Cover


Leise rauscht die Kollau an meiner Seite. Wage kann ich in der Dunkelheit erkennen, wie das kalte Wasser über die dunklen Steine gleitet. Das Mondlicht umrandet die Blätter über mir.
Plötzlich ein Knacken, ein Rascheln. Schnelle Schritte, die immer näher kommen.
Es ist soweit.
Die Dunkelheit umarmt mich. Jeder einzelne Muskel ist angespannt, wie bei einem Raubtier. Jede einzelne Faser meines Körpers schreit nach ihr.
Ein Reh. Ein kleines Reh springt aus dem Gebüsch, erblickt mich mit seinen glitzernden Augen und galoppiert fort in die Nacht.
Falscher Alarm. Wo bleibt sie?

Ich habe geträumt, wie die funkelnde Klinge meines Messers ihre Kehle küsst, wie ihr eigenes Blut ihre Haut liebkost und ihre Lippen vor Schreck geweitet beben. Ich streiche über ihre Haare. Fahre ihr sanft über Stirn, Nase, Kinn während meine andere Hand die Klinge tiefer in ihren warmen, duftenden Hals versinken lässt. Lange wird sie meiner Umarmung nicht mehr widerstehen können. Und dann, wenn es soweit ist, wird sie in meine Arme sinken. Und ich, ich ganz allein, werde sie halten. Ihr allerletzter Atemzug wird mir gehören. Nur mir allein.


................................................




Ich bin spät dran. Hell hallen meine Schritte durch die Nacht. Der Wind schneidet mir ins Gesicht. In der Ferne leuchtet das U-Bahnschild der Haltestelle Jungfernstieg. Das blaue Licht wetteifert mit dem Gleißen des großen, weißen Apfels über dem Store. Eine zusammengekauerte, graue Gestalt schläft am Treppenabsatz, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ein Glitzern der Augen? Eine Bewegung des Mundes? Kurz zögere ich, husche dann aber doch in den hellen Tunnel. Ich bin allein, ich scheine der einzige Mensch in Hamburg zu sein, der um 11 Uhr nachts an einem Montag nach Hause fährt.

Mitten in der Nacht schrecke ich auf. Schnell mustere ich den Raum. Das Licht der Straßenlaterne und der Strahl der vorbeifahrenden Autos lassen den Schatten des Fensterrahmens durch das Zimmer gleiten, erhellen kurz den Schreibtisch, den Stuhl mit dem Klamottenhaufen und schließlich sein und dann mein Gesicht.
Ich berühre seine Augen, fahre die Nase entlang, streichle seine rauen Lippen. Wie sie sich im Schlaf zu einem Lächeln kräuseln und meine Fingerkuppe mit einem Kuss umarmen.
Zuhause. Mein Atem beruhigt sich. Zuhause, denke ich, zuhause. Zuhause in Sicherheit.


................................................




Sie hatte wieder einen Alptraum. Ich konnte förmlich hören, wie ihre Augen weit aufgerissen den Raum nach bekannten, vertrauten Konturen durchsuchten, ihre Lungen nach Luft japsten und die Angst, die Angst vor ihm, ihr Herz zerquetschte, als er wieder in ihren Traum eindrang.
Er verfolgt sie. Uns. Ist immer da, kommt immer mit.

„Was starrst du mich so an?“, fragt sie. Ein unsicheres Lächeln ziert ihr Gesicht.
„Du bist schön“, wispere ich in die Nacht.

Ihr Finger streicht über die Linien meiner Hand, verirrt sich in den Mustern.

„Danke“, flüstert sie. Ihr Blick fixiert meine Augen.


................................................




„Shit!“, fluche ich. Ein Blick auf die Analoguhr neben dem Bett verrät mir, dass ich schon viel zu spät dran bin. Schon wieder.
Vorsichtig befreie ich mich aus seiner Umarmung, drücke ihm einen Kuss auf die Schläfe und mache, dass ich aus dem Haus komme.


................................................




Sie ist spät dran, als sie zur Arbeit ins Bucerius Kunstforum geht. Ich beobachte sie aus dem Fenster, Winke ihr übertrieben zu. Sie winkt zurück, lacht über meine Albernheit.


................................................




