Cover

Einleitung

 

Mau-Mau-Siedlung wurden in Teilbereichen der Bundesrepublik Deutschland ab Anfang der 1950er bis in die 1970er Jahre hinein soziale Elendssiedlungen genannt, die am Rand kriegszerstörter deutscher Städte errichtet worden waren. Der Begriff Mau-Mau-Siedlungen wurde im Rheinland, dem Ruhrgebiet, Bergischen Land, Braunschweig, Hamburg, Ingolstadt, München und Berlin gesichert verwendet. Bewohnt wurden diese zu großen Anteilen von Flüchtlingen und Vertriebenen sowie Ausgebombten, die der Arbeiterklasse entstammten. Die Bewohner dieser Siedlungen wurden vom mittelständischen Volksmund ab den 1950er Jahren abwertend als Mau-Maus bezeichnet, unter Bezugnahme auf den Mau-Mau-Krieg 1952 in Kenia. Man glaubte Verhaltensähnlichkeiten wie die Zerstörungswut der Aufständischen zu erkennen. Als die Siedlungen Ende der 1970er Jahre saniert wurden, verschwand die Namensgebung fast gänzlich. Gelegentlich taucht der Begriff Mau-Mau-Siedlung in Pressemeldungen nochmal auf, der tatsächliche Zusammenhang zum Mau-Mau-Aufstand in Kenia ist aber in Vergessenheit geraten.

 

Der Segeroth war von Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts ein Industrie- und Arbeiterviertel in der Stadt Essen, oft als Wilder Norden bezeichnet. Es lag nordwestlich der Innenstadt zwischen Altendorf, Bochold und Altenessen. An seiner Stelle befindet sich heute ein Teil des Nordviertels mit dem Campus der Universität Essen.

Durch die schweren Bombenangriffe des Krieges im März 1943 wurde der Segeroth stark zerstört und nach dem Krieg nur sporadisch wiederaufgebaut. Die meiste Wohnbebauung verschwand dann in den 1960er Jahren, letzte Reste 1972 mit Baubeginn der Universität.

 

Quellen: Wikipedia

Prolog

 

Let the Midnight Special shine her light on me.

Let the Midnight Special shine her ever-livin' lights on me.

When you get up in the morning, when that ding dong ring.

You make it to the table, see the same old thing.

And up on the table, than the pots and the pans, Lordy.

And if you say a thing about it, have trouble with the man.

Let the Midnight Special shine her light on me.

Let the Midnight Special shine her ever-livin' lights on me.

Yonder comes a little Nora, how do you know?

I know her by the apron and the dress she ware.

Umberella on her shoulder, piece of paper in her hand,

Well, I'm callin' that sergeant to release her man.

Let the Midnight Special shine her light on me.

Let the Midnight Special shine her ever-livin' lights on me.

 

Dave „Pistol Pete” Cutrell (1926)

 

___________________

 

 

 

Neun Gramm müssten reichen. Das ist nicht zu viel und nicht zu wenig. Vielleicht höre ich noch das Klicken, und dann nichts mehr. Nur noch Dunkelheit und Stille und alle Probleme lösen sich im ewigen Nichts auf. Was für ein geiler Abgang - mit Stil und ultimativer Eleganz. Die werden noch in ein paar Jahren mit Respekt von mir reden. Und was kann ich mir schöneres Wünschen, wenn mir Irene dabei den Schwanz leckt - und ich kann dir sagen, das kann sie gut. Aber ich habe nun mal meine Prinzipien. Alles muss seine Ordnung haben, und die Sauerei danach, auf meinem wertvollen Marmorboden und womöglich an den Wänden und den Bildern stört mich gewaltig.  

 

Eine Villa in Bredeney, ganz in der Nähe vom alten Krupp war schon immer eines meiner ganz großen Ziele. Endlich bin ich da angekommen, wo ich immer hin wollte - dahin wo das alte Geld zuhause ist. Mein Traum hat sich erfüllt, und das können nur Wenige von sich behaupten? So eine Hütte hat doch was? Nur mein Abgang beschäftigt mich mehr, als ich angenommen habe? Ist mein Zögern Schwäche?

Auf meinen exquisiten Geschmack bin ich besonders stolz. Alles was ich besitze, ist vom Feinsten, bezahlt und mein Eigentum mit dem ich machen kann, was ich will. Dazu gehört auch Irene, meine geliebte Frau. Irene ist handverlesen und absolut vorzeigbar. Ich habe Irene geheiratet, weil sie zu mir passt und etwas hermacht - optisch gesehen - und auch etwas mehr als die Durchschnittsfrau in der Birne hat. Außerdem ist sie ohne lange Diskussion für jede Schweinerei zu haben. Wenn ich es ihr sage, treibt sie es auch mit Bobby, meinem Staffordshire Bullterrier, und der ist aus einer ganz feinen Zucht und absolut reinrassig - was Irene nicht ist. Aber das stört mich nicht weiter, weil ich es auch nicht bin.   Obwohl ich eher der sicherheitsbewusste Typ bin, habe ich sie geheiratet. Für mich war die Heirat eine wichtige Entscheidung. Frauen haben mich zu oft enttäuscht, und normalerweise denke ich schon an die Folgen einer möglichen Trennung, bevor ich die Muschi besitze. Vielleicht ist meine Sentimentalität mein Problem. Ich habe es nie gesagt, aber ich muss zugeben, dass Irene nur eine Liebe, aber nicht meine ganz große Liebe ist. Das hat seinen Grund: Ich glaube nicht mehr an die einmalige, die besondere Liebe, aber irgendwie hänge ich an ihr, so wie ich am Leben hänge.

