Saufen, saufen, saufen, saufen, saufen. Immer ging es nur um saufen. Nein, immer ging es nur mit
saufen. Saufen, um sich gut zu fühlen. Saufen, um sich schlecht zu fühlen. Saufen, um gar nichts zu fühlen. Zum kotzen
. Auch dafür: Saufen.
Heiner hatte schon seit Wochen nicht mehr gescheit geschlafen. Wenn er nicht trank, lag er meist lange wach, bevor der Schlummer ihn übermannte. Wenn er ihn überhaupt übermannte. Wenn er trank, schlief er meistens schnell ein, aber fühlte sich am nächsten Tag zerschla- gener, als wenn er gar nicht geschlafen hätte.
Gestern hatte er es geschafft: Er hatte getrunken, und hatte trotzdem bis es hell war wach im Bett gelegen. Er brauchte jetzt erst einmal einen Kaffee, denn am Aufste- hen hatte kein Weg vorbeigeführt. Also betrat er die Küche und suchte auf dem vollgestopften Regal nach Kaffee.
Es war keiner da.
Er schaute hinter den Konserven, hinterm Sekt, hinterm Vodka, nichts. Er musste sich wohl damit abfinden, heute keinen frisch aufgebrühten Kaffee genießen zu können. Er lies seinen Blick nochmals über das Regal schweifen. Soßen, Konserven, Gewürze, Cornflakes. Nudeln, Reis, Paracetamol, Tee. Tee!
Ob Teein oder Koffein war ihm völlig egal.
Beherzt griff er nach der Schachtel, die schwarzen Tee versprach: leer. Scheiße.
Dabei stieß er den daneben- stehenden Kakao um, dessen Pulver sich braun über den weiß gefliesten Küchenboden verteilte. Na toll. Auch das noch
, dachte er. Also ging er in die Abstellkammer, wo sich ein Besen fand, mit dem er die braune Substanz in kurzer Zeit unter die Anrichte gekehrt hatte. Die noch halbvolle Kakaopackung stellte er wieder zurück ins Regal, und bemerkte dabei, dass sich dort auch noch Cappu- ccinopulver versteckte. Wenigstens etwas.
Er kochte Wasser auf und bereitete sich eine Tasse Cappuccino zu. Dann ging er ins Wohnzimmer, setzte sich auf den Sessel und verbrühte sich die Zunge am heißen Kaffee.
"Aaautsch verdammt!"
Es war seltsam, seine eigene Stimme zu hören. Seit Tagen hatte er schon nicht gesprochen, er hatte nur gelauscht, auf die Stimmen aus dem Fernseher, doch selbst die erschienen ihm im Rückblick eher wie ein Rauschen.
Der Löffel kreiste in der Tasse, dabei pusten half, den heißen Trank abzukühlen. Vorsichtig nahm er einen Schluck und war erfreut, dass der Kaffee nun eine erträgliche Temperatur hatte. Er warf einen Blick aus dem Fenster.
Es war Frühling geworden in den letzten Wochen, die meisten der Bäume trugen ein neues Blätterkleid, welches in der Aprilsonne geradezu saftiggrün zu leuchten schien. Im Garten der Nachbarn blühten Stiefmütterchen in blauschwarz, in gelb, rot, und anderen Kombinationen. Er konnte nicht genau sagen, wann er das letzte mal vor die Tür gegangen war; es musste beinahe zwei Wochen her sein, und da nur zum Supermarkt, es war kalt gewesen, und wenige Tage davor hatte noch Schnee gelegen.
Heiner hatte einmal ein gesellschaftliches Leben gehabt. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er noch seinen Job als Schweißer gehabt, und Kollegen, die er fast Freunde nannte. Er hatte einiges vom Land gesehen, hatte sogar auf großen Baustellen im Ausland gearbeitet, sogar in Italien. Das war ihm fast wie ein Urlaub vorgekommen.
