Kapitel 1
Die Gebetshalle füllte sich immer mehr. Rosafarbene Wolken kün-deten den nahenden Sonnenaufgang an. Die Messe würde bald beginnen, wodurch sich das Gedränge am Osttor nur noch verschlimmerte. Dieselbe Prozedur würde sich an diesem Tag noch zweimal wiederholen: Mittags am Südtor und abends am Westtor.
Nervös betrachtete Erya das Hereinströmen der Nitari – die von den Menschen als Lichtwe-sen bezeichnet wurden – vom Eingang der Priesterinnen hinter der gewaltigen Statue von Adreya, der Göttin des Lichts. Mit weit ausgebreiteten Armen und einem aufrichtigen Lä-cheln erhob sie sich zwanzig Meter aus leuchtendem Stein gehauen, bereit alle ihre Kinder und auch die Reumütigen in ihre strahlende Herrlichkeit zu führen. Sie war furchtbar aufgeregt, weil dies ihre erste Messe als Hohepriesterin war. Nervös nestelte sie ständig an ihrer neuen, weitgeschnittenen, weißen Robe, die mit goldenen und blauen Mustern an Ärmeln und Kragen verziert war, und ihrer Augenbinde, die sie trug um die Menschen und Nitari in ihrer Umgebung vor ihrem tödlichen Fluch zu beschützen, der jeden traf, dem sie in die Augen sah.
Nach den Nitari kamen die Menschen, sie waren einen halben Kopf kleiner als die vor ihnen gehenden Lichtwesen, leuchteten nicht und hatten dunklere Haare. Sie gingen leicht beschämt nach hinten, obwohl sie alle freundlich von jedem begrüßt wurden.
Plötzlich drehten sich alle Köpfe zum Eingang und ein und ein angewidertes Raunen erhob sich von allen Anwesenden.
Sie kamen zu dritt, waren von Kopf bis Fuß in dreckige Lumpen gehüllt und blickten nicht minder angewidert als die Lichtwesen und Menschen durch die Halle.
Natari. Schattenwesen.
Der Größte von ihnen zog sich seinen Lumpenumhang vom Körper, schlug sich die Hände vor die Augen um sie vor der ungewohnten Helligkeit zu schützen und sprach einige derbe Flüche. Allein für diese gotteslästerlichen Bemerkungen hätte Erya ihn am liebsten enthaupten lassen. Sie fand es allerdings seltsam wie elegant seine Kleidung war und warum er sie unter einem Mantel aus Lumpen versteckt hatte. Er trug ein weißes Rüschenhemd das in wildem Gegensatz zu seiner obsidianfarbenen Haut stand, darüber eine dunkelblaue Jacke und eine gleichfarbige Hose. Vervollständigt wurde das Bild durch ein Band aus schwarzer Seide, welches er um seinen Bauch gebunden hatte. Dies war ein Zeichen, dass er noch nicht gehei-ratet hatte, sonst wäre das Band rot gewesen. Er wirkte wie ein Edelmann, jedoch gab es keine reichen Schattenwesen, desweiteren war das Gewand verdreckt von der offensichtlich langen Reise. Aus seiner rechten Schläfe wuchsen Dornen. Allen Anführern der Kinder der Dunkelheit wuchsen Dornen an ihren Köpfen. Ihre Hierarchie folgte denselben perversen Idealen wie ihre Schöpferin, Namra.
Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten gab er den anderen Natari einen Wink ihm zu folgen und ging zügig zum Altar zu Füßen der Statue. Ihre Schritte verursachten nicht das geringste Geräusch, man konnte nicht einmal das Rascheln ihrer Gewänder hören. Einer von ihnen reichte ihm ein kleines Kästchen aus Holz, das er daraufhin ehrfürchtig auf den Altar stellte.
