„Ich glaube nicht an den berühmten Zufall. Das was die unwissenden Massen unter Zufall verstehen, ist nur eine Schimäre, die in den Köpfen der Resignierten herumspukt. Ereignisse geschehen nicht einfach so. Das was geschieht, ist die Folge von Ursachen. Und dann gibt es noch Mittel, um die gewünschten Resultate zu verbessern.
So einfach funktioniert die Welt.“
Jewgenij Feodorowitsch Krasov (JFK)
Sonntag, 28. März 2010
Sindelfingen am Klostersee zwischen 13:00 und 15:00 Uhr
(Ein wolkenverhangener Tag, und es kann auch später gewesen sein)
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Du kannst es mir glauben. So einen Anblick vergisst du nie. Ein Müllsack, blaugrau, fast schwarz und im Neonlicht nass glänzend. Ich sehe ein mit einer akkuraten Schleife verknotetes, rotes Zugband. Mein gutes Elternhaus und meine gute Erziehung gehen mal wieder mit mir durch. Ich Depp will dienstbeflissen helfen, und den Sack von der Ladefläche des Transporters ziehen. Ich denke noch „das ist einer vom Lidl, die von Aldi sind besser.“ Der Müllsack reißt auf („logisch, ist von Lidl“). Ein Päckchen, etwa so groß wie ein Fußball fällt raus, kullert von der Ladefläche und schlägt mit einem trockenen Geräusch - das klingt etwa so, wie wenn du eine Kokosnuss gegen eine Betonwand wirfst - auf dem Boden auf.
Du hast noch nie eine Kokosnuss gegen eine Betonwand geworfen? So etwas Blödes würdest du nie tun?
Das ist ja auch egal, ob du Kokosnüsse gegen Betonwände wirfst, oder nicht. Stell dir einfach vor, dass du so etwas machst.
Dann sehe ich, wie eine mit Klebeband zig mal umwickelte, eiförmige Kugel, fast wie in Slow-Motion in alten Filmen, auf mich zurollt, und mit einer schaukelnden Drehbewegung vor meinen Füßen zur Ruhe kommt. Arglos sehe ich das Ding an, und instinktiv, vielleicht auch schuldbewußt weil ich mich so unbeholfen anstelle, will ich mich bücken und danach greifen. Er sieht mich an, ich sehe ihn an, und die Schmerzen in meinen Händen sind wieder da.
Wenn du das schreibst, was ich dir jetzt erzähle, glaubt dir das niemand, aber genau so und nicht anders war das.
Ich sehe an deinem Gesicht, dass du dir die Szene nicht vorstellen kannst? Klar doch, in unserer biederen, schwäbischen Landeshauptstadt gibt es so etwas nicht - denkst du. Aber das macht nichts. Für mich war das ja auch wie ein blöder Albtraum. Ich weiß halt nicht, wie ich dir das, was in der Nacht geschehen ist, besser beschreiben soll.
Und dann, das war der größte Schock, höre ich ihr girrendes Lachen, und mir wird ganz warm um´s Herz. Leise wie eine Katze hat sie sich angeschlichen. Wenn ich nur eine halbe Stunde früher an sie gedacht hätte, dann hätte ich sie überall vermutet, nur nicht dicht hinter mir und nicht in diesem Zusammenhang - und vor mir liegt das Päckchen, sorgfältig in eine gelbe Plastiktüte verpackt, und mit braunem Pack-Band verklebt, und die mit viel Phantasie noch lesbare Werbeschrift darauf sieht aus, als ob die Botschaft direkt an mich gerichtet ist.
„Wir lieben Leben …“
Das ist doch makaber. ´s ist ja schon ein paar Monate her, und ich kann mich noch so gut daran erinnern, als ob es sich vor wenigen Stunden zugetragen hätte. Genau so stand es auf dem Plastik.
Und dann umarmt sie mich und ich spüre ihren heißen Atem, und sie küsst mich auf den Hals und streicht mit ihrer Zungenspitze über mein linkes Ohr. Ich höre „Hallo mein Hengst“, und mir wird entsetzlich kalt und nicht heiß.
Du willst von mir wissen, ob es ihn wirklich gab, oder ob alles nur eine Erfindung der Medien war?
Ja, es gab ihn wirklich, den sogenannten FiKK, oder Freundeskreis für internationale Kultur und Kunst, wenn dir die korrekte Bezeichnung lieber ist. Damals nannten die sich so, und die hatten sogar grüne, runde Sticker mit FiKK-Club an den Autos. Damit konnten die vor den Locations parken, und niemand hatte etwas gesagt, wenn die Lambos, die Ferraris oder die Porsches stundenlang im Halteverbot standen. Zu den VIP-Tischen gewunken zu werden und die Rechnungen bezahlen zu dürfen war eine große Ehre. Ich kann dir sagen, das war eine wilde Zeit, als das mit Stuttgart 21 anfing, und dann kam die weiße Lady dazu, und das war der absolute Turbo.
Wer die weiße Lady ist? Von welchem Stern haben die dich denn fallen lassen?
Die weiße Lady ist Bezeichnung für Koks, und wenn die Lady tanzt, dann ist genug für alle da, und wenn die Lady schmollt, dann gibt’s Lieferengpässe. Und genau in dieser Zeit hatte einer von den Spinnern mächtigen Druck, weil er von dem Zeug nicht runter kam. Der hatte mit dem Falschen gequatscht, und ein sogenannter Privatermittler, also ein Privatschnüffler, wenn dir die Bezeichnung lieber ist, brachte alles an die Öffentlichkeit. Als dann vor drei Jahren nach und nach alles aufflog, wurde es ruhig um die Clique.
An manche Namen erinnere ich mich, und sogar Gesichter und Stimmen kann ich noch zuordnen. Einige von denen, die damals die Geldbündel aus den offenen Hosenställen hängen ließen, sind spurlos verschwunden. Wo die abgeblieben sind, weiß kein Mensch. Der Rest backt ganz kleine Brötchen, oder hatte wie Schafe wenn´s blitzt die Köpfe eingezogen, bis der Sturm vorbei war. Erst danach ist denen aufgefallen, dass man sie geschoren hatte - blökende Schafe halt, mit vollen Hosen und der Angst vor dem Schweigen der Lämmer.
Hörst du Arsch mir eigentlich zu?
Dann stell nicht so blöde Fragen. Natürlich gibt´s den FiKK immer noch. Aber heute ist das nicht mehr der protzige Spaß. Die Aufkleber auf den Autoscheiben sind verschwunden. Offiziell will da niemand mehr dazu gehören. Der FiKK-Klüngel hat sich in die Chefetagen verzogen, und da herrscht organisierte Diskretion. Stuttgart 21 Version 2.0 sozusagen. Heute ist das straff organisiertes Business - so mit allem Drum und Dran.
Ob es ihn noch gibt, ob er noch lebt, weiß ich nicht. Man hat ihn schon lange nicht mehr gesehen. Angeblich hat er sich ein neues Gesicht verpassen lassen und ist untergetaucht. Aber ich glaube, dass das nur gezielt gestreute Gerüchte sind, denn nachweisen konnte man ihm nie etwas. Wenn er noch lebt, dann ist er der große Zampano, der seriöse Obermufti der seine Chefs in den Städten hat. Vielleicht hat er auch einen Strohmann zur Tarnung aufgestellt. Wer weiß das schon? Aber eines ist sicher, der FiKK hat die Strippenzieher im Ländle hat fester im Griff als je zuvor. Die Organisation schmiert alle, und du kannst mir glauben - jeder nimmt, und die Organisation hat alle an den Eiern, weil alle etwas zu verbergen haben.
Wenn irgendwo großes Geld versickert, bei einem Bauvorhaben die Kosten aus dem Ruder laufen, oder der moralisierende Stuttgarter Giftgrünbürger eine Für- oder Einundzwanzig-Gegendemo organisiert die dann nichts, aber auch gar nichts bringt - außer die Kosten dramatisch zu erhöhen - dann verlieren manche Leute ihre Finger, weil die Organisation ihre Finger drin hat, und der Mehrertrag - man kann es auch als FiKK-Steuer bezeichnen - fließt wie ein nie versiegender Fluss in die Organisation.
Und die Folge ist, dass jeder Schwabe einem Russen gehört, und alle Russen gehören dem Russen. So etwa kann man das schwäbische Öko-System beschreiben.
Wie das angefangen hat?
Eigentlich genau hier, wo wir jetzt sitzen. An dieser Stelle, mit dem Blick auf den Klostergartensee und seine Schönheiten. Da fällt mir ein, dass die alten Sindelfinger im Klostergartensee untreue Frauen ersäuft hatten, die als Hexen beschuldigt wurden. Eigentlich eine schöne Sitte, die man wieder einführen sollte. Vielleicht sollte ich einen Verein zur Wiedereinführung der Hexenverbrennung e. V. gründen. Das wäre doch eine schöne Geschäftsidee, und ich hätte schon eine Person im Auge, die in den Genuss der Vorzüge des Vereins kommen könnte.
Ja, ich weiß, dass das mit meiner Geschichte nichts zu tun hat. Aber ich finde es interessant, dass wir uns an so einem geschichtsträchtigen Ort unterhalten.
Da wo die Straße eine Kurve macht, wo die ehemalige Eisfabrik stand, da hat alles angefangen.
Wie er das gemacht hat?
Das ist eine gute Frage. Ich denke, er war der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er war fleißig. Er war intelligent, und er hatte den Durchblick. Also urschwäbische Eigenschaften. Ein Schlitzohr, oder a Käpsele wie man so schön sagt, und wie die meisten Unternehmer hat er klein angefangen. Er war zu jeder Tag- und Nachtzeit für seine Kunden, oder „Freunde“ wie er sie nannte, da. In seiner Anfangszeit waren die ganz großen Sachen noch nicht so sein Ding. Seine Wohltaten beschränkten sich auf die kurzfristigen Engpässe und Widrigkeiten beim begüterten Bildungs- und Wohlstandsbürger. Beim Russen bekamst du Hilfe oder schnelles Geld - ohne Fragen und ohne lästige Formalitäten - kleine Kohle für zwischendurch und für Stunden, gern für ein paar Tage, und manchmal auch für Wochen und Monate - dann wenn man nicht zur Bank gehen konnte, oder die Familie von den kleinen Schwächen und Lastern nichts erfahren sollte. Und wenn du ein Problem hattest, oder einen besonderen Wunsch der etwas außerhalb der Normalität war, dann war der Russe die richtige Adresse.
War dir nach kleinen Jungs oder noch kleinere Mädchen? Wolltest du deinen Geschäftspartner am Boden des Bodensees sehen, aber dafür seine Frau besteigen, die dich unter normalen Umständen niemals rangelassen hätte? Er konnte schnell und diskret das liefern, was du wolltest - vorausgesetzt du warst nützlich, oder hattest eine Perspektive, oder du hattest Geld, oder am besten alles zusammen.
Wie man in den Kreis aufgenommen wurde?
Man wurde nicht aufgenommen. Du musstest die richtigen Leute kennen, und dann kamst du in den äußeren Kreis. Wenn du da erst mal drin warst, war alles ganz einfach, aber du warst unter Beobachtung. Du hast Leute getroffen, die andere Leute kannten, und die dich weiterreichten. Plötzlich öffneten sich Türen, von denen du noch nicht einmal geahnt hattest, dass es die gab.
Wer diese Leute waren?
