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Langsam strich ich mit allen Fingern meiner Hand über die glatt polierte Holzkiste. Ich konnte die Kälte spüren, die sich darunter verbarg und malte mir das Bild aus, das mich erwarten würde, wenn sich der Deckel öffnete. Totes, verwestes Fleisch, eingesunkene Lider, stockendes Blut, ein Herz, das nicht mehr schlug, geisterte in meinem Kopf herum.
«Steh da nicht nur faul `rum. Hilf mir lieber mit den Stühlen» ermahnte mich Vater als ich mich längst in all den unerfassbaren Gedankenbildern verloren hatte.
Es war der erste Tag meines Praktikums, das ich diesen Sommer im Bestattungsunternehmen meines Vaters zu bewältigen hatte. Ich sollte nun, mit meinen 16 Jahren, den Ernst des Lebens begreifen, die Luft der Arbeitswelt schnuppern und mein eigenes Geld verdienen. Das war ihm ein großes Anliegen, dem guten alten Herrn, ein Anliegen, dem ich mich nicht widersetzen konnte.
«Was glaubst du, Papa, passiert nachdem man gestorben ist?» fragte ich ihn als wir die Stühle für die Trauergäste in Reihen schlichteten und ich die Stille, die diesen tristen Saal beherrschte, nicht länger ertragen konnte.
«Naja, das kann ich dir schon sagen. Zuerst sperren sie dich in einen engen Sarg und stellen ihn gut zwei Wochen später in diese kleine bescheidene Halle, beschenken dich ein letztes Mal reich mit Blumen und Kränzen ehe sie dich zu Grabe tragen und in einem tiefen Erdloch für immer verscharren» war seine plumpe Antwort auf meine ernstgemeinte Frage, die mich schon seit Stunden plagte.
Sie ließ mich nicht los, weil ich keine Antwort darauf fand, egal wie lange oder intensiv ich darüber nachgedacht hatte. Ich wusste zwar, dass dies einer dieser Fragen war, auf die es keine richtige Antwort gab, doch ich wollte wenigstens eine finden die mich zufrieden stellte, an die ich glauben konnte.

Nachmittags traf ich Vitus am See. Wir hockten in der Wiese und ließen unsere käsigen Körper von der stechenden Sonne bräunen als sich die quälende Frage des Vormittags wieder langsam in meine Gedanken schlich.
«Alles klar bei dir? Du bist heut so still?» fragte Vitus und steckte sich eine Zigarette an. «Nö, nö, alles klar bei mir, sonnenklar» antwortete ich zögernd und gab ihm Feuer.
Nach etlichen Minuten des Schweigens wollte ich auch ihn fragen: «Sag mal, was denkst du kommt danach?».
«Nach was?» vergewisserte er sich und sah mich verwirrt an.
«Naja, nach dem Tod» half ich ihm auf die Sprünge «Hast du ne Vorstellung was dann mit uns passiert?».
«Hm, nein, hab ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Dauert ja hoffentlich noch, bis es soweit ist, aber wenn ich´s dann weiß, sag ich dir Bescheid» antwortete Vitus und klopfte mir grinsend auf die Schulter.
Er sprang auf und rannte in großen Schritten dem Wasser entgegen, setzte am Uferrand zu einem hohen Sprung an und verschwand kopfüber im kühlen Nass des Sees. Ähnlich wie die Antwort meines Vaters, war auch seine nicht besonders hilfreich. Im Nachhinein begriff ich, dass weder mein Vater, der von der jahrelangen Arbeit mit dem Tod längst abgestumpft war, noch Vitus, ein einfach gestrickter Junge meines Alters, der sich nur selten ernsthafte Gedanken machte, die Richtigen für meine Frage waren.

