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Küstennebel


Der trübe Nebel, der aus ihren Augen strömt, hat die ganze Stadt bedeckt. Das Rad der weißen Mühle schwebt ruhelos durch die grauen Schwaden. Der Wind pfeift scharf um den Kirchtum und die Wolken umwabern den Speicher No.5. Dort war es passiert.

Zu viel Wein. Sie hatte nicht zu ihm gehen dürfen. Aber nach zu viel Rotwein war sie doch gegangen. Vernebelte Augen, Rauch im Kopf. Schlechtes Gewissen. Harte Worte. Weiche Bettdecken. Die Pfarrerstochter und der Säufer. Ich muss zu Hause schlafen. Eiswind, Regen. Irgendwo bellt ein Hund. Da sind doch Stimmen... Ihr Herz pocht schneller. Sie atmet scharf ein und traut sich nicht, wieder auszuatmen. Und dann sind sie plötzlich da. Sie hat ein Messer an der Kehle und wird zu Boden gedrückt. Alles dreht sich. Ihr Gesicht berührt die Pflastersteine. Sie schlitzen ihr Kleid vom Nacken an auf und hinterlassen eine rote Linie auf ihrem Rücken. Sie schlägt um sich, dreht sich auf den Rücken. Immer noch betrunken. Plötzlich sind überall Wunden. Sie schreit. Tränen mischen sich in einer Pfütze mit Blut. Ein Schnitt teilt ihr Kleid vorne entzwei. Sie schließt die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie der stinkende Kerl ihre Brüste anstarrt. Sie sind vier und sie ist alleine, betrunken und verwundet. Sie gibt auf.

Sie liegt noch lange auf den nassen Steinen und hofft, dass der Regen sie sauber spült. Als der Nebel in ihrem Kopf sich lichtet, steht sie auf und versucht, mit den Fetzen ihres Kleides ihren Körper zu bedecken. Am Horizont wird die Nacht blass. Es ist fast Tag. Sie rennt über die Klappbrücke. Immer wieder stolpert sie, einmal fällt sie hin. Blut sammelt sich auf den Pflastersteinen. Sie steht keuchend auf. Es wird zu schnell hell. Die zwei Kastanienbäume sind schon in Sicht. Brennt da schon Licht? Sie eilt den gewundenen Pfad zu dem reetgedeckten Häuschen hinauf. Ihre Hände zittern. Schwankend stützt sie ihre Füße auf den Fensterrahmen und schiebt die quietschenden Läden auf.
In ihr Zimmer fällt nur ein Lichtstrahl. Hektisch tupft sie ihre Wunden ab. Überall tropft Blut. Warum nur hat sie sich gewehrt? Sie wickelt Mullbinden um ihre Arme und Beine und wäscht die Blutspur von ihrem Rücken. Überall aufgekratzte Haut und blaue Flecke. Wenn ihre Mutter das sieht, wird sie es ihrem Vater sagen und sie werden herausfinden, wo sie gewesen ist. Ihr Gesicht wird heiß vor Scham. Nein, niemand wird diese Wunden sehen.

Der Kaffee dampft und erfüllt die Küche mit seinem herben Geruch. Der Vater liest Zeitung, raucht und trinkt Kaffee. Die Mutter kaut schweigend. Plötzlich verschluckt sich der Vater und muss husten.
„Was ist denn los?“, fragt die Mutter desinteressiert.
„Zwei Vergewaltigungen wurden in den letzten drei Nächten gemeldet“, sagt er.
Blut schießt ihr in den Kopf.
„Und eine dritte wird vermutet. Am Speicher No.5 wurden Schreie gehört.“
Das Hausmädchen seufzt und bringt neuen Kaffee. Die Mutter schlägt die Hände vor den Mund.
„Agnes!“, ruft das Hausmädchen, „du bist ja ganz rot!“
Sie schüttelt heftig den Kopf.
„Ich fürchte mich nur.“

Auf den Schnitten hat sich Schorf gebildet aber manchmal sickert Blut hindurch. Es ist schon spät, doch sie sitzt noch auf dem Bett und reinigt ihre Wunden.
Dann steht sie plötzlich in der Tür.
„Agnes!“
Aussetzender Herzschlag. Aufgerissene Augen.
„Bitte, sag das nicht Mama. Die macht sich nur Sorgen. Und auch nicht Papa. Es ist ja gar nichts. Ich bin hingefallen!“
„Agnes! Die ganzen Wunden! Wie konnte das passieren? Du warst doch immer hier! Und das... ich mag's gar nicht sagen... die Schreie am Speicher. Wo warst du denn? Oh Agnes, ich muss deine Mutter holen. Warte hier.“
Das Hausmädchen verlässt das Zimmer.

Der Wind pfeift durch die halboffenen Fensterläden. Agnes steht langsam vom Bett auf. Sie spürt den Regen auf ihren Armen, als sie die Läden aufschiebt und in den Obstgarten klettert. Es ist kalt. Barfuß läuft sie durch die Pfützen auf der Klappbrücke. Das Wasser hat die Blutspuren weggespült. Es wird immer nebliger. Vom Kirchturm kann man nur durch Nebelschwaden schemenhaft die Stadt erkennen. Die Mühle, den Speicher, die Brücke, in der Ferne das Haus mit dem Obstgarten.
Sie schätzt die Höhe ab. Vielleicht fünfundzwanzig Meter zum Boden. Einmal froh, dass sie nicht fliegen kann. Sie stellt sich die Blutspuren vor, die bis an den kleinen Pfad zum Wasser spritzen. Sie entscheidet sich, noch einen Moment zu warten und durch die treibenden Nebel zu sehen.
Vögel schreien. Ihre Rufe klingen wie Klagen. Sie bereut, nicht einmal Stift und Papier für einen Brief dabeizuhaben.
Durch den Nebel segelt ein Schiff heran und legt an. Die Schreie der Seeleute dringen in Fetzen bis auf den Kirchtum. „Neufundland“, hört sie. Matrosen laden Kisten auf den Frachter. Langsam steigt sie die Stufen hinunter. Ihre Füße frieren. Es wird bald schneien. In dem dichten Nebel erkennt man sie kaum in ihrem weißen Kleid. Das Schiff trägt den Namen „Tolkien“. Sie klettert über die Reling, das Holz ist nass geregnet. Zwischen den Kisten ist ein Spalt, sie quetscht sich hinein.
„Bereit machen zum Ablegen!“
Durch den Nebel dreht sich ruhelos das Rad der weißen Mühle.

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Tag der Veröffentlichung: 16.07.2012

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