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„So, Frau Bloomberg. Ihre Medikamente“, sagt Schwester Anna während sie mit einem Tablett scheppernd den Raum betritt. Leichtfüßig geht sie auf mich zu und kniet neben meinen Stuhl nieder. Sie braucht nicht lange, um eine Vene zu finden.
„Wie geht es uns denn heute?“, fragt sie obwohl sie ganz genau weiß, dass ich nicht antworten kann. Heute könnte ich ihr noch nicht einmal ein richtiges Zeichen geben, noch nicht mal mit der Augenbraue zucken, selbst, wenn ich wollte. Ich liebe es ihr beim reden zuzuhören. Sie erzählt mir oft von sich. Ihren drei wundervollen kleinen Kindern. Von ihrer winzigen Wohnung über der Schnellstraße. Von ihrer Scheidung.
„Sie haben mir den Strom abgedreht“, wispert sie während ihre kühlen glatten Hände mein schütteres Haar zurückstreichen und in meinem Nacken zusammenbinden. Ich würde ihr gerne meine Hand auf die Schulter legen. Aber stattdessen liegen meine Hände sorgfältig arrangiert in meinem Schoß. Wie verwelkte Blätter sehen sie aus, nutzlos, kraftlos, tot. Wie der Rest meines Körpers. „Heute Abend komm ich wieder und überprüfe ihren Puls“, verspricht Schwester Anna und lässt mich alleine zurück. „Geh noch nicht!“, will ich rufen. Stattdessen dröhnt die Stille in meinen Ohren. Nur noch ganz leise kann ich ihre Schritte dumpf durch den leeren Flur hallen hören. Sie hat meinen Rollstuhl vor das Fenster gerückt. Ich starre auf den leeren Parkplatz vor meinem Fenster und wünschte ich könnte die vertrocknenden Blumen vom Sims schubsen.
Ich beobachte gerne, wie die Besucher auf dem Heimparkplatz ankommen. Wie sie aus ihren Autos steigen. Oder wieder nach Hause fahren. Eine schmale Frau und großer Mann steigen aus einem schwarzen Auto. Ihre Haare glänzen kupfern im blassen Sonnenlicht. Die Frau schirmt ihre Augen ab und schaut hoch zu meinem Fenster. Sie entdeckt mich und berührt ihren Bruder am Arm. Sie winken und gehen auf die Tür zu.
Mein Herz schlägt schneller und ich würde wie verrückt lächeln, wenn ich könnte. Es sind meine Kinder. Rosa und Theo. Sie küssen mich zur Begrüßung auf die kühle Wange. Aber ich kann nur starr dasitzen, wie ein Stein, eine Statue. Kann keine Regung zeigen, egal wie sehr ich sie in die Arme schließen will oder auch egal wie sehr ich sie liebe. Und ich liebe sie so sehr.
Obwohl ihre Besuche immer öfter in gezischten Beleidigungen und stechenden Blicken enden. Meistens geht es um meine Pflegekosten. Oder das Erbe. Ich bin ihnen nicht sauer deswegen. Ich verstehe, dass sie ihre eigenen Familien haben. Aber es tut mir weh sie so unglücklich zu sehen.
Vorsichtig schließe ich meine Augen und das letzte was ich sehen kann ist, wie sich das dünne Netz meiner Wimpern über die vor Wut und Schmerz verzerrten Gesichter meiner Kinder senkt.
In meinem Kopf kann ich wieder zu Hause sein. Kann die goldenen Sonnenstrahlen auf meiner Haut spüren, das Salz in der Luft schmecken und die Wellen rauschen hören. Rosa liegt in meinen Armen. Meine eine Hand stützt ihren winzigen Kopf während die andere ihren zerbrechlichen Körper schützend gegen meinen presst. Ich beobachte, wie sie langsam ihren zahnlosen Mund wie eine Schildkröte zu einem Lächeln formt und ihre dicken Finger nach meinen fragen. „Mama! Mama, guck mal!“, ruft Theo, breitet die Arme wie ein Flugzeug aus und rennt auf uns zu, hinter ihm wirbelt der Sand. Sein weißes T-Shirt reflektiert das Licht und scheint gegen den blauen Himmel. „Theo!“, lacht Malte und lässt sich kichernd neben Rosa und mich plumpsen. Seine dunkelblauen Augen glitzern im Schatten und seine braunen Haare fallen ihm ins braungebrannte Gesicht während er sich runterbeugt um mir einen Kuss ins feuchte Haar zu drücken.
„Mama! Mama, wach auf!“, fleht Rosa panisch und tätschelt mir verzweifelt die Wange. „Lass sie schlafen“, flüstert Theo und versucht sie an der Schulter zurückzuziehen. Ihre Gesichter verschwimmen und meine Tränen bahnen sich langsam einen Weg durch die Furchen in meiner Haut. Ich weiß, dass es für heute zu spät ist zurückzukehren. Ich muss warten, bis ich sie wiederhaben kann.

Es ist dunkel um mich herum und die Menschen im Saal starren gebannt auf die flackernde Leinwand. Ich kuschele mich ein wenig tiefer in die roten Polstersessel, atme den süßlichen Duft von Popcorn ein und lehne mich an die Schulter neben mir. „Nimm meine Hand, wenn du Angst hast“, raunt Malte mir ins Ohr und aus den Augenwinkeln kann ich seine Grübchen sehen. „Pscht! Der Film fängt an“, flüstere ich, erwidere sein Lächeln und grabe mein Gesicht in die Mulde zwischen seinem Kopf und der Schulter.

