Gewiss nicht, Brijanda“, presste Haiva förmlich durch seine zusammengebissenen Zähne hervor.
„Aber ich kann diesen Befehl nicht nachvollziehen. Wenn ihr die Güte besitzen würdet, mich darüber aufzuklären, worin der Vorteil liegt, ein ganzes Volk auszulöschen, wenn wir es auch anderweitig einsetzen könnten?“
Brijanda beruhigte sich wieder und ließ sich auf ihren Stuhl sinken und einer Welle gleich nahmen auch die anderen Quashuk im Raum wie eine entspannte Haltung an.
„Wie ich bereits erklärt habe, können wir es uns nicht leisten, wir müssen unser eigenes Volk versorgen.“
Haiva lächelte verwegen und erwiderte: „Nun, nichts für ungut, liebe Brijanda. Aber ich glaube, dass wir in dieser Hinsicht noch etwas von den Osra lernen können.“
Haiva spürte die verwunderten und teilweise wütenden Blicke auf sich ruhen, fuhr dennoch ungerührt fort: „Unseren Geheimdienstinformationen nach gibt es etwa genauso viele Osra, wie es Quashuk gibt. Natürlich ist der große Kontinent fast doppelt so groß wie Niita, aber es leben dort zusätzlich noch Tausende von Skar, während es bei uns nur noch einige Hundert sind. Dennoch haben die Osra keine Nahrungsengpässe, wie wir es mittlerweile haben. Sie kultivieren ihr Land, anstatt es auszusaugen und platt zu walzen, wie wir es tun.“
„Es reicht“, unterbrach Brijanda den General in einem Tonfall, der Tod und Verderben verkündete. „Ich werde eure blasphemischen Worte keine Sekunde länger hinnehmen. Die Visionäre sind die einzige Wahrheit und ihr Traum wird uns in eine vollkommene Welt führen. Anscheinend seid ihr von eurem Glauben an die Vision abgekommen, General.“
„Nein. Ich nehme mir allerdings heraus, meine eigene Meinung zu haben“, gab der alte General zynisch zurück.
Wade spürte, dass die Situation zu eskalieren drohte und erhob seine Stimme:
„Genug davon. General Haiva, eure Stimme wurde angehört, aber der Befehl der Visionäre ist unumstößlich. Ein jeder von uns sollte sich nun auf die bevorstehende Invasion vorbereiten und alles Nötige in Bewegung setzen. Das wäre alles.“
Unter Geflüster und Gemurmel erhoben sich die anwesenden Regierungsvertreter und verließen nach und nach den Raum.
Brijanda blieb noch lange auf ihrem Platz sitzen und fixierte General Haiva mit ihrem stechenden Schlangenblick. Mit einem letzten bösartigen Lächeln stand sie ebenfalls von ihrem Platz auf und folgte ihren Kollegen.
General Haiva war der Letzte, der zurückblieb, tief in Gedanken versunken, den Blick gesenkt.
Er wusste, dass er sein Leben gerade eben verwirkt hatte.
Als sich die Schottartige Tür zum Büro des Generals öffnete und Brijanda dahinter erschien, konnte Wade seine Überraschung nur schwer verbergen, obwohl seine Miene ungerührt wirkte.
Natürlich wusste der General, dass die aufmerksame Psionikerin diesen latenten Stimmungswechsel aufgrund ihrer mentalen Fähigkeiten wahrgenommen hatte und als sie eintrat, lächelte sie verschlagen.
„Was kann ich für euch tun, Brijanda?“ fragte Wade und setzte sich auf einen bequemen Ledersessel, der hinter seinem Halbkreisförmigen Schreibtisch stand.
„Ihr seid überrascht,“ bemerkte sie mit einem verführerischen Ton in der Stimme.
„Ich bin nicht überrascht, dass ihr es bemerkt habt. Es wundert mich einfach, dass ihr mich hier aufsucht, das ist ziemlich ungewöhnlich“, erwiderte Wade trocken und bot gegen jede Höflichkeit der Philosophin keinen Platz an.
Brijanda lächelte weiterhin und setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
„Ich muss mit euch unter vier Augen sprechen.“
„Wenn es um politische Angelegenheiten geht – und davon gehe ich bei unserem Verhältnis zueinander aus- dann muss ich euch leider bitten zu gehen, denn politische Angelegenheiten dürfen nur in Anwesenheit von mindestens einem Regierungsvertreter jeder der drei Mächte besprochen werden. Ihr müsstet das doch am besten wissen.“
Brijandas Miene verfinsterte sich plötzlich. Doch einen Herzschlag später lächelte sie wieder verschwörerisch.
„Zorn. Ihr versucht gleichgültig zu wirken, aber in euch brodelt die Wut, General.“
Wade schalt sich für seine Unaufmerksamkeit.
Er musste seine Gedanken auf das Rationale reduzieren, um überhaupt eine Chance gegen die psionische Wahrnehmung der Philosophin zu haben. Seine Kräfte beschränkten sich fast vollständig auf den Kampf, er vermochte seinen Gegnern mentale Schmerzen zuzufügen, die über jede physische Verletzung weit hinausgingen, aber Telepathie war das Spezialgebiet der Philosophen.
Während Wade gerade einmal dazu im Stande war, mit jemanden telepathisch zu kommunizieren, vermochten es die Philosophen, die Gedanken anderer zu deuten und sogar zu lesen.
Lediglich Psioniker waren dazu im Stande, ihr Innerstes vor unerwünschten, mentalen Blicken, zu verschließen, aber je mächtiger der Philosoph, umso weniger vermochten sie etwas gegen das geistige Eindringen zu unternehmen.
Brijanda galt als Meisterin der Empathie und Telepathie.
„Ich finde es unangemessen, dass ausgerechnet ihr, eine Philosophin, das Protokoll umgeht. Es handelt sich dabei um ein von den Visionären eingeführtes Gesetz“, antwortete Wade so sachlich, wie es ihm in dieser unangenehmen Situation möglich war. Am liebsten hätte er diese schreckliche Person hochkant aus seinem Büro geworfen.
„Und was ist, wenn ich in einer persönlichen Angelegenheit zu euch gekommen bin, Wade?“ fragte die kalte Schönheit verheißungsvoll.
Wieder gelang es Brijanda seine Emotionen zu lesen, bevor er sie verschleiern konnte. Er fühlte sich von ihr – wie die meisten Männer, denen sie begegnete – angezogen, auf eine körperliche, primitive Art und Weise.
Brijanda lachte spöttisch.
Wade sprang von seinem Sessel auf und es bedurfte keiner Empathie, um seine Gedanken zu deuten.
„Genug. Ich habe keine Zeit für eure Spielchen, Brijanda!“ sagte er gereizt.
Brijandas Miene veränderte sich plötzlich von Heiterkeit zu Ernsthaftigkeit.
„Gut, ich ebenfalls nicht. Ich bin hier, um euch etwas mitzuteilen, den bevorstehenden Feldzug betreffend.“
„Warum habt ihr es nicht während der Sitzung gesagt?“
„Weil es nur für eure Ohren bestimmt ist, General“, antwortete die Philosophin geheimnisvoll.
Wade musterte die Frau mit einer Mischung aus Interesse und Misstrauen.
„Ich werde euch begleiten, zusammen mit einer Delegation Philosophen“, sagte Brijanda in herrischem Tonfall.
Wade hielt inne und dachte über das eben Gesagte nach.
In der gesamten Geschichte der Nation hatten sich noch nie Philosophen an einem Kampfeinsatz beteiligt.
Was ging hier nur vor sich?
„Und warum? Es wird eine gefährliche Mission und ich habe nicht die Muße auch noch für eure Sicherheit zu sorgen“, entgegnete Wade wieder gefasster und setzte sich.
„Ich bin sehr wohl im Stande auf mich selbst aufzupassen, General. Die ehrwürdigen Visionäre haben es mir aufgetragen und ich werde gehorchen.“
„Und was wird eure Aufgabe sein, wenn ich fragen darf?“ fragte Wade und konnte den Unmut in seiner Stimme nur schwer verschleiern.
Es war ihm mittlerweile gleich, ob Brijanda seine Emotionen wahrnahm, denn diese ganze Angelegenheit war ein Affront gegen die Generäle und Wade hatte allen Grund, darüber ungehalten zu sein.
„Wir werden euch begleiten, um euren Kommandostab zu überwachen.“
Wades Augen weiteten sich. Er spürte sein Herz in seiner Brust hämmern, fühlte Feuchtigkeit in seinen Handflächen.
Misstrauten ihm die Visionäre?
Das wäre ein Todesurteil, dass wusste der erfahrene General nur zu gut.
„Aus welchem Grund, Brijanda, bedürfen wir einer Überwachung durch die Philosophen?“ fragte Wade, jedes Wort einzeln betonend.
„Ich werde mir nicht anmaßen, die Gedanken der Visionäre verstehen zu können. Ich vermute, dass sie bemerkt haben, für wie viel Unbehagen der Befehl, einen Genozid durchzuführen, unter den Generälen gesorgt hat. Und ich teile diese Einschätzung“, antwortete Brijanda mit einer Kälte in der Stimme, die selbst bei dem hartgesottenen Wade eine Gänsehaut verursachte.
Sie hatte genau ins Schwarze getroffen: er verachtete diesen Befehl, weil er ihn für unnötig und grausam befand.
Unnötig, weil die Osra als Arbeiter von größerem Nutzen wären und grausam, weil er es einfach nicht gutheißen konnte, ein ganzes Volk auszulöschen, nur um die Existenz des eigenen zu sichern.
Brijanda hatte ihn durchschaut und er spielte im Geist schon die Möglichkeit durch, die Frau zu überwältigen, zu fliehen und seine Kollegen vorzuwarnen.
„Warum erzählt ihr mir davon? Ich gehe doch davon aus, dass ihr mich ebenso im Visier habt, wie meine Kollegen. Warum warnt ihr mich vor?“ fragte Wade zögerlich und bereitete sich darauf vor, blitzschnell zuzuschlagen.
„Ich vertraue einfach darauf, dass ihr das Richtige mit dieser persönlichen Information anfangen werdet“, antwortete Brijanda geheimnisvoll und erhob sich.
Wade war völlig perplex, wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Jeglicher Gedanke an Flucht war wie weggeblasen.
„Vielleicht habe ich es euch aber auch gesagt, weil mir etwas an eurem Wohlergehen liegt, Wade“, sagte die attraktive, schreckliche Quashuk mit verführerischem Lächeln auf den schwarzen Lippen und ließ einen vollkommen verwirrten General Wade in seinem Büro allein zurück.
Nachdem sich das Schott des Zimmers geschlossen hatte, griff Wade instinktiv zu seinem Psi-Kommunikator. Es handelte sich um ein kleines Gerät, dass an der Stirn befestigt wurde und es dem Benutzer erlaubte, über weite Strecken mit jemand anderem telepathischen Kontakt aufzunehmen, natürlich vorausgesetzt, dass beide Gesprächspartner Psioniker waren.
Er musste Haiva kontaktieren und ihn vorwarnen. Wenn selbst Wade und seine anderen Kollegen, die sich zum Thema Völkermord kaum oder gar nicht geäußert hatten, ins Visier der Philosophen geraten waren, dann stand Haiva nach seiner entlarvenden Ansprache schon mit einem Bein im Grab.
Wade und Haiva verband eine lange, gemeinsame Vergangenheit.