Ich denke zu viel über die großen Zusammenhänge nach, und nicht an das Naheliegende. Wie sieht das denn aus, wenn mein Gehirn an der Wand klebt, und ihr hübsches Gesicht mit Blut und meinem Brägen bespritzt ist? Aber kann mich das jetzt noch interessieren? Eigentlich nicht. Nur der Gedanke, dass sie womöglich erschrickt, und ich mit abgebissenem Schwanzreststück in der Hölle ankommen könnte, stört mich doch sehr.

 

Ich fang wieder an zu träumen und sehe in den strahlend, fast unnatürlich blauen Himmel. Das Wetter ist zu schön zum Abtreten. Vielleicht sollte ich noch ein paar Stunden warten. Noch ist nicht aller Tage Abend. Irene sieht mich erwartungsvoll an - zuzwinkert mir sogar zu - das freche Stück. Die Augen von Irene sind wunderschön und ihr Lippenstift ist etwas verschmiert - blutrote Spuren an meinem Schwanz - wie symbolische Zeichen von kommenden Problemen. Die werden mir nicht den Schwanz abschneiden, so weit gehen die nicht, oder etwa doch? Womöglich mir mein Gehänge ins Maul stopfen und sich darüber lustig machen? Ich mag gar nicht weiter darüber nachdenken.

Irene sieht mich an, als ob sie ein Lob erwarten würde. Sie liebt mich, und ich streichle zweimal anerkennend über ihr Haar. Ich rieche ihr Parfüm. Es ist Opium von Yves Saint Laurent. Ich mag den schweren, etwas nuttig wirkenden Duft, und ich mag den Anblick, wenn Irene Schwänze leckt. Sie hat Schwänze lutschen zur ästhetischen Kunstform gemacht, und ich könnte ihr dabei stundenlang zusehen. Aber was rede ich? Was bedeuten Augenblicke, Stunden und Tage, wenn alles vorbestimmt und unabänderlich ist? Auf was noch warten - auf den Weihnachtsmann im Mai? Wenn ich es jetzt nicht mache, dann machen die das, und dann läuft das anders ab. Die begraben mich und ich muss den Dreck schlucken - jedenfalls so lange, bis ich ersticke, oder mit eingedrückten Rippen elendig krepiere. Wie es sich anhört, wenn Rippen brechen, weiß ich. Das hört sich etwa so an, wie wenn man mit der flachen Hand auf einen matschigen Lehmboden schlägt. Danach kommt ein eigenartiges, fast schönes Pfeifen – leise und gleichmäßig, und für den der das schon mal gehört hat, eine intensive und unvergessliche Erfahrung. Das kommt von den Knochen, die sich in die Lungen bohren. Wie sich meine splitternden Knochen anhören werden, will ich nicht hören. Wenn ich Glück habe, schlagen die mir vorher mit einer Schaufel den Schädel ein - der Freundschaft und der alten Zeiten willen. Und dann, wenn die mich lebendig begraben haben, pissen die auch noch auf mein Grab - das ist so sicher, wie das Amen in den Kirchen. Und das wollen Freunde fürs Leben sein? Schöne Freunde sind das. Aber wie ich es auch betrachte, ich habe beschissene Aussichten und die Wahl fällt mir leicht. Irene bewegt langsam, fast träge den Kopf, und sie sieht mich dabei wieder mit ihren großen, blauen Augen an. Sie ist dankbar, weil sie weiß, dass ich nur ihr Bestes will. Sie ist ja nicht doof, und sie kennt die Gerüchte, die in der Szene kursieren. So etwas kann man nicht unter der Decke halten. Irgendeiner hat ihr bestimmt gesteckt, dass schon bald Veränderungen anstehen. Aber meine Angelegenheiten und mein Nachlass sind geordnet, und ich liebe Irene. Sie weiß noch nichts davon, aber für sie ist gesorgt. Ich habe sie einem Kumpel versprochen, und bei ihm wird sie es gut haben. Sie wird die nächsten drei Jahre im Flatrate-Puff vom Russen arbeiten, und Jewgenij wird dafür sorgen, dass ich ein Begräbnis mit allem Schickimicki bekomme. Sogar eine geile Dixi-Band ist schon engagiert, die wird Midnight Special[1], eines meiner Lieblingsstücke spielen.

Du findest, dass das nicht sehr optimistisch klingt? Das stimmt, aber das geht mir ja auch nicht am Arsch vorbei, immerhin geht es um meinen Arsch, und der ist mir heilig.