»Dies ist ein Geschenk an die neue Hohepriesterin des Lichts, Erya«, seine Stimme war ru-hig, freundlich, hörte sich wie Geflüster an, obwohl sie durch die gigantische Halle bis zum letzten Menschen drang. Er strich sich durch das lange, offene schwarze Haar bevor er weiter-sprach. »Die Anhänger von Enreal, dem Gott des Meeres und der Winde, Galdrun, dem Gott des Lebens und der Erde und von Namra, der Göttin von Nacht und Dunkelheit sind gekom-men um der neuen Hohepriesterin unsere Aufwartung zu machen. Gewöhnlich bleiben wir, um dem Gottesdienst beizuwohnen, aber ich glaube alle Anwesenden sind dafür wenn wir nach überbringen unseres Geschenkes wieder unserer Wege gehen.«
Zustimmendes Gemurmel machte sich unter den Nitari und Menschen breit, keiner wollte sich länger in der Gegenwart dieser Dämonen aufhalten, als unbedingt nötig. Erya musste etwas unternehmen, an ihrem ersten Tag würde sich ihre gesamte Zukunft entscheiden, wenn man sie nicht akzeptierte, würde sie nicht lange eine Hohepriesterin sein.
»Welches Geschenk haben mir drei so … fromme Pilger anzubieten, dass sie einen Akt der Ketzerei dafür ausüben, um es mir zu übereichen?« Sie hatte die schönste Stimme von ganz Galdrun – die Welt wurde zu Ehren ihres Schöpfers nach ihm benannt. Barden kamen aus allen Ecken und Enden der Welt um ihre Stimme in einem Gedicht einer Ballade oder einer Sage zu verewigen, bloß um enttäuscht oder unter Tränen wieder abzureisen, weil sie feststel-len mussten, dass sich diese Schönheit nicht in Worte fassen ließ. In diesem Moment jedoch war sie schärfer als eine gut geschliffene Klinge und kälter als das Eis in der tiefsten und äl-testen Gletscherhöhle. Zufrieden bemerkte die Hohepriesterin, wie ihre Gegenüber fröstelnd zurücktraten und ihre Gesichter nach Schnitten untersuchten. Natürlich fanden sie keine, je-doch rutschten die Lichtwesen in den ersten Reihen auf ihren Plätzen ängstlich ein Stück zu-rück.
Der Anführer der Dämonen hatte sich wieder unter Kontrolle, deutete eine höfliche Verbeu-gung an und begab sich auf die ihr gegenüberliegende Seite des Altars, wo er das Kästchen öffnete.
Erya erstarrte. Sie konnte nicht glauben was in dem Kästchen vor ihr lag: Ein Seidentuch, wie es die Natari trugen, jedoch war dieses blutrot. Sie hatte schon unverheiratete Frauen der Natari gesehen, oder verheiratete Männer – bei einer Heirat tauschten die Ehepartner ihre Bänder aus – jedoch hatte dieses rot etwas Gewöhnliches, Alltägliches an sich. Nie hätte sie es sich träumen lassen, dass jemand einen so anzüglichen Farbton dafür verwenden würde.
»Hoffentlich gefällt es Euch. Euer Vater überreichte es mir auf dem Sterbebett und ließ mich schwören, es Euch zu einem feierlichen Anlass zu überreichen«, das Schattenwesen blickte ihn aus feuchten Augen an. Er flüsterte, sodass nur sie ihn verstand. »Er war ein sehr ehrenwerter Mann, Euer Vater. Schade, Ihr hättet ihn kennenlernen müssen.«
»Woher kennt Ihr meinen Vater?« Sie musterte seine violetten Augen konnte aber keine Lü-ge darin erkennen. Sie fand die Augen der Natari seltsam, das Weiß war dunkelgrau, die Iris Rubinrot, Dunkelblau oder Violett und die Pupille so Schwarz wie die eines Menschen. Die Nitari hingegen hatten weiße Augäpfel, eine hellblaue, hellgrüne oder goldfarbene Iris und eine hellgraue Pupille. »Ich bin ein Waisenkind, von meiner Vorgängerin adoptiert und groß-gezogen worden, also woher kennt ihr meinen Vater?«
»Er war Soldat. Er liebte Euch über alles. Bitte, lasst mich und meine Gefährten weiterzie-hen. Wir haben unseren Auftrag getan und sind hier fertig.«
Erya hatte nicht vor die Drei ziehen zu lassen. Sie hatten ihren Vater einen ›ehrenwehrten Mann‹ genannt. Jedoch würde sich kein ehrenwerter Nitari mit diesen Ausgeburten der Nacht einlassen. Und um nichts in der Welt würde sie eine Befleckung ihres Tempels ungesühnt lassen.