Der ältere Haiva war ihm ein Mentor gewesen, beinahe alles, was Wade über Kriegsführung wusste, hatte ihm sein Freund beigebracht.
Er musste ihm jetzt beistehen.
Aber er tat es nicht.
Langsam legte der General den Psi-Kommunikator wieder auf den Schreibtisch und lehnte sich in seinem Sessel zurück, die Augen geschlossen.
Haiva war verloren, alles was ihm jetzt noch blieb, war die Flucht ins Exil, ein Abtrünniger zu werden. Wenn Wade ihm dabei helfen würde, müsste er denselben, gefährlichen Pfad ohne Wiederkehr einschlagen und das wollte er schlicht und einfach nicht.
Wade hatte sich geschworen, die Quashuk in die langersehnte, vollkommene Welt zu führen, damit alle Kämpfe und alles Leid ein Ende finden würden.
Ein Schwur, den er nicht brechen würde.
Er hoffte, dass Haivas Ende kurz und schmerzlos sein würde.
8
Erwachen
Schweißgebadet und schwer atmend, erwachte Chigen ruckartig aus seinem furchtbaren Traum. Erst nachdem der junge Druide sich einige Augenblicke zitternd in seinem Gemach umgeschaut und realisiert hatte, dass er tatsächlich zu Hause war, fernab von jenem geisterhaften Ort seiner Träume, konnte er sich einigermaßen beruhigen.
War es wirklich nur ein Alptraum gewesen? Oder eine Vision?, fragte Chigen sich immer wieder.
Dass ihm der tote Skrolk in seine Träume gefolgt war, konnte Chigen ja noch nachvollziehen, aber was hatte es mit dem Auftritt seines Vaters auf sich? Und was war das für eine schreckliche Finsternis gewesen, die sich auf ihn gestürzt hatte, wie eine hungrige, bösartige Bestie?
„Sie leiden. Genauso wie du es tust“, wiederholte Chigen Marisols Worte aus dem Traum.
Aber was hatte sein persönliches Leid mit dem der Bestien zu tun?
Chigens Leid bestand im Wesentlichen darin, dass er mit der Gesellschaft, in der er lebte, haderte, sowie in seinem angespannten Verhältnis zu seinem Vater.
Was im Namen der Essenz könnte das mit den Bestien zu tun haben?
Selbst wenn sich die Aussage nur auf Chigens Probleme mit der Gemeinschaft der Osra bezog, wie konnte dies zu Leid bei den Bestien führen?
Schließlich wachten die Osra seit jeher über die Natur und ihre Bewohner.
Oder taten sie es etwa nicht?
„Unsinn“, wiedersprach Chigen sich selbst und erhob sich aus seinem Bett.
Er ging hinüber zu einer Waschschüssel und tauchte sein Gesicht ins kühle Nass, vertrieb die Müdigkeit und Erschöpfung der unruhigen Nacht.
Als er wieder auftauchte, vernahm er das charakteristische Klopfen Khandras an der Tür seines Zimmers.
„Komm herein“, bat Chigen, während er sich mit einem Handtuch abtrocknete.
Die Waldläuferin gehorchte und als sie vor ihren Herren trat, senkte sie ergeben ihr Haupt.
„Guten Morgen, Chigen. Ich hoffe, dass du gut geschlafen hast. Anscheinend hattest du es nötig.“
„Hm?“ Chigen verstand im ersten Moment die Aussage seiner Freundin nicht, bis ihm mit einem Blick aus dem Fenster plötzlich bewusst wurde, dass die Sonne bereits hoch am Himmel stand.
„Es ist ja bereits Mittag!“ stellte er erschrocken fest und begann hektisch sein Schlafgewand abzustreifen, sich nicht darüber Gedanken machend, dass er darunter völlig nackt war.
Khandra drehte sich errötet um und lächelte kopfschüttelnd über Chigens Tollpatschigkeit.
Dieser begann sich weiterhin hektisch anzukleiden, hielt jedoch inne, als Khandra hinzufügte: „Dein Vater ist bereits außer Haus.“
Chigen stieß einen Seufzer aus und ließ sich halb angekleidet auf den smaragdgrünen Diwan fallen. Jetzt hatte er doch tatsächlich das Frühstück verschlafen und würde wahrscheinlich erst wieder gegen Abend mit seinem Vater sprechen können.
Dabei hatte er sich doch so fest vorgenommen, ihn endlich um Erlaubnis zu bitten, die Stadt verlassen zu dürfen.
Aber alleine die Vorstellung seinen autoritären, strengen Vater mit dieser Bitte zu konfrontieren, ließ ein flaues Gefühl in seinem Magen aufkommen.
„Ich habe schon vor Stunden an deine Tür geklopft, aber da du nicht geantwortet hast, dachte ich mir, dass ich dich lieber schlafen lasse“, erklärte Khandra mit einem entschuldigenden Klang in ihrer Stimme, sich sehr wohl darüber im Klaren, wie wichtig Chigen dieses dringende Gespräch mit seinem Vater war.
„Ist schon in Ordnung, Khandra. Du kannst nichts dafür. Ich verstehe ja auch nicht, warum ich so lange geschlafen habe, schließlich waren wir schon um Mitternacht wieder zu Hause.“
Chigen rieb sich die noch immer müden Augen und zog seine kostbare, dunkelblaue Robe zurecht, als er plötzlich wieder aufschreckte.
„Ich habe den Unterricht verschlafen!“
Bevor er jedoch aufspringen konnte, hob Khandra ihre Hand und sagte: „Die Akademie ist heute geschlossen. Erinnerst du dich nicht? Marisol hat gestern Abend erklärt, dass aufgrund der Ereignisse des gestrigen Tages die Akademie für einige Tage ausfallen wird.“
„Natürlich, das hat sie“, erwiderte Chigen zögerlich und begann seine Schuhe anzuziehen.
Khandra musterte ihren Schützling besorgt.
„Wenn ich das anmerken darf, du machst heute einen zerstreuteren Eindruck als sonst. Ist irgendetwas mit dir?“
Chigen lächelte die Waldläuferin schief an und meinte sarkastisch: „Dir entgeht aber auch nichts, oder?“
Das entlockte Khandra ein sanftes Lächeln, aber sie bohrte weiter: „Ernsthaft. Ist etwas passiert?“
„Verwirrende Träume“, gab Chigen zurück, stand auf und schickte sich an, sein unordentliches Bett zu machen.
„Erzähl mir bitte davon!“ forderte Khandra ihn auf.
„Lass uns in die Stadt gehen. Auf dem Weg können wir reden.“
„Willst du nicht erst einmal frühstücken?“
Chigen hielt inne und lächelte verlegen.
„Na komm, dein Gedeck wurde noch nicht abgeräumt“, sagte Khandra und öffnete die Tür zum Flur.
„Was würde ich nur ohne dich machen, liebste Khandra?“ fragte Chigen kopfschüttelnd und lächelnd.
„Wahrscheinlich vor Hunger umkommen.“
Nachdem Chigen ausgiebig gefrühstückt hatte, machten sich die beiden Freunde auf den Weg durch die von Bächen durchzogenen und von Bäumen umgebenen Straßen Nasriels. Es herrschte bereits reges Treiben in der Stadt, die Marktstände und Lokale waren gut besucht und es herrschte eine angenehmere Stimmung, als noch am Vortag. Doch die ständige Präsenz der Stadtwachen, deren Blick stets auf die Waldgrenze gerichtet war, zeigte deutlich, wie angespannt die Lage war, wie sehr es unter der Fassade der vorgegebenen Normalität brodelte.
Chigen hatte kein bestimmtes Ziel angegeben, aber dennoch bemerkte Khandra, dass sie sich mehr oder weniger Richtung Ratshalle begaben.
Ihr Schützling schien immer noch fest entschlossen, das Gespräch mit Meister Amakura zu suchen. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich davor fürchtete, denn die unausweichliche Ablehnung seiner Forderung an seinen Vater, könnte den jungen Chigen in eine noch tiefere Melancholie stürzen, als jemals zuvor.
Aber das war eine Angelegenheit zwischen Vater und Sohn, in die sich die Waldläuferin lieber nicht einmischen wollte.
„Du wolltest mir noch von deinem Traum erzählen“, erinnerte sie Chigen, nachdem sie einige Minuten stillschweigend über die erdigen Pfade gewandert waren.
„Es war sehr verwirrend“, begann Chigen. „Der Skrolk erschien mir wieder, dieses Mal jedoch sehr lebendig. Außerdem tauchten Marisol und mein Vater darin auf.“
„Nun, das wundert mich nicht. Schließlich sind das die Dinge, die dich gestern beschäftigt haben“, erwiderte Khandra.
„Es war noch mehr als das...“, setzte Chigen an, hielt jedoch inne und musterte Khandra misstrauisch. „Wie kommst du auf die Idee, dass ich mich Marisol beschäftigt?“
Khandra lächelte nur amüsiert und Chigen machte eine wegwerfende Handbewegung, unterstrichen von einem Schnauben.
„Hör auf damit. Zwischen mir und Marisol ist nichts, wir sind nur Freunde.“
„Natürlich“, kam die wenig überzeugt klingende Antwort der Waldläuferin.
„Wie dem auch sei“, fuhr Chigen mit einem leicht genervt klingenden Ton in der Stimme fort.
„Merkwürdigerweise sagte Marisol etwas davon, dass das Leid der Bestien dasselbe sei, dass auch ich fühlen würde. Und nicht genug, mein Vater griff mich an und warf mich in den Schlund einer furchtbaren Finsternis und während er brüllte, dass ich mein wahres Ich sehen solle. Was hat das nur zu bedeuten? Habe ich Visionen?“
Khandra ließ sich einen Moment Zeit, bevor sie antwortete: „Auf Marisols Worte mag ich mir keinen Reim zu machen, aber was deinen Vater betrifft, so könnte es doch einen Ausdruck deiner Angst darstellen, in jene Position gedrängt zu werden, die dein Vater für dich vorgesehen hat.“
Chigen nickte und Khandra sah wieder diese tiefe Traurigkeit in seinen hellgrünen, schimmernden Augen aufkommen, wie Luftblase, die zur Wasseroberfläche aufstiegen.
„Ich weiß, dass du mit deinem Leben als Sohn eines Erzdruiden haderst, Chigen, auch wenn ich es nicht nachvollziehen kann.“
„Das kann wohl niemand“, gab Chigen zu und quetsche die Worte an dem Kloß vorbei, der in seiner Kehle saß.
Khandra legte ihrem Schützling sanft die Hand auf die Schulter.
„Es tut mir leid. Das ist nur meine Interpretation deines Traumes. Aber wer weiß, vielleicht ist tatsächlich so etwas wie eine Vision gewesen. Leider kenne ich mich mit solchen Dingen nicht besonders aus.“
Khandra schaute auf und ein wissendes Lächeln umspielte ihre blassen Lippen.
„Aber ich kenne jemanden, der sich sehr wohl mit so etwas auskennt.“
Chigen schaute seine Freundin fragend an und folgte dann ihrem Blick nach rechts zum Wegesrand.
Dort, an einen Baum gelehnt, die Augen geschlossen und die Hände über das Gras wandern lassend, saß der wohlbeleibte, dunkelhäutige Erzdruide Anselm Ragnon.
Chigen lächelte hoffnungsvoll, als er den alten Meister erblickte.