Was der Grund für meinen Sarkasmus ist? Der Grund für die Scheiße, die mir bis zur Oberkante der Unterlippe steht, ist  dieses blöde Buch, und meine innere Stimme, die mir immer wieder gesagt hat: „Bring dein Leben in Ordnung.“ Aber was war es in Wirklichkeit? Es war meine Eitelkeit, und die Angst, dass nach mir kein Hahn krähen wird, wenn ich der Nachwelt nicht irgendetwas von bleibendem Wert hinterlasse. Das klingt banal, aber wenn ich die letzten Jahre ändern könnte, dann hätte dieses Buch nie geschrieben werden dürfen. Schon das Gerücht, dass ich an einer lückenlosen Autobiografie schreibe und nichts weglasse, war mein Todesurteil. Am Anfang vielleicht nicht so konkret, und gesagt hat es auch niemand, aber alle haben es gedacht und gehofft, dass einer den Mut aufbringt und es macht. Solche Sachen laufen immer gleich ab. Zuerst kommt ein beiläufiges „vielleicht wäre es besser, wenn der für einige Zeit verreisen würde.“ Das sind so die üblichen Vorzeichen. „Eine Reise machen“, oder „mal ausspannen“ gibt es in meiner Branche nicht. Es gibt keine ehrlichen Freunde, es gibt ehrliche Feinde, und manchmal frage ich mich, wer gefährlicher ist. Ich kenne die geheimen Codes zu Genüge, und ich kann sie deuten. Solche Andeutungen sind der Anfang vom Ende. Und dann, wenn zustimmendes Kopfnicken kommt (und alle, sogar meine angeblich „besten Kumpels“ haben genickt), garniert mit einem klaren „der muss verschwinden, der kann uns alle in Schwierigkeiten bringen“, ist die Sache beschlossen, und niemand kann das was kommt aufhalten. So fängt das immer an, wenn einer aus der Szene zur Gefahr für die Anderen wird. Wenn du dazu gehörst, weißt du Bescheid, und wer sich nicht an die Regeln hält, muss weg. Ich sehe es klar und nüchtern: Das sind die Tatsache. Ich kann nicht mehr zurück, weil ich es nicht mehr ungeschehen machen kann.

 

[1] Von der Ken Colyer Skiffle Group. Die Version von Alexis Korner gefällt mir am besten, aber der ist ja auch schon tot.   

 

Arschkarte

 

Am Start kann man die Sieger erkennen –

nicht nur die Sieger, auch die Verlierer.

Zitat aus dem Film „Es war einmal in Amerika“

 

___________________

 

 

Wie angenehm hätte alles werden können, wenn es nach den strohblonden Gehirnen gegangen wäre. Die selbsternannten Herrenmenschen hatten sich ihre neue Welt schön zusammengeheilt. Hier die guten Herrenmenschen, und am unteren Ende die Parias. Die Gegensätze finden nicht zusammen. Jeder will oben sein. Oben und unten, Gut und Böse, und am reindeutschen Wesen sollte der untermenschliche Scheiß-Rest der Welt genesen - oder nach Madagaskar (oder sonst wohin) verschwinden. In den schmalspurigen, braunen Hirnen war das großkotzig angedacht. Aber grau ist jede Theorie. Die hätten es bei großen Reden und kleinen Biertisch-Taten belassen sollen. Mit den Träumen vom Herrenmenschen ist das so eine Sache für sich, und die mussten ums Verrecken wieder marschieren. Ein paar Jahre später lagen tausend Jahre großdeutsches Heil in Scherben. Morgenthau durfte Deutschland in einen Kartoffelacker verwandeln, und dazu mussten die Bomber der Alliierten den Ruhrpott, die Städte und Industrieanlagen immer und immer wieder umpflügen. Ganz nebenbei hatten die Alten die Fäuste der Weltgemeinschaft mit Anlauf in die vorlauten Fressen bekommen.

Um sich nach der Stunde Null mit der Fassade des braven Gutmenschen zu tarnen, hätte eigentlich eine ordentliche Tracht Prügel für die nächsten tausend bis zehntausend Jahre reichen müssen, aber manche sind wie Zombies. Die kann man zwar mit einer Schaufel erschlagen und vergraben, aber die verändern sich nicht. Irgendwann kriechen die wie Untote aus ihren Löchern - und es sind die gleichen dumpfen Arschlöcher die sie schon immer waren.

 