Nachts lag ich noch lange wach. Obwohl mein Körper längst hätte schlafen wollen, schwirrten tausend Gedanken durch meinen Kopf, die mir keine Ruhe gönnten. Zwanghaft wollte ich eine Antwort finden, eine Antwort die es nicht gab, doch die Vorstellung zu sterben ohne an etwas zu glauben, ohne eine feste Überzeugung zu haben, was danach geschieht, machte mir Angst.
Ich schlich leise in die Küche um mir ein Glas Milch zu holen, denn es hatte ohnehin keinen Sinn mich stundenlang im Bett hin und her zu wälzen. Dort brannte Licht. Meine Mutter war also noch wach, so wie ich es schon erwartet hatte. Sie war wie ein Nachtfalter, erst wenn es draußen dunkel wurde und alle schon lange schliefen, wurde sie aktiv und begann ihre Pflichten als nebenberufliche Hausfrau zu erledigen. Ich ließ mich am Küchentisch nieder und nippte an meiner eisgekühlten Milch.
«Na, kannst du nicht schlafen?» fragte meine Mutter besorgt, als sie die schmutzigen Teller von Essensresten befreite.
«Nein, irgendwie nicht. Ist so schwül da drinnen» antwortete ich und blätterte die Zeitung durch.
Damit gab sie sich zufrieden und nickte verständnisvoll, ohne weiter nachzubohren. Ich ließ ein wenig Zeit verstreichen, ehe ich mich traute auch ihre Sicht der Dinge zu erforschen.
«Kann ich dich ´mal was fragen?» begann ich diesmal mein Interview.
«Aber klar doch, mein Sohn, frag nur, was du fragen möchtest» sagte sie gewissenhaft.
«Was glaubst du, erwartet uns nachdem wir gestorben sind?» fuhr ich fort.
«Das ist eine interessante Frage, die ich dir aber leicht beantworten kann. Ich glaube, dass wir in den Himmel kommen, wo Gott bereits auf uns wartet und uns mit offenen Armen empfängt. Dort lebt unsere Seele dann in Form eines Engels weiter» gab sie mir blauäugig zur Antwort.
Ich brachte die Milch zurück in den Kühlschrank, stellte das Glas in die Waschmuschel und ging zur Tür.
«Danke, Mamsch! Gut´ Nacht» flüsterte ich ihr leise zu und schlich auf Zehenspitzen in mein Zimmer. Als ich wieder im Bett lag, dachte ich darüber nach, an was meine Mutter tatsächlich glaubte. Gott. Himmel. Als Engel lebt unsere Seele weiter. Irgendwie absurd, dachte ich, doch ich wollte über ihren Glauben nicht urteilen, immerhin hatte sie einen, im Gegensatz zu mir.

Am nächsten Tag war ich hundemüde. Ich konnte noch lange kein Auge zumachen und war sicher, dass ich nicht länger als drei, vier Stunden geschlafen hatte. Meinem Vater war das sichtlich egal. Er behandelte mich wie seinen Leibeigenen und war letztendlich sauer, dass ich mich vor jeder Arbeit drücken wollte.
«Riechst du wie es hier stinkt? Ja? Dann glaub nicht das sind die toten Körper, die in ihren Kisten verrotten. Nein. Das ist deine Faulheit, die hier die Luft verpestet» waren seine letzten Worte bevor er mich an diesem Tag frühzeitig nach Hause schickte.
Nachmittags kam meine Schwester mit ihrem neuen Freund zu Besuch. Leila hatte letzten Sommer beschlossen Ökologie und Ernährungswissenschaft zu studieren und in eine kleine Wohnung am Stadtrand zu ziehen, die meine Eltern bezahlten. Wir tranken Kaffee und aßen Kuchen während sie aus ihrem Studentenleben erzählte. Meine Eltern hörten dabei aufmerksam zu, nickten hin und wieder mit dem Kopf oder verdeutlichten ihre Aufmerksamkeit mit einem kurzen Lächeln. Ihren Freund Thomas schien das Ganze recht wenig zu interessieren. Er befummelte sie unentwegt unter dem Tisch und grinste dabei gleichbleibend in die Runde, so dass niemand etwas merken sollte.
Nachdem das Kaffeekränzchen beendet war, konnten meine Eltern dem Drang nicht widerstehen, Thomas ihre Münzsammlung im Wohnzimmer zu zeigen. Leila und ich blieben in der Küche zurück. Wir kannten dieses Szenario bereits und lästerten ausgiebig über diese furchtbare Eigenart unserer Ältesten.
Als uns die Worte dafür ausgingen, hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Das Ticken der Uhr an der Wand wurde lauter und die Stille bedrückender.
«Sag mal, blöde Frage jetzt, total unpassend, aber was glaubst du eigentlich, passiert mit uns nach dem Tod?» brach ich schließlich das Schweigen.
«Naja du, Bruderherz, fährst natürlich direkt zur Hölle» scherzte sie und brach in lautes Gelächter aus.
«Nein, jetzt mal im Ernst» sagte ich, nachdem sie sich beruhigt hatte.
«Also ich glaube an die Wiedergeburt. Nachdem wir tot sind, wandert unsere Seele weiter und wird in einem neuen Körper wiedergeboren» war sie der festen Überzeugung.
Noch bevor sie ihre Erläuterung fortsetzen konnte, kamen meine Eltern und Leilas Freund durch die Küchentür. Sein Gesicht sah plötzlich ganz anders aus, jetzt wo sich das Grinsen verflüchtigt hatte. In einem früheren Leben könnte er eine Eule gewesen sein, dachte ich und musste mir ein Lachen verkneifen.

Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit ging, waren meine Lider schwer wie Blei. Ich hatte große Mühe sie offen zu halten und die aufgehende Sonne brannte in meinen Augen wie nie zuvor. Auch in dieser Nacht konnte ich kaum schlafen. Die Wiedergeburtsgeschichte meiner Schwester bereitete mir noch lange Kopfzerbrechen, aber letztendlich war sie auch nicht das, an was ich glauben konnte.
Ich wusste, dass ich einen weiteren Tag ohne Schlaf nicht durchhalten würde, deshalb beschloss ich, meine zwanghafte Suche nach einer passenden Antwort vorerst aufzugeben. Immerhin hatte ich noch mein ganzes Leben dafür vor mir.

Das gewaltige Eisentor des Friedhofs stand weit offen als ich es durchquerte. So früh am Morgen war noch keine Menschenseele zu sehen. Ich schlenderte gedankenlos durch die vielen Grabreihen und genoss den stillen Frieden dieses mystischen Ortes. Als ich anhielt um meine Wasserflasche aus dem Rucksack zu kramen, sah ich einen Mann am anderen Ende der Reihe stehen. Er war alt und starrte, buckelig über das Grab gebeugt, auf den frischen Erdhaufen, der aus dem Boden ragte. Ich beobachtete ihn minutenlang, wie er, für mich unverständliche Worte vor sich hin murmelte. Bevor er ging, zog er vorsichtig ein weißes Briefkuvert aus der Jackentasche und lehnte es gegen das Holzkreuz. Als er das Eisentor passierte, näherte ich mich langsam dem Grab. Auf dem Kreuz las ich: Antonia Lehar 1916 – 2008. Zögernd griff ich nach dem Brief und sah mich um. Meine Neugier hatte die Vernunft besiegt. Ich öffnete das Kuvert, nahm den Zettel und faltete ihn auf. Es war ein Gedicht darauf geschrieben:
Nun geh ins Licht
wo keine Kälte dich mehr bricht
wo kein Schmerz dich noch berührt
weil dein Herz dich nicht mehr führt
Nun flieg, Seele, flieg
hinweg von Leid und Krieg
in die schwerelosen Weiten
lass dich vom Wind begleiten
Nun sei befreit
von allen Zwängen dieser Welt
von Raum und Zeit
zum Glück der Ewigkeit bereit

Ich las die Zeilen wieder und wieder, bis sich jedes Wort tausendfach in mein Hirn eingebrannt hatte. Ein Licht, dass mich wärmt. Kein Gedanke. Kein Gefühl. Nichts, das mich lenkt. Frei sein. Im Glück. Ohne Zeit. War ich nun sicher, die Antwort auf meine Frage gefunden zu haben.

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2009

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