Durch den glücklichen Umstand, dass Anselm und sein Vater alte Freunde waren, hatte Chigen schon häufig mit dem gutmütigen Erzdruiden zu tun gehabt.
Er musste sich sogar eingestehen, dass er sich in seiner Jugend manchmal insgeheim gewünscht hatte, dass sein Vater mehr wie Anselm wäre, freundlich, gerecht und einfühlsam.
Chigen nickte Khandra dankbar zu und bewegte sich langsam und leise auf den alten Mann zu, bedacht darauf, ihn nicht in seiner Meditation zu unterbrechen.
„Chigen“, begrüßte Anselm den jungen Druiden lächelnd, ohne die Augen zu öffnen.
Verblüfft den alten Erzdruiden musternd erinnerte sich Chigen daran, dass es durchaus möglich war, als Druide seine Umgebung auch ohne die gewöhnlichen, menschlichen Sinne wahrzunehmen.
Für einen Moment kam er sich wieder unbedeutend und schwach vor.
„Ein herrlicher Tag, nicht wahr“, fuhr Anselm fort und öffnete die müden, dunkelbraunen Augen.
„Meister Ragnon“, sagte Chigen und verneigte sich ehrerbietig.
„Setz dich doch, mein Sohn“, bat Anselm und Chigen nahm an seiner Seite auf dem weichen Gras Platz.
„Wie geht es dir? Wie kommst du in der Akademie voran, Chigen?“
„Nun, ehrlich gesagt eher schleppend“, gab der junge Druide zu und wandte beschämt den Blick ab.
„Das wird schon werden, Chigen. Habe ich dir jemals erzählt, wie tollpatschig dein Vater einst in der Magie war?“
Chigen schüttelte nur den Kopf und Anselm fuhr fort: „Es hat Jahre gedauert, bis er auch nur die erste, ordentliche Beschwörung zu Stande gebracht hat.“
Anselm machte eine Pause und lachte erheitert, in Erinnerungen an bessere, unbeschwerte Zeiten schwelgend.
„Aber die hatte es in sich, das kann ich dir versichern. Er beschwor einen Baum auf dem Hauptplatz der Akademie und ehe er sich versah, stampfte dieser auch schon davon und kam erst zum Halten, nachdem er einige Marktstände mit sich geschleift hatte.“
Beide lachten über diese absurde Vorstellung, aber Chigens Lachen klang eher gezwungen, hätte er sich doch gewünscht, dass sein Vater ihm persönlich davon erzählt hätte. Vielleicht würde das Chigen helfen, mit seiner eigenen Situation an der Akademie besser zurecht zu kommen.
Aber diese Hoffnung war wohl vergebens, schließlich würde Tunris ja damit einen Teil seiner unumstößlichen, strengen Autorität einbüßen, sich eine Blöße in seiner Verteidigung geben.
Hatte sein Vater eigentlich jemals in seiner Anwesenheit gelacht?
Wirklich von ganzem Herzen gelacht?
„Aber ich habe das Gefühl, dass du mich nicht aufgesucht hast, um über die Vergangenheit, sondern eher über die Gegenwart zu sprechen, habe ich nicht Recht?“ fragte Anselm wieder mit ernsterer Stimme.
„Ja, das ist richtig“, begann Chigen zögerlich und senkte wieder seinen Kopf, eine typische Geste des jungen, ewig deprimiert wirkenden Osras.
„Ich glaube, dass ich so etwas wie eine Vision gehabt habe.“
Anselm musterte den jungen Mann nachdenklich und nickte.
„Erzähl mir davon, Chigen!“ bat Anselm mit freundlicher Stimme und zog an seiner Pfeife.
„Es hatte etwas mit dem Skrolk zu tun, der gestern die Nassfelder gestürmt hatte. Als ich seinen Kadaver untersuchte, hatte ich das erschreckende Gefühl, dass mich das Wesen anschaute, den Blick voller Hass und Niedertracht. Doch je länger ich in seine Augen sah, desto mehr wandelte sich dieser Hass zu einer tiefen Trauer.“
Anselm schwieg und nickte nur immer wieder, während Chigen mit in sich gekehrtem Blick fortfuhr.
„Dann hatte ich in dieser Nacht einen sehr verwirrenden Traum. Ich fand mich in den Wäldern von Nasriel wieder, doch sie wirkten tot und farblos. Der Skrolk erschien mir, zwar lebendig, aber ebenso unwirklich und geisterhaft. Seine Augen waren so unglaublich traurig, Meister Ragnon. Und plötzlich war da eine Freundin von mir und verkündete, dass das Leid des Skrolk dasselbe sei, dass ich erfahre. Und dann...“
Chigen hielt inne, denn ihm wurde bewusst, dass Anselm vielleicht nicht der richtige Gesprächspartner war was den letzten Teil seines Traumes anging, schließlich war er der beste Freund seines Vaters. Doch als Chigen die sanfte Berührung der Hand des Meisters auf seiner Schulter spürte, entschloss er sich, die ganze Wahrheit zu erzählen.
„Mein Vater erschien, überwältigte mich mit druidischer Magie.“
Auch ohne den alten Erzdruiden anzuschauen fühlte Chigen die Veränderung in Anselm, den leichten Schrecken, der ihm bei diesen Worten durch die müden Glieder fuhr.
„Er brüllte mich an, dass ich mein wahres Ich erkennen solle und überließ mich einem finsteren Wesen, das mich verschlang.“
Chigen hob zaghaft den Kopf und suchte den Blick des alten Meisters, befürchtete in diesem Befremdung oder gar Zorn wiederzufinden.
Doch was er sah, war etwas, dass er schon lange nicht mehr gesehen hatte, vielleicht sogar noch nie in den zweiundzwanzig Jahren seines Lebens.
Es war Anerkennung.
„Ich glaube, dass es tatsächlich eine Vision war, mein Sohn.“
Chigen starrte Anselm nur wortlos an.
„Ich glaube, dass die Essenz selbst mit dir gesprochen hat, denn ich habe schon viele solcher Schilderungen gehört und sie stammten allesamt von Erzdruiden.“
Chigens Schlucken war deutlich zu vernehmen und sein Gesicht nahm eine bleiche Farbe an.
Anselm reagierte, in dem er dem jungen Mann erneut seine Hand auf die Schulter legte.
„Ich vermute, dass jene Freundin, von der du sprachst, dir sehr nahe steht.“
Chigen blickte verlegen zur Seite, was Anselm als Antwort genügte.
„Die Essenz nimmt in solchen Visionen die Gestalt von Menschen an, die uns nahe stehen und spricht durch ihren Mund mit uns“, erklärte Anselm.
„Aber ich bin doch kein Erzdruide, Meister Ragnon. Und ich werde auch niemals einer werden“, erwiderte Chigen und in seiner Stimme schwang Verzweiflung und Enttäuschung mit.
Chigen wünschte sich, dass es tatsächlich eine Vision war, aber da so etwas laut Anselms Aussage nur bei Erzdruiden vorkam, konnte es demnach keine sein.
Es war einfach nur ein Traum gewesen, damit musste er sich abfinden.
„Aus dir spricht der schwache Glaube an dich selbst, Chigen. In unserer Welt gibt es Wunder, die niemand, selbst der mächtigste und weiseste Erzdruide nicht zu erklären vermag. Glaubst du wirklich nicht, dass es dann auch möglich sein könnte, dass du trotz all der Zweifel und Prophezeiungen im Stande sein könntest, in die höchsten Sphären der natürlichen Macht vorzustoßen, Chigen?“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Meister“, erwiderte der junge Druide, denn in seinem tiefsten Inneren wünschte er sich, dass Anselms Worte sich als wahr herausstellen würden und dass sich alle anderen geirrt hatten, in dem sie der Welt ihre Regeln und Dogmen auferlegt hatten, ohne zu begreifen, dass dies nur von Menschen aufgestellte Regeln waren, von Wesen, die niemals dazu im Stande sein würden, die komplexen Begebenheiten der Welt zu verstehen.
„Andererseits könnte ich mich auch irren, schließlich bin ich nur ein alter Mann, der schon zu viele Winter erlebt hat“, lenkte Anselm ein wenig schwermütig ein und Chigens aufkeimendes Selbstbewusstsein zerplatzte wie eine Seifenblase.
„Vielleicht wirst du niemals Erzdruide werden, Chigen. Aber andererseits, wer kann denn schon mit absoluter Sicherheit sagen, dass nur Erzdruiden Visionen haben können?“, fragte er mit einem listigen Grinsen auf den alten Zügen und Chigen begriff allmählich, was Anselm ihm mitteilen wollte.
Mit seiner vorherigen Annahme hatte Anselm sich noch immer in dem Regelwerk der Osra bewegt und hatte die Hypothese aufgestellt, Chigen könne wohlmöglich doch ein Erzdruide werden, basierend auf der Regel, dass nur Erzdruiden Visionen der Essenz empfangen konnten. Doch nun hatte er die Fesseln der Leitsätze abgestreift und räumte die Möglichkeit ein, sich damals geirrt zu haben mit seiner Beobachtung, dass nur Erzdruiden jene Fähigkeit zum Empfangen von Visionen besaßen. Eigentlich hatte es dafür bereits eine Bestätigung gegeben, schließlich hatten Hunderte von Bürgern der Stadt über außergewöhnliche Träume und Phänomene berichtetet, nach jener schicksalhaften Nacht, in der die Bestien zum ersten Mal zugeschlagen hatten.
Chigen nickte Meister Ragnon dankbar lächelnd zu. Es erfüllte sein Herz mit Zuversicht, dass selbst ein so alteingesessener Erzdruide wie Anselm dazu im Stande war über den Tellerrand der Religion zu blicken und einzuräumen, dass es möglich sein könnte, dass die Leitsätze der Osra wenn nicht gleich fehlerhaft, aber dennoch unvollständig sein könnten.
„Was glaubt ihr, wollte mir die Essenz mitteilen, Meister?“ fragte Chigen frohen Mutes.
„Es ist ein Hinweis“, stellte Anselm fest. „Etwas geschieht mit den Bestien, dass unmittelbar mit uns, den Osra, zusammenhängt. Etwas viel Weitreichenderes als eine simple Krankheit.“
Chigen konnte dem weisen Meister in dieser Angelegenheit nur beipflichten, hatte er doch von Anfang an eine Krankheit als Ursache des Mordtriebes der Bestien für eine schwache Erklärung gehalten.
„Aber was hatte es mit dieser Finsternis auf sich? Sie wirkte wie eine Bestie, doch von solcher Schlechtigkeit, dass ich mich weigere zu glauben, sie sei so von der Essenz erschaffen worden“, meinte Chigen und bei seinen eigenen Worten durchfuhr ihn ein Schaudern, als er sich an die schemenhafte Kreatur erinnerte.
Anselm antwortete nicht sofort, denn leider irrte sich Chigen in diesem Punkt.
Es hatte einst eine Bestien-Art gegeben von unermesslicher Bösartigkeit und Zorn, dass die Druiden keine andere Wahl gehabt hatten, als dessen gesamte Art auszulöschen. Alleine beim Gedanken an diese Gräueltat erzitterte der alte Meister, was dem aufmerksamen Chigen nicht entging.
Bevor er jedoch danach fragen konnte, erhob sich Meister Ragnon schwerfällig. Chigen war sofort zur Stelle und bot ihm seine Hand an, welche der Erzdruide mit einem dankbaren Lächeln annahm.