Das reißende Geräusch von zurückziehenden Vorhängen und das grelle Tageslicht reißen mich aus dem Kino. Ich muss noch immer unsern ersten Film denken, als Schwester Anna mich aus dem Bett und in die Wanne hievt. Munter plätschert das Wasser und seine Wärme umarmt mich tröstend. Vorsichtig fährt sie mit dem Schwamm über meinen runzligen Körper. Sie hebt erst die Arme, dann die Beine. Ich kann ihr nicht helfen. Ich wünschte ich könnte. Ich bin wie Rosa damals- fast knochenlos. Weich und haltlos. Muss gestützt und beschützt werden, weil ich es selbst nicht mehr kann.
Schwester Anna schiebt meinen Rollstuhl vor das einzige Fenster im kleinen Raum und öffnet es einen Spalt breit, damit frische Luft das Zimmer durchströmen und ich das Schnurren der Motoren, das Wirrwarr der Stimmen hören kann. Während sie mit mir redet verschwindet der Parkplatz und sie selbst vor meinen Augen und der karge Raum mit den abblätternden Blütentapeten, dem Krankenbett, den alten Fotos in kitschigen Rahmen und vergilbenden Büchern verwandelt sich in ein abgedunkeltes Kinderzimmer.
Ich sitze an einem kleinen Bett, halte Theos glühende, blasse Hand und wache über seinen Schlaf. „Wird Theo wieder gesund?“, fragt Rosa mit großen Augen und ich höre die Angst in ihrer dünnen, hohen Stimme beben. Müde formt mein Mund ein Lächeln und ich strecke meine Hand aus, um ihr die Haare aus ihrem zarten Gesicht zu streichen. Ich mache mir nichts vor, ich versuche Zeit zu schinden, die Antwort so lange wie möglich hinauszuhalten. „Rosa, natürlich wird er das! Sag doch nicht so was. So was darf man noch nicht einmal denken“, flüstere ich zärtlich und bete, dass sie nicht sieht, wie meine Augen feucht werden und ich meine Lippen aufeinander presse. Ich schlucke die Tränen hinunter und halte ihr kleines besorgtes Gesicht in meinen Händen. Mit nur einer Berührung kann eine Mutter Trost schenken, Hoffnung geben und Schmerz lindern. Nur wage erinnere ich mich an das Gefühl ihr ein und alles zu sein. Ihr Beschützer vor bösen Träumen. Diejenige, die ihre kleine Welt wieder aufrichtet und mit nur einer simplen Geste ein Lächeln auf ihre Gesichter zaubern kann. Ich konnte ihrem Gesichtsausdruck mit nur einem liebevollen Blick die Schwere nehmen und den alles zerreißenden Schmerz wegpusten. Ich war ihr Fels, ihre Mama. Heute brauchen sie mich nicht mehr und ich bin nur ein weiterer Ballast auf ihrem Portemonnaie.

Der stechende Schmerz lässt mich aus meiner Erinnerung fahren. Ich bin wieder im hier und jetzt. Und meine Kinder brauchen mich nicht mehr. Niemand braucht mich.

Tag für Tag sitze ich hier am Fenster. Tag ein Tag aus. Werde gefüttert, gebadet und wie eine Schaufensterpuppe sorgfältig arrangiert. Ich kann spüren, wie ich jeden Tag immer schwächer und hilfebedürftiger werde, wie immer mehr Kraft aus meinen Gliedern fließt. Es fing in den Zehenspitzen an und arbeitete sich immer weiter hoch. Wie ein hungriger Parasit. Eine wuchernde, unaufhaltsame, lähmende Krankheit. Es ist ein warten auf das Ende. Ein banges Hoffen darauf, dass es möglichst schmerzfrei und schnell wird. An guten Tagen schaffe ich es meine Fingerspitzen zu bewegen und meine dünnen ausfransenden Lippen zu so etwas wie einem Lächeln zu verziehen. An schlechten Tagen fällt es mir sogar schwer ein simples Röcheln hervorzustoßen. Ich bin ein wacher Geist, voller lebhafter, schillernder Erinnerungen gefangen in einer kränklichen, starren, sterbenden Hülle.
Langsam verfärbt sich der Himmel dunkel und der glühende Ball verschwindet zögernd hinter den Dächern. Schwester Anna beginnt mein Bett für die Nacht abzudecken. Sie summt ein Lied. Ihre Stimme klingt weich und jung. Die vertraute Melodie erfüllt den Raum und die ruhigen, hellen Töne lullen mich in den Schlaf.

Sanft und leicht umspielt das Kleid meine Knöchel. Meine Zehen graben sich in den warmen Sand. Ich höre die Möwen singen, das Wasser säuseln und das Gras wispern. Eine Haarsträhne hat sich in mein Gesicht verirrt. Sonnenstrahlen küssen meine Haut und der sachte Wind liebkost mich.
„Ich habe schon so lange auf dich gewartet“, höre ich es wispern und drehe mich herum, sodass ich direkt in die Sonne blicken und meine Augen zusammenkneifen muss. „Malte?“, flüstere ich. „Wer den sonst?“, lacht er.
Wortlos streckt er eine Hand nach mir aus. „Komm mit, Rosa und Theo warten schon auf uns“ In der Ferne kann ich das Lachen zweier Kinder hören. Ich schließe meine Augen und genieße den Augenblick. Ich lege meine Hand in seine. Ich fühle den Sand mit jedem Schritt mehr unter meinen nackten Füßen nachgeben und fühle den Sog, der alles hinter mir aufwirbeln und verschwinden lässt.
Hand in Hand gehen wir nach Hause. Endlich bin ich da.

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Tag der Veröffentlichung: 24.01.2012

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