Ein mauvefarbener Fleck nähert sich von weitem. Schnell bewegt er sich über den Rathausmarkt, nähert sich mir immer schneller. Sie kommt. Bald ist sie mir wieder ganz nah. Ich bücke mich über den Stadtplan aus Messing, die vor der Kunsthalle steht. Als ob mich die winzigen Skulpturen von Häusern und Kirchen begeistern könnten.
Durch das Stimmengewirr hindurch kann ich hören, wie ihre Absätze auf das Pflaster schlagen, wie ihr Atem vor Anstrengung keucht. Ich wette, sie trägt die roten Schuhe. Nein, sie würde niemals rot und Mauve zusammen anziehen… Dunkelbraun?
Ein schneller Blick auf ihre Schuhe verrät mir, dass ich richtig liege. Mal wieder.
Mein Herzschlag passt sich ihren immer lauter werdenden Rhythmus ihrer Schritte an. Ich will sie berühren, sie spüren, ihr kastanienbraunes Haar endlich durch meine Finger gleiten lassen!
Und dann ist sie an mir vorbei und der Moment ist so schnell verflogen, wie die fetten Tauben auf dem Platz das Weite vor den kreischenden Kindern suchen.

Ich atme tief ein und folge ihrem Duft.


................................................




„Kacke, Kacke, Kacke!“, murmele ich, drücke mich am Empfangstresen vorbei, grüße die Mitarbeiter und schlängele mich durch den Besucherstrom hinein in die Ausstellung.
Die kühle Luft und die fast erhaben wirkende Stille umfangen mich und ich atme tief ein.


................................................




Dort steht sie. Ihre Kontur umrahmt vom dreidimensionalen Kunstwerk Mattas. Jede Leinwand etwa zwei Mal einen Meter groß. Ein Rotes, bedrohlich wirkendes vor ihr, zwei Grüne zu ihrer Seite und ein Gelbliches über ihrem Kopf.
Die Farben um ihren Körper herum scheinen zu explodieren, zu brodeln.
Ich schmiege mich an die schwarzen Wände der Ausstellungshalle.

Ihr Stift an ihren Lippen. Schlägt zweimal auf. Die Schläge werden von ihren weichen Lippen gepolstert. Ihre Zähne liebkosen sanft die Stiftspitze.
Dann wieder konzentriertes Kritzeln in ihren Notizblock.

Langsam strecke ich eine Hand nach ihr aus.


................................................




Mattas Werk „Die großen Erwartungen“ ist eine Installation aus drei Leinwänden. Durch die Bilder wird eine neue, durch Kunst erschaffene, dreidimensionale Raumstruktur erschaffen. Die Emotionen des Betrachters verschmelzen mit denen des Bildes. Der Betrachter wird zum Teil des Kunstwerkes.

Was er wohl gerade macht? Ich denke an seine blitzenden Augen, sein schiefes Lächeln, seine Stimme …


................................................




Ich stehe direkt hinter ihr. Der Duft ihres Haares hat sich in den letzten Jahren verändert. Er ist herber, wärmer geworden. Pinie?
Meine Hand schwebt über ihrer Schulter.
Meine Fingerkuppen ertasten fast die feinen dunklen Härchen ihres Nackens…


................................................




Eine Hand berührt mich sanft an der Schulter und lässt mich aus meinen Gedanken hochfahren. Ich drehe mich um, setze ein einladendes Lächeln auf und bereite mich auf ein nerviges Gespräch mit einem der mehr oder weniger interessierten Besucher vor.

„Entschuldigen Sie“, fängt er an. „Ich habe mich nur gefragt, was sie so an diesem Bild fesselt, auf das sie da starren“

Er lächelt freundlich. Sein Gesicht, es kommt mir so bekannt vor, aber ich kann es einfach nicht einordnen… Woher kenne ich ihn?

„Nun ja“, beginne ich, „es ist eines seiner späteren Werke. Sehen Sie, zum Beispiel das über uns, „wo der Wahnsinn haust“ …“


................................................




Ich nicke interessiert, gebe zustimmende Laute von mir und bemühe mich, mein Gesicht von ihr abgewendet in Richtung der Bilder zu halten.
Ihre Stimme wiegt meine Ohren in eine beruhigende Trance.
Ich greife in meine Tasche, streiche sanft über die glatte Klinge meines Messers. Zischele ihm meinen Auftrag zu.


................................................




Wenn sie zurückkommt, werden sie der Duft von frischen Blumen, das Odeur von frisch gebackenen Brötchen, das Parfum von selbstgemachter Erdbeermarmelade empfangen. Und dann werde ich sie endlich fragen.


................................................




„ … es ist die Hinwendung zu einem anderen, auf prekäre Einflüsse aufmerksames Bewusstsein“, sage ich. Aus den Augenwinkeln bemerke ich viel zu spät das Aufblitzen einer Klinge an meiner Brust.