Du gehst mir mit deinen Fragen ziemlich auf die Nerven - das muss ich dir jetzt einfach mal sagen. Das waren halt Leute, die im Ländle irgendetwas bewegten, oder zumindest so taten, als ob sie es könnten. Die Empfehlungen bekam man im Stuttgarter Altstadtviertel, zwischen gschlotzte Viertele, Champagner, Nutten, oder Hausfrauen die als Nutten anschaffen gingen, und immer wieder Koks und nochmal Koks.
Ja, ich weiß es. Du musst mich nicht daran erinnern. Es stand ja in allen Zeitungen, dass auch ich gute Kontakte zu ihm gehabt haben soll. Irgendwo stand sogar etwas von einem besonders engen Freund, sogar einem Vertrauten. Aber das ist von der Schmierenpresse frei erfunden. Ich kannte den Ziegenficker nur ganz oberflächlich, und das hatte sich auf rein geschäftliche Kontakte beschränkt. Der war niemals mein Freund, und zum FiKK-Kreis hatte ich keinen Zugang. Aber ich kenne alle - oder zumindest die, die noch leben.
An einen Herrn Yannik?
Yannik?
Nein an den Namen kann ich mich nicht erinnern. Wer soll das sein? Der soll da mitgemischte haben? Das weiß ich nicht. Ich kenne den Scheiß-Typen jedenfalls nicht. Den habe ich nie gesehen.
Ob sich die Geschichte so und nicht anders ereignet hat?
Du zweifelst an meiner Aufrichtigkeit?
Ob ich vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas verbessert, oder weggelassen habe?
Also wenn du mir nicht traust, dann verpiss dich. Alles ist genau so geschehen, wie ich es dir erzähle.
Warum schaust du immer auf meine linke Hand? Ist da was?
Ob ich da eine Verletzung habe?
Nein, eigentlich nicht. Wie kommst du da drauf?
Warum ich den Handschuh nicht ausziehe?
Das ist eine lange, aber auch eine ziemlich verworrene Geschichte.
Du möchtest sie hören und vielleicht ein Buch darüber schreiben?
Du weißt, dass das lebensgefährlich ist?
Also gut, wenn du etwas Zeit mitgebracht hast, und mir ein Spagetti-Eis spendierst, erzähle ich dir alles, so wie es war.
Ja, Spagetti-Eis. Ich kann schlecht kauen und auf Spagetti-Eis hab´ ich jetzt Bock. Und vergiss die Flasche Doppelkorn nicht, die du mir versprochen hast.
Ich warte hier auf der Bank. Nur eines darfst du nicht. Du darfst niemals und unter keinen Umständen meinen Namen nennen. Wenn die erfahren, dass ich geredet habe, dann bin ich tot. Also beeil dich …
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Liebe Leserin, verehrter Leser. Es war nicht einfach, ihn ausfindig zu machen, aber dieses, und noch viele andere Gespräche haben tatsächlich stattgefunden, und auch der Ort stimmt, und die Bank am Klostersee gibt es wirklich. Wenn du das nachprüfen willst, ich habe „PVC“ ins Holz geschnitzt, und daran kannst du erkennen, dass ich darauf gesessen habe.
Alles was mir Paul van Cre erzählt hat, habe ich nachgeprüft und in diesem Buch (und wie ich hoffe) situations- und wortgetreu wiedergegeben. Es sind eine Art investigative FiKK-Papers geworden, und Paul van Cre wird dazu noch mehr sagen.
Inzwischen verbindet mich mit Paul van Cre eine besondere Freundschaft. Er hat die Ereignisse in den Jahren 2005 und 2006 weitgehend unbeschädigt überstanden, und das was verloren gegangen ist, wächst auch nicht mehr nach. Von Salome ist er inzwischen geschieden, und auch Salome ist darüber nicht unglücklich.
Ob Sina ihren EDEKA-Plastiktütentrick noch drauf hat, weiß ich nicht. Vielleicht erzählt mir Paul später mehr, und vielleicht weiß er auch, wo sie abgeblieben ist. Aber genug der Vorrede. Fangen wir einfach an.
„Die brave Hausfrau liest im Blättchen, von Lastern selten dustrer Art,
vom Marktpreis fleißiger Erzkokettchen, vom Lustgreis auch mit Fußsackbart.
Mein Gott, denkt sich die junge Gattin, mein Gott!
Welch ein Spektakulum!
„Das schlanke Frauenzimmer hat ihn …“
Ja was? Sie bringt sich reinweg um.
O Frau! Die Phantasie hat Grenzen,
sie ist so eng - es gibt nicht viel.
Nach wenigen Touren, wenigen Tänzen
ist’s stets das alte, gleiche Spiel. Der liebt die Knaben. Dieser Ziegen.
Die will die Männer laut und fett. Die mag bei Seeoffizieren liegen. Und der geht nur mit sich ins Bett. Hausbacken schminkt sich selbst das Laster.
Sieh hin - und Illusionen fliehn.
Es gründen noch die Päderaster „Verein für Unzucht, Sitz Berlin“.
Was kann der Mensch denn mit sich machen! Wie er sich anstellt und verrenkt: Was Neues kann er nicht entfachen. Es sind doch stets dieselben Sachen ...
Geschenkt! Geschenkt!“
Kurt Tucholsky
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Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Du stellst eine berechtigte Frage, wenn man das Miteinander aus den Perspektiven der arg begrenzten Möglichkeiten konservativer Vorstadt-Gehirne betrachtet. Der Durchschnitt strebt eindimensional nach Brauchbarkeit, und das ist eine unumstößliche Tatsache. Man kann dieses Verhalten mit dem bescheidenen Inhalt eines Krokodilkopfs vergleichen. Kleine Bauspar-Gehirne können nur die Reflexe „Vorwärts“, „Zuschnappen“, „Zurück“ und „Verdauen“ generieren. Nur das scheinbar Naheliegende wird als Lebensziel akzeptiert, und kreative Genialität als spinnerter Muckefuck verachtet. Was nicht sein kann, kann und darf auch nicht erdacht werden. Draußen gibt’s widerspruchslos nur Kännchen, und unten - beim zaghaften Aufblicken - sieht der Sozialkonformist den zartgeblümten Horizont des Kaffeetassenrandes. Unumstößliche Tatsache ist nun mal, dass bedeutende Ideen in schmal dimensionierten Kleinhirnen nicht entstehen können. Das war schon immer so, das ist so, und das wird immer so sein. Dazu stehe ich, und wer etwas anderes behauptet, lügt sich das Blaue vom grauen Himmel runter. Für die Minimalgeister, die Untermittelmäßigen und die Bescheidenen sind die alltäglichen Dinge spannend, aber für mich, den grandiosen Gedankenschöpfer und Zuendedenker kann nur das gut genug sein, was ich in den letzten Winkeln der verkommenen Seelen finde. Darum sage ich hier, jetzt, gnadenlos ehrlich und aufrichtig: Aus meinem Wissen um die Abgründe der Realität werde ich die Kraft schöpfen, das zu tun was getan werden muss, und dazu gehören nun mal kunstvolle Morde.
Vor der Tat steht der Entschluss, und meine erste Handlung wäre, alle Spekulanten an den Füßen am nächsten Baum aufzuhängen. Das würde ich nicht aus Mordlust tun, sondern unter absingen wüster Lieder zur Abschreckung und für die Zukunft unserer Kinder und eine bessere Welt. Diese jämmerlichen Gestalten sind die Schmarotzer in einer verkommenen Gesellschaft, die nur darauf aus sind, aus meinem Leid ihre schäbigen Gewinne zu ziehen.
Nun weiß ich aus zuverlässigen Quellen, dass mein Schicksal meine empfindsame Seele ist. Dieser (und ich kann nur davor warnen) dubiose „Herr“ Yannik hat mich mit einem Raubtierlächeln im Gesicht, bittend und schmeichelnd gebogen, damit meine Unterschrift unter den Vertrag kam - oder wie weiland in großer Mann aus dem bekannten, italienischen Ferienort Corleone, mein Gehirn. Weil ich nicht gegen meine Natur kann, und dazu ein überaus sympathischer und netter Mensch bin, wollte ich gefällig sein. Und was ist der Dank? Unfreiheit, Zwang und bittere Not sind in dem Kelch, den ich als Preis nun zahlen muss. Ich bin dem Verbrecher mit Leib und Seele ausgeliefert, und nicht nur ich, auch meine Freunde und Leser (und auch die Leserinnen) müssen darunter leiden.
Der wird mich nicht brechen können, aber wenn ich meinen Auftrag mit den kritischen Augen des Genies betrachte, der mir vom unsympathischen Menschen den ich kenne, und gegen meinen Willen förmlich aufgedrängt wurde, und gleichzeitig den geradezu läppischen Vorschuss als Wert dagegen setze, den ich mutig, weil in berechtigter Hoffnung, aber dummerweise auf die falsche Transversale simple (ich Simpel) gesetzt habe, kann ich nur zu der unumstößlichen Meinung kommen: Ein Mord ohne Gehirn kann nur zu einer hirnlosen Aktion führen. Außerdem wäre es gegen meinen Feld,, Wald- und Wiesengeist, wenn mein Handeln nicht auf einer überragenden Idee beruhen würde, die mir dummerweise immer noch fehlt.
Alles vorbei Paul van Cre. Morgen dann bist du tot. Der gute Grappa aus meinem Lieblingskaufhaus A*di hilft auch nicht weiter. Jetzt und in diesem Moment spüre ich es überdeutlich: Nicht morgen, schon heute und in wenigen Stunden bin ich tot, denn ich fühle nichts mehr.
Tot?
Töter?
Am tötesten?
Mausetot?
Bin ich schon leibhaftig entseelt, oder ist es progressive Paralyse?
Bin ich momentan ganzkörpermäßig und richtig mit allem Drum und Dran tot, oder ist mein geniales Gehirn nur von einer literarischen Meningitis befallen?
Mein real existierendes Bewusstsein rebelliert gegen die Anfeindungen der Resignation mit dem klaren Vorwurf: „Du hast jahrelang mit deiner Überheblichkeit masturbiert, und Alle, also wirklich Alle mit deiner Besserwisserei gepestet. Und jetzt, wenn es darauf ankommt, stinkt deine Aufgeblasenheit wie ein sechs Wochen alter, in die Stuttgarter Nachrichten eingewickelter und im Kleiderschrank versteckter Fisch …“
Wenn ich es genau bedenke, dann denke ich, dass ich noch denken kann, nur nicht wenn ich muss. Das ist mein Handikap und darum liebes Bewusstsein, liegst du mit deiner bitterbösen Analyse nicht ganz falsch. Noch besteht eine klitzekleine Chance, dass aus meinem realen Frust so etwas Fragiles wie Hoffnung auf eine geniale Tat erblüht. Aber wenn die vollgekotete Hoffnung nur die Spekulation auf einen guten Ausgang aus ist, dann beschreibt meine bedauernswerte Existenz nur den seelenlosen Zustand meines wahren Ichs, weil meine Triebe die Personifikation der Ursache meines Verhaltens sind. Du verstehst, dass das mal klar und deutlich gesagt sein musste. Aber so sicher wie das Amen in der Kirche ist die Tatsache, dass keiner um mich weinen wird, auf meinem letzten Gang - wenn ich meinen Auftrag nicht gewissenhaft innerhalb der mir vorgegebenen Zeit erfülle.