Die Gnade meiner späten Geburt, hatte mich davor bewahrt, am großen, vaterländischen Krieg teilzunehmen. Man kann es betrachten wie man will. Mein Start war schon mal nicht schlecht, denn ich hatte schon immer ein zwiespältiges Verhältnis zum uniformierten Marschieren. Mit Waffen sieht es anders aus. Einerseits lehne ich jede Form von Gewalt ab, aber andrerseits muss ein Mann auch manchmal tun, was ein Mann tun muss. Dazu gehört zum Beispiel, dass es in bestimmten Situationen besser ist, zuerst abzudrücken. Ich weiß, dass in der Ruhe die wahre Kraft liegt, und ein vernünftig geführtes Gespräch deeskalierend wirkt. Verstehen ist das Eine. Den Kopf einziehen und alles hinnehmen das andere. Und dann gibt es noch eine dritte Variante. Das soll nicht wie ein hilfloser Entschuldigungsversuch für mein Totalversagen und den Zusammenhang von Ursache und Wirkung klingen. Wer mich kennt, kann das bestätigen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ein guter Sohn und rechtschaffener Steuerzahler zu werden. In einer braven, bundesdeutschen Familie wäre mir das auch gelungen. Ich hätte regelmäßig an den Zitzen meiner Mutter genuckelt und brav mein Bäuerchen gemacht. Ich wäre ein rosiger Wonneproppen geworden und hätte mir die Knie beim Rollerfahren aufgeschlagen. Einige Jahre später hätte ich eine pummelige und toupierte Friseuse geheiratet und mein Schrebergarten und meine Tauben wären mein ganzes Glück gewesen. Mit einem anderen Start hätte es so laufen können, aber bei mir ist alles schiefgelaufen, was nur schieflaufen konnte. Über die möglichen Ursachen habe ich oft nachgedacht. Vielleicht lag es nur an der Zeit. Eine Ursache für das Totalversagen meiner Alten mag sein, dass die Ideale der geschlagenen Männer, die wie durch unzählige Wunder die Höllen der Blutfelder überlebt hatten, im Dreck der endlosen, russischen Steppen, in Smolensk, am Kaukasus, auf dem Monte Cassino, in Frankreich, in Nordafrika und irgendwo zwischen Maas, Memel, Etsch und Belt verloren gegangen waren. Die Mehrzahl der Deutschen konnte das irgendwie wegstecken, und viele dachten vermutlich: „Arsch lecken und Schwamm drüber, das Leben geht weiter. Ein paar Jahre malochen, und alles sieht wieder besser aus.“ Egal wie es in den Hirnen aussah, die meisten Deutschen hatten etwas in sich, was nicht mit Geld und Besitz aufzuwiegen war. Das waren der Mut anzupacken, und dazu die Zuversicht, den Dreck wegzuräumen, und das Zerstörte besser und schöner aufzubauen. Die wiedererwachende Industrie brauchte Kohle. Kohle brachte die Schornsteine zum Qualmen, und Kohle brachte Geld in die Taschen der Menschen.

 

Für Männer die zupacken konnten, gab es nicht nur Untertage gutbezahlte Arbeit. Die deutschen Städte waren tatsächlich nicht mehr wiederzuerkennen. Aber der Schutt und die Ruinen, die wie löchrige Zähne in den Ruhrgebiets-Himmel ragten, mussten abgetragen und die geschundenen Städte wieder aufgebaut werden. Nach zwölf Jahren mit tausendjährigem Heil, und den Jahren der Entbehrungen, in denen sich die Ex-Arier ausgiebig die Wunden lecken konnten - weil die ja von alledem nichts gewusst hatten - begannen die meisten Menschen wieder optimistisch in die Zukunft zu schauen. Der Stempel Made in Germany verlor den Makel der Schandmarkierung, und begann sich als Gütesiegel für ein beispielloses Wirtschaftswunder zu entwickeln. Deutschland stand am Anfang einer goldene Zeit, und die Welt begann die fleißigen Deutschen wieder zu lieben. Nur wir wurden nicht geliebt und wir gehörten nicht dazu.

 

Intakte Wohnungen waren im zerbombten Ruhrgebiet selten und darum auch gefragt. Wer malochen wollte, und wer einigermaßen clever war, konnte sich eine bescheidene Wohnung leisten. Für den ausgekotzten Dreck, die durch den Krieg aus der Bahn Geworfenen, Flüchtlinge ohne Hab und Gut - aus Ostpreußen, aus Pommern oder aus Gott-weiß-woher - die geschunden, gerettet, es aber trotzdem nicht geschafft hatten - zusammen mit dem kümmerliche Rest der Unerwünschten, gab es nur behelfsmäßige Notunterkünfte. In einer dieser Zwischenhöllen waren wir gestrandet, von überlasteten Behörden eingewiesen, von den Anständigen gemieden, und als Restposten aus einer Zeit an die man nicht mehr erinnert werden wollte, längst abgeschrieben.

Wo und wie die Familie bis kurz nach meiner  Geburt gelebt, oder soll ich sagen „vegetiert“ hatte, weiß ich nur aus Erzählungen. Es soll ein Keller mit einem metergroßen Loch in der Decke gewesen sein. Eine Fliegerbombe hatte das Dach und vier darüber liegende Stockwerke weggesprengt, damit die nachfolgenden Brandbomben genügend Futter finden konnten. Im Sommer in einer Ruine ohne Dach zu leben, ist bei schönem Wetter durchaus möglich, aber bei Regen, oder im Winter und mit drei Kindern muss das die Hölle gewesen sein. Im Dezember 1953 sind wir dann in die Mau-Mau in Altenessen gezogen. Wir hatten jetzt zwar ein Dach über dem Kopf, aber in den verkommenen Löchern in der Mau-Mau waren Geschwüre, Krätze, Rachitis und Hunger die Untermieter die nicht mehr gehen wollten. Ich hatte vollgeschissene Windeln und einen wunden Hintern, mein Bruder war ein Bettnässer, und meine Schwestern waren verdreckte Handelsware, die für ein paar Pfennige oder ein Päckchen Kaugummi zu haben waren. Wir, die Nachkommen der Herrenrasse waren zum Homo barackensis mutiert.

 

Aus Erzählungen weiß ich, dass damals das Geld sprichwörtlich auf der Straße lag. Aber bei einigen blieb der Frust über den verlorenen Krieg wie Scheiße zwischen den Arschbacken kleben. Mit der Einstellung unseres sogenannten Ernährers: „Ich warte auf was Besseres. Ich habe keine Lust, in der Grube zu malochen“, hatten wir die Arschkarte gezogen.

