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Wie ein aufgeschrecktes Reh flog ich durch das Unterholz des Waldes, den Hang des Berges abwechselnd erklimmend und hinabstürmend. Die Bäume waren nicht mehr als Schemen, dunkle Stützpfeiler des ebenso dunklen Nachthimmels – doch ich beachtete sie bloß, wenn ich einem von ihnen ausweichen wollte – konzentrierte mich stadtdessen auf den grünen Wiederschein der Laterne, die meine Frau trug und mir damit den Weg zu unserer verunglückten Tochter wies.
»Magda! Magda! Warte auf mich!« Meine Lungen brannten wie Feuer, mein Brustkorb fühlte so sich, an als wäre er mit Dolchen gespickt, trotzdem blieb ich nicht stehen, trotzdem hörte ich nicht auf, so laut wie ein wütender Troll zu schreien. »Magda! Wo ist unsere Tochter?«
»Eile dich, Liebster! Es ist nicht mehr weit«, kam die Antwort von weiter vorne. »Unsre Tochter ist dort vorne in eine Felsspalte gefallen und schwer verletzt.« Beflügelt von der Nähe zu meinem gefangenem Kind nahm ich noch einmal alle meine Kräfte zusammen und holte weiter zu meiner Magda auf.
Ich brach durch das Dickicht des Waldes auf eine felsige Lichtung, stolperte und riss mir den gesamten Unterarm bis zum Knochen an einer scharfkantigen Felszacke auf.
Doch selbst das konnte mich nicht stoppen und ich rannte weiter.
Irgendetwas wollte um alles in der Welt meine Aufmerksamkeit, jedoch verschwand es sofort wieder aus meinem Kopf, wenn ich es in mein Bewusstsein lassen wollte, ich konnte die Erinnerung einfach nicht greifen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – es wichtig für das überleben meiner Tochter war.
Die Talbewohner hatten uns vor den Gefahren gewarnt, die auf jeden lauerten, der auf dem Berg leben wollte, als wir auf der Flucht vor dem Krieg diesen Ort als unser neues Zuhause auserkoren hatten, und doch hatten wir eine Hütte auf dem Berg gebaut, nicht mit den anderen im Tal gelebt, sondern die Abgeschiedenheit hoch über den anderen in der Wildnis gesucht. Doch ich würde zu verhindern wissen, dass wir unseren Tribut an den Berg mit einem Leben bezahlen müssten. Erst recht nicht mit dem Leben unserer kleinen Tochter!
Ich presste meine Hand auf meine Wunde, meine Kleidung war an den Stellen, die noch nicht zu Fetzen zerrissen waren, blut- und schweißgetränkt.
»Hier, Liebster! Hier ist die Felsspalte!«
Gleich bist du da, schoss es mir durch den Kopf. Die Erleichterung war so groß, dass mir nicht einmal die grüne Farbe der Laterne seltsam erschien, die zwischen den Bäumen hindurchschimmerte.
Ich brach durch eine Gruppe von Büschen, und Erblickte meine Frau in ihrer ganzen Schönheit: Die eisblauen, sonst so wachen Augen waren gerötet, Tränen liefen ihr über die zarten Wangen, ihre wunderschönen, roten Lippen waren zu einem traurigen Lächeln erstarrt. Dunkle Locken klebten auf ihrer Stirn und ihr weißes Kleid, war beschmutzt mit Dreck und Laub.
Wieso wollte ich das Aussehen meiner Frau bis ins kleinste Detail in mein Gedächtnis einbrennen? Wieso dachte ich auf einmal nicht mehr an meine Tochter? Wieso trug Magda ihr Hochzeitskleid? Und warum hielt sie eine Laterne mit grünem Feuer in der Hand?
die Antworten auf all diese Fragen wurden mir auf einen Schlag klar, als mein Fuß ins Leere trat.
Und als der Schnitter mit seiner Sense ausholte, meine Gedanken klarer als ein Gebirgsbach im Frühling wurden, mein Leben vor meinen Augen Vorüberzog, da fiel mir wieder ein, an was ich mich so hartnäckig erinnern wollte.
Die letzten Worte der Dorfältesten, bevor wir uns von ihr verabschiedeten und mit dem Bau der Hütte begannen: »Und hütet euch vor den grünen Lichtern des Berges, denn der Tod ist das einzige, das sie beleuchten.«

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.12.2010

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Widmung:
Frohe Weihnachten Mithan wünscht dir Rashek

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