Zwar sagt man mir eine gewisse Lebenserfahrung nach, und ich bin stolz ein guter, deutscher Theoretiker zu sein, aber ist mein Know-how ausreichend, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen? Konkurrenz wird zum moralischen Gebot, wenn man dem Degenerationsprozess der freischaffenden Künstler vorbeugen will. Das habe ich erkannt, denn ich bin ja nicht dumm. Aber die Experten aus Albanien sollen in diesem Jahr mordsmäßig leistungsstark sein, und auch von den Chinesen munkelt man auch nur Ungutes. Ein freier Markt mit global agierenden Koryphäen hat seine Vor- und Nachteile. Für mich, den braven und im Mordbussines regional agierenden Handwerker sehe ich im globalen Markt derzeit nur Nachteile. Ich habe zwar die eine oder andere Idee, und ich kann ihn blumig formulierten Sätzen über meine innovativen Ergüsse sprechen, aber Tatsache ist, dass mir die praktischen Anwendungen, bis hin zu den diskreten Ausführungen, immer noch ziemliche Schwierigkeiten bereiten.
Ich schließe die Augen, und jetzt höre ich es klar und überdeutlich. Mein Verstand flüstert mir mit spöttischem Unterton zu: „Du kleiner Flachwichser. Mit deinem pseudophilosophischen Psychoscheiß kannst du dir den Arsch abwischen …“
Die ungewohnt harschen Worte erschrecken mich, denn ich bin, falls ich es noch nicht erwähnt habe, sensibel.
Zwei Seelen wohnen in meiner Brust - wie der Dichter gern sagt, wenn die Zweifel seinen geistigen Zustand umnebeln. Mein Verstand ist von männlicher Natur und ein brutaler Dogmatiker, der mir einreden will, dass alle Probleme mit Tatkraft zu lösen sind, aber meine Intuition fühlt zutiefst weiblich. Sie ist eine Skeptikerin, die mir mit zuckersüßer Stimme einschwatzt, dass ich dem Herrn Yannik, dem militanten Arschloch nicht glauben, und das was ich tun muss, auch nicht tun soll.
Nach reiflicher Überlegung und unter genauem Abwägen von Vor- und Nachteilen muss ich meinem Verstand zustimmen. Der verballerte Vorschuss zwingt mich zum Kampf mit den Herausforderungen und drängt mich zur Tat. Aber hinterrücks meucheln und dann wie ein blutiges Schnitzel zu Schaschlik metzeln passt nicht zu meiner Wesensart, weil ich wie bereits erwähnt auch sensibel und empfindlich im Magen-Darmbereich bin – das sagt mir meine Intuition. Andrerseits habe ich einen Auftrag, und den muss ich erfüllen, und zwar schon bald, sonst gibt es mächtigen Ärger.
Zur großen Tat gehört psychische und physische Kondition. Für einen gepflegten Mord muss ich wie ein Hochleistungssportler meine Fähigkeiten stählen, und da ist sie schon wieder. Meine Intuition flüstert mit dem heimtückischen Unterton in der Stimme, den nur Frauen beim Männerquälen aufsetzen können: „Du bist doch nur geil auf Ruhm und dass dein Name in allen Zeitungen steht. Aber du bist kein siebzehnjähriger Berufsschüler aus der Metzgerklasse. Deine Ziele sind zu hoch gesteckt …“
Geschlagen mit den Skrupeln meiner Intuition ist alles möglich, nur kein genialer Mord. Quälend mühsam versuche ich ein Konvolut düsterer Versagensängste aus meinem schmerzenden Kopf zu vertreiben. Wird mir eine kleine Gedankenübung helfen? Konzentriert geschwindigkeitsreduziert zähle ich von Hundert rückwärts. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Auf einem harten Stuhl sitzend und zählend betrachte ich die Tür aus altem Holz. Was lauert dahinter? Soll ich warten, bis sie sich öffnet, nur um das Falsche und Schlechte zu mir zu lassen? Muss ich das Wahre, Echte und Wertvolle unterdrücken, nur um niedrige Vorteile zu erschleichen?
Auf diese sorgfältig verschlossene Tür bin ich sehr stolz. Meinen Auftrag habe ich seit sechzehn Tagen, aber diese Tür habe ich vor vier Tagen eigenhändig mit feinem Schmirgelpapier abgeschliffen und mit einem preisreduzierten Naturhaarpinsel in der Farbe Kobaltblau (RAL 5013) glanzlackiert.
Hätte ich die konventionelle Aufwärtszählmethode gewählt, wäre ich jetzt und in diesem Moment bei der Sieben vor der runden Fünfzig angekommen. Die Sieben, die Verbindung einer ungeraden Drei mit einer runden Vier, ist eine heilige Zahl, und die Fünfzig ist die Zahl der Freude, wenn man uralten Überlieferungen glauben darf.
„Hätte, hätte, Fahrradkette …“ wie ein erfolgloser Politiker von der Fraktion der roten Socken mal gesagt hat, ist auch so ein inhaltschwangerer Spruch, der sich wie eine Blutspur durch mein Leben zieht. Früher, also vor vielen Jahrhunderten, im Altertum war jedes fünfzigste Jahr ein Jubeljahr, in dem die Sklaven ihrer Wege gehen konnten. Die Schulden wurden den Geknechteten erlassen, die Felder nicht beackert, und die verpfändete Äcker und Häuser den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben. Aber Träume sind dumpf und bedeutungsleer, begleitet von trivialen Gedanken und zusammengewürfelt aus Versatzstücken einer abgelebten Vergangenheit. Mit viel Glück, mit wohlig gegraultem Seelenbauch und der Hand zwischen den Beinen. Ich bin Realist und kein Träumer. Ich habe das Geld genommen, die Schulden werden mir nicht erlassen, und meine Säumigkeit wird mir nicht verziehen. Ich kann es drehen und wenden wie ich will. Ich habe mich prostituiert und meine Seele verkauft. Wenn ich in kurzer Zeit nicht leiste und literarisch filetiert liefere, wird man mich besuchen, und das wird kein Freundschaftsbesuch, so viel ist sicher. Ich werde ermahnt, dann gefickt und lande wie Luca Brasi[1] Luca Brasi liegt bei den Fischen. Nur mal am Rande erwähnt, ist „Luca Brasi“ ein geiler Name für eine Pizzeria. Ich werde gelegentlich den örtlichen Paten darauf ansprechen, wenn ich es nicht vergesse.
Im Wissen um die Folgen, und dass ich meinen Verpflichtungen nachkommen muss, aber in unerschütterlicher Ahnung von der Größe meiner Genialität, zähle ich destruktiv die zweite Hälfte der Hundert an und schon geht es weiter abwärts. Noch bin ich in guter Zuversicht, dass durch diese kleine Zähl-Übung mein Gehirn wiederbelebt werden kann.
Insgeheim habe ich eine kleine Zwischenhoffnung. Ich wünsche mir, dass spätestens bei der fünf vor Zehn eine schöne und rothaarige Frau die kobaltblaue Tür öffnet und mich, den gehirntoten Paul, den optisch gutaussehenden Clyde mit festem Auftrag um Rat bittet, wie das weiland dem genialen Philip Marlowe[2] geschehen ist.
Mein Gehirn ist leblos und mein geistiger Horizont entwickelt sich zu einer imaginären Linie, die ich mit den vier Fingern[3] meiner linken Hand ergreifen will, die sich aber beim Näherkommen von mir weg bewegt. Noch immer zählend, warte ich sehnsuchtsvoll auf die Reinkarnation meiner leidenschaftliche Bonnie, nicht blond getönt, sondern echt rot und mit grünen Augen wie Velma, die der Bankräuber Moose Malloy[4] mit den Worten: „Süß, süß wie ein Spitzenunterhöschen“ äußerst präzise beschrieben hat.
Ich unterbreche meine rituelle Zählung und sende ein kurzes Zwischengebet zum gerechten Allmächtigen: „Ich weiß, wir waren nicht immer die besten Kumpels. Aber jetzt hast du die Chance, mich als treuen Freund für lau zu bekommen. Bitte schick mir eine Muse mit haariger Möse. Nicht mit einer blanken Fotze, wie die das jetzt alle haben. Bitte einen animalisch echten und unrasierten Rotfuchs. Amen und Halleluja.“[5]
Ich bewege mich nicht, denn in meinem meditativen Zustand könnte auch die kleinste Andeutung einer Bewegung vom Allgewaltigen und Allessehenden als respektlose Geste interpretiert werden.
Endlich ist die Drei vor Null angezählt. Sein Wille geschehe, vor und in der Hölle meines bescheidenen Raumraums. Ich höre das „Klack, Klack, Klack“ von herrisch von herrisch auftretenden Absätzen. Dann das leise Geräusch eines sich in der veralteten Mechanik drehenden Bartschüssels.
Versteht sich drehende „Bewegung“ als Stillstand im Festgefügten, um immer und immer wieder zum Ausgangspunkt zurück zu kommen - ohne die geringste Chance jemals ausbrechen zu können, oder bedeutet Drehung auch Fortschritt und eine Art reflexartiger Erschütterung in den unzähligen Nichtigkeiten einer unfassbaren Ewigkeit? Ist sie es, und kann sie mich aus meinem untoten Zustand erlösen, oder wird sie mir höhnisch lachend (harr, harr, harr und dann oichi chi chi kichernd) einen spitzen Holzpfahl ins kalte Herz schlagen, so wie es Professor Abronsius[6] als probates Heilmittel gegen Vampire und deren Mischpoke empfohlen hat? Darf ich auf meinem Stuhl bis zum Anbruch der letzten Stunde des letzten aller Tage sitzen bleiben, oder muss ich aufstehen, weil ich schnödes Geld für einen Auftrag bezüglich eines, oder besser mehrerer Morde angenommen habe?
Phantasie kennt keine Grenzen, keine Türen, keine Gitter, keine Schlösser, nur dicke Mauern aus luftigem Nichts. Erinnerung und Phantasie sind lesbische Schwestern und ihre Spiele nicht ohne Reiz. Mit den Beiden kann ich durch Räume und Zeiten schweben, ohne meinen Körper zu bewegen. Mit der kichernden Phantasie kann ich in Sekundenbruchteilen die Welt verändern und Wünsche äußern, die ich nicht laut auszusprechen wage, und die samtäugige Erinnerung hilft mir, die Vergangenheit nach Belieben zu verändern und wieder, und immer wieder anders zu erleben. Dann stören die schwulen Brüder Eros und Thanatos. Der Eine gräbt die Leichen aus und ärgert mich mit den ungezählten entgangenen Megaficks, und der Andere erinnert mich an die längst Verwesten, die Frauen, vor denen es mich heute noch mehr graut, als vor Monaten und Jahren und mit mehr als zehn Schöntrink-Pilsbierchen hinter der Binde.
Ich versuche mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und kratze mich am Skrotum. Was ist die Ursache? Sind es Sackratten, oder ist es an der Zeit die Unterwäsche zu wechseln. Ich betrache meinen linken Zeh, der neugierig aus einem kleinen Sockenloch schaut. Handgestrickte Socken halten auch nicht ewig, und ich überlege, ob ich stricken lernen sollte, damit ich guten Freunden eine Rundstricknadel ins rechte Ohr stechen kann. Aber warum sollte ich so etwas tun, ich der friedliebende Paul? Ich darf nicht mehr an Morde denken, und geistvoll male ich mir aus, was hinter der noch nicht aufgestoßenen Tür geschieht, und was ich mit meiner rothaarigen und grünäugigen Velma erleben werde.
Die blitzblaue Tür geht mit einem nicht unangenehmen, aber einige Tropfen Nähmaschinenöl vertragenden Geräusch auf.
Sina ist schön, Sina ist gut, Sina ist geschmeidig, Sina hat blaue Augen, Sina ist momentan hellblond, Sina liebt Pferdeschwänze, und Sina hat einen makabren Humor.