Bodensatz

 

Aber klar doch, du kannst dich immer entscheiden.

Wir leben schließlich in einem freien Land, und nicht bei den Cowboys.

Wenn du die Wahl hast, dann ist Gewaltlosigkeit besser als Gewalt. Aber wenn du dich schnell entscheiden musst, dann ist was in die Fresse, besser als Feigheit.“

 

___________________

 

 

Der Herbst 1952 war total verregnet. Erst im Januar 1953 konnten die Bauern Weizen aussäen, und Mitte Februar 1953 wurde in Essen 15° Wärme verzeichnet. Dann schlug innerhalb weniger Stunden das das Wetter um, und schwere Stürme tobten über das beackerte Land. Überall gab es Überschwemmungen, und in Holland starben mehr als zweitausend Menschen durch Sturmfluten. Mit solchen Vorzeichen wurde ich am Freitagmorgen bei Sonnenaufgang, es war der 27. Februar 1953, in die brutale Ruhrgebiets-Wirklichkeit gepresst. Blutverschmiert und beschissen hatte ich mich gewehrt, gezappelt und so grauenhaft geschrien, dass es sogar dem Teufel wenn es ihn denn gibt, gegraust hätte.

Ob meine Mutter gelitten, oder ob der Kerl der es mit seinem besoffenen Kopf hinnahm, dass er angeblich mein Erzeuger gewesen sein soll, wieder an irgendeiner Trinkhalle festhing, weiß ich nicht. Aber als mich die Hebamme an meinen krummen Beinen hochhielt, mich zappeln und schreien ließ, und mir auch noch einen Schlag auf meinen kleinen Hintern gab, war für mein zukünftiges Leben alles klar. Ich war nur ein lästiger Fresser mehr, und so wie ich den Alten kannte, dachte der: „Na hoffentlich lässt die ihn fallen, und das Problem ist gelöst“, und meine Mutter dachte vermutlich gar nichts. Ich konnte mich nicht wehren, aber meine Geburt war ein klassischer Fehlstart aus der ungünstigsten Position, mit geringen Chancen, um bei den Gewinnern im bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder mitspielen zu dürfen.

 

Ich war der Jüngste und der Schwächste und in meinen ersten Lebensjahren ständig krank. Von Keuchhusten bis zur Krätze hatte ich alles was Kinder bekommen können, und mit zwei Jahren schon einen geweiteten Arsch, weil der Alte alles ficken musste, was bei drei nicht auf einem Baum war.

Das Wohnviertel in Altenessen, in dem ich zusammen mit meinem Bruder, und meinen zwei Schwestern aufgewachsen bin, gibt es heute nicht mehr. Zwischen rußgeschwärzten Häuserzügen, standen zwölf behelfsmäßig instandgesetzte Häuser - wenn man die Ruinen als solche bezeichnen will. Das waren noch aus der Kaiserzeit übriggebliebene Bruchbuden, gut genug für das Strandgut des beginnenden Wirtschaftswunders. Wir waren der Nachwuchs vom Bodensatz, und unsere Eltern, die beiden Rest-Arier, trugen die Verantwortung für uns Kinder.

Die Fenster der Häuser in der Mau-Mau waren auch zehn Jahre nach dem Krieg noch mit Pappe zugenagelt. Überall liefen verdreckte Kinder herum, und „Ficken“, „Fotze“, oder „Arschloch“ waren die meistgebrauchten Worte.

Kinder von Außerhalb machten einen großen Bogen um die Häuser. Die wussten, dass wir Läuse oder ansteckende Krankheiten hatten. „Spielt nicht mit den Schmuddelkindern“ hatte man denen eingebläut - und wer sich dennoch in unsere Nähe wagte, bekam was aufs Maul - und hatte noch Glück, wenn es dabei blieb.

Viele Männer in der Mau-Mau liefen auch am Tag in Schlafanzügen herum. Vor den Häusern saßen oder standen die Frauen, die Morgenmänteln nachlässig geschlossen und schnell geöffnet, wenn für etwas an den Titten fummeln, oder im Stehen an der schrumpeligen Runkelrübe rubbeln ein Schnaps ausgegeben, oder ein paar schnelle Pfennige verdient werden konnten. Wenn man bedenkt, was ein schneller Fick heutzutage kostet, klingt das erbärmlich, aber damals verdiente ein Arbeiter eine Mark in der Stunde, und dann gehörte der auch schon zu den Gutverdienern. Und oft gab es nicht mal das, sondern ein „halt dein blödes Maul und halt still, oder ich hau dir was auf die Fresse.“ Ob dann Einer oder Mehrere über die Alte drüberstiegen war allen Beteiligten egal.

Wenn du denkst, dass jemand Mitleid oder Verständnis für unsere Lage aufgebracht hatte, irrst du dich. Für die fleißigen und rechtschaffenen Deutschen waren die Leute in der Mau-Mau der letzte Abschaum aus dem Nachtjackenviertel.