Als sie erneut begann zu sprechen hallte ihre Stimme klar und verständlich durch den Saal. »Diese Dämonen haben einen heiligen Ort entweiht. Sie haben sich feindselig gezeigt und Adreyas Namen bespuckt und mit Füßen getreten. Sie glaubten dies tun zu können, weil mich ihre dunkle Göttin verflucht hat und meinten, ich stünde auf ihrer Seite. Doch ich werde heute ein für alle Mal beweisen – Euch und den Dämonen – dass ich mich von diesem Fluch nicht besiegen lasse. Aus diesem Grund werde ich unser Heiligtum bereinigen, indem ich den mir von Namra auferlegten Fluch verwende, um diese Bastarde in die Hölle zurückzuschicken, aus der sie gekrochen sind.
Desweiteren verfüge ich als neue Hohepriesterin, dass kein einziger von Euch seine Gebete an Adreya beendet und diesen Tempel verlässt. Auf diese Weise lernt ihr, wie es den Feinden des Lichts ergehen wird und Eure Gebete werden meine Botschaft bis zur Lichtgöttin tragen, auf das sie stolz auf ihre neue Stellvertreterin in dieser Welt sein kann!«
Die Menge bejubelte sie, als sie den Altar umrundete, ihnen den Rücken zukehrte und den drei Natari in die Augen sah. Sodann strich sie sich die strohblonden Haare aus dem Gesicht und zog sich die Augenbinde vom Kopf.
Eine entsetzliche Sekunde lang herrschte völlige Stille, dann, ohne jede Vorwarnung, weite-ten sich die Augen der Schattenwesen, ihre Mienen versteinerten in einer Maske des puren Entsetzens.
Und schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es Erya erschien, begannen die Schreie. Es waren die furchtbarsten Laute, die sie je vernommen hatte.
Manchmal erwachte sie schweißgebadet in der Nacht wegen eines Alptraums. Wenn sie dies Tat, betete sie die restliche Nacht und dankte Adreya, das sie nicht die Schreie derjenigen hören musste, die sie ohne ihre Augenbinde angesehen hatten. Sollte jemand auf dieser Welt je einen grausameren Weg zu töten ersonnen haben, als den, durch ihren Blick zu sterben, so hatte sie noch nicht davon gehört.
Sie wusste nie, wie lange die Schreie dauerten, diesmal war es grauenhaft. Nicht nur, dass es den Natari anscheinend noch mehr Qualen bereitete als einem Menschen, sie schrien auch viel länger. Die Nacht brach herein, als sie endlich verstummten. Jetzt erst bekam sie mit, dass alle Lichtwesen und Menschen – egal ob kleine Kinder, Heranwachsende oder Alte – hatten die gesamte Zeremonie über geweint. Der weiße Marmorboden der Halle war noch immer nass von den vielen Tränen.
»Hoffentlich haben alle gesehen, was mit den Dienern und Günstlingen der Dämonenkönigin Namra passiert, sollten sie uns angreifen«, sie befühlte ihre klitschnasse Augenbinde. »Aus Verständnis über Euer Entsetzen wird morgen kein Gottesdienst in der Gebetshalle stattfinden. Möge das Licht Euch beschützen und Euren Weg erhellen.«
Ihren Kammerzofen knallte Erya die Türe vor der Nase zu. Sie wollte jetzt – nein, sie musste jetzt – alleine sein. Es kreisten zu viele Gedanken durch ihren Kopf, als das sie sich mit Ge-sellschaft belasten. Sie sah sich vorsichtig in ihren Gemächern um, wollte sicher gehen, dass sie dort niemand überraschte. Die Gemächer der Hohepriesterin bestanden aus drei Räumen: das Schlafgemach, einem Vorraum für private Audienzen und einem persönlichen Schrein Adreyas. Alles war über und über mit Kissen, Teppichen und Vorhängen in Weiß und Blau bedeckt. Man konnte weder die Marmorwände noch die -böden erkennen. Ihre Ziehmutter hatte sie einmal einen ganzen Tag lang über die Heiligkeit dieses Ortes belehrt, weil sie be-hauptet hatte, dieser Ort sehe fast genauso aus wie ein Harem der Wüstenkönige. Der Gedan-ke an ihre Ziehmutter ließ sie erneut in Tränen ausbrechen.