Sina flüstert: „Mein schnuckliger Don …“ und sie küsst mir nicht wie es meinem Rang zusteht die Hand, somdern die hohe Stirn.
Vor Monaten und in schwachen Minuten habe ich ihr meine Leidenschaft für Don Vito Corleone gestanden. In Corleone[7] redet man die Chefs mit „Don“ an. Den Ehrentitel „Don“ bekommt man erst, wenn man mindestens Einem, besser mehreren Mitbewerbern mit der Lupara[8] die Hirnschale weggepustet hat. Wenn man wichtige Leute, oder störende Konkurrenten ins Jenseits befördert hat, wird man zum Capo di Tutti Capi. Seit einigen Wochen nennt sie mich auch „mein Dönnchen“ mit summendem Mäulchen und maliziösem Augenzwinkern. Noch kann ich nicht erkennen, ob Sinas Mimik ein Anflug von Humor, oder banaler Defätismus ist.
Ich bewege mich nicht, ich sage nichts, und ich denke an meinen alten Kumpel Don Vito, der jede Respektlosigkeit mit fein abgeschmeckten Strafen ahndet, und nur mit kaum bemerkbaren Handbewegungen die Bittsteller dirigiert, die für ihre Anliegen alles und noch viel mehr tun wollen, nur um die Gnade der Freundschaft des Dons zu erlangen.
Ich sehe Sina an, und ich spüre, dass Sina zwar ganz nett, aber nicht das ist, was ich mit jeder Faser meines Herzens herbei gesehnt habe. Eine Affäre mit einer verkommenen Frau der es vor Wenigem graut, kann über eine gewisse Zeit an- und aufregend sein, aber so wahr ich hier sitze, Sina ist zur langweiligen Gewohnheit verkommen. Oder wie der alte Nietzsche das Eisen zum Magneten sprechen lässt: „Ich hasse dich am meisten, weil du anziehst, aber nicht stark genug bist, an dich zu ziehen.“[9]
Andrerseits hat Marcus Tullius Cicero gesagt, dass der Dienst am Paul zu dessen Nutzen geführt werden muss, und nicht zum Nutzen derer, denen er vertraut. Nun gut, ich bin sensibel, und wenn des Zaren Schwanz schwillt, gibt es immer einen Mund, der ihn aufnimmt. Ich werde gelegentlich mit Sina darüber sprechen müssen.
Ein Mord ist etwas Besonderes. Sina war es vor langer Zeit. Heute ist sie nur noch Gewohnheit, etwa so wie das von mir entdeckte Fressen-Saufen-Ficken-Phänomen, über das ich an anderer Stelle noch ausführlich nachdenken werde.
Wenn es mir nicht gelingt, wird keiner um mich weinen, auf meinem letzten Gang. Wird keine Sonne scheinen, klingt mir kein Glockenklang. Das ist mir bewusst, und die Aussichten sind düsterer Art.
Ich bin, wie bereits mehrfach erwähnt, ein sensibler Mann und ich bin schwach. Kurzentschlossen und trotz einem beigemischten Quäntchen Resignation, aber auf meine männliche Stärke vertrauend, entscheide ich mich wieder einmal für das Eine und gegen die geistige Auseinandersetzung mit meinem Auftrag.
Der gehauchte Erweckungskuss der falschen Frau auf meine haarlose Gehirnschale zeigt Wirkung auf meine niederen Reflexe. Sina hat das System vom Geben und Nehmen, und der kleinen und größeren „Gefälligkeiten“ verinnerlicht. Es bedarf keiner Handbewegung, denn Sina kann Gedanken lesen und sie besitzt eine seltene Fähigkeit. Sie kann tote Körper von Null auf Hundert in dreieinhalb Sekunden wiedererwecken, wenn es für sie nützlich ist. Das schafft kein Supersportwagen und Sinas Fähigkeiten verdienen ein anerkennendes Lob. Ich denke nicht mehr an meine vier Tage alte Unterwäsche. Der Zenit ist überschritten, und der Samstag ist bald da. Die ungeklärte Sackrattenfrage, für die nur eine, und zwar die deren Namen ich nicht weiß, weil sie sich preisgünstig am Straßenrand feilgeboten hatte, in Frage kommt, stelle ich zurück. Beherzt nehme ich Sinas blondgefärbten Schopf in meine Hände und bewege ihn im Dreivierteltakt des Radetzky-Marsches. Sina versucht mich mit Verve und wie eine Nymphomanin, die mit dem nackten Hintern auf einer heißen Herdplatte sitzt, zu inspirieren. Spontan kommt mir mein rostiger Japaner in den Sinn, der seit einigen Tagen einen Kolbenfresser hat, und sich nicht mehr bewegt. Das Geld für einen neuen Motor muss ich mir noch verdienen, und ich frage mich, ob eine Muslima mit Kopftuch das auch darf, oder ob nur die klassische Missionarsstellung gestattet ist. Ich kann mich nicht auf das Wesentliche konzentrieren. Mord bleibt Mord und ich denke voller Angst an meinen Auftrag.
Sinas Pferdeschwanz wippt hübsch hin und her. Das Nirwana ist noch nicht erreicht, und ich senke wie ein lächelnder Buddha den Kopf. Neugierig betrachte ich das Geschehen, um Sina gegebenenfalls mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Situationsbestimmt denke ich über das Wort „Eselschwanz“ nach, und sehe Sinas pulsierende Wangen. „Warum die Zweifel? Du bist doch gut …“ versuche ich mich mit Selbstsuggestion zu motivieren.
Ein Mord ist ein Mord. Sina hat einen schönen Hals, und ein abgeschnittener Pferdekopf unter der Bettdecke ist nur Sachbeschädigung und der Ärger mit dem Tierschutz und der polnischen Putze hält sich im Rahmen des Erträglichen. Aber Sina ohne Kopf ist unter ästethischen Gesichtspunkten irgendwie unschön. Sina sollte Hut tragen, und Joe Cocker könnte „you can leave your hat on” und „with a little help from my friends” krächzen. Aber Joe hat andere Sorgen.
Ich schließe die Augen und meine Phantasie führt mich in längst vergangene Zeiten mit Köpfen auf langen Stangen. Plötzlich fällt mir das Gerücht ein, dass sizilianische Frauen Rasierklingen in ihren Haaren verstecken, um sich gegen die Avancen zudringlicher Verehrer zu wehren. Vorausschauend nehme ich meine Hände von Sinas Kopf.
Mir war es vergönnt, in einer gutbürgerlich-gute Kinderstube aufzuwachsen, und darum weiß ich was sich gehört. Ich lehne mich zurück. Dankbar und unüberhörbar seufze ich: „Du Gute …“
Ich spreche es nicht aus, aber ich denke: „Wenn er immer noch das tut, was er kann, und wenn er trotz aller Sorgen immer noch brav das macht was er soll, dann muss das Nekrophilie sein.“
Immerhin - in meinem Körper war noch Leben. Ich sitze etwas ermattet, aber immer noch auf meinem Stuhl und mein Perlon-Reißverschluss musste sich mehr bewegen als ich, was meinem destruktiven Gemütszustand sehr gelegen kommt. Ich denke an Schuld und Sühne und Sina richtet sich auf. Ich sehe ihren vermessenden Blick, zuerst von meinem Antlitz, dann abwärts zu meinen Füßen in den handgestickten Socken, und daneben, akkurat ausgerichtet, die bequemen, braunkarierten Filzpantoffeln, dann wieder aufwärts. Sie sagt nichts, aber ihr Blick sagt alles. Soll ich ihr erklären, dass meine Socken ein Geschenk eines guten Freundes sind? Das wirft nur Fragen auf, die ich nicht beantworten möchte.
Ich betrachte ihre junge Gestalt vor der kobaltblauen Tür. Nicht die Tür, Sina sieht aus wie ein blonder Vampir nach dem Biss und vor der Rückkehr in die Familiengruft. Nachdenklich betrachte ich Sina. Ob sich ihre Gestalt in einem Spiegel spiegelt?[10] Ich muss das gelegentlich überprüfen.
Sie tupft mit einem Papiertaschentuch ihren stark geschminkten Mund, und ich lese „Tempo“ auf kobaltblauem Grund. Ist das eine Botschaft aus dem Jenseits? Bedeutet „Tempo“, dass ich mich unverzüglich um die Bearbeitung meines Auftrags bezüglich eines Mordes kümmern soll?
Kann man kommende Wirtschaftskrisen, oder sogar Katastrophen an einfachen Signalfarben erkennen? Wenn sich Frauen keine neuen Klamotten leisten können, trotzen sie dann dem Trübsinn mit leuchtendrotem Lippenstift?[11] Wenn ich an die Geschichtsstunden in meiner schwäbischen Dorfvolksschule denke, dann erinnere ich mich, dass Pfarrer Kussmaul uns unmündigen Kindern gelehrt hatte, dass der Lippenstift nur von Tänzerinnen und Huren nachgefragt wird, und als anständige, deutsche Jungs hätten wir uns von geschminkten Damen fernzuhalten, denn es wären keine solche, sondern solche, und solche kommen in die Hölle und die braven nicht - garantiert. Erst viele Jahre später habe ich erfahren, dass früher, also etwa in den goldenen Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, der rote Lippenstift als optisches Erkennungszeichen für eine Spezialität galt, die heutzutage unter dem Begriff „Französisch“ in aller Munde ist. Plötzlich verstehe ich die urgermanische Angst der Wacht am Rhein und die Vergänglichkeit alles Irdischen. Mein ganzes Leben, viele lange Jahre, kurze Tage und belanglose Episoden, ziehen in Sekundenbruchteilen an mir vorbei und mein Gehirn ist immer noch tot.
Sina fummelt an ihrer Lippenstifthülse, und der patschrote Fettstift dreht sich vulgär aus der falschgoldenen Drehhülle. Mit geübten Strichen korrigiert sie die etwas verschmierten Lippen. Stecken handfeste Interessen dahinter, wenn Frauen zum knallroten Lippenstift greifen? Mir fällt ein, dass der Lippenstifthersteller REVLON die weltweite Stimmungslage kurz vor dem vorletzten Börsen-Crash, in einem legendären Werbespot zusammengefasst hat. „On a bad day, there is always lipstick“, war die Botschaft. Auch der legendäre Bill Clinton hatte seine Probleme mit dem Lippenstift. Er stolperte nicht über die Lewinsky-Zigarre,[12] wie oft fälschlicherweise behauptet wird, sondern der rote Lippenstift der Praktikantin Monica Lewinsky war verwischt, nachdem sie aus dem intern als Oral-Office bezeichneten Präsidentenbüro kam. Daran und an noch mehr Zeitgeschichtliches muss ich in diesen kleinen Momenten denken.
Wie die Mannschaft vor dem Elfmeter greife ich schützend, aber zu spät zum Gemächt. Ich habe keinen Biss gespürt. Dennoch ist mein Herz voller Zweifel. Werde ich dennoch zum Vampir, oder bin ich nur ein gelutschter Sensibler und kein durch einen Biss geadelter Untoter mit eigener Ritterburg in Transsylvanien und mit vielen durchgeknallten Gothic-Vasallen?
Warum achtet man erst im Alltagsgebrauch und immer zu spät auf die kleinen Details? Sina weiß von der Summe Geldes, die ich ohne nachzudenken an mich genommen und mit meinem totsicheren Starfighter-System verzockt habe. Mein nüchterner Restverstand drängt mir verständliche Fragen auf: „Sind nicht die besonders verdächtig, die sich zu sehr engagieren? Geschah die Tat aus Liebe, gepaart mit Umsicht und Arglist? Hat sie ihre Bluse geöffnet, weil sie den sensiblen Paul in Liebe motivieren wollte, oder aus hausfraulicher Vorsicht, damit das gute Stück nicht zerknittert und befleckt wird?“
Ich spüre es überdeutlich. Ich befinde mich in einer spektakulär-traumatischen Entwicklung - das priapöse Lustprinzip wird durch das tröge Realitätsprinzip ersetzt.[13] Aber wird mich die brutale Realität aus meiner Depression herausreißen können, um mich auf dem harten Betonboden der leeren Versprechungen zu zerschmettern?