„Ich danke dir Chigen, dass du mir von deiner Vision erzählt hast. Ich werde mit meinen Kollegen darüber beraten.“
Chigen zuckte leicht zusammen, denn die Vorstellung, dass noch andere von seinen Träumen erfuhren, behagte ihm nicht sonderlich.
„Natürlich werde ich nicht erwähnen, dass sie von dir stammt“, räumte Anselm gutmütig, was Chigen beruhigt aufatmen ließ.
„Aber vielleicht solltest du überlegen, ob du mit deinem Vater darüber sprechen möchtest.“
„Ich befürchtete, dass er kein offenes Ohr für mich haben wird“, erwiderte Chigen mit resignierter Miene.
„Dein Vater stellt große Erwartungen an dich, das weiß ich. Vielleicht werden einige davon erfüllt, wenn er erst einmal erfährt, dass dir eine Vision der Essenz zuteilwurde.“
Ich bete dafür, dass ihr Recht habt, dachte Chigen hoffnungsvoll und sagte dann sich verbeugend: „Ich danke euch, Meister Ragnon.“
Anselm tätschelte noch einmal die Schulter des jungen Druiden.
„Nein, ich danke dir, mein Sohn.“
Dann schritt der alte Erzdruide von dannen, bald umgeben von Waldläufern und Druiden, die ihn durch Nasriels Straßen eskortieren würden.
Chigen schaute ihm noch lange hinterher, sich immer wieder die Worte Anselms ins Gedächtnis rufend.
Ja, heute Abend, nach dem Ritual des Sonnenunterganges, würde er mit seinem Vater sprechen.
Zum ersten Mal, seit er den Wunsch gehegt hatte, an der Suche nach Antworten für jene mysteriösen Phänomene teilzunehmen, war er von einer echten Zuversicht erfüllt, dass sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gehen könnte.
Dutzende Fuß unterhalb von Nasriels Straßen erstreckten sich von Wurzeln durchzogene Tunnel und Höhlen durchs Erdreich, einst durch druidische Beschwörung erschaffen. Die einzigen Lichtquellen in diesem finsteren Labyrinth stellten phosphoreszierende Pilze dar, deren fahler, grünlicher Schein eine geisterhafte Atmosphäre erzeugte.
Es war ein Ort, an dem Diebe und Raufbolde eingesperrt wurden, manchmal auch Mörder und in den seltensten Fällen Ketzer.
So erwachte Ginzo verkatert und durstig, umwickelt von dicken Wurzeln, die aus einer Wand emporwuchsen und ihn in einer unbequemen aufrechten Position hielten. Sein gesamter Körper schmerzte fürchterlich, als hätte man die ganze Nacht auf ihn eingeschlagen. Als er den Kopf hob und den Abscheu in den Augen seiner beiden Wachen sah, in Roben gehüllte Druiden mit erhobenen Händen, welche die Wurzeln, die seinen Körper hielten, kontrollierten, konnte er sich gut vorstellen, dass man genau das mit ihm getan hatte.
Die Osra kannten kein Erbarmen mit Ketzern und vor allem junge Druiden ließen sich dazu hinreißen, besonders brutal gegen jene vorzugehen; sei es nun aus fanatischem Glaube heraus oder aus Frust über die beschwerliche Ausbildung, die jeder durchlaufen musste.
Einst hatte Ginzo genauso gefühlt und gehandelt, als er sein Leben völlig in den Dienst an die Essenz gestellt hatte. Er hätte sich damals niemals erträumen lassen, dass er eines Tages zu einem in Augen der Gläubigen verabscheuungswürdigen Geschöpf verkommen würde. Doch genauso wenig hatte Ginzo damals damit gerechnet, dass seine Aufopferung und sein blinder Glaube ihm das nehmen würden, was ihm tatsächlich am meisten am Herzen gelegen hatte - seine Frau Irenyes und sein Sohn Saihto.
Er hatte sie im Stich gelassen und nun waren sie fort und kein Ritual oder Gebet würde etwas daran ändern. Wie oft hatte sich Ginzo gewünscht, dass jemand die beiden ermordet hatte, damit er wenigstens Rache nehmen könnte. Aber der Einzige, an dem er sich rächen konnte, war er selbst und das tat er nun schon seit über einem Jahrzehnt hingebungsvoll, in dem er sich in Alkohol ertränkte und mehr und mehr verwilderte.
Ginzo hatte gehofft, dass es letzte Nacht zu Ende gehen würde, als er völlig wehrlos vor den Stadtwachen gestanden hatte. Es wunderte ihn kaum, dass er nicht dazu im Stande gewesen war, sich in den Twahoo zu verwandeln. Der Alkohol hatte ihm jegliche Disziplin und Konzentration genommen.
Aber vielleicht hatte sich der Twahoo auch geweigert, gegen jene Männer und Frauen zu kämpfen, trugen sie doch keine Schuld an Ginzos Leid.
Nein, es war seine eigene Schuld.
Immer wieder keimte in Ginzo die Hoffnung auf, andere davon überzeugen zu können, nicht die gleichen Fehler zu machen und ihr Leben zu genießen, bevor sie das Schicksal einholte, aber der Glaube war so tief in den Osra verwurzelt, dass die Kraft eines einzelnen Mannes jene Wurzeln nicht herauszureißen vermochte.
Plötzlich knieten sich Ginzos Bewacher auf den Boden, den Kopf ehrerbietig gesenkt.
Ginzo erkannte bald den Grund für ihr Verhalten, obwohl er im schummrigen Licht und durch seine blutverkrusteten Augen nicht sofort den Mann identifizieren konnte, der sich nun vor ihm aufbaute. Doch jenes schmale, eingefallene Gesicht mit dem spitzen Kinn, umgeben von lichten, grauem Haar und jene grauen, strengen Augen waren unverkennbar.
Tunris Amakura grinste den zerschlagenen Ginzo schadenfroh an.
Lange Zeit hatte er jenen Vagabunden, den er einst als Freund bezeichnet hatte, in seinem Reich geduldet, was nicht zuletzt an Anselms Barmherzigkeit mit dem gebrochenen alten Druiden lag, doch nun hatte Ginzo endgültig die Grenze zur Ketzerei öffentlich überschritten.
Da er schon einmal auf solche Weise aufgefallen und mit langjähriger Verbannung bestraft worden war, hatte Tunris nun die Legitimation endlich hart durchzugreifen. Es kam ihm mehr als gelegen, konnte er doch Ginzos Blasphemie benutzen, um im Volk ein Exempel zu statuieren, dass es in solch unruhigen Zeiten die größte Pflicht eines jeden Osras darstellte, an seinem Glaube festzuhalten und jeder, der dem zuwider handelte, jenem Übel, das in der Welt wucherte, Nahrung geben würde.
„Sieh dich nur an, Ginzo. Was ist nur aus dir geworden?“ fragte Tunris herablassend.
„Nun, wenn ich mich wie deinesgleichen hinter seidenen Roben und dem Glaube verstecken würde, könnte man nicht auf Anhieb erkennen, wie zerrüttet und verloren ich bin“, erwiderte Ginzo mit sarkastischem Lächeln, das ihm jedoch sofort wieder verging, als die Druiden ihn für seine Beleidigung bestraften, indem sie die Wurzeln so fest zogen, dass der alte Druide das Gefühl hatte, sein Leib würde unter dem Druck einfach zerbersten.
Erst als Tunris mit einem triumphierenden Lächeln auf den dünnen Lippen seine Hand hob, lockerten sie wieder den magischen Griff und Ginzo kämpfte keuchend um Atem, dabei eine nicht unbeträchtliche Menge an Blut ausspuckend.
„Aber vielleicht war dein Glaube schon immer schwach, sonst hätte die Essenz vermutlich deine Familie verschont“, sagte Tunris abfällig, obwohl er das Gesagte natürlich selbst nicht glaubte, sondern sein Gegenüber nur peinigen wollte.
Die Essenz bestrafte nicht, nur Menschen taten dies und Tunris war gewillt, diesen erbärmlichen Ketzer mit aller Härte zu bestrafen.
Ginzo starrte den Erzdruiden mit unverhohlenem Hass an.
„Dann haben wir ja etwas gemeinsam, alter Freund“, brachte er durch seine zusammengebissenen Zähne hervor.
Tunris schaute ihn fragend an.
„Schließlich hat dir die Essenz deine Serpia genommen.“
In einem plötzlichen Wutausbruch schossen Tunris´ Hände nach vorne und entrissen den erschrockenen Druiden die Kontrolle über die magisch beschworenen Wurzeln.
Ginzo stieß ein schmerzerfülltes Brüllen aus, als die Wurzeln sich festzogen und mit einem abscheulichen Geräusch seine Arme brachen.
„Sprich nie wieder ihren Namen aus, Verräter!“ herrschte Tunris den wimmernden Osra an, jedes Wort einzeln betonend.
Ob der Grausamkeit ihres Meisters wichen die Druiden mit unbehaglichen Mienen zurück.
Ginzo war kaum noch bei Bewusstsein, als Tunris von ihm abließ. Die Wurzeln erschlafften und der massige Körper des alten Druiden fiel wie ein Stein zu Boden.
Tunris wandte sich den eingeschüchterten Wachen zu: „Behandelt seine Verletzungen. Er soll seinen letzten Tag auf Erden bei vollem Bewusstsein erleben.“
Dann drehte er sich wieder um, ging in die Hocke und riss Ginzos Kopf an den Haaren hoch, so dass ihm der gepeinigte Osra in die Augen blickte.
„Morgen wirst du hingerichtet.“
Dann ließ der Erzdruide Ginzos Kopf wieder grob zu Boden fallen und verließ die Zelle schnellen Schrittes.
„Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Chigen niemals in deine Fußstapfen treten wird. Er hat Besseres verdient“, brachte Ginzo noch röchelnd hervor, dann umfing ihn wieder die kalte Finsternis der Bewusstlosigkeit.
Tunris hielt noch einmal inne, versuchte die Worte seines Feindes zu verdauen.
Chigen würde niemals in seine Fußstapfen treten, denn sein Sohn war etwas Besonderes.
Er war etwas Wundervolles.
Er war etwas Schreckliches.
9
Lebenswege
Tidalias dunkelgraue Augen starrten gedankenverloren durch das von Schmutz bedeckte Fenster der Hochbahn auf jene Metropole herab, die als der Nexus bekannt war.
Die junge Frau wies die typischen Merkmale einer Quashuk auf, hagerer Körperbau, blasse Haut und schmale Gesichtszüge, die von mittellangem, aschblondem Haar umrandet wurden. Ihre Ähnlichkeit mit den anderen, farblosen Passagieren in jenem Zug war genauso frappierend, wie die ihres inneren Befindens: Sie alle gehörten der unteren Klasse der Gesellschaft der Quashuk an, sie waren Arbeiter, Angestellte und Diener, führten allesamt ein tristes, monotones Leben unter dem dunklen, von den Abgasen der Fahrzeuge und Kraftwerke verpesteten Himmel der gewaltigen Großstadt.
Manchmal fragte sich Tidalia, warum man ihr überhaupt einen Namen gegeben hatte, da angesichts der Masse an Doppelgängern, denen sie tagtäglich auf den unteren Ebenen des Nexus begegnete, Nummern angebrachter erschienen.