Um uns zurechtzufinden mussten wir lügen. Eine ehrliche Antwort auf die misstrauische Frage: „Wo kommt ihr denn her?“ löste eisige Ablehnung aus. Wir bekamen die Rücken zugedreht, nicht selten bekamen wir Ohrfeigen. Hinter vorgehaltenen Händen, oft auch offen und immer mit Verachtung nannte man uns die Mau-Mau-Blagen, manchmal auch die Bälger aus der Siedlung, um uns dann wie streunende und verlauste Hunde zu verjagen. Vor uns schlossen sich die Türen, und sicherheitshalber wurden die Schlüssel in den Schlössern zweimal herum gedreht.

Früher, als Kind hatte ich mir oft vorgestellt, dass ich nicht hierher gehöre. Ich hatte sogar gebetet, dass alle sterben und in meiner Phantasie hatte ich mir grausame Tötungsmethoden ausgedacht. Die Frau, die sich als meine Mutter ausgab, sollte gefoltert werden, und ihre Verbrechen gestehen. Vor einer johlenden Menschenmenge sollte sie an einen Pfahl gebunden, und dann von wilden Tieren angefallen, aber nicht getötet werden. Damals wäre es für mich das Größte gewesen, wenn sie um ihr Leben gewinselt hätte. Und dann würden meine richtigen Eltern kommen, und mich in einem großen, roten Auto zu sich holen. Es war mein kindlicher Glaube an eine andere Welt. Aber ich war in der mir zugewiesenen Welt, und da konnte ich nur aus eigener Kraft raus.

 

Wer unsere Eltern waren? Da gab es unseren Erzeuger, jedenfalls gab er sich dafür aus, vermutlich weil ihm nichts anderes übrig geblieben war. In der Bibel steht, dass man Vater und Mutter ehren soll. Auch heute gebe ich mir noch alle Mühe, unseren Vater zu ehren und zu verstehen, aber der Mann war der totale Loser. Während des Krieges hatte er mit großer Klappe in der Etappe, wie der Herrgott in Frankreich, eine ruhige Kugel geschoben. Nach dem Krieg war er Einer von der Sorte, die mit großen Sprüchen über noch größere Pläne schwadronieren - Pläne die nie ausgeführt wurde, weil der Typ vergessen hatte, darüber nachzudenken, was danach geschehen soll.

 

Im Herbst 1946 war er aus französischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Wie er das geschafft, und warum ihm der Maquis nicht seinen Schwanz abgeschnitten, ins Maul gesteckt und am nächsten Baum aufgeknüpft hatte, weiß ich nicht. Besser wäre es gewesen, und ich würde dennoch existieren, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass ich von dem Arsch abstammen soll. Aber der gerechte Weltenlenker im Himmel hatte anderes mit mir vor. Jedenfalls wollten ihn die Franzosen schon nach eineinhalb Jahren wieder loswerden. Ich denke, dass er sich in der Zeit der Gefangenschaft ganz klein gemacht und vielleicht andere zu seinem Vorteil verpfiffen hatte. Jedenfalls muss er mächtiges Glück gehabt haben, denn die anderen Heimkehrer hatten ihn zwar fürchterlich zusammengeschlagen, aber aus irgendeinem Grund davon abgelassen, ihn mit dem Kopf zuerst aus dem fahrenden Zug zu werfen. Darüber bin ich auch heute noch sauer.

Seine Familie lebte in Dorsten und von Erzählungen weiß ich, dass seine Eltern und seine sechs Geschwister den Krieg überlebt hatten. Seine Eltern haben wir nie gesehen. In den 50ern gehörten sonntägliche Kaffee-Besuche zum bundesdeutschen Familien-Ritual, aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir meine Großeltern jemals besucht hätten, oder die bei uns waren. Die wollten mit uns nichts zu tun haben. Auch mit seinen Geschwistern, also mit Onkeln und Tanten hatten wir keinen Kontakt. Er hat nie darüber gesprochen, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich bei seinen Angehörigen nicht mehr sehen lassen, und nach der Zeit der Gefangenschaft war er in Essen hängengeblieben.

 

Der Alte war ein Überlebenskünstler, und seine Masche, und darin war er ganz groß, war das Schnorren. In der ersten Zeit in Essen konnte er sich als Grußonkel ganz gut durchschlagen. Das klingt lustig, aber eigentlich war es eine hundsgemeine Masche. Am Bahnhof oder an gut frequentierten Plätzen in der zerbombten Innenstadt hingen Unmengen Zettel von Frauen mit Suchwünschen nach ihren im Krieg verschollenen Männern. Telefon gab es auch nicht, und immer standen die vollständigen Anschriften der Frauen auf den Zetteln. Seine Masche war einfach und genial. Der Alte fingerte einige Zettel von den Wänden und suchte die Frauen auf und bestellte angebliche Grüße von den Männern, und dass es ihnen in der Gefangenschaft gut ginge, aber immer Hunger hätten. Das war natürlich alles gelogen, aber darin war er ganz groß. Die Frauen waren dankbar, dass ein gutaussehender Mann, und dazu noch ein enger Freund ihrer Ehemänner, ein Lebenszeichen überbrachte. Die teilten dann die letzte Habe, und weil sich die Frauen nach etwas Zuneigung sehnten, oft auch das Bett mit ihm. So gelang es ihm, sich sattzufressen, und regelmäßig zu vögeln hatte er auch. Aber eines Tages flog das auf, weil er auf einer Alten lag, und der verschollen geglaubte Ehemann in der Tür stand. Da hatte er wieder mal fürchterliche Dresche bezogen, und den Trick nie wieder versucht. Das hätte auch nicht mehr funktioniert, weil ihm danach die Vorderzähne fehlten, und er nicht mehr so gut, sondern grauselig aussah.