Plötzlich fällt mir auf, dass sich Sina noch nie mit mir in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Hat sie Minderwertigkeitskomplexe? Fühlt sie sich zu jung und unerfahren, um mit mir auszugehen? Bin ich ihr mit meiner Intelligenz und meinem weltmännischen Auftreten zu überlegen? Hat sie womöglich Hemmungen, wenn ich mich mit ihr zeige? Immerhin liegen zweiunddreißig Jahresringe zwischen ihrem wohlgeformten Titten-Taille-Wackelhüften-Schmollmund-Body und meiner komparatistisch-intellektuellen Präsenz.
Ich sehe, dass die Haut im Dekolleté sämig glänzt, aber ihr Kleidungsstück nicht befleckt ist. Solche Sachen sind bei Sina große Kunst, und Monica Lewinsky hätte bei Sina studieren sollen. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hätte neu geschrieben werden müssen.
Gewissenhaft knöpft Sina ihre geöffnete Bluse zu. Der Mensch lebt nicht nur von der Luft und der Liebe, aber es ist nun mal eine Tatsache, dass Frau manchmal ganz pragmatisch voraus- und mitdenken und auch manches schluckt, um gut verborgenden Ziele leichter zu erreichen.
Interessiert sehe ich ihr zu. Sina beginnt mit ihrer Knöpfarbeit von unten und arbeitet sich nach der traditionellen Karrierefrauenmethode mit gesenktem Kopf und Knopf für Knopf gewissenhaft hoch. Mein Versuch, mich auf einen üppigen Mord zu konzentrieren, weil ich einen Mordauftrag habe, den ich erfüllen muss, und das Sein, das Sollen und auch das Wollen miteinander in Einklang zu bringen, ist bei der Betrachtung des Fleischlichen, das jung und prall aus dem schwarzen Spitzen-Büstenhalter quillt, zum Scheitern verurteilt.
Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich mich entscheiden muss. Mit einem schwarzen Mord, schön prall und blutig zubereitet, kann ich mich nicht anfreunden? Mit der Lupara eine Ladung Sauposten ins Gehirn gepustet erregt zwar achtungsvolle Aufmerksamkeit, aber die Sauerei mit dem verspritzen Gekröse schreckt mich ab, weil ich wie bereits mehrfach erwähnt, ein sensibler Mensch bin. Außerdem klopft dann spätestens nach einer halben Stunde das SEK an meine Wohnungstür. Aber wie soll ich es angehen, ich der sensible Frauenflüsterer Paul?
Vielleicht zuerst ein kleiner Mord zur Übung. Nur so, eher nebenbei, vor und zwischen der großen Langeweile, nur um zu testen, ob mein Gehirn noch lebt, und danach der große Hit.
Gegen meinen Willen gehen mir Fragen über Moral und Gerechtigkeit durch den Kopf. Wie würde ich mich als Unbeteiligter zwischen Mörder und Opfer verhalten? Für wen sollte ich Partei ergreifen, und wer gehört verurteilt und verdammt? Soll ich überhaupt zu einer Partei halten, oder nach dem Motto: „Was du nicht willst was man dir tut, das füg auch keiner Anderen zu“ auf meinen Gerechtigkeitssinn hören? Gibt es unter bestimmten Umständen ein Recht zu morden, vielleicht weil das Salär besonders hoch, oder das Opfer ein widerwärtiger Mensch ist? Spontan denke ich an einen gewissen Herrn Yannik, der in der letztgenannten Kategorie einen Spitzenplatz einnimmt.
Wen darf man ermorden und wen nicht? Da gibt es zum Beispiel den vorstehend erwähnten Herrn, dessen Namen bei mir einen unwillkürlichen Brechreiz auslöst. Dieser Herr hat mich mit schmeichelnden Worten manipuliert und in eine prekäre Situation gebracht. Ich denke, speziell diesen unsympatischen Menschen sollte man ungestraft metzeln dürfen. Aber mir ist bewusst, dass es durch unsere Gesetze felsenfest geschriebene, aber unzählige ungeschriebene Regeln gibt. Frauen dürfen zuerst in die Rettungsboote. Das ist in unter Gleichstellungsgesichtspunkten ein Skandal. Auch die Aufkleber „Baby an Bord“, die die Familienkutschen verzieren, gehören verboten. Das sind nur clevere Täuschungsversuche, die dem hilfreichen Mann und steuerzahlenden Bürger signalisieren: „Rette mich und meine Bälger zuerst, und lass die Männer am Straßenrand verbluten.“ Das ist die brutale Wahrheit, die wieder einmal niemand sehen und hören will.
Frauen dürfen nicht von Männern ermordet werden, das ist unmoralisch, und außerdem gibt es Stress mit grünbewegten Emanzen und auch mit den Lesben. Männer dürfen sich opfern, ertrinken und von Frauen gefoltert und ermordet werden, das wird immer wieder gern gelesen, und wenn der arme Kerl dann noch so etwas Ensetzliches wie eine Affäre mit der teilzeitarbeitenden Frau (hier sei Elke O. aus S. bei Stuttgart erwähnt) des kleinkrämerischen Arbeitskollegen hatte, dann ist das Männermorden, gendermäßig gesehen, schon fast eine gute Tat.
Ich muss an Carl Großmann denken, der zwischen 1918 und 1921 am Berliner Andreasplatz in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs einen Wurststand betrieben hatte. Zwischen dreiundzwanzig und hundert Frauen, die genaue Zahl wurde nie festgestellt, soll er angeblich zu Currywurst[14], Burger und Buletten verarbeitet haben. Ich muss gelegentlich mal den Schnitt ausrechnen, wie viele Cheeseburger mit Pommes da zusammengekommen sind. Da fällt mir ein, dass ich Hunger habe, und die Dönerbuden auch immer mehr werden.
Man hat mir oft bestätigt, dass ich sehr sympathisch wirke, aber Sina ist auch nicht ohne Charme, und ich habe ein geduldetes Dauerverhältnis mit der Frau meines besten Freundes (nicht mit Sina. Sina ist nicht verheiratet, aber Viola). Bin ich wegen meiner empathischen Wesensart ein geschützter Mann, oder nur ein bedauernswertes Opfer reifer Frauen?
Sina unterbricht beim vierten Knopf von unten ihr Vorhaben. Sie hat noch drei vor sich, aber sie hat bemerkt, dass ich mich in einem anspruchsvollen Denkprozess befinde. Ich spüre, dass sie spontan an die viertausend Euronen denkt, und insgeheim hofft, dass ich zu meinen Lebzeiten nicht mehr daran denken werde. Verständig lächelnd und gehorsam senkt sie den blond gesträhnten Schopf, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich sehe ihren Rücken und im Spiegel einen hochgerutschten Rock. Die Schuhe sind neu, denn unter dem linken Schuh, unmittelbar vor, also aus meiner Position gesehen am Absatzansatz ist noch ein kleines, weißes Preisetikett mit schwarzem Aufdruck. Ich lese „99,50“ und „die behalt ich gleich an.“ Ist das eine geniale Variante von Product-Placement, oder will mich der göttliche Jokus[15] mit einer intelligent platzierten Sinnestäuschung auf Abwege bringen. Kann exzessiver Popo-Sex die Lösung für meine Probleme sein?
Sina ist nicht süß, wie das bereits erwähnte Spitzenunterhöschen, und sie hat kein bedeckendes Nichts am Körper. Sina trägt nie Slips. Sist der Ansicht, dass „Schneckenfreiheit“ hygienischer ist, „und ich brauche meine Unabhängigkeit, auch untenrum.“ Beim traditionellen Pferderennen in Ascot würde sie ganz klar und nach Punkten gegen die Kleidungsvorschriften[16] verstoßen. Aber der Anblick ist trotz meiner momentanen Lustlosigkeit entzückend blank und feuchtglänzend, aber nicht ausreichend stimulierend, um mich zu weiteren Großtaten zu verleiten. Ich versuche mich auf das Wesentliche meines üblicherweise schnell anspringenden Triebs zu konzentrieren, aber mein Intellekt schlägt mir ein schlaffes Schnippchen. Wo bleiben die viertausend Euronen, die ich Sina geliehen habe, und dich ich jetzt dringend brauche? Und wie erledige ich meinen Auftrag zur Zufriedenheit meiner gnadenlosen Auftraggeber?
Was kann ein sensibler Paul in so einer Situation tun? Für den Mann und Auftragsmörder gibt es mehrere Möglichkeiten: Ich erhebe meine Stimme und tadele die Vergesslichkeit der jungen Dame streng. Das wäre bei einer Normalfrau zwar eine achtungsgebietende, aber bei Sina eine wirkungslose Geste, und bei Viola auch. Ich muss es mir eingestehen - meine Musen sind wegen dauerhaft nachlässiger Führung äußerst disziplinlos geworden.
Ich bin ein friedlicher und gewaltfreier Mensch mit einem Auftrag. Ich weiß, dass Disziplin das vorrangige Ziel hat, Konflikte zu verhindern, oder zumindest für eine gewisse Zeit zu unterdrücken.
Was soll ich tun, wenn mir Sina suspekt, und Viola langweilig geworden sind. Ist ein Mord unter solchen Umständen naheliegend und verzeihbar? Oder soll ich großzügig über Sinas unzulänglichen Umgang mit Geld hinwegsehen, und ihren Versuch der mündlichen Rückzahlung mit emphatischem Verwöhn-Aroma, großzügig tolerieren? Das wäre gut für meinen Ruf und würde der Welt zeigen, dass ich souverän vergeben und vergessen kann. Sind Sinas Interessen, die Schuldner und Gläubiger zu vergessen?[17] Wenn ich darüber nachdenke, komme ich nur zu dem Ergebnis, dass ich mich auf Sinas Vorhaben nicht einlassen kann. Ich würde meiner Schuldnerin nur zeigen, dass mein Denkorgan tot ist. Andrerseits ist ein gekonnter Blow-Job auch nicht zu verachten, und das sollte lobend erwähnt werden.
Spontan fällt mir eine Alternative ein, die zwar ungewöhnlich und nicht Jedermanns Sache, aber durchaus ehrenvoll ist. Um das Problem in kurzer Form zu umschreiben, bitte ich meine Leser an eine Kreuzfahrt mit einem Luxusliner zu denken.
Wenn ich als verantwortungsbewusster Passagier erkennen würde, dass es dem Kapitän, in meinem Fall der Kapitänin an den fachlichen Voraussetzungen zur Führung des Schiffes mangelt, oder sie sogar Böses gegen mich im Sinn hat, ist es dann nicht besser, das Übel zu beseitigen, bevor es mich beseitigt? Andrerseits laufe ich als zahlender, aber geist- und weitgehend rechtloser Passagier Gefahr, als irrer Meuterer eingesperrt zu werden, wenn ich die Kapitänin von ihrem Platz entferne und kurzerhand über Bord werfe, bevor sie es mit mir macht. Das ist für mich eine Denksportaufgabe, denn der Kapitän, in meinem Beispiel Sina, hat trotz aller Missetaten immer noch das Recht und dazu den strafmildernden Frauenbonus auf ihrer Seite. Aber manchmal muss man als potenzieller Mörder auch Dinge tun, welche die Gefahren in sich tragen, und kurz entschlossen die lästig gewordene Sina, stellvertretend für alle Sinas dieser Welt, der rauen See übergebe. Oder anders und kurz und bündig gefragt: „Darf man eine attraktive Mörderin beseitigen, ohne seelischen Schaden zu nehmen, bevor sie ihren Gönner und Gläubiger ermordet?“
Ich befinde mich nicht auf einem Schiff, und auf hoher See sind rettungsbootmäßig gesehen, Männer immer benachteiligt. Ich sitze auf einem harten Holzstuhl und in meinem Kopf ist nichts, denn mein Gehirn ist untot.