Wie alle Quashuk, wurde sie als Kind an ihrem zehnten Geburtstag in eine der zahllosen Observationsschulen gebracht, in denen die Fähigkeiten und das Potential der Kinder von den Philosophen überprüft wurden. Wies ein Kind psionische Fähigkeiten auf, gelangte es auf eine der Eliteschulen, wo dann wiederum festgestellt wurde, ob es eine eher kämpferische, intellektuelle oder kreative Natur besaß, um dann den drei privilegierteren Berufsgruppen zugeordnet zu werden, die das Fundament der Gesellschaft der Quashuk bildeten: den Generälen, welche die Armeen anführten, den Philosophen, welche die Lehren der Visionäre unter das Volk brachten oder den Konstrukteuren, welche die Wirtschaft und Industrie beherrschten.
Der große Rest jener Kinder, die keine psionischen Gaben besaßen, zu denen Tidalia auch gehört hatte, wurde dann ihren Veranlagungen entsprechend auf die niederen Berufsgruppen verteilt, als Werkzeuge der Elite.
Doch viel einschneidender als diese Selektion war die sogenannte Indoktrination, der jedes Kind ausgesetzt wurde. Die mit gedankenbeeinflussenden Kräften ausgestatteten Philosophen flößten während der gesamten Schulzeit den jungen Schülern das Gedankengut der Quashuk-Gesellschaft ein, bei den meisten subtil und bei den Widerstandsfähigeren direkter. So brannte sich der unumstößliche Glaube an die gottgleiche Weisheit der Visionäre in die Seelen der Kinder ein und die Pflicht eines jeden Quashuk, durch den aufopferungsvollen Dienst für das Volk eine vollkommene Welt zu erschaffen, eine Welt des Fortschritts und des Wohlstandes.
Ein Großteil der Bevölkerung würde ein Leben lang diesem Dogma folgen, doch ein kleiner Prozentsatz schaffte es, sich von den Fesseln der Indoktrination zu lösen.
Tidalia musste es wissen, denn sie glaubte schon seit einigen Jahren nicht mehr an die Prophezeiung der Visionäre, dennoch gliederte sie sich weiterhin brav in das System ein, aus Angst vor Verfolgung durch das Militär, das gnadenlos gegen Abtrünnige vorging.
So fristete sie ihr Leben als Angestellte in der Verwaltung einer der zahlreichen Fabriken, was in ihren Augen noch eine der angenehmeren Arbeitsstellen im System darstellte.
Tidalia wollte sich gar nicht ausmalen, wie viele Tausende von Namenlosen in jener Fabrik als Arbeiter schufteten, täglich krankheitserregenden Materialien ausgesetzt, mit einer Lebenserwartung von höchstens vierzig Jahren.
Dennoch war auch Tidalia nicht zu beneiden, sie schuftete jeden Tag vierzehn Stunden nur um dann in ihre trostlose Wohnung, die aus einer Schlafkammer und einer Küche bestand, zurückzukehren. Den Waschraum teilte sie sich mit zwanzig anderen Personen, die auf der gleichen Etage des kastenförmigen, hässlichen Wohnblocks lebten, der in den beinahe völlig in Finsternis getauchten unteren Bezirken lag, da nur die oberen Ebenen der Stadt ausreichend mit künstlichem Licht versorgt wurden, um dem immensen Stromverbrauch Herr zu werden, den die Stadt täglich verschlang.
Doch Tidalia beklagte sich nicht, sie hatte elf glückliche Jahre verleben dürfen.
Als sie mit Achtzehn ins Berufsleben eingetreten war, hatte sie einen jungen Soldaten kennen gelernt und die beiden hatten sich bald verliebt. Ein Jahr später hatte Tidalia ein Kind zur Welt gebracht, das Einzige, das die beiden haben würden, schließlich bestand ein striktes Geburtengesetz, dass bei Nichtbefolgen drakonische Strafen nach sich zog. Tidalias Geliebter Mindo sollte jedoch keine Gelegenheit erhalten, die kostbare Zeit des Heranwachsen jenes Mädchens, das sie Jahira genannt hatten, zu erleben, denn wenige Wochen später war er an die Front versetzt worden, von der er nicht mehr zurückkehrte.
Tidalia hatte nie erfahren, ob er im Kampf gegen die Skar getötet worden oder auf andere Weise ums Leben gekommen war und sie hatte sich längst damit abgefunden, niemals die Wahrheit zu erfahren. Schließlich war ihr Mindo innerhalb der Gesellschaft auch nur einer von Abertausend Namenlosen.
Statt um ihren Ehemann zu trauern, hatte sie die Zeit mit Jahira genossen, denn mit jeder verstreichenden Minute, war der Tag der Trennung nähergerückt. Am Abend von Jahiras zehntem Geburtstag, wurde sie von den Philosophen abgeholt und unter bitteren Tränen in eine der Observationsschulen gebracht. Es hatte Tidalia das Herz gebrochen ihre geliebte Tochter fortzugeben, doch wenigstens blieb ihr die Hoffnung, dass Jahira psionische Fähigkeiten besitzen könnte, ein Tor in ein besseres Leben.
Tidalias Gebete waren erhört worden, denn wenige Monate später hatte sie erfahren, dass ihre Tochter in der Akademie der Philosophen aufgenommen werden würde. Doch gleichzeitig war damit auch die bittere Erkenntnis gekommen, dass sie Jahira wahrscheinlich nie wiedersehen würde, denn die Ausbildung zum Philosophen dauerte Jahrzehnte und danach würde ihre kleine, unschuldige Tochter ein anderer Mensch sein, eine Privilegierte, die sich nicht mehr an ihre Erzeuger erinnern würde, eine Tochter der Visionäre, auserkoren, um in ihrem Namen über die Massen zu herrschen.
Jetzt war Tidalia wieder alleine, lebte nur noch für den Beruf und gab sich des Nachts den Erinnerungen an die schönste Zeit ihres Lebens hin, als sie eine Familie gehabt hatte.
Die Hochbahn stoppte abrupt und die Namenlosen stiegen aus um zu ihrem Arbeitsplatz zu gehen und einen weiteren Tag in ihrer ewigwährenden Misere zu erleben.
Doch Tidalia gehörte an jenem Morgen nicht zu ihnen.
Heute würde sich ihr Leben für immer ändern.
Vor einigen Tagen hatte eine Gruppe Philosophen sie aufgesucht und ihr ein folgenschweres Angebot gemacht, eines, das sie den meisten niederen Arbeitskräften in der Stadt machten, sobald diese die sogenannte Familienphase hinter sich hatten.
Im ersten Moment war die Quashuk schockiert und angewidert über das gewesen, was man von ihr verlangte, aber dann war ihr bewusst geworden, dass es keine Rolle mehr spielte, was mit ihr geschah. Ihr Leben würde sich nicht mehr ändern, Tidalia würde bis sie alt und unbrauchbar war in jenem Büro Tag ein Tag aus arbeiten und dann in einer der Anstalten für Ausgediente, die in Wahrheit nichts anderes als Müllplätze für unbrauchbare Quashuk darstellten, einsam sterben.
Tidalia hatte nichts mehr zu verlieren und vielleicht könnte sie mit dieser letzten Aufgabe noch etwas bewirken, auch wenn ihr bewusst war, dass sie genauso in Vergessenheit geraten würde, wie die Abertausend Arbeiter vor ihr.
Die Hochbahn setzte sich wieder wackelnd in Bewegung und steuerte tiefer in den westlichen Teil des Nexus, die Wirtschaftszone, die einen gigantischen Komplex aus Fabriken und Kraftwerken beherbergte.
In Gedanken war sie bei Mindo und Jahira.
Raxas Augen starrten ausdruckslos an die Decke seines engen, dunklen Quartiers.
Bis auf die unbequeme Pritsche, auf der er lag und ein Spind mit seinen wenigen Habseligkeiten, war die Kammer leer; es gab noch nicht einmal ein Fenster.
Doch Raxa brauchte keinen Komfort oder gar die Gesellschaft von Zimmerkameraden.
Er kam nur an diesen Ort, um zu ruhen, Mahlzeiten nahm er in der Kantine der Kaserne seiner Einheit ein, wusch sich im Waschsaal und trainierte seine Schwertkunst in den dafür vorgesehenen Hallen.
In diesen Trivialitäten bestand Raxas Alltag, manchmal monatelang ohne Unterbrechung, bis er wieder einen Auftrag erhielt.
Seitdem die Quashuk die größten Teile Niitas durch die konsequente Vernichtung der Skar-Stämme befriedet hatten, bekam Raxas Einheit, die Phantomeinheit, nur noch selten Missionen und bei diesen handelte es sich in der Regel nur um die Aushebung von Widerstandsnestern Abtrünniger Quashuk innerhalb des Nexus.
Während viele seiner Kameraden sich unterfordert fühlten, machte es für Raxa keinen Unterschied, ob er nun eine Mission hatte oder nicht.
Wenn man ihm sagte, er solle töten, dann tötete er, wenn nicht, dann bereitete er sich vor, wieder zu töten.
Denn auch wenn er kein besonderes Verständnis – oder Interesse - für die Geschehnisse des Reiches besaß, so hatte er dennoch eine Regelmäßigkeit verinnerlicht: es würde jemanden geben, den es zu töten galt.
Raxa hatte keine Empfindungen und vermutete, dass er aufgrund dieser anscheinend einmaligen Tatsache und seines meisterhaften Könnens im Kampf als Nummer Eins unter den Phantomen galt.
Weder Skrupel, noch Mitgefühl hielten seine Klingen zurück, weder Hochmut, noch Unsicherheit beschränkten ihn im Kampf.
Raxa war eine perfekte Tötungsmaschine.
Er erinnerte sich nicht, wie es dazu gekommen war, dass er anders geworden war als seine Mitmenschen, die in den Fesseln der Emotionen gefangen schienen, seine Erinnerungen reichten nur bis zu seiner Ausbildung in der Armeeschule zurück, wodurch er sein Alter in etwa auf Anfang Dreißig schätzte.
Aber Raxa empfand kein Interesse, seine Vergangenheit zu erforschen, er lebte im Hier und Jetzt, etwas anderes spielte für ihn keine Rolle.
Dennoch war er an jenem Morgen unruhig, denn erneut hatte er etwas in der Nacht erlebt, was andere Menschen wohl als Träume bezeichnen würden.
In diesen fand sich Raxa an einem Ort wieder, den der Assassine noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte: er wanderte über duftende, grüne Wiesen, spürte wärmende Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die durch die Kronen üppig bewachsener Laubbäume hindurchfielen und lauschte dem Rauschen von Flüssen.
Es war völlig unmöglich, dass Raxa einen solchen Ort jemals betreten hatte, schließlich gab es auf Niita nur karge Berglandschaften und zwischen der Sonne und der Oberfläche hatte sich schon vor Jahrzehnten eine beinahe undurchdringliche Barriere aus dunklen Abgasen gebildet.
Wie war es nur möglich, dass er von einem solchen Ort träumte und sich dieser zudem noch so real anfühlte?
Ein Klopfen an der Tür seines Quartiers riss den Quashuk aus seinen Überlegungen und binnen eines Herzschlages durchflutete reiner Instinkt seinen Geist.
Mit kaum nachzuvollziehender Geschwindigkeit sprang Raxa von seiner Pritsche auf, ergriff in der selben Bewegung seine beiden kurzen, schmalen Schwerter und glitt lautlos an den Rand der Tür, bereit jeden, der eintrat mit gezielten Hieben und Stichen niederzustrecken.