Vor vier Tagen starb sie an einer schweren Krankheit. Auf dem Sterbebett hatte sie Erya darum gebeten, ihre Nachfolgerin zu werden. Sie hatte wie jetzt unter Tränen eingewilligt. Als sie zwei Tage später verbrannt wurde, konnte sie sehen, wie Adreya ihre Seele zu sich holte. Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren, war das einzig Gute an ihrem Fluch. Eine Seele zu erblicken war für sie beinahe so schön wie das Antlitz ihrer Göttin selbst zu sehen.
Erneut überprüfte sie skeptisch ihre Gemächer, dann zog Erya vorsichtig das blutrote Sei-dentuch aus ihrem Ärmel, wo sie es beinahe schon den ganzen Tag über versteckt hatte. Das Tuch war so breit wie ihr Unterarm lang und reichte ihr in der Länge zweimal von der Stirn bis zu den Füßen. Sie musste Lächeln bei der Vorstellung, was ihr Verlobter sagen würde, wenn sie bei seiner Rückkehr nichts als dieses Seidentuch tragen würde. Nach so viel Traurigkeit in den letzten Tagen tat dieser aufheiternde Gedanke gut.
Etwas in ihr fühlte sich zu diesem Stück Stoff hingezogen, wollte es behalten, während ein anderer Teil in ihr darum kämpfte, es zu verbrennen. Er verlor den Kampf sehr schnell.
Gähnend legte Erya sich auf ihr Bett und schlief ein, obwohl ihr Kopf noch voller Sorgen war.
»Erya, wach auf mein Kind«, die Stimme war ein einziger Ausdruck von Zuneigung und Lie-be. »Wir haben nicht viel Zeit. Bitte wach auf, Liebes.«
Als Erya die Augen öffnete, blickte sie in das freundlich schmunzelnde Gesicht von Adreya. Es war noch viel schöner als die Statue im Tempel, ja, sogar noch schöner als in ihrer Vorstel-lung. Golden leuchtend – schienen ihre Züge aus flüssigem Licht zu bestehen, ihre Augen strahlten weiß, ein Sinnbild der Reinheit und Unschuld. Das Mädchen kam sich schmutzig und befleckt vor, als sie die Erhabenheit an ihrer Göttin erkannte.
»Mach dir keine Sorgen um deinen Fluch«, sagte Adreya, die ihre Gedanken zu erraten schien, »ich bin nämlich gekommen um dich von ihm zu befreien. Hör jetzt aufmerksam zu! Ein Dämon Namras hat mich einem Teil meiner Kräfte beraubt. Du bist meine Hohepriesterin, und das zu Recht. Deshalb werde ich dich schicken, ihn zu diesem Tempel zu bringen und hier mir zu Opfern. Solltest du diesen Auftrag erfüllen können, werde ich die Macht haben, dich von diesem Fluch befreien.
Einige andere meiner Kinder werden ihn für dich außer Gefecht setzen, damit er deinen Fluch nicht benutzen kann, um dich zu kontrollieren. Sei pünktlich zum Sonnenaufgang am Osttor. Ich werde dir ein Reittier senden, welches dich zu diesem Dämon bringen wird. Viel Glück, mein Kind!«
Zum Abschied küsste Adreya Erya auf die Stirn. Die Berührung war von solcher Schönheit, das sie meinte, sie müsste auf der Stelle vergehen. Dann wachte die Hohepriesterin auf.
Es war noch etwa eine Stunde bis Sonnenaufgang. Der Himmel erhellte sich allmählich, ließ das Dorf Lagrid jedoch noch im Griff der Finsternis. Die Luft roch nach feuchtem Gras, altem Holz und nassem Stroh.