Ich muss wieder an meinen Auftrag denken, und an einen Mord, oder auch an mehrere, wenn meine Auftraggeber zufrieden sind und die Bezahlung stimmt. Mein Versuch, mir einen Betonschuh an Sinas gepflegten Füßen (Größe 37 mit lackierten Fußnägeln und einem kleinen Silberring am zweiten Zeh von links) vorzustellen, führt zu nichts. Ein Betonmischer klauen, in meine Wohnung schleppen, Beton anrühren und in eine Waschschüssel füllen, dann Sina ein Fußbad wegen ihrer schmerzenden Füße anrühren, könnte mit einer subtil ausgeklügelten Überredungstechnik gerade noch gelingen. Aber wie transportiere ich zweiundfünfzig Kilo zappelnde Sina und eine schwere, mit Beton gefüllte Waschschüssel aus der dritten Etage zu meinem Stellplatz und in meinen rostenden Japaner mit Kolbenfresser. Der Teufel steckt wieder mal im Detail und ich spüre die ersten Anzeichen kommender Kopfschmerzen.
Die blaue Tür irritiert meine Überlegungen. Was liegt dahinter und was wird wann und wie geschehen? Mein totes Gehirn schmerzt und ich schließe die Augen. Sind Schmerzen nur Illusionen, die Schmerzen bereiten, oder sind die Schmerzen in meinem Gehirn real, weil mein Gehirn doch noch lebt, sich streckt, sich räkelt und langsam, für Internet-Junkies scheinbar unendlich langsam in den binären Fragen- und Antworten-Modus schaltet.
Was ist zu tun, und was sollte ein guter Mörder tunlichst unterlassen? Moral ist eine wandelbare Angelegenheit. Was vor zehn Jahren noch skandalös war, ist heutzutage die Normalität. Genauso verhält es sich mit dem sogenannten Bösen. Betrachten wir die Angelegenheit mordsmäßig philosophisch. Moral, Tugend und Laster stehen in unserer Gewalt, denn wir sind erwachsene Menschen im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte.
Wenn also das Tun in unserer Gewalt steht, dann können wir auch das Morden unterlassen, und ich bin von meinem Auftrag entbunden. Aber was ist mit dem verballerten Vorschuss und was geschieht mit Sina?
Für einen Mord müsste man zuerst einmal grundsätzliche Fragen beantworten. Wer mordet wann, wie, wo, wen und warum? Einfache Fragen, die keine ultimativen Antworten, aber Vermutungen und Spekulationen geradezu provozieren.
Ich bin verzweifelt. Meine Gedanken schaffen es nicht, sich in die Tiefen eines genialen Charles Bukowski-Gehirns zu begeben.
Zu jeder Tags- und Nachtzeit werden eine Menge Verbrechen begangen, die niemals aufgedeckt werden. Sogenannte „weiße Morde“, also unaufgeklärte Morde, oder Morde, bei denen die Leiche spurlos verschwindet, werden bei Insidern respektvoll als Rolls-Royce unter den Morden besprochen. Aber ich vertrete eine andere Meinung. Bei genauer Betrachtung der Umstände sind unaufgedeckte Verbrechen und verschwundene Körper grobe Fehlleistungen der Täter. Ein unaufgeklärter Mord ohne Leiche ist zwar eine intelligente Tat, aber ohne öffentlichkeitswirksame Aufmerksamkeit insgesamt schlecht, weil das Werk den Ruhm des Mörders nicht mehrt. Die Presse tappt im Dunkeln, versteigt sich in Vermutungen, und den meisten Menschen fehlt es an Phantasie, die großartige Tat in seiner ganzen Dimension zu begreifen. Nur bei spurlos verschwundenen Politikern können weiße Morde zu lohnende Taten werden. Der Mörder bekommt viele Dankesschreiben, oft eine ehrenvolle Auszeichnung, manchmal auch das Bundesverdienstkreuz mit Stern und rotem Schulterband, und das war es dann auch.
Grausame Morde mit viel Blut und sorgsam lädierten (tranchierten) Leichen kommen in die Medien. Das ist gut für die Auflagen der Medien, interessiert die Leser, Seher und Hörer und ist darum auch gut für das Image des Mörders.
Oft kommt immer gut, aber allzuviel ist ungesund, ist meine Devise, denn ich bin nicht nur empfindsam, sondern auch bescheiden. Zu viele Morde lassen die einzelne Tat zu einer schnöden statistischen Zahl verkommen, und phantasielose Wiederholungen nach dem immer gleichen Strickmuster langweilen mit zunehmender Häufigkeit das dekadente Publikum. Nur das richtige Mord-Mittelmaß macht sich gut in der Biografie. Aber was ist das richtige Maß für, sagen wir mal großzügig, die nächsten fünfhundert Jahre? Was ist der goldene Mord-Schnitt, der mich aus den Niederungen der Alltags-Mörder heraus hebt und auf strahlenden Thron der genialen Spezialisten beamt?
Mein Gehirn ist tot, aber mein Instinkt flüstert mit ins rechte Ohr: „Du musst das Mordproblem anders angehen, nicht statistisch und auch nicht technisch - mehr psychologisch und vor allen weiteren Überlegungen, vorrangig geschlechtsspezifisch.“
Also versuche ich mich zu konzentrieren und stelle mir noch einmal die Kombinationsfrage: „Wer mordet wen und warum?“
Ich betrachte die kobaltblaue Tür und Sina richtet sich nach getaner Dienstleistung auf. Sie zieht den Saum nach unten und korrigiert den richtigen Sitz ihres grauen Rocks. Der rückwärtige Reißverschlus ist aus Perlon und hält auch größere Belastungen aus. Sinas Reißverschluss sitzt absolut perfekt, und betont ihre Glutealregion. Mit schnürendem Gang geht sie in die Küche und schaut in den Kühlschrank, denn sie hat einen trockenen Hals - sagt sie.
Beim Aufleuchten des Lichts fügt sie beiläufig hinzu: „Hast du heute etwas mit viel Knoblauch gegessen?“
Ich habe, und ich spüre den kalten Hauch des Todes, der aus dem offenen Kühlgerät zu mir her wabert. Ich war nicht beim Thai, sondern ausnahmsweise beim Türken, der Original italienische Pasta im Angebot hat, aber seine Kochgewohnheiten nicht ablegen will. Ich nenne das kullinarische Integrationsverweigerung, und frage mich, ob der Begriff „Knoblauchfresser“ ethisch vertretbar ist.
Ich zerrede mich, und versuche auf das Thema zurückzukommen. Die eigentliche, also die in der Tiefe verborgene Ursache für meinen Zustand ist mir momentan entfallen, aber irgendwo habe ich gelesen, dass die Mehrzahl der Frauen heimtückisch mit Gift mordet, denn Frauen sind sensibel, und Frauen morden nur, wenn sie sich aus der Knechtschaft eines despotischen Mannes befreien wollen. Diese Variante kann man als sozial gerechtfertigten und ethisch vertretbaren Mord verzeihen.
Ich bin sehr zart besaitet, sagt meine zweitbeste Freundin Viola. Aber ich fürchte, dass ein empfindsamer Mann der mit Gift mordet, als tuntiger Mann abgestempelt wird? Werde ich mit dem Griff zum Gift zu einem schwulen, zukünftigen Mörder mit einer Geliebten, deren Gefühle und Motive mir nicht mehr ganz geheuer sind, und mit der Frau meines besten Kumpels, die mir langweilig geworden ist, und die ich nicht umtauschen kann, weil sie irgendwie zum Inventar im Sammelsurium der Gewohnheiten gehört?
Ich rufe nach Sina und frage, ob ich nicht etwas zu empfindsam für diese brutale Welt wäre. Sie kommt zwei Schritte aus der Küche. Dann bleibt sie in respektvollem Abstand stehen und sie schüttelt den Kopf. Will sie mir damit sagen: „Nicht schon wieder …“
Verständnislos sieht sie mich an. An ihrem Blick kann ich unschwer erkennen, dass sie denkt „der spinnt …“, und außerdem den unübersehbar gedachten Zusatz „… mal wieder“ als Wirkungsverstärker für ihre Einstellung bezüglich meiner Person dran hängt. Sie sagt nichts, aber sie dreht sich um, denn sie hat noch in der Küche das zu tun, was Frauen in Küchen gern tun.
Woran denken Frauen vor, bei und nach einem Mord? Denken Frauen überhaupt, oder denken Frauen zuerst an die mögliche Sauerei in der Wohnung, und dann an die Tat? Welche Rolle spielen Küchenkräuter bei einem sensiblen Giftmord. Schon die Äbtissin Hildegard von Bingen (die hat angeblich 1098 – 1179 gelebt) hat die giftigen Akeleien in ihrer „Physica“ ausführlich beschrieben. Auch Zauberkraft und Impotenz sollen Akeleien brechen können, was mich sehr wundert, denn Hildegard war eine Heilige, die sich aus den zwischenmenschlich-weltlichen Dingen hätte heraushalten sollen. Warum also die klerikale Beschreibung zur richtigen Mischung?
Viola hat mir vor einigen Tagen erzählt, dass sie neuerdings ihre Bio-Ader entdeckt hat, weil sie sich vorgenommen hat, auf Werners Gesundheit zu achten. Sie hat ihm eine leckere Eiben-Marmelade[18] angerührt. Dazu hat sie die roten Beeren kurz aufgekocht, Einmachzucker dazu gegeben und das Gemisch durch ein Sieb passiert. Fertig war der exquisite Brötchen-Aufstrich für den sonntäglich gedeckten Frühstückstisch.
Ob moderne Frauen anders denken und handeln würden, wenn die Witwenverbrennung wieder ein fester Bestandteil unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung wäre?
Ein gestandener Mann ist nicht sensibel. Er darf nicht sensible sein, denn er ist seit Urzeiten Jäger und Sammler. Genetisch bedingt mordet er anders als Frauen. Der Mann nimmt seine Qualitäts-Edelstahl-Axt von der Loch-Wand seines wohlsortierten Werkzeug-Sideboards. Er erwirbt eine neue, und zwar die beste Kettensäge mit elektronischer Zündung und großer Schnitt-Tiefe, oder er verwendet ein Gerät das schön laut ist - eine Pistole nicht mit fünf oder sechs, sondern mit sieben linksdrehenden Zügen, oder noch besser eine vollverchromte Pump-Gun.
Ein Mann tut das, was ein Mann seit Urzeiten tun muss. Männer brauchen Krach, und wer schießen will, soll schießen, und nicht lange rumquatschen - so denken richtig gedrehte Männer.