Wenn der wollte, dann konnte er auch körperlich arbeiten. Aber wenn so etwas vorkam, war das eher ein sehr seltener Anfall. Arbeit und das was damit zusammen hing hatte er nicht erfunden. Für den Alten war es unvorstellbar, dass er einer normalen Tagesbeschäftigung mit festen Arbeitszeiten und festem Lohn nachgehen könnte.

Wir haben den Krieg nur verloren, weil sich die deutschen Fotzen von den Negern mit Kaugummi kaufen ließen …“ Das waren so seine Sprüche, die mir auch heute noch in den Ohren klingen. Er war immer noch der große Kriegsheld, und so ein Held hatte es nicht nötig, einen festen Job zu suchen und Verantwortung für seine Familie zu übernehmen.

Manchmal grölte er aus dem Fenster: „Schipp-Schipp Hurra! Da laufen die Deppen“ und auch dafür bekam er immer wieder was aufs Maul. Zu uns sagte er oft: „Ich habe den Hurra- und Heils-Mist nicht mitgemacht, um in Grubenplörren zu steigen und mir im Pütt die Knochen kaputtzuschinden.

 

In der Gegend um den zerbombten Essener Hauptbahnhof hatte er unsere Mutter kennengelernt, und zwischen geborstenen Mauern, neben einer Trinkhalle hat man mich im Juni 1952 gezeugt. Das weiß ich, weil unsere Mutter mir das mal gesagt hat, und das kam so: Sie war mal wieder mehrere Tage verschwunden, und wir Kinder hatten sie gesucht, weil wir Hunger hatten. In einer Kneipe hing sie am Tresen, und als wir sie raus und durch die Straßen zogen, lallte sie: „Schaut euch das an. Da hat er mich gefickt und die ganze Kneipe hat zugesehen.“ Dann, zwischen auf das Pflaster kotzen und sich vollpissen, deutete sie auf eine dunkle Toreinfahrt und die Bretterbude, die sich großspurig „Trinkhalle“ nannte. Und angeblich hatten die Zuschauer, sogar Beifall geklatscht. Das hat mir viele Jahre später einer erzählt: „Der alte Brauch wird nicht geknickt, wenn´s regnet wird im Saal getanzt …“ und dann grölend „… früher, als deine Mutter noch gut aussah, da hab ich die auch gefickt …“ Den hatte ich beim Lohntütenball getroffen, und bei mir gibt’s keine Freificks. Schulden müssen bezahlt werden. Der hat mit Zins und Zinseszins bezahlt und danach habe ich den nie wieder gesehen.

Du weißt nicht, was damals ein Lohntütenball war? So mit siebzehn ging ich mit meinem Bruder oft in den Schlegelkrug auf Schalke. Das war eine urige Kneipe in der Franz-Bielefeld-Straße. Immer an den Samstagen, bevor es heim zu Mutti ging, trafen sich da die Malocher aus den Zechen. Die hatten ihre vollen Lohntüten dabei. Da wurden Biere und Schnäpse gekippt und geknobelt, und dann war Lohntütenball angesagt. Wir suchten uns die Typen aus, die schon einen im Schuh hatten (also angesoffen waren), und machten auf Kumpel. Wenn die nicht mehr wussten wo oben und unten ist, und nicht mehr richtig gehen konnten, boten wir uns an, denen nach Hause zu helfen. Unterwegs klauten wir dann die Lohntüten und stießen die Besoffenen einfach in ein Gebüsch und dann nichts wie weg. Aber das konnten wir nicht zu oft durchziehen, weil die Gefahr geschnappt zu werden, zu groß war. Aber die ganze Geschichte erzähle ich dir später.

 

In meiner Erinnerung war der Alte über einen Meter achtzig groß und er hatte rotblondes Haar. Er hatte Maurer gelernt, und er brachte die besten Voraussetzungen mit, um im zerstörten Ruhrgebiet eine Familie durchzubringen. Ein Kerl der auf den ersten Blick aussah, als ob er zupacken und aufbauen konnte. Nicht so einer wie die vielen verhärmten Männchen, die vom Krieg gezeichnet, mit faltigen Gesichtern, gesenkten Köpfen und gebeugten Rücken durch die Straßen schlurften.

Ich besitze noch vier Bilder, so kleine Schwarz-Weiß-Bilder mit gezackten Rändern, die ich in der letzten Zeit immer wieder ansehe. Warum ich so etwas Blödes mache, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist es so etwas wie Alterssentimentalität. Er war der Typ des Herrenmenschen, und ich kann mir denken, dass nach dem Krieg viele ungefickte Frauen auf ihn flogen. Aber in den 50er Jahren war die Zeit der Herrenmenschen Geschichte. In der Aufbauzeit waren Macher mit Kohle gefragt, und keine Blender ohne Zukunft.

Ob er sich das Saufen schon während des Krieges, oder erst später, auf dem Bau angewöhnt hatte, weiß ich nicht. Wenn er mal gearbeitet hat, dann auf „täglichen Handbetrieb“, also die Kohle am Tagesende schwarz und abgezählt auf die Hand. Das war damals, in der bundesdeutschen Aufbauzeit nichts Ungewöhnliches, aber der Alte brauchte die Kohle nicht für seine Frau und seine Kinder. Wenn er wegen Betrügereien mal nicht einsaß, war sein Lebensinhalt Alk und Zigaretten, und zwischendurch mit unserer Mutter das zu tun, was für ihn notwendig war, oder um sie und uns zu verdreschen.

Wie unsere Mutter so war? Ich weiß, dass Männer ihre Mütter gern als Heilige verklären, aber das war sie nicht. Sie war eine attraktive Frau mit diesem besonderen - ich sage immer „spöttisch-geilen“ Lächeln, bis der Alkohol anfing, sie unaufhaltsam zu zerfressen. Obwohl der Alte sie oft verdroschen hatte, war sie nicht ganz unschuldig an dem, was aus unserer Familie geworden ist. Herrschsüchtig, gedankenlos und mit einem Hang zu verletzenden Spitzfindigkeiten brachte sie jeden gegen sich auf. Ständig gab es wegen ihr Zoff. Außerdem hatte sie einen Putzfimmel. Ich weiß, wenn man unsere Lebensumstände betrachtet, klingt das seltsam, und eigentlich war es kein richtiger Putzfimmel. Es war mehr ein ständiges, fast reflexartiges Wischen über die paar verschrammten Möbelstücke die wir besaßen, verbunden mit einem vorwurfsvollen Jammern über den Dreck und die Lebensumstände, die sie angeblich nicht verursacht hatte, nur damit wir uns schuldig und schlecht fühlen mussten.

Manchmal denke ich, dass das Leben unserer Mutter anders verlaufen wäre, wenn sie sich in ihrer Jugend nicht am Essener Bahnhof herumgetrieben und nicht den Alten kennengelernt und geheiratet hätte. Vielleicht hätte meine Haut dann eine andere Farbe und ich wäre in Kentucky oder in Alabama aufgewachsen, und Charly hätte mir in Đà Nẵng den Arsch weggeschossen. „This is the end. My only friend, the end“ - oder ich hätte eine Menge Schlitzaugen weggepustet und schöne Orden bekommen. 

 

Unsere Mutter kam aus einer sogenannten „anständigen“ und alteingesessenen Essener Familie. Sie war die Jüngste und hatte noch drei Geschwister. Ich vermute, dass nicht der verlorene Krieg, aber die Amis und ihr Lebenshunger daran schuld waren, dass sie die Orientierung verloren hatte. Sie gab dem Alten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu verstehen, dass sie eigentlich etwas Besseres wäre und darum auch etwas besseres „als die da“ verdient hätte, um dann mit einer Handbewegung auf uns Kinder oder den Alten zu deuten. Das ging dem gewaltig auf den Sack, und dafür bekam sie regelmäßig was aufs Maul, bis auch sie eines Tages keine Vorderzähne mehr hatte. 

 

Die Eltern unserer Mutter hatten in Bergeborbeck ein Friseurgeschäft. In den letzten Jahren hatte ich etwas in der Familienhistorie nachgegraben, und erfahren, dass das fleißige und angesehene Leute waren, und damals gab es das Friseurgeschäft schon in der dritten Generation.

 

Wenn auch nur ein feindliches Flugzeug unser Reichsgebiet überfliegt, will ich Meier heißen![1] Die Kinder waren auf dem Land bei Verwandten untergebracht, und der  Gröfaz[2] konnte nicht verhindern, dass am 25. Juni 1943, so gegen 23:45 Uhr die vom dicken Herrn Meier großkotzig verspotteten Flugzeuge Bergeborbeck ramponiert, und ein Wohnblock-Knacker[3] das Friseurgeschäft und unsere Großeltern platt gemacht hatte. 

 

 

 

 

 

[1] Hermann Göring in einer Rundfunkrede bei Kriegsanfang.

[2] Gröfaz (auch in der Schreibweise GröFaZ) ist ein als Spottname gebrauchtes Akronym für „Größter Feldherr aller Zeiten“ und bezeichnete Adolf Hitler. Der Ausdruck verbreitete sich erst ab 1943 nach der Schlacht bei Stalingrad. Er könnte an eine Formulierung in der Langform angeknüpft haben, die von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel unter dem Eindruck des Westfeldzuges und der Eroberung der Benelux-Staaten und Nordfrankreichs geprägt worden war: „Mein Führer, Sie sind der größte Feldherr aller Zeiten.“ (Quelle Wikipedia)

[3] Als „Wohnblock-Knacker“ wurden Minenbomben bezeichnet, die ab 1941 von den Alliierten über deutschen Städten abgeworfen wurden.

Impressum

Texte: Raoul Yannik
Bildmaterialien: Raoul Yannik
Lektorat: Amélie von Tharach
Übersetzung: Amélie von Tharach
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Amélie von Tharach, die mich immer wieder motiviert hat, diesen Roman zu schreiben Raoul Yannik wird betreut von SP.Media GmbH [Wir vermitteln Talente] Agentur für Texte und Autoren Heckstraße 32 45239 Essen Kontakt und Verlagsanfragen info@raoulyannik.de

Nächste Seite
Seite 1 /