Eine Nitari wanderte vorsichtig durch das Gewirr von Gassen und Straßen. An jeder Ecke schaute sie sich nach allen Seiten nach nicht existierenden Verfolgern um. Nicht existierend deshalb, da ihr wahrer Verfolger auf dem Dach eines alten Silos für Getreide lag und sie seit gut einer halben Stunde beobachtete. Sie war zu nahe am Viertel der Natari, die sich alle ge-rade auf dem Weg nach Hause befanden, um tagsüber zu schlafen. Im Viertel ihres Volkes jedoch schlief alles noch, weswegen ihr Häscher geduldig wartete, bis sie sich weiter von den Schattenwesen entfernte. Seine goldenen Augen hefteten sich wieder auf ihren braunen Man-tel, als sie die Kreuzung erreichte, die ihr Schicksal entscheiden würde. Ginge sie nach rechts in die kleine Seitengasse, wäre es besiegelt, ginge sie geradeaus oder nach links, würde das Katz- und Mausspiel weitergehen. Er hielt den Atem an, spannte jeden Muskel in Erwartung ihrer Entscheidung. Sie zögerte, seine Fingernägel gruben sich in das Holz, so fest, dass ihm die Knöchel hell unter der obsidianfarbenen Haut hervortraten.
Als könnte sie seine Anspannung riechen, drehte sich das Lichtwesen noch einmal in alle Richtungen, sah sich gründlich um und ging dann in die kleine Seitengasse. Der Verfolger konnte sein Glück kaum fassen. In einer einzigen geschmeidigen, fließenden Bewegung erhob er sich von seinem Beobachterposten, hangelte sich an der Wand des Silos hinunter auf das Dach des nebenstehenden Gebäudes, nahm dort Anlauf und sprang in die Gasse, wo er hinter einem Stapel Kisten zum stehen kam. Die gesamte Aktion hatte kein einziges Geräusch verur-sacht.
Lauschend richtete sich der Jäger auf. Er wusste, sie konnte ihm nicht entkommen. Er hörte ihre Schritte durch die Gasse hallen, konnte ihren Geruch in der frischen Morgenluft deutlich riechen.
Er ging erneut in die Hocke, bereitete sich auf den Sprung vor.
Kapitel 2
Rashek sprang wild entschlossen hinter den Kisten hervor und starr-te in eine – bis auf einige Kisten, Ratten und Abfälle – leere Gasse.
Gerade wollte er sich umdrehen, als er von etwas unsichtbarem gegen die Wand gestoßen wurde. Wie aus dem Nichts wurde Lilian wieder sichtbar und konnte sich vor Lachen kaum halten.
»Ja ja, sehr witzig. Wie hast du mich bemerkt?« fragte er, sich verlegen am Kopf kratzend.
»Du hast ein Stück Holz vom Silo abgebrochen, das ich gehört habe«, antwortete sie , nach-dem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Du musst dich wieder einmal entspannen.«
Anstatt einer Antwort zog Rashek sie an sich und küsste sie. Als seine Hände langsam ihren Rücken hinunter fuhren löste sie ihre Lippen von den seinen und hauchte ihm zärtlich ins Ohr: »Wie ich sehe hatten wir die gleiche Idee, um uns zu entspannen.«
Sie drehten sich, so dass nun Lilian mit dem Rücken an die Wand lehnte. Seine Küsse wan-derten langsam ihren Hals hinunter, als sie beide ohne jede Vorwarnung aus der Gasse gezerrt wurden.
Rashek musste sich nicht einmal umsehen um zu wissen, dass sein Vater sie gefunden hatte.
»Rashek, hast du den Verstand verloren? Was fällt dir eigentlich ein, dich mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen? Wenn deine Mutter das erfährt kannst du richtig was er-leben!«, an Lilian gewandt fügte er hinzu: »Und du, junge Dame, solltest dich besser Schleu-nigst auf den Weg nach Hause machen. Und ich an deiner Stelle würde mir einige gute Aus-reden einfallen lassen, denn dein Vater wird sicher davon erfahren.«
»Ja, Hauptmann Meras. Ich werde mich sofort auf den Weg machen, Hauptmann Meras«, fügte sie kleinlaut hinzu.
»Und du, mein Sohn kommst jetzt mit nach Hause.« Seine Hellblauen Augen musterten ihn mit einem strengen väterlichen Blick. Er leuchtete heller als gewöhnlich – bei einem Nitari ein sicheres Zeichen dafür, dass er verärgert war. »Ich bin gespannt, was deine Mutter zu dieser kleinen … Geschichte sagt.«
Ihr Haus war aus Holz gebaut und hatte zwei Stockwerke. Rashek schlief immer auf einem Querbalken unter dem mit Stroh gedeckten Dach, weswegen er sich auch frühmorgens hatte aus dem Haus schleichen können; über die Stützbalken und zum Fenster hinaus, ohne ein ein-ziges Mal den knarrenden Fußboden zu berühren.
