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Der Engel von Moskau


Der Engel von Moskau

„Denn wovon man sich beherrschen lässt, dessen Sklave ist man.“

Der Engel von Moskau schleicht durch die Gasse.
Hier ist das Sternenlicht abgedunkelt und der Mond wagt nicht einen Blick. Aus der Nähe tönt der Schrei einer Frau und ein wenig mattes Rotlicht schimmert auf die nassen Pflastersteine. Der Regen ist verstummt, die Ruhe nach dem Sturm bebt in ihren Augen.

Ihr Rücken schmerzt bereits und sie hört Stimmen.
In ihrem Kopf, unter den Pflastersteinen. Sie rufen von den Türmen und flüstern in ihrem Ohr. Sie sagen ihr, sie soll zurückkommen und nicht mehr der Engel von Moskau sein. Sie weinen. Es klingt süß wie Zabavnye-Konfekt und manchmal bleibt sie dann stehen, schließt die Augen und kippt sanft ein Stück nach hinten.
Der Boden öffnet sich, riesige Hände reißen ihn auf und warten darauf, sie zu fangen. Von da unten flüstert die Freiheit.
Aber noch bevor sie in den freien Fall eintritt, beginnen die blassen Narben zu schmerzen. Es ist ein pochender Schmerz, wie eine Infektion, und dann kriechen die weißen Maden über die Haut.
Wenn sie dann die Augen aufreißt und die Sterne kreisen und in Lichtspiralen vor ihr zurückweichen, schießt Panik durch ihren Körper. Die Maden krabbeln an ihren Schultern hoch, manche bis an den Hals und das Kinn. Sie schreit, sie fühlt eine Hand in ihrer und steht wieder alleine im nassen Moskau. Nur die Wärme bleibt zurück.

Heute wird sie nicht drauf reinfallen. Auch wenn die Stimmen sie anschreien, zischen und weinen. Nicht mal Moskau wird sie noch kriegen. Die letzten Nächte hat sie sie besucht, sich auf ihr Bett gesetzt und von den Engeln geredet.
„Ich habe mit ihnen geredet, in ihre schwarzen Augen geblickt und ihre Kinderstimmen singen gehört. Erst wenn die Wolken schlafen, kann man sie am Himmel erkennen. Bleiche Knochengestelle. Furchtsam und allein. Bei Gott, du willst doch kein Engel sein.“
Manchmal ist ihre Reue unerträglich. Sie wird Moskau vermissen und die Nächte mit ihren Töchtern. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Dann kracht ihr Rücken. Die Haut zerreißt wie Plastikfolie. Es fühlt sich an, als würden ihre Nerven unter Metallrädern zermahlen. Der Schrei bleibt im trockenen Hals stecken. Die Augen geschlossen wie im Tod hört sie, wie ihre Knochen einzeln knacken.

Stünde in dieser Nacht jemand hinter dem Engel von Moskau, könnte er in den splitternden Knochen die weißen Federkiele erkennen, die aus ihnen herausbrechen. Denn wovon man sich beherrschen lässt, dessen Sklave ist man. Und wovon man sich nicht beherrschen lässt, dessen Sklave ist man nicht.

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Tag der Veröffentlichung: 16.07.2012

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