Ich dagegen habe einen Auftrag und ich brauche meine Zeit, um über das Geräuschproblem als existenzielles und geschichtliches nachzudenken. Ist das Mann-Krach-Verhalten vergleichbar mit dem Schrei, den urzeitliche Jäger nach dem Erlegen und vor dem Zerlegen der Beute ausgestoßen haben, um den Weibchen in der Höhle zu signalisieren: „Weiber ich komme, und die Schönsten können sich schon mal nackig machen“, und um den erfolglosen Losern in den Wäldern zu verstehen zu geben: „Jungs, versucht es erst gar nicht. Ich hab Frischfleisch und ich kann mir jetzt die leckersten Frischfleisch-Torten aussuchen.“
Männern ist der Gedanke an das Putzen erst mal egal. Das ist Frauenarbeit. Hauptsache das Mordwerkzeug ist machomäßig groß und macht einen Heidenlärm. Männer denken in großen Dimensionen. Männer ziehen Wände nach statischen unt technischen Gesichtspunkten hoch, und mauern ihre ungeliebten Frauen dahinter ein. Das schmücken der frisch verputzten Wand ist Frauensache.
Frauen morden still, denn Frauen denken nicht weiter, was auch genetisch bedingt und ein vollkommen anderes Thema ist.
Wenn ein Mann Gift verwendet, kann man davon ausgehen, dass er ein persönliches Problem bezüglich seiner Polung hat. Vielleicht ist er eine tuntige Schwuchtel, oder eine damenwäschetragende Tunte, oder sogar Beides und noch viel mehr. Gift ist heimtückisch und darum verwendet ein richtiger Mann kein Gift. Ich bin sensibel und ich will und muss ästhetisch morden - und ich bin keine Schwuchtel, denn ich liebe Frauen. Muss ich jetzt trotzdem martialische Mordwerkzeuge verwenden?
Ich bin ein Schöngeist und mich faszinieren ganz andere Details. Ich könnte stundenlang, bewaffnet mit einem Spezialschraubendreher und einer Lupe, die Stellschraube am Abzug eines Repetiergewehrs verjustieren. Hauchzarte Einstellungen sind für mich ein Höchstgenuss, um mit sanfter Berührung meiner Fingerkuppe den Schlagbolzen auszulösen - so häuchleinzart, damit ich mir feinabzugsmäßig ins Knie schießen kann - versehentlich.
Ich sitze auf meinem Stuhl und betrachte die kobaltblaue Tür. Mein Gehirn beginnt zu arbeiten. Noch ist es nicht tot, es beschäftigt sich nur mit dem Tod und einem blitzblauen Nachstrich, denn ich sehe, dass ich etwas unordentlich beim Vorstrich gewesen bin. Bei einem Schaft-Rohling aus kaukasischem Walnussholz wäre ich es nicht. Dafür würde ich sogar Sina hergeben, um das edle Stück wochenlang mit Leinöl einzulassen, und ihm dann mit dem Druck meiner Händen eine edle Mattigkeit ins Holz zu massieren, so lange, bis ich in sein jahrhundertealtes Birdseye[19] blicken kann.
Sina hantiert in der Küche und ich versuche mich auf das Problem der Entsorgung zu konzentrieren, das sich für einen passionierten Umweltfetischisten zu einer ernsten Angelegenheit entwickeln kann. Ich bin gesellschaftlich bestens konditioniert. Darauf bin ich stolz, und darum trenne ich auch den Hausmüll, so wie es von der Legislative vorgeschrieben ist. Meine ehemals ohne System gefüllten Müllsäcke landen aus Angst vor der Executive schon seit Monaten nicht mehr in der Tannenschonung im nahen Wäldchen. Säuberlich verschraubt und nicht zerdrückt bringe ich sogar die Plastikflaschen in den Supermarkt zurück, da wo sie herkommen, und zum Dank bekomme ich etwas Kleingeld in die Hand gedrückt, damit ich neue Plastikflaschen kaufen kann.
Aber wohin mit einer Leiche? Wenn ich mit Werner ein ernstes Gespräch von Mann zu Mann führe, kann ich ihm mit gutem Zureden und etwas rhetorischer Geschicklichkeit seine Viola retournieren, denn er ist mein bester Kumpel und auch mein Steuerberater. Vielleicht findet er auch einen Weg, das Problem aus steuerlicher AfA Sicht durch Abgabe für Abnutzung anzugehen.
Bei Sina sieht das anders aus. Ich kann mir vorstellen, dass sie auch in einer Mülltüte noch hübsch aussieht, aber ich kann sie nicht einfach am Waldrand ablegen, denn mein sensibilisiertes Umwelt-Gewissen würde mir unweigerlich unruhige Nächte bereiten, und unausgeschlafene Mörder sind unkonzentrierte Mörder und darum auch schlechte Mörder. Die Frage der sozial unbedenklichen und politisch korrekten Entsorgung steht unbeantwortet wie ein Menetekel an der kahl gekalkten Wand im Küchenraum.
Sina lebt, sie ist immer noch hier und nicht dort. In welche Richtung ich auch denke, die Aufgaben kommen, bleiben und gehen, und die Fragen nach dem Was, Wie, Wo, Wann und Warum sind immer die gleichen. Auch mein gedanklicher Konflikt zwischen ethischen, ästhetischen und praktikablen Werten wächst im Minutentakt.
Langsam lichten sich die Nebel, und ich sehe wieder klar. Der Beruf des Mörders erfordert eine hohe Spezialisierung, die dem Normal-Sterblichen vollkommen unbekannt ist. Ich habe gehört, dass man schon aus Hautschüppchen, deren Durchmesser kleiner als ein Haar ist, DNA-Material isolieren und ein DNA-Profil erstellen kann. Unter solchen Voraussetzungen sollte ein Profi-Mörder die Anschaffung eines Ganzkörperkondoms in Erwägung ziehen.
Je mehr ich über einen Mord und seine Vor- und Nachbearbeitung nachdenke, umso größer wird meine Furcht vor der eigentlichen Tat. Ich brauche Rat und rufe nach Sina: „Sag mal Honey, wie machst du das so? Hast du ein System?“
Sina kommt telefonieren aus der Küche, und gibt mir mit erigiertem Zeigefinger vor ihrem Mund zu verstehen, dass ich gefälligst schweigen soll.
Ich sitze, ich schweige, ich betrachte die kobaltblaue Tür und denke an einen Mord, oder bei Erfolg und guter Honorierung auch an mehrere in Serie.
Sina beendet mit einem verführerisch-gurrenden Lachen ihr Telefongespräch. Stirnrunzelnd frage ich noch einmal: „Du hast doch Erfahrung. Wie machst du das so - normalerweise?“
Sina kramt in ihrer kleinen Handtasche aus der abgezogenen Haut eines geschützten Reptils. Ich denke: „Das Vieh hat ´s auch überstanden“ und Sina antwortet ohne von ihrem Sammelsurium im Beutel aufzusehen: „Also ich nehm am liebsten Plastiktüten vom EDEKA. Die sind reißfest und die Farben erinnern mich irgendwie an Eierlikör ...“
Mein Gehirn begreift nicht, denn es lebt noch nicht so richtig, oder nicht mehr, je nachdem und aus welcher Perspektive man die Funktionalität des Organs betrachtet.
„Eddegga?“ frage ich verständnislos, und Sina antwortet dem Begriffsstutzigen: „… und braunes Paket-Klebeband. Das Durchsichtige reißt zu schnell und lässt sich schlecht abrollen.“
Ich überlege und bin ratlos, weil ich die Begriffe nicht sinnvoll mit meinem beabsichtigten Vorhaben und Sinas zwölf dahingegangenen fast-Ex-Ehemännern in gedanklichen Zusammenhang bringen kann. Sina sieht die Mimik meiner geistabsenten Verständnislosigkeit.
Sie deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger eine linksdrehend kreisende Handbewegung an.
Ich gebe ihr murmelnd zu verstehen, dass mein Gehirn momentan etwas untot sei, und sie antwortet liebevoll: „Um den Hals Dummerchen. Das Klebeband um den Hals.“
Jede Methode folgt einem einfachen Ordnungsprinzip. Nur wenn ich den Zweck und die Technik verstehe, kann mein Gehirn auch das Motiv des Handelnden verstehen. Mit halbgeöffnetem Mund sehe ich Sina an, und sie erklärt mir kichernd und wie einem grenzdebilen Analphabeten: „Du nehmen Plastikdüdde und stülpen über aldes Kopp. Dann mussu nehmen Glebbeband un viermal um faltiges Hals bis nix mehr Luft. Kapische?“
Jetzt verstehe ich Sinas Erfolgssystem, das immerhin schon zwölfmal nicht versagt hat. Sina fügt kichernd hinzu: „Ich liebe lebende Mittel …“, und spontan muss ich daran denken, dass ich schon länger nicht mehr an meine auf meiner Hitliste auf den zweiten Platz abgestiegene Freundin Viola gedacht habe. Viola hat ihre eigene Methode entwickelt. Sie will Werner mit destilliertem Wasser umbringen. Angeblich soll diese Behandlungsweise totsicher und die unnatürliche Ursache nicht nachweisbar sein.
„Das militante Arschloch (Werner, Violas Ehemann und Violas Original-Ton) bekommt ein Jahr lang nur destilliertes Wasser zum Trinken. Das entzieht dem Körper alle wertvollen Mineralien und Spurenelemente, und nach einem Jahr bin ich Witwe“ hat mir Viola in einem vertraulichen Moment gesagt.
Ich habe Werner, meinen besten Kumpel und Steuerberater in Personalunion gefragt, ob er von der sogenannten Destillationsmethode im Spannungsfeld von Geld und Ehe schon mal was gehört hätte, und Werner hat geantwortet: „Ja klar, das ist wieder mal eine von Violas Bio-Spinnereien. Ich soll nur noch ihr gesundes Bio-Wasser trinken, sagt sie, aber ich neutralisiere ihr Geschwätz mit einem gut eingeschenkten Weizenbier.“
Nach dem fünften Bier habe ich Werner verlassen, der vermutlich immer noch an seinem Destillationsneutralisierungsprogramm mit Pilsbierchen und Weizenkaltschalen arbeitet. Nach diesem Gespräch unter Männern ist Viola wegen schweren intellektuellen Mängeln auf meiner Hitliste weiter gefallen. Unschwer kann ich vorhersehen, dass Viola nicht so schnell zur Witwe avancieren wird, denn Werner ist zäh und wie bereits erwähnt, auch mein schlitzohriger Berater in steuerlichen Angelegenheiten, und darum eine schützenswerte Spezies.
Sina klappert mit allerlei Gerätschaften in meiner Küche und ich rufe: „Aber wie bekommst du den Kopf in die Plastiktüte. Das macht doch niemand freiwillig?“
Sina kichert aus der Kombüse: „Schlaftabletten zerstoßen und in den Pudding. Am besten Waldmeister, wegen dem Geschmack. Dann kurz ziehen lassen und eine Stunde vor dem Mittagessen in den Kühlschrank. Eine Stunde nach dem Mittagessen die Tüte und dann das Klebeband.“
Sina ist weder sensibel, noch eine gute Hausfrau, denn Sina macht sich um das Entsorgungsproblem keine Gedanken. Außerdem räumt sie nie meine Küche auf, was mir wegen den unsauberen Ecken und Tellern zunehmend lästig wird. Susanne ist da ganz anders. Susanne geht alle zwei Wochen zum Frauenstammtisch, sagt sie ihrer Familie, und wenn ich es verlange, dann putzt Susanne auch nackt und das gern, demm Susanne hat eine devote Ader, die sie im ehelichen Gebrauch nicht ausleben kann. Aber das ist eine vollkommen andere Geschichte, die nicht hierher gehört.