Myara, Rasheks Mutter erwartete die beiden bereits mit wütend verschränkten Armen an der Tür. Sie würde ihm eine Predigt halten, die er noch Monate später Wort für Wort auswendig aufsagen können würde.
Er wusste zwar, dass es seine Eltern nicht böse mit ihm meinten, trotzdem ging es Rashek auf die Nerven, für jede noch so unwesentliche Kleinigkeit wie ein Mörder behandelt zu wer-den. Sein Vater war ein Lichtwesen und Hauptmann der Wache, seine Mutter ein Schattenwe-sen und Priesterin in Namras Tempel.
Insgeheim rechnete der Junge schon die Tage Tempeldienst zusammen, die er wahrscheinlich als Strafe verrichten müssen würde. Er fand sich im gesamten Tempel allein durch die Kratzer im schwarzen Marmorboden zurecht, sooft hatte er ihn schon geputzt und auf Hochglanz poliert.
»Wo hat sich der Junge wieder rumgetrieben, Meras?«, war ihre schlichte Begrüßung. Sie bedachte Rashek mit einem stechenden Blick aus ihren dunkelblauen Augen, der ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb; durch seine obsidianfarbene Haut kam ein interessanter Pur-purton zustande.
»Rashek soll dir erzählen, was er beinahe angestellt hatte, wenn ich in nicht gefunden hätte«, gab sein Vater als schlichte Antwort zurück. »Ich muss noch mit Malor reden, die Sache mit seiner Tochter wird in nicht glücklich machen.«
Er gab Myara einen Abschiedskuss und machte sich dann auf den Weg. Seine Mutter bedeu-tete dem Jungen mit einem strengen Blick, ins Haus zu kommen. Widerstrebend trat er durch die Tür.
Auf der rechten Seite trennte ein aus Teppichen und Decken improvisierter Vorhang den Schlafbereich seiner Eltern von der Küche und dem Essbereich ab. Mutter und Sohn mar-schierten schweigend auf den Tisch zu und nahmen dort auf je einem grobgezimmerten Stuhl Platz.
»Also, ich höre junger Mann«, befahl Myara nach einer Ewigkeit, wie es Rashek schien.
» Ich … also … ich habe mich mit … mit Lili getroffen«, stammelte er niedergeschlagen.
Einen Augenblick lang glaubte er, dass er soeben sein Todesurteil unterzeichnet hatte, doch dann wurde das Gesicht seiner Mutter zu einem unerwarteten Ausdruck des Mitgefühls.
»Und deshalb hast du dich aus dem Haus geschlichen?« Rashek bejahte mit einem knappen Nicken. »Du hattest Pech, weil Meras früher wach wurde als sonst und bemerkt hat, dass du nicht im Haus warst.«
»Nein«, antwortete er grinsend, »ich hatte Glück, weil er mich nicht ein paar Minuten später gefunden hat.
Wie willst du mich bestrafen? Bitte, sag schnell, sonst komme ich zu spät zu meiner Arbeit.«
»Komm einfach heute vor deinem Vater nach Hause, bis dahin überlege ich mir etwas.« Ihr Ton hatte jegliche Schärfe verloren. »Wo arbeitest du eigentlich immer morgens?«
Rashek drehte sich an der Tür noch einmal um. »Ich helfe Malor, seinen Marktstand aufzu-bauen – zumindest habe ich das bisher immer. Vielleicht jagt er mich nach der Sache mit Lilian durch Lagrid. Dann hättet ihr alle was zu Lachen.«
Sich die Kapuze seines Mantels tiefer ins Gesicht ziehend ging der Junge in Richtung des Marktplatzes davon. Wegen seiner goldenen Augen und den silbernen Haaren im Kontrast zu seiner obsidianfarbenen Haut starrten ihn ständig jemand an. Viel störender jedoch war das goldene Muster auf seinem Körper.
Ein goldener Streifen zog sich seinen Schwanz und seinen Rücken entlang. Dieser teilte sich am Haaransatz
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2010
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