Raxa, ich bin es, General Yenrai, vernahm Raxa eine telepathische Mitteilung in seinem Geist.
Der Assassine blieb dennoch wachsam, als er den Schalter betätigte, der die Schottartige Tür öffnete. Erst als er in das hagere Gesicht seines Befehlshabers blickte, ließ er seine Waffen sinken und trat einen Schritt zurück.
Der alte General grinste schief und trat ein, woraufhin sich das Schott wieder zischend schloss.
General Yenrai hüllte sich in einen grauen Ledermantel und schwarze Hosen, während Raxa völlig nackt dar stand. Raxa war größer als der General, hatte einen schlanken Körperbau mit perfekt ausgeprägten Muskeln und im Gegensatz zum faltigen Gesicht Yenrais, wirkten seine kantigen, bleichen Züge jung und straff und wurden von schwarzem, mittellangem Haar umgeben, während lichtes, graues Haar den Kopf des Generals bedeckte.
Doch der markanteste Unterschied zwischen den beiden Quashuk stellten ihre Augen dar: während jene des Generals dunkelblau und durchdringend waren, wirkten Raxas milchig und grau, wie die eines Toten.
„Ich habe einen Auftrag für dich, Raxa“, begann der General und Raxa schaute ihn aufmerksam an.
„Was soll ich tun?“ fragte er mit tonloser Stimme.
„General Haiva ist abtrünnig geworden. Er will die Stadt verlassen und trifft sich zu diesem Zweck mit einem Fährmann“, erklärte Yenrai ungerührt ob der Tatsache, dass einer seiner langjährigen Kollegen Verrat begangen hatte.
Raxa nahm das Gesagte zur Kenntnis, aber er empfand ebenso kein Bedauern darüber, dass ein so hoch dekorierter und respektierter General die Seiten wechseln wollte.
Was den Fährmann betraf, hatte Raxa schon seine Erfahrungen mit solchen Personen gemacht. Es handelte sich um einflussreiche, abtrünnige Quashuk, die für Widerstandszellen arbeiteten und ihre Beziehungen spielen lassen konnten, um Flüchtlingen aus der Stadt zu bringen.
„Wissen wir, wo und wann dieses Treffen stattfinden wird?“ fragte Raxa.
„Nach einem kurzen Verhör, hat uns Haivas ehemalige Sekretärin verraten, dass der General sich um acht Uhr mit dem Fährmann im unteren Bezirk der Stadt in einer stillgelegten Fahrzeugfabrik treffen will. Dein Auftrag lautet, den Treffpunkt ausfindig zu machen und alle Anwesenden zu liquidieren.“
„Wie viele Phantome werden an diesem Einsatz teilnehmen?“
„Das ist eine inoffizielle Solo-Mission, die in keinem Logbuch auftauchen wird. Es gilt die höchste Geheimhaltungsstufe“, erklärte Yenrai eindringlich.
Raxa nickte nur.
Ob es nun offiziell oder inoffiziell geschehen sollte, spielte für ihn keine Rolle.
„Wie viele Personen außer Haiva und dem Fährmann werden anwesend sein?“
„Haiva reist in Begleitung zweier Leibwachen. Was den Fährmann betrifft, so können wir uns nur auf Erfahrungen mit Leuten seiner Art stützen und gehen daher von zwanzig bis dreißig leicht bewaffneten Wachen aus.“
Raxa nickte wieder nur, das Gesicht eine ausdruckslose Maske.
Ohne ein weiteres Wort verließ General Yenrai Raxas Quartier.
Der Assassine begann sich anzukleiden, dass Gesicht starr, die Bewegungen maschinell.
Ob zwanzig oder zweihundert Wachen; er würde sie alle umbringen.
Es spielte keine Rolle.
Flankiert von vermummten Philosophen, schritt Tidalia durch einen schwach beleuchteten, grauen Korridor.
Man hatte die junge Quashuk bereits am Bahnsteig erwartet und mit einem Fahrzeug zu einer Fabrik gefahren, in deren Inneren sie sich nun befand.
Danach hatte man sie und die anderen Kandidaten in einen Saal geführt, in dem sie ein wahres Festbankett erwartet hatte: echtes Fleisch und Gemüse, keine Synthetiknahrung, wie Tidalia es ihr ganzes Leben lang gewohnt gewesen war.
Dennoch hatte sie kaum etwas zu sich genommen, zu erdrückend erschien ihr die Atmosphäre.
Einige der Kandidaten hatte unerbittlich geweint, andere stillschweigend vor ihren Tellern gesessen und Tidalia hatte sogar jemanden beobachtet, der sich auf dem Boden kauernd übergeben hatte.
Als das Mahl nach einer Stunde beendet wurde und die Philosophen verkündet hatten, dass die Zeit gekommen sei, hatte ein Kandidat versucht zu fliehen, war jedoch von den Wachen brutal niedergeschlagen und weggeschleppt worden.
Tidalia kam diese ganze Situation so unwirklich vor, so schemenhaft, als ob sie träumen würde. Aber der kalte Stahl unter ihren nackten Füßen erinnerte sie daran, dass dies wirklich geschah, es kein Zurück mehr für sie gab.
Für einen Moment überkam sie Panik, doch ihre psionisch begabten Begleiter registrierten ihren Gemütswechsel augenblicklich und packten sie grob an den Armen, erstickten jeden Fluchtversuch im Keim. Als sie das Ende des Korridors erreichten, schleiften sie die zitternde, kraftlose Frau buchstäblich hinter sich her.
Tidalia flüsterte immer wieder die Namen ihrer Geliebten, die Welt um sie herum begann zu verschwimmen, ein Wirbel aus Grautönen und grellem, künstlichen Licht.
Sie spürte, wie sich der Griff der beiden Männer löste und sie hart bäuchlings auf dem Boden aufschlug.
Tidalia war allein in der Dunkelheit und eisige Kälte wanderte über ihren nackten Körper wie ein Heer aus Tausenden Insekten.
Plötzlich wich die Finsternis einem grellen Licht und Tidalia kämpfte sich schwankend auf die Beine.
Sie befand sich an dem einen Ende eines länglichen, hohen Raumes, an dessen anderem Ende eine hünenhafte Gestalt aufragte.
Es handelte sich um ein humanoides Konstrukt, das auf einer Art Thron saß, umgeben von Gerüsten, auf denen vermutlich die Mechaniker die Maschine warten konnte. Doch von den Arbeitern war keine Spur zu sehen, Tidalia war allein mit dem Golem, der etwa dreimal so hoch und fünfmal so breit wie sie war.
Das Konstrukt erinnerte an einen Soldaten in voller Kampfmontur, bestehend aus schwarzen, kantigen Panzerplatten, doch Tidalia wusste nur zu gut, dass sich unter dem Stahl kein Fleisch verbarg, sondern mechanische Innereien.
Über den Händen des Golems entsprangen klauenartige Klingen und der gesichtslose Kopf wies nur ein schwarzes, künstliches Auge auf.
Die Maschine saß reglos dar, wartend.
Tidalia spürte, wie etwas in ihren Geist eindrang, eine fremde Präsenz, derer sie sich nicht entziehen konnte.
Auserwählte, höret meine Worte, sprach eine männliche, verzerrte Stimme zu ihr und Tidalia vermutete, dass es den anderen Kandidaten in diesem Moment ebenso erging.
Wisset, dass euer Opfer im Dienste der göttlichen Visionäre nicht in Vergessenheit geraten wird.
Tidalia wollte glauben, was man ihr sagte, aber die kalte Vernunft in ihrem desillusionierten Geist zerschmetterte jegliche Hoffnung. Niemand würde sich an sie erinnern, niemand erinnerte sich an die Namenlosen.
Konzentriert euren Geist auf das Konstrukt. Nehmt den Dolch und vollführt das Ritual der Verwandlung.
Sie wusste, dass sie verloren war.
Selbst wenn Tidalia sich jetzt weigerte, würde man sie dazu zwingen das Ritual durchzuführen.
Zitternd griff die Quashuk nach dem Dolch, der neben ihr auf dem Boden lag, tastete über seinen stabilen Griff, betrachtete die gekrümmte, glatte Klinge.
Konzentriert euch.
Ein Blitz kalter Furcht durchfuhr ihren Körper, als die harte Spitze der Waffe über ihre Brust glitt, bis zu jener Stelle, hinter der sich ihr pochendes Herz verbarg.
Konzentriert euch.
Tränen rannen über Tidalias Gesicht, als die Erinnerungen an ihre geliebte Jahira und ihren geliebten Mindo vor ihrem geistigen Auge aufflackerten.
Konzentriert euch.
Es gab kein Zurück.
Ein heftiger Schmerz, danach Taubheit.
Sie spürte noch, wie sie den Dolch fallen ließ, wie ihre Beine nachgaben.
Dann war da nur noch die Kälte.
Und die Finsternis.
Die beinahe lichtlosen unteren Bezirke des Nexus stellten für Raxa ein ideales Jagdgebiet dar.
Der Assassine besaß zwar wie alle Phantome die geistige Fähigkeit, die Sinne seiner Feinde zu täuschen, aber dennoch verließ er sich stets zuerst auf die herkömmlichen Möglichkeiten der Tarnung, bevor er seine Psionik einsetzte, schließlich verfügte er nicht über unbegrenzte mentale Kraft und zu früh sein Pulver zu verschießen, könnte sich hinterher als lebensgefährlich erweisen.
Gehüllt in einen schwarzen, enganliegenden Kampfanzug aus robusten, dennoch leichtem Material, schlich der Assassine geduckt bis zum Rand des Daches der stillgelegten Fabrik und spähte auf das Gelände unter ihm, das lediglich vom Schein der Hunderte von Fuß höhergelegenen Neonbeleuchtung der oberen Bezirke in ein unstetes, fahles Licht getaucht wurde.
Binnen eines Herzschlages hatte er alle Personen auf dem Lagerplatz der alten Fabrik ausgemacht, die sich mehr oder weniger zwischen verrosteten, altertümlichen Fahrzeugen und Frachtkisten zu verstecken versuchten.
Es handelten sich um Widerstandskämpfer, gehüllt in dunkle Kleidung, bewaffnet mit Schwertern und schnellfeuernden Armbrüsten, Zehn an der Zahl.
Wenn seine Informationen zutrafen, dann mussten sich weitere zehn bis zwanzig Wachleute um das Fabrikgelände herum und im Inneren des Gebäudes befinden.
Weder der Fährmann, noch Haiva hatten sich bisher blicken lassen, also entschied Raxa, mit seiner Aufgabe hier draußen zu beginnen.
Lautlos zückte er seine beiden Kurzschwerter, die sich in schwarzen Schwertscheiden an seinem Gürtel befanden und schlich ebenso geräuschlos weiter über das Dach des Fabrikgebäudes, das sich halbkreisförmig um den Lagerplatz erstreckte.
Es vergingen keine zehn Sekunden, da hatte er bereits einen Heckenschützen entdeckt, der am Rand des Daches kauerte und mit seiner Armbrust auf den Platz unter ihm zielte. Seine Waffe war mit einem Zielfernrohr ausgestattet, um möglichst präzise weit entfernte Gegner anzuvisieren.
Hätte der unglückselige Quashuk auch nur für einen Moment die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sich der Feind bereits auf dem Dach befand, hätte er sich wohlmöglich umgeschaut.
Raxa glitt lautlos wie der Schatten des Todes an den Schützen heran, dann schoss er wie eine Raubkatze hervor und rammte seinem Opfer eine Klinge ins Kreuz, während er die andere über dessen Kehle fahren ließ.
Der Schütze brachte noch ein leises Gurgeln hervor, dann sank er leblos zu Boden. Raxa hob den erschlaffenden Körper des Mannes an und positionierte ihn wieder auf die gleiche Weise wie zuvor, denn der aufmerksame Assassine hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Daches einen weiteren Schützen ausgemacht.
Falls dieser zweite Schütze einen kurzen Blick auf seinen Kameraden warf, würde er keinen Verdacht schöpfen, aber die sich nähernde Patrouille von zwei Mann, deren gedämpfte Schritte Raxa bereits vernommen hatte, würden sich nicht so einfach täuschen lassen.
Weiterhin geduckt, lief der Assassine in einem einen Bogen um die beiden Wachen herum, in der Absicht sie abzufangen, bevor sie den Leichnam des ersten Schützen entdeckten.
Raxa war durchaus im Stande, zwei Gegner gleichzeitig auszuschalten, aber die Gefahr, dass einer der beiden sich durch einen Schrei oder Ähnliches bemerkbar machen würde, würde die gesamte Mission gefährden, schließlich war Haiva noch gar nicht aufgetaucht und würde es auch nicht, wenn es hier zu einem Tumult käme.
Also konzentrierte sich Raxa auf seine inneren, geistigen Energien und fokussierte sie auf den von ihm weiter Entfernten der beiden Männer. Unsichtbare Fühler schossen aus Raxas Kopf und drangen in den Geist des Mannes ein, ohne dass dieser davon auch nur Notiz nahm. Der Assassine ließ seine psionische Energie wie einen Schleier über die Sinne des Mannes fallen, wobei er sich vor allem auf die Augen und Ohren des Quashuk konzentrierte.
Als der Assassine aufsprang und mit gezückten Klingen loslief, hielt er die mentale Verbindung aufrecht.
Mit furchterregender Geschwindigkeit griff er den anderen Wachmann von der Seite an, vollführte mit der linken Waffe einen Stich in dessen Brustkorb, um sofort seine Rechte in einem brutalen Schwinger Richtung Hals folgen zu lassen.
Während die eine Klinge zwischen den Rippen des völlig überraschten Kämpfers in dessen Lunge eindrang, durchstieß Raxas anderes Schwert seinen Hals.
Der andere Wachmann bekam von alledem nichts mit; seiner Ansicht nach, bewegte sich sein Gefährte weiterhin neben ihm und flüsterte etwas davon, dass er gefälligst aufmerksam sein solle.
Erst als er grob von hinten gepackt wurde und den heftigen Schmerz an seiner Kehle spürte, sah der unglückselige Widerstandskämpfer noch für einen kurzen Moment seinen sterbenden Mitstreiter am Boden liegen, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.
Raxa eilte bereits weiter, denn aus dem Augenwinkel heraus hatte er drei Gestalten ausgemacht, die in diesem Moment den Fabrikhof betraten, bei denen es sich vermutlich um Haiva und seine Leibwachen handelte.
Da der noch verbliebene Schütze sich vollständig auf die Neuankömmlinge konzentrierte, hatte Raxa leichtes Spiel mit ihm und erledigte seine blutige Arbeit schnell und lautlos.
Er ließ sich neben seinem letzten Opfer nieder und beobachtete die Szene unten auf dem Hof, bereits im Geiste durchspielend, wie er weiter vorgehen sollte.
Uselm Haiva war ein mit allen Wassern gewaschener Soldat, hatte schon viele Schrecken des Krieges gesehen und erlebt, doch noch nie in seinem Leben war er so von Angst erfüllt gewesen, wie am heutigen Morgen.
Er wusste, dass man ihm seit seiner entlarvenden Rede bei der gestrigen Sitzung nach dem Leben trachtete und die Vorstellung, sich den Zorn der Visionäre, der mächtigsten Wesen auf ganz Raaja, zugezogen hatte, ließ ihn beinahe wahnsinnig vor Furcht werden.
Sofort hatte er Kontakt zur Schattenhand aufgenommen, einer gemäßigten Widerstandszelle, mit denen er schon häufiger Geschäfte gemacht hatte.
Über die Jahre waren der General und die Mitglieder jener Organisation eine Symbiose eingegangen: Während sie ihn mit Informationen über die radikaleren Widerstandszellen versorgt hatten, ließ er ihrer Organisation freie Hand und manipulierte sogar Spionageberichte, um die Schattenhand aus der Schusslinie jeglicher Ermittlungen zu nehmen.
Wenn alleine dieses Bündnis ans Tageslicht käme, wäre Haivas Leben bereits verwirkt gewesen, aber er hatte dieses Risiko für das Wohle der Nation in Kauf genommen, schließlich waren die Widerstandszellen mittlerweile sehr gut organisiert und ohne solche Informationen, wäre es den Generälen niemals gelungen, innerhalb der letzten zehn Jahre fünf der gefährlichsten Zellen zu vernichten.
Nun waren seine Verbindungen zur Schattenhand Haivas einziger Hoffnungsschimmer noch den nächsten Tag zu erleben. Allerding war der General, seit er von dem furchtbaren Plan der Visionäre ins Bild gesetzt wurde, die Osra auszurotten, auch ohne die Tatsache, dass man ihn liquidieren wollte, mehr als gewillt, die Seiten zu wechseln.
Seiner Meinung nach waren die Visionäre endgültig dem Wahnsinn verfallen und er hatte sich geschworen, diesem Treiben Einhalt zu gebieten.
Die Schattenhand hatte sofort für ein Treffen mit einem ihrer Fährmänner gesorgt und in den frühen Morgenstunden war Haiva mit seinen beiden loyalsten Wachmännern mit der felsenfesten Absicht aufgebrochen, den Nexus und seine tyrannischen Herrscher hinter sich zu lassen.
Als er den Fabrikhof betrat, schälten sich eine Handvoll von vermummten Gestalten aus den Schatten und seine Wachen reagierten sofort, zückten kampfbereit ihre Klingen.
Haiva signalisierte ihn mit einer knappen Geste, die Waffen wieder wegzustecken und die beiden Männer gehorchten, wenn auch zögerlich.
Ein schlanker, blonder Quashuk in einen langen braunen Mantel gehüllt trat vor und fragte mit gedämpfter Stimme: „General Haiva?“
„Ja“, antwortete der stämmige General ebenso leise, obwohl die Frage seines Erachtens nach eher von rhetorischer Natur war.
„Ich bin Mendius, der Fährmann. Folgt mir“, entgegnete der Mann und wandte sich dem finsteren, toten Gebäude hinter ihm zu.
Haiva nickte und folgte dem Fährmann, jedoch nicht ohne sich noch einige Male nach Agenten der Visionäre umzuschauen.
Durch zahlreiche Löcher in der Decke der verhältnismäßig kleinen Fabrikhalle fielen schwache, trübe Lichtstrahlen ins Innere, wodurch Raxa wenig Probleme hatte, sich im Schutze der Dunkelheit zu bewegen.
Wie der erfahrene Assassine bereits vermutet hatte, befanden sich in der Halle noch fünf weitere Widerstandskämpfer, die nun, als ihr Anführer, der Fährmann, mit Haiva eintrat, aus ihren Deckungen hinter Laufbändern und Montagemaschinen hervorkamen. Eigentlich waren es zehn Wachen innerhalb der Halle gewesen, doch die auf dem erhöhten Rundgang patrouillierenden Quashuk hatte Raxa bereits liquidiert, bevor Mendius und sein Begleiter das Gebäude betreten hatten.
Er hatte gehofft, sich unter die Anwesenden schleichen zu können, um einen nach dem anderen töten zu können, aber dafür fehlte ihm schlichtweg die Zeit, denn er musste feststellen, dass einschließlich Mendius, Haiva und seine beiden Leibwachen elf Personen das Gebäude betreten hatten, also mussten noch mindestens vier Wachen außerhalb unterwegs sein und würden sich bald fragen, wo ihre Kameraden steckten, die auf dem Dach patrouillieren sollten.
Er musste schnell und tödlich zuschlagen.
Mit schnellen Schritten erreichte Raxa eine abfallende Rampe, die ihn genau auf die Gruppe zuführte, die gerade Mendius Plan lauschte.
„Wir folgen den Abwasserkanälen nach Westen bis zum Hafen. Dort wird uns ein Schiff erwarten, das uns unterhalb der neuen Hafenanlage nach Süden bringen wird“, erläuterte Mendius gerade, als plötzlich ein lauter Ruf vom Eingang erschall: „Wir sind entdeckt worden!“
Ein gewöhnlicher Assassine hätte sich zurückgezogen und die Mission abgebrochen, aber Raxa war kein gewöhnlicher Assassine.
Genauso wenig war er ein gewöhnlicher Quashuk.
Mit weiten, schnellen Schritten hechtete Raxa die Rampe hinab, warf sich flach auf den Boden, als die ersten Armbrustbolzen in seine Richtung flogen.
Durch den Schwung rutschte er die Rampe weiter hinab, stemmte die Hände auf den stählernen Untergrund und vollführte einen Vorwärtsrolle, stieß sich ab und sprang über das Geländer, viel zu schnell, als das ihn einer der Schützen richtig anvisieren konnte. Der Raxa am nächsten stehende Widerstandskämpfer zog rasch sein Langschwert und vollführte eine brachialen Schwinger auf Kopfhöhe, doch der Assassine, immer noch vom Schwung seines akrobatischen Abstiegs angetrieben, tauchte unter dem Hieb weg, drehte sich im Kreis und schwang dabei seine Kurzschwerter parallel mit. Als der Angreifer mit zwei klaffenden Wunden am Bauch nach hinten fiel, hechtete Raxa bereits weiter, parierte mit dem rechten Schwert einen nach unten geführten Schlag eines weiteren Gegners zur Seite weg und ließ sofort sein linkes diagonal folgen, das dem Widerstandskämpfer die Halsschlagader aufschnitt.
Immer noch in Bewegung, mit dem Rücken zu einem Wachmann, der seinerseits mit einem bogenförmigen Hieb auf Bauchhöhe angriff, stieß Raxa sich vom Boden ab und überwand diese Attacke mit einem Flick-Flak, der ihn nur um Haaresbreite dem tödlichen Langschwert entgehen ließ. Sobald seine Füße wieder den Boden berührten, sah sich der Assassine von Angreifern umzingelt und ging sofort in einen regelrechten Wirbelsturm von Hieben über, sich dabei stets um die eigene Achse drehend, immer wieder die Höhe seiner Attacken verändernd und weiter den anfänglichen Schwung nutzend, so übermenschlich schnell und präzise, dass die Kämpfer beinahe wie reglose Statuen wirkten.
Als er sein unmögliches Manöver beendet hatte, gingen sechs Widerstandskämpfer in einem dichten Blutnebel zu Boden und Raxa hatte nicht einen Kratzer davon getragen.
Mendius wich entsetzt zurück, als der schreckliche Feind sich ihm näherte, dabei mehrere heranfliegende Bolzen mit den Schwertern aus der Luft wischend.
Unaufhaltsam rannte Raxa weiter, sich auf Mendius und seinen vier verbliebenden Wachen konzentrierend, die ihre ihnen nutzlos erscheinenden Armbrüste zu Boden warfen und stattdessen Schwerter zogen.
Doch dann nahm der Assassine eine Bewegung am Rande seines Sichtfeldes wahr und schwang noch rechtzeitig beide Klingen in einer Abwärtsbewegung zur Seite, um den äußerst schnell geführten Stich von einer der beiden Leibwachen Haivas zu parieren.
Raxa setzte seinerseits mit einem schnellen Stich auf Halshöhe nach, doch der Soldat schaffte es sich geduckt zurückzuziehen.
Er erkannte, dass sein Feind kein Anfänger war, denn dieser griff sofort wieder, ohne sich in seiner Verteidigung eine Blöße zu geben, an und schaffte es, Raxa in die Defensive zu zwingen.
Doch der Assassine nahm diesen Rückzug in Kauf, denn er wusste, dass sich Mendius´ Widerstandskämpfer von hinten näherten.
Er täuschte einen weiteren Angriff auf den Soldaten an, änderte jedoch abrupt die Richtung, duckte sich und stieß sein rechtes Schwert rückwärts in den Bauch eines Kämpfers hinter ihm.
Die feststeckende Klinge als Hebel benutzend, riss Raxa den sterbenden Quashuk nach vorne, so dass er zwischen ihn und den gefährlicheren Soldaten geriet, dabei gleichzeitig mit der freien Hand zwei Hiebe von nachrückenden Widerstandskämpfern parierend.
Genau diesen beiden wandte er sich nun wieder zu, riss dabei sein zweites Schwert aus dem Leib des Todgeweihten und deckte die beiden Angreifer mit einem Hagel aus Hieben ein, der sie binnen eines Herzschlages zu Fall brachte.
Mittlerweile hatte der erfahrene Soldat den sterbenden Widerstandskämpfer abgeschüttelt und schwang seine gebogene Klinge diagonal herab.
Raxa schien den Angriff nicht zu bemerken, da er den verbliebenden Widerstandskämpfer gerade mit beiden Schwertern aufspießte.
Der Soldat wähnte sich seines Sieges sicher.
Er spürte den kurzen Widerstand, als seine Waffe durch Kleidung und Gewebe schnitt.
Doch einen Moment später konnte der Soldat nur noch fassungslos durch das Visier seines Helms auf die Gestalt herabblicken, die er mit seinem Angriff getötet hatte. Dort lag nicht der Assassine, sondern ein Widerstandskämpfer, eben jener, den Raxa noch einen Augenblick zuvor selbst getötet hatte.
Bevor der Soldat auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, dass der Assassine wohlmöglich seine Sinne auf psionische Weise getäuscht hatte und ihm jene Szene vorgegaukelt hatte, fühlte er auch schon einen explosionsartigen Schmerz, als Raxa ihm sein Schwert unterhalb einer Rückenplatte seiner Rüstung von hinten ins Herz trieb.
Doch als der Assassine sich gerade umdrehen und sein nächstes Ziel auswählen wollte, erfasste ihn plötzlich eine unbändige Kraft und schleuderte ihn ruckartig zur Seite.
Wehrlos prallte Raxa hart gegen eine Frachtkiste und sackte beinahe vor Schmerz in sich zusammen.
Rein instinktiv wusste er, dass dieser magische Angriff von Haiva stammen musste, dem einzigen anwesenden Kampf-Psioniker.
Obwohl sich seine linke Seite von dem heftigen Aufprall taub anfühlte, zwang Raxa sich in eine Seitwärtsrolle und entging so mehreren Bolzen, abgefeuert von der eintreffenden Verstärkung, die durch das Haupttor ins Innere der Fabrikhalle stürmte.
Sofort kam er wieder auf die Beine und verschaffte sich einen kurzen Überblick über die Lage.
Die Schützen waren noch zu weit entfernt, Mendius lief in ihre Richtung davon, die verbliebende Leibwache näherte sich vorsichtig und Haiva war in Konzentration versunken, wahrscheinlich seinen nächsten psionischen Angriff vorbereitend.
Raxa entschied, dass Haiva der gefährlichste Gegner war und stürmte dem General entgegen, dabei erneut mit seinen unmenschlichen Reflexen heranfliegenden Bolzen ausweichend.
Der Soldat stieß unter seinem Helm ein entschlossenes Brüllen aus und erhob sein Schwert, doch Raxa hielt mitten in der Bewegung inne, änderte leicht die Richtung und ließ sich auf ein Knie fallen. Mit über dem Kopf gekreuzten Schwertern parierte er die herabfahrende Klinge des Soldaten, rutsche auf dem Knie an ihm vorbei und schwang seine rechte Waffe über das Bein des Mannes, dabei genau in die Öffnung zwischen den Plattensegmenten seiner Beinpanzerung treffend.
Die Leibwache taumelte schreiend nach vorne und presste die Hand auf die klaffende, sprudelnde Wunde, doch Raxa ließ sofort von ihr ab und hielt weiter auf Haiva zu.
Der General riss plötzlich die Augen auf und der Raum zwischen ihm und dem Assassinen begann sich zu verzerren und zu krümmen, als er seinen gewaltigen psionischen Angriff losließ.
Doch Raxa hatte noch rechtzeitig reagiert und sein rechtes Schwert geworfen, das sich in den Bauch des Generals grub.
Im nächsten Augenblick sah Raxa jedoch nur noch schwarze Punkte und versteifte sich, als die psionische Energie seine Wirbelsäule wie ein Blitzschlag durchzuckte.
Er ging abrupt zu Boden, wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte.
Für einen Moment war Raxa völlig hilflos und wenn er den Soldaten nicht bereits so schrecklich verwundet hätte, hätte dieser ihn einfach erstechen können.
Der Assassine bot seine gesamte psionische Kraft auf, um den Schmerz aus seinen Gliedern zu vertreiben und stemmte sich wieder wankend auf die Beine.
Ein Bolzen bohrte sich in seinen rechten Oberarm, aber Raxa ignorierte ihn einfach.
Mit einem Satz war er bei Haiva, der bereits in die Knie gegangen war und vollführte einen brutalen diagonalen Hieb in den Hals des sterbenden Mannes.
Haiva war tot, bevor sein Körper zu Boden ging, daher spürte er auch nicht mehr, wie Raxa das andere Schwert seinen Eingeweiden entriss.
Als der Assassine die Widerstandskämpfer erreicht hatte, wusste er, dass der Kampf vorbei war, denn die Quashuk versuchten noch nicht einmal sich zu wehren, waren geradezu paralysiert von diesem unwirklichen Kampf, von diesem einen Mann, der innerhalb einer Minute mehr als ein Dutzend Krieger besiegt hatte.
Raxas Klingen arbeiten schnell und tödlich und die vier Schützen sackten beinahe gleichzeitig zu Boden.
Panisch kreischend, rannte Mendius ins Freie, wollte nur noch fort von diesem Ort des Schreckens.
Er schaffte fünf Schritte, dann war er tot.
Raxa ging zur Leiche des Fährmanns und riss sein Schwert aus dessen Rücken.
Dann bewegte er sich völlig ungerührt wieder in die Halle zurück.
Der verwundete Soldat kroch rückwärts über den Boden, eine blutige Spur hinter sich herziehend.
Der Assassine ging schnellen Schrittes auf ihn zu.
„Warte, bitte warte!“, begann der Soldat, die Arme flehentlich erhoben.
„Ich bin doch nur ein einfacher Soldat. Haiva ist tot, du hast deine Mission erfüllt.“
Die ausdruckslose Miene des Assassinen zeigte keine Regung, während er weiter auf ihn zuhielt.
„Bitte, ich flehe dich an!“
Als Raxa ihn erreicht hatte, holte er aus und schlug dem hilflosen Soldaten in einem Streich den Kopf ab.
Der Körper sackte zuckend zu Boden, als er ob er seinen eigenen Tod noch nicht begreifen würde.
Raxa atmete schwerfällig und begann zu taumeln, als die Schmerzen und der Blutverlust ihn zu übermannen drohten.
Nach einigen Minuten des Ausharrens, hatte er sich einigermaßen erholt und überprüfte die leblosen Körper nach möglichen Überlebenden.
Aber er hatte gute Arbeit geleistet, niemand atmete noch.
Dann machte sich Raxa auf den Heimweg zur Kaserne.
Er brauchte medizinische Versorgung und ein wenig Schlaf.
Morgen würde er dann sein Training wieder aufnehmen.
Der Raum um sie herum wirkte farblos, beinahe durchscheinend, sie vernahm keine Geräusche, spürte keine Kälte, fühlte sich absolut schwerelos.
Tidalia konnte sich frei umschauen, sah ihren eigenen Körper leblos am Boden liegen, umgeben von einer Lache aus schwarzem Blut.
Verwirrt schaute sie an sich herab, aber dort war nichts, jedenfalls nichts Sichtbares. Sie war jetzt nur noch ein Geist, losgelöst von ihrer einstigen Hülle.
Wellen von unterschiedlichsten Emotionen durchzuckten sie wie Stromstöße, von Angst, über Zorn bis Erleichterung und Frieden.
Nie zuvor hatte sich Tidalia so frei gefühlt, nie zuvor hatte sie sich so sehr gefürchtet. Plötzlich nahm sie eine Veränderung war, die sich anfühlte, als ob sie in ein Netz geraten war, das sich immer enger um ihren Geist schnürte.
Etwas zwang sie, ihren Blick auf das Konstrukt zu richten, das nun einfach wie ein schwarzer, unförmiger Klecks aussah.
Ein Sog ging von dieser Finsternis aus, ein Drang nach ihrem Geist.
Unfähig sich zu wehren, wurde Tidalia von dem Sog erfasst.
Sie schrie, aber kein Ton vermochte die Glocke der Stille, die sich über ihr Bewusstsein gelegt hatte, zu durchbrechen.
Als der dunkle Klecks sie verschlang, veränderte sich ihr Zustand abrupt.
Tidalia hatte das Gefühl wieder körperlich zu sein, auf eine Art und Weise, die sich sehr befremdlich anfühlte. Es schien, als bestünde die Quashuk nun aus Hunderten von Tentakeln, die in alle Richtungen ausstrahlten. Sie umwickelten das mechanische Innenleben des Golems, tasteten über die Zahnräder und beweglichen Teile, die dem Konstrukt Beweglichkeit und übermenschliche Kraft verliehen.
Nein, nicht dem Golem, sondern ihr.
Tidalia war jetzt das Konstrukt.
Ihre geistigen Tentakel setzten die Maschine in Bewegung, die mechanischen Elemente begannen lärmend zu arbeiten.
Mit einem dumpfen, unmenschlichen Grollen wurde die einstige Quashuk Tidalia wiedergeboren als lebendige Waffe.
Es dauerte nur wenige Minuten, dann hatte Tidalia ihr früheres Leben vergessen, dafür sorgten die mentalen Eingriffe der Philosophen, die als Hebammen bei dieser künstlichen Geburt fungierten.
Auf absoluten Gehorsam und völlige Emotionslosigkeit programmiert, erhob sich der Golem schwerfällig von seinem Platz, ein ohrenbetäubendes, metallisches Ächzen verursachend.
Tidalia existierte nicht mehr.
Ein neuer Rekrut der eisernen Legion war geboren worden.
Das Auge ihres neuen Hauptes begann bedrohlich rot zu leuchten.
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2011
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