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Prolog


Bei einem familiären Zusammentreffen kamen mein Bruder und ich auf unseren etwas merkwürdigen Onkel Günter zu sprechen. Er war ein wenig der Außenseiter in der Familie, wohnte auch nicht in unserer Nähe und wir sahen ihn nur sporadisch, weil er sich mit seinen Geschwistern zerstritten hatte. Als ich klein war, fand ich ihm immer sehr faszinierend, denn er konnte sehr gut Geschichten erzählen und hat auch einige Kurzgeschichten in der Tageszeitung seines Wohnortes veröffentlicht.
Irgendwann, nach dem Tod meiner Oma, ist der Kontakt dann ganz abgebrochen und wir hörten lange Zeit nichts mehr von ihm. Ein paar seiner Geschichten schwirrten aber noch in irgendeiner Schublade bei meinen Eltern herum.
Mittlerweile sind meine Eltern und auch der Onkel verstorben, aber ein paar Geschichten haben wir doch aufgehoben, hier ist eine davon.
Bei der Geschichte handelt es sich im Ansatz um eine wahre Begebenheit. Sie wurde zwischen 1950 und 1955 geschrieben.


Karin Blome


Um 14.30 Uhr war das französische Verkehrsflugzeug in Frankfurt aufgestiegen.
Kurz zuvor hatte man noch eine Trage in das Flugzeug gebracht, auf der eine schwerkranke, etwa vierzig Jahre alte Frau lag. Ihre Haare waren fast schneeweiß. In ihr mageres Gesicht waren Spuren von Schmerz und Gram eingegraben. Die Augen hatten ihren früheren Glanz verloren, sie blickten trüb und qualvoll.

Nachdem man die Trage in einen kleinen abgesonderten Raum niedergestellt hatte, betrat auch der Ehemann der Kranken das innere des Flugzeuges. Man schaffte sofort eine Sitzgelegenheit in die Kabine, denn der Gatte hatte erklärt, er wünsche während des Fluges bei seiner Frau zu bleiben.

In der kleinen Kabine, in der sich das Ehepaar befand, war alles still. Das Motorengeräusch klang gedämpft, wie aus weiter Ferne. Die Frau auf der Trage hatte ihre Augen geschlossen, und es schien, als schliefe sie. Ihr Mann saß neben ihr mit gebeugtem Nacken und blickte stumm zu Boden. „Woran denkst du?“ fragte die Kranke plötzlich. Ihr Mann schreckte auf. „ Ich dachte an unsere Vergangenheit, meine Liebe.““So, “ erwiderte sie. „Die Vergangenheit war für dich eine Zeit der Qual. Ich war diese Qual, eine Last.“ „ Nein, sprich nicht so.“

„Ja, ja, lass nur, lass es mich nur sagen. Du hattest kein angenehmes Leben mit mir. Schon kurz nach unserer Heirat wurde ich von dieser unheilbaren Krankheit befallen und damit war ich zum Liegen verdammt. Zwanzig Jahre, eine verdammt lange Zeit. Am Anfang, da spürte ich noch Kraft in mir, und ich hoffte wieder gesund zu werden. Irgendwann in den Jahren ist dieser lebensfunke jedoch erloschen. Ich bin elender und elender geworden. Eine lebende Tote. Mein Gefühl ist stumpf. Nur die grausamen, peinigenden Schmerzen meiner Krankheit spüre ich. Ach, du kannst dir kein Bild von meinem Leiden machen! Ich falle dir nur zur Last, bin ein Hindernis in deinem Leben. Warum hat der liebe Gott mich so gestraft, Richard? Was habe ich Böses getan?“
Sie sprach jetzt sehr bewegt, indem sie sich aufrichtete und Tränen flossen aus ihren Augen. „Du bist gesund, voller Lebenskraft und Unternehmungsgeit. Wie glücklich könntest du ohne mich sein.“
Der Gatte hob abwehrend die Hände. Sein Gesicht verzerrte sich. „Sprich nicht so! Um Gottes Willen, sprich nicht so! Ich kann es nicht ertragen. Niemals werde ich dich verlassen.“

Wilde verzweifelte Leidenschaft hatte ihn ergriffen. Er raufte sich die Haare. All der Gram der letzten 20 Jahre, in denen er nur für seine Frau gelebt und gehofft hatte, brach aus ihm hervor. Er hatte sich wahrlich geopfert. „Mein Leben ist dem Deinen gewidmet, mit deinem Leben fest verbunden. Einen anderen und größeren Trost kann ich dir nicht geben.“ Er schrie diese Worte fast.

„Vielleicht wirst du wieder gesund. Der Arzt in Paris hat uns Hoffnung gemacht. Er will alles versuchen um dich zu heilen.“ „ Hoffnung! Welch ein Wort. Ich kenne es nicht mehr.“ Eine Pause trat ein. Ihre Züge veränderten sich, würden düster. Hass loderte in ihren Augen, Hass gegen ihn, gegen alles Gesunde, alles lebenssprühende. Langsam sprach sie: „Warum gehst du nicht fort von mir? Warum überlässt du mich nicht meinem Schicksal? Ich sehe es dir doch an. Ich bin dir ein Hindernis, bin der Tod deines Lebens.“ „Wie du mich quälst, wie du mich quälst! Warum machst du es mir so schwer? Deine ewigen Zweifel sind unerträglich. Erinnerst du dich noch an die Worte des Priesters?“ rief er plötzlich und ein seltsamer Glanz trat in seine Augen. Langsam sprach er: „Bis das der Tod uns scheidet! Bis das der Tod…..“ Er hielt inne. Eine eigentümliche Leichtigkeit war über ihn gekommen, ließ ihn alles vergessen. Ein Jubel, eine Freude war in ihm, wie nie zuvor. Alles Irdische, alle Qual und Verzweiflung hatten sich von ihm gelöst, wurden mit einem Mal nichtig. Die Worte schwebten durch den Raum, durchdrangen ihn, hoben ihn weit über das Menschliche hinaus und machten ihn edel und groß. In seinen Ohren drangen die Worte des Priesters mit mächtigem Brausen. Ihm schwindelte. „Bis das der Tod uns scheidet! – Bis das der Tod uns scheidet!“

„Ja, ja, der Tod, “ sprach sie. „Der Tod hat Erbarmen mit mir, grausames Erbarmen. ER lässt mich leben, verhöhnt mich. Ich habe auf dieser Welt nichts mehr verloren. Ach Gott, wäre doch alles bald zu Ende!“

Die Stewardess kam herein. „In einer halben Stunde landen wir.“

Noch 20 Minuten – noch 10 Minuten – noch 5 Minuten.
Da! Plötzliches Stimmengewirr, wildes Geschrei. „Das Flugzeug brennt!“ Der Mann erwacht aus seinen Träumen, rennt zur Kabinentür, reißt sie auf. Angstverzerrte Gesichter starren ihn an. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt, jeder sinnt auf Rettung. Aber noch ist alles Bemühen zwecklos, das brennende Flugzeug, in den sie alle eingeschlossen sind, befindet sich noch in der Luft!

Unten ist schon der Flugplatz zu sehen! Jubelschreie ertönen. Hoffnung keimt auf. Der Mann hat alles um sich herum vergessen, auch seine Frau. Er steht wie gelähmt. „Rettung“, murmelt er. Da, ein Ruck! Das Flugzeug ist gelandet. Aber das Feuer greift schnell um sich, erfasst die Tragflächen und den Rumpf. Die Türen lassen sich in der Eile nicht öffnen. Die wilde, erregte Menge schlägt die Scheiben ein, zwängt, schiebt und quetscht sich hinaus. Plötzlich steht er alleine, verlassen in dem brennenden Flugzeug. Aus der Kabine ruft es mit schwacher Stimme: „Richard!“ Er dreht sich um und stürzt auf die Trage seiner Frau zu. Ihre Augen sagen ihm alles. Für sie gibt es keine Rettung mehr. Aber für ihn. Er kann durch das Fenster klettern. Was hemmt ihn? Seine Frau? Hatte sie nicht selbst gesagt: „Geh von mir!“ Wünschte sie nicht mit allen Mitteln den Tod herbei, die Erlösung. Sein Gesicht ist bleich Hektisch, mit irrem Blick schaut er sich um. Er spürt wie die jammernde Kranke sein Arme umklammert. Doch er reißt sich los. Das Feuer kommt immer näher, die Hitze ist unerträglich. Der Selbsterhaltungstrieb bohrt in ihm. Alle Lebenskräfte bäumen sich auf. Sehnsucht nach dem Leben, nach der Freiheit, nach der Sonne überfällt ihn. Wenn er nun zögert, ist alles zu Ende. Das große, grauenvolle Dunkel, der Feind allen Lebens wird über ihn kommen, ihn gnadenlos verschlingen….
Der Tod….. der Tod.
Ist er noch bei Sinnen? „Rette dich! Rette dein Leben! “ hämmert es in ihm. Sein Blick geht zur Seite, er schaut auf seine geliebte Frau, die angeschnallt auf der Trage liegt. Flehend streckt sie die Hände nach ihm aus. Da fällt jeder Lebenswille in ihm zusammen. Diese flehenden Hände! Der leiderfüllte Blick! Seine Worte fallen ihm wieder ein. „Nie werde ich dich verlassen!“ Er wankt und fällt auf die Trage nieder. Er vergräbt seinen Kopf in das Kissen seiner Frau. Seine Schultern zucken heftig vor Schmerz. Er hat sich überwunden. Den Beweis seiner Liebe will er mit dem Tod bezahlen. Er ist wie im Fieberwahn. Die Flammen kommen immer näher, sie umspielen schon die kleine Kabine. Nun kommt eine seltsame Klarheit über ihn. Er richtet sich auf und blickt in die Augen seiner Frau, aus denen seit langer, langer Zeit wieder ein freudiger Glanz strahlt. Seine Sinne verklären sich. Er sieht den Traualtar vor sich, den Priester mit erhobenen Händen und murmelt immer wieder: „Bis das der Tod uns scheidet.“
So sterben die Beiden langsam und qualvoll in den hoch aufschießenden Flammen.

Impressum

Texte: Die Geschichte wurde von Günter Brandt *1932 †2009 geschrieben. Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Das Cover ist aus 2 Fotos zusammengestellt Bild 1: von Daniel Garcia "fireball pretty" Bild 2 von uggboy♥ugggirl, "Wonderful London-Heatrow International Airport" Some rights reserved Quelle: www.piqs.de
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich habe diese Geschichte für meinen Onkel herausgebracht. Er hat es in seinen letzten Lebensjahren leider nicht mehr geschafft mit den neuen Medien zu arbeiten. Karin Blome

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