Er ist es.
Er hat mich gefunden.
Er ist es!

Die Angst verschnürt mir die Kehle. Mein Herz droht meine Brust explodieren zu lassen. Tränen erkämpfen sich ihren Weg in meine Augen, überschwemmen meine dunkle Iris, fallen zu Boden, wie ich mich unter dem Stich der Klinge krümme.


................................................




Ich verziehe den Mund.
Ich sollte glücklich sein, über die Klinge in ihrem Herzen.
Sollte endlich erleichtert und befreit sein. Stattdessen starre ich auf sie hinunter, wie sie sich lautlos kämpfend zu meinen Füßen windet.
Ich lege den Kopf schief, ziehe die Augenbrauen zusammen und beschließe schnell das Weite zu suchen.


................................................




Die Türklingel schellt durch die Wohnung.

„Jahaaa!“, singe ich, hüpfe fröhlich zur Tür und öffne Sie mit einem Schwung. „Bist du also doch schon früher von der Ar ..“ der Rest des Satzes bleibt mir in der Kehle stecken.
„Kann ich Ihnen helfen?"

„Dürfen wir reinkommen?“, fragt mich die Polizistin leise. Sie und ihr Kollege drücken sich einfach an mir vorbei und steuern auf den gedeckten Tisch zu. Verwirrt folge ich ihnen.

Sie nennt fragend meinen Namen, blickt mir in die Augen. Ich nicke. Obwohl sie noch jung ist, ist ihr kleines Gesicht von dunklen Schatten und dünnen Fältchen um ihre Augen gezeichnet. Beide haben ihre Mützen abgenommen. Ihr ernsten Blicke ruhen auf mir. Ich werde unruhig. Was ist passiert?

Sie wiederholt meinen Namen und räuspert sich.

„Es tut mir Leid Ihnen das mitteilen zu müssen, aber ihre Freundin wurde heute morgen tot aufgefunden.“

Tot. Tot wie die verdorrten Blätter im Hof. Tot wie der metallene Ring, der sich tief in mein Fleisch gräbt.
Ich nicke, als würde ich verstehen und starre auf die Tischdecke.

„Wie“, frage ich und es ist mehr Laut als Wort.

Die Polizisten tauschen einen sorgevollen Blick. „Sie ist ermordet, genau genommen erstochen worden, im Museum, wo sie arbeitet. Mitten im Ausstellungsraum. Es gab einen riesen Aufstand und die Leute, die ...“ Ihr Kollege blickt sie ermahnend an und sie räuspert sich. „Ein Krankenwagen wurde gerufen, aber er kam zu spät. Es tut mir Leid.“


................................................




Ich liege auf meiner Pritsche, zusammengerollt. Meine Augen sind weit geöffnet, meine Muskeln schmerzhaft verkrampft. Was ist falsch gelaufen?
In Gedanken gehe ich jeden einzelnen Schritt durch, Durchlaufe jede Bewegung, Durchlebe jeden Moment ein zweites Mal. Analysiere meine Schritte, ihre Schritte, mein Standverhältnis zu ihrem Körper …
Ich komme einfach nicht dahinter.
Was habe ich falsch gemacht?


................................................




Ob sie schmerzen hatte? Natürlich hatte sie! Sie wurde ermordet.
Ermordet.
Von ihm?
Ob sie wohl an mich gedacht hat?
Wie konnte ich nur so dumm sein, mich um so nichtige Sachen wie Essen zu kümmern, während er bei ihr war.
Warum war ich nicht bei ihr?


................................................




Warum konnte sie nicht schon vorher mir gehören?
Daran ist bestimmt dieser Typ schuld, mit dem sie jetzt zusammenlebt. Lebte.
Dieser Arsch hat mir meinen Moment versaut!


................................................




Ich muss ihn drankriegen.


................................................




Ich muss endlich aufhören mir so viele Gedanken zu machen. Ich muss ausgeruht sein, wenn ich ihm gegenüber stehe.


................................................




Ich kann nicht schlafen, ich spüre, dass sie hier ist. Sehe sie in jedem Kissen, jedem Löffel, jedem Möbel- und jedem Kleidungsstück.
Ich stehe allein im dunklen Zimmer.
Meine Finger streichen über die glatte Oberfläche der Fensterscheibe.
Mein Blick sucht und findet sie nicht.
Wo bist du?


................................................




Er hat seit zwei Wochen das Haus nicht verlassen. Die Gardinen sind zugezogen. Die Blumen in den Kästen auf dem Balkon verdorrt.


................................................