Lange hatte er vorgehabt, sich weiterzubilden, Möglich- keiten genug hätte es gegeben, doch dann machte der Betrieb pleite. So begann die Zeit des Klingelputzens. Viele Betriebe, die einstellten, gab es sowieso nicht, und die Reaktionen, die er von ihnen bekam, waren immer anders begründet, doch immer sagten sie das Gleiche aus: es tut uns Leid, nein danke.
An den Abenden traf er sich in der Eckkneipe mit seinen ebenfalls arbeitslos gewordenen Kollegen, und sie berichteten sich gegenseitig von ihren jüngsten Fehl- schlägen. Es wurde herumgesponnen, welche Alternativen es denn gäbe, und auf die Regierung geschimpft. Klaus Schräder meinte irgendwann, er würde ins Ausland gehen, nach Skandinavien, denn dort sei die Lage weitaus besser, und Fachkräfte wie sie würden "händeringend gesucht!" Er hatte ihn gefragt, ob er nicht mitgehen wollte. Heiner hatte nein gesagt.
Er wusste nicht genau warum, irgendetwas hatte ihn dazu bewegt, es weiterhin in der Heimat zu versuchen. Seine Ehe war schon Jahre vorher zerbrochen, und außerdem war sie kinderlos geblieben. Seine Eltern waren schon verstorben. Eigentlich hielt ihn nichts, doch er blieb, und suchte weiter.
Das war Monate her. Die Hoffnung auf einen neuen Job war inzwischen verschwunden. In die Eckkneipe ging er nach und nach immer seltener, zu hause trinken war einfach günstiger. Außerdem wurde die Runde immer kleiner, die anderen hatten entweder ähnliche Probleme, oder hatten es geschafft und verkehrten nicht mehr in diesen Kreisen. Und Klaus hatte sich tatsächlich verdrückt.
Er stellte die leere Tasse auf den Tisch und blickte zum Telefon. Das hatte auch schon lange keinen Ton mehr von sich gegeben. Aber daneben lag ein Notizbuch, in dem auch die Nummer von Klaus in Schweden zu finden war. "Fallse es dir doch noch anders überlegen solltest, ne." hatte er damals in seiner typischen Art gesagt. Schon lange hatte er nicht mehr daran gedacht. Warum eigentlich nicht?
schoss es ihm durch den Kopf. Ja.. aber zuerst noch ein Kaffee. Ein starker.
Er ging in die Küche und kochte sich einen weiteren Cappuccino. Diesmal fügte er dem Getränk einen ordent- lichen Schuss Korn hinzu. Danach ging er zurück ins Wohnzimmer und suchte im Notizbuch nach Klaus' Nummer. Da!
Er rührte seinen Cappuccino spezial noch einmal um und nippte dann daran. Ja, er war trinkbar. Er nahm einen großen Schluck.
Dann nahm er das Telefon in die Hand. Dann legte er es wieder weg. Um noch einmal einen Schluck des Heißge- tränks zu sich zu nehmen. Und noch einen. Es war heiß, aber es tat ihm gut. Als die Tasse geleert war stellte er sie weg und griff erneut zum Telefon.
Diesmal wählte er die Nummer - und verstand nicht warum er es nicht schon früher getan hatte. Freudig-gespannt lauschte er den Wahlgeräuschen, die aus dem Hörer drangen. Und nach vielleicht zwanzig Sekunden, die ihm wie eine halbe Ewigkeit erschienen, hörte er etwas aus dem Telefon und fing sofort an zu sprechen. "Klaus? Hier ist Heiner...", doch weiter kam er nicht, denn aus dem Telefon erklang statt Klaus' Stimme nur: "Du-Dü-Di Kein Anschluss unter dieser Nummer Du-Dü-Di Kein Anschl.."
Er legte auf. Die Resignation grub sich in sein Gesicht, als er aufstand und in Richtung Küche lief. Jetzt war es Zeit für den zweiten Cappuccino spezial. Nur diesmal ohne Cappuccino.
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(c) Simon Fuchs 2009
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2010
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