Andrerseits ist Sina eine erfahrene Heiratsschwindlerin, oder Subjektmanagerin wie sie gern sagt, mit einer langen Referenzliste, und hohem Einkommen, wenn man von den viertausend Euronen einmal absieht, die sie mir immer noch schuldet.
Mein Gesäß schmerzt, weil ich immer noch auf meinem Stuhl sitze, und gedankenverloren die kobaltblaue Tür betrachte. Mein Gehirn ist noch tot, und mein Körper zu schwach um aufzustehen.
Ich muss an die alten Zeiten, die Guten denken. Früher war alles beschaulicher, geruhsamer und romantischer. Der ehemalige Chorknabe und Heiratsschwindler Henri Désiré Landru[20] schaltete oder antwortete auf Heiratsanzeigen und hat so über zweihundert gutsituierte Muschis klargemacht. Das ist auch im modernen Internet-Zeitalter eine immer noch beeindruckende Kontaktmenge. Der alte Landru hatte viel Gefühl im Stift, und nach seinen Liebesbriefen brannten die mittelalten Damen im sprichwörtlichen Sinn. So ein literarisch unterfüttertes Vorgehen zeigt eine gewisse Größe, und Landrus Stil kommt meinen Vorstellungen schon näher. Oder wie mein Großvater väterlicherseits gern zu sagen pflegte: „Sohn“, dann zog er immer schmatzend an seiner Pfeife „merke dir für ´s Leben. Alte Hütten brennen schnell und heiß.“
Ich weiß, dass ich in der Vor-Internet-Zeit Liebesbriefmäßig gesehen, auch ziemlich gut war. Elke, eine leider früh verblühte, strohblonde Schönheit mit breitem Becken und großen Brüsten, schleppt meine Briefe nach immerhin zwanzig Jahren immer noch mit sich herum. Erst vor einigen Wochen hat sie mir telefonisch mitgeteilt: „Wenn du mal wieder den Mond sehen möchtest, dann heb ich für dich den Rock und bück mich …“
Den Mond wollte ich nicht sehen, denn ich habe wenig Zeit und einen Auftrag, den ich erfüllen muss. Aber welche Menge an literarischer Romantik kann eine Frau heutzutage noch ertragen? Das Internet ist eine starke und schnelle Konkurrenz und ein Auffrischungsseminar für Heiratsschwindler würde mir vermutlich mehr als nur gut tun. Ich muss das gelegentlich mal mit Sina diskutieren und eventuell einen Workshop konzipieren. Die Zielgruppe und Kontaktfrage dürfte damit nicht das eigentliche Thema sein, sondern eher die Frage der richtigen Portionierung.
Landru hatte es noch vergleichsweise gut. Der hatte die Qual der Wahl, und elf oder auch mehr Frauen und dazu einen niedlichen, kleinen Wuschelhund mit einer Handsäge aus dem Pariser Warenhaus „Au Bon Marché“ sorgfältig zerkleinert und im Kohleofen verheizt. Das geht heute nicht mehr, denn Kohleöfen sind selten geworden, und die Einzelteile von einsamen mittelalten Damen passen nicht in die Zentralheizung. Es sind oft die kleinen Details, die einen großartigen Plan scheitern lassen.
Ich komm wieder ins Grübeln und mein Gehirn ist immer noch wie tot. Es will sich nicht bewegen, weil zu einem intelligenten Mord nicht nur die Tat an sich, sondern auch ein spektakulärer Tatort gehört.
Tatort?
Ort der Tat?
Ort für stille Taten?
Stiller Ort für kleine Geschäfte?
Große Taten an einem stillen Ort?
Zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß, aber neue Fragen geradezu provozieren. Zum Beispiel die Frage, wie sich ein neuer Papst in seiner Wohnetage verhalten würde, wenn er feststellt, dass beim Umbau seiner Räume der Einbau der Toilette vergessen wurde.
Sagt er: „Aller Anfang ist schwer“, oder fragt er: „Gibt es hier nur Engel?“
Vielleicht betet er: „Nichts Menschliches ist uns fremd“, oder „hier ist nicht der Ort“, weil Engel keine menschlichen Bedürfnisse haben, was ja in klerikalen Kreisen unumstößliche Tatsache ist.[21]
Damit bin ich beim Tatort. Also hier in meinem Wohnzimmer geht es an den Wochentagen mordmäßig nicht, und aus Glaubensgründen auch nicht an den Sonntagen. Da hätten meine Katzen und meine polnische Putze etwas dagegen.
Sina gibt mir einen Kuss auf die Stirn und flüstert: „Schatz, ich hab dir ein leckeres Früchte-Jogurt gemacht. Das Schüsselchen steht im Kühlschrank. Ich gehe jetzt. Ich muss zur Arbeit.“
Ich denke: „Sina und Arbeit. Aber Hunger hätte ich schon.“ Ich lächle gedankenverloren, denn mein Gehirn ist noch etwas untot, und etwas flau im Magen ist mir jetzt auch noch.
Sina öffnet die blitzblaue und schlecht lackierte Tür. Sie dreht sich noch einmal um und wirft mir einen gehauchten Abschieds-Handkuss aus der linken Handfläche zu.
Sina ist sehr jung und ich bin ein überreifer Mann. Die rotlackierten Finger ihrer rechten Hand krallen sich in die zusammengenähte Haut des toten Reptils. Sie schließt die Tür und ich wanke mit schmerzenden Testikeln und leisem Glockenklang in die Küche, die nach meinem ersten Eindruck so ist, wie sie immer ist. Dann öffne ich die Kühlschanktür und denke spontan: „Oh Jogolé“, denn aus den Augenwinkeln sehe ich auch eine zerknitterte, gelbe Plastiktüte, vermutlich achtlos mit dem linken Pumps unter den Küchentisch geschoben.
Dann sehe ich neben dem Bier eine Sektflasche für den Fall der Fälle. Spiele mit Champagnerflaschen hat mir Sina gezeigt, und auch Viola präferiert gelegentlich nasse Spiele, wenn es gilt, einen neuen Lover zu beeindrucken. Ich schließe die Kühlschranktür und ich nehme an, dass auch das Licht im kaltweißen Raum erloschen ist.
„Sie schwenkte eine Champagnerflasche und begoss mich mit dem Inhalt, es war eine prickelnde Begegnung“, sagte ein französischer Professor über den ersten Moment des Kennenlernens. Momentan steht er vor Gericht, weil seine Frau spurlos verschwunden ist. War das ein perfekter Mord, oder ist der Professor nur ein unbescholtener Bürger mit einem Hang zu alten Hitchcock Filmen, der nach zehnjähriger Ehe nicht mehr angepisst im teuren Champagnerregen stehen wollte?
Die Leiche der Professorenfrau wurde nie gefunden, und mir ist nach Süßem. Ich esse vier Löffelchen von Sinas Joghurt. Das halbvolle Näpfchen schiebe ich zurück in den Kühlschrank. Wenn die grau gestreifte Nachbarskatze wieder mal auf meinem Balkon herumstreunt, habe ich für das süße Ding ein Leckerli.
Ich habe immer noch Hunger und ich denke an das kleine chinesische Restaurant an der Ecke, das jetzt einen neuen und immer lächelnden Besitzer hat. Mein Gehirn ist nicht mehr ganz tot. Ein Restquäntchen Leben beginnt zu kombinieren. Hat hierzulande schon mal jemand über die Frage nachgedacht, warum es keine toten Chinesen gibt? Ich habe noch nie eine Traueranzeige über einen dahingeschiedenen Chinesen gesehen. In Italien ist das nicht anders. In Rom leben etwa zwanzigtausend Chinesen. Keiner kommt neu hinzu, keiner geht und die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen bleibt seit vielen Jahren konstant. Nur gestorben wird nicht. Die römische Polizei sagt, es habe vor fünf Jahren einen Fall von Einäscherung gegeben, und die Asche sei nach China geschickt worden. Es gibt keine Begräbnisfeiern, keine Bestattungsinstitute und keine Spur von toten Chinesen. Die römische Polizei hat eine Sonderkommission auf das Mysterium der toten Chinesen angesetzt. Die Ermittlungen der Sonderkommission „Tote Chinesen“ sind inzwischen ergebnislos abgebrochen worden.[22] Die lebenden Chinesen stehen in ihren Restaurants. Sie lächeln, sie schweigen und sie liefern frei Haus. Ich muss mit einer kleinen Übelkeit kämpfen, denn noch vor wenigen Tagen fand ich das chinesische Hühnerklein mit Reis sehr lecker.
Wie schmeckt das Weichfleisch von Sina? Also bei einer Hungersnot im Gebirge würde ich, aber nur in großer Verzweiflung, an Sinas Oberschenkel und an ihren Pobacken mit dem linksseitigen Tattoo 4711 und an der rankenden Rose knabbern, denn Sinas Po-Fleisch ist fest und lecker.
Da fällt mir eine Geschichte ein. Vor einigen hundert Jahren soll es in Zentralafrika große Sklavenmärkte für Frischfleisch gegeben haben. Die Oberschenkel, das Bauchfleisch und die Hinterbacken waren begehrte Stücke mit hohem Nährwert. Um den Preis hochzutreiben wurden besonders wohlschmeckende Weichteile mit Kreide markiert. Eine besondere Delikatesse sollen die Hoden gewesen sein. Manche Sklaven sollen sogar richtig stolz gewesen sein, wenn sie für einen hohen Preis verkauft wurden. Ich frage mich, wie man die Knochen, die Hände und Füßen verwendet hat. Wurde da gebrutzelt, gekocht oder gegrillt? Was ist mit dem kleinen Finger meiner linken Hand geschehen und wo ist er geblieben?[23]
Mein Gehirn ist untot, ich habe einen Auftrag, und ich habe ich etwas Schmerzen im Gulliver, wie Alex[24] der Beethoven-Fan jetzt sagen würde. Ich setze mich wieder auf meinem Stuhl und betrachte das lackierte Holz der Tür. Die Zeit vergeht, und wer einen Pakt mit dem Teufel abschließt, findet keinen Frieden. Ist die Ursache der Vorläufer der Tat, oder entwickelt sich die eigentliche Tat aus vielerlei Ursachen? Ich weiß es nicht, aber offensichtlich verstecken sich hinter dem eigentlich Selbstverständlichen die schwierigsten Probleme.
Vor vier Monaten war die Liebe noch frisch und Sina meine vorrangig präferierte Muse, aber heute? Ich erinnere mich, dass Sina schon wieder vergessen hat, mir die Viertausend zurück zu geben, die ich ihr schon vor Monaten gepumpt habe, weil sie wegen einer kleinen Unpässlichkeit etwas in Bedrängnis war, und außerdem meine goldene Sparkassen-Eurocard seit mehreren Tagen verschwunden ist.
Ob der Beruf mit der Berufung zum Mörder positiv korreliert? Die möglichen Antworten auf diese Frage müsste ich gelegentlich mal eruiren. Die naheliegenden Ergänzungsfragen wären dann: Welche Berufe sind für Mörder besonders gut geeignet? Gibt es Berufe, in denen überdurchschnittlich viele Mörder anzutreffen sind? Und Augen auf bei der Berufswahl. Welche Schulabschlussnoten muss der Schulabgänger mitbringen, um einen qualifizierten Ausbildungsplatz zu ergattern?
Ohne den aktuellen Zensus zu Rate zu ziehen, also rein gefühlsmäßig, kämen Metzger und Apothekerinnen in meine engere Auswahl. Für mich wären auch stark behaarte Dönerbudenbesitzer, Fleischwursthersteller, und an erster Stelle asiatische Restaurantbetreiber verdächtig. Von Zahnärzten wusste ich bis vor wenigen Tagen nur, dass