Irgendwo muss er doch sein … Fieberhaft durchsuche ich ihr Jahrgangsbuch, mustere die Gesichter und suche nach einer passenden Fratze für ihren Mörder.

Das erste Mal hat er sie auf dem Schulhof angesprochen. Er war damals eine Klasse über ihr.
Das zweite Mal auf dem Parkplatz, nachts. Sie kam gerade von einem Geburtstag. Das Lachen blieb ihr bei seinem Anblick in der Dunkelheit im Halse stecken.
Er hat ihr geschrieben, kleine Zettel, sie er in ihre Tasche schob.
Zuerst hat sie mit ihren Freundinnen drüber gelacht. Aber dann wurden die nachrichten immer lüsterner, immer besessener. Sie hat ihm gesagt, er solle aufhören, endlich verschwinden.

Aber er ist geblieben.
Dieses kranke Schwein.

Ich ersticke fast in dieser Luft. Das Fenster klemmt, schließlich reiße ich es mit einer ruckartigen Bewegung auf.
Und da steht er. Starrt hinauf. Direkt in meine Augen.


................................................




Schaue dem Feind direkt ins Gesicht. Zeige keine Furcht.
Seine Augen fixieren meine. Lodernder Hass.
Ich recke den Hals, halte mein Gesicht stolz empor. Die Sonne küsst mein Gesicht.
Langsam hebt er ein Telefon zu seinem Mund und spricht hektisch in den Hörer.
Mach du nur, denke ich und lächle.


................................................




Er ist einfach weg. Hat sich umgedreht und ist einfach in den nächsten Bus gestiegen und weggefahren.
Aber ich kriege dich.


................................................




Sie verfolgt mich. Lässt mich nicht mehr los.
Aber dieses Mal ist sie hässlich. Ihr Gesicht ist vor Schmerz verkrampft, an ihrem Mund klebt getrocknetes Blut. Ihre Augen sind rot unterlaufen und starren mich an.
Ihr Blick schmerzt fast physisch. Durchbohrt mein Fleisch.
Ich starre sie an und sie starrt zurück.
"Geh!", zische ich. Aber sie gehorcht mir nicht mehr.
Läuft still hinter mir her. Ihre helle Haut reflektiert den Mondschein.
Warum ist sie so anders?


................................................




Ich sitze auf dem Bett und starre auf die Wand, an der ich Bilder von potentiellen Tätern mit Zetteln, Informationen und Indizien durch einen blauen Wollfaden verbunden habe.
Seit Tagen zermatere ich mir schon das Hirn, wer es war.
Zum tausendsten Mal in dieser Woche laufe ich zum Fenster und sehe nach, ob er da ist.
Aber nur ein Polizeiauto mit einem schlafenden Polizisten stört den Morgen.


................................................




Verschwinde! Ich winde mich in meinen Bettlaken, drohe mich zu erwürgen, zu erdrosseln …
Ihre Berührung versengt meine Haut, ihre Schreie verschmelzen mit meinem Kreischen zu einem ekstatischen Gellen, das die Nacht durchbricht, sich schmerzhaft in meine Ohren gräbt und mich zu zerfleischen droht während ihre kurzen Nägel über meine Kopfhaut schaben.
Lass mich!


................................................




Ich habe ihn. Das ist er.


................................................




Ihre kalten Finger legen sich um meinen Hals. Wie Schlangen ziehen sie sich fester um meinen Adamsapfel. Ihre Lippen an meinen Ohren. Das Knabbern wird zu einem Beißen, zu einem Zerren. Sie drückt immer … fester … zu …

„Polizei!“ bellt eine Stimme und die Tür birst unter dem Gewicht des Polizisten. „Schnell, holt ihn da runter!“, befiehlt er und seine Handlanger gehorchen ihm.

So süß. So süß schmeckt der Tod.


................................................




Sie haben ihn gefunden. Er wollte sich erhängen, hing schon am Strick, das Schwein.
Wütend knülle ich die Zeitung zusammen, schleudere sie in den Papierkorb, verfehle.

Ich bücke mich, um sie aufzuheben. Meine Arme versagen und ich breche auf dem Boden zusammen. Weinkrämpfe schütteln meinen Körper. Ich spüre, wie die Adern auf meiner Stirn anschwellen, kneife meine Augen zusammen und werfe den Kopf in den Nacken.

Die Tränen brechen wie ein erlösender Monsun über mich herein. Ihre Stimme, ihre Berührung, leicht wie eine Frühlingsbrise, streichen besänftigend über mein Gesicht … berührenüber die Narben auf meinem Herzen.

Sie ist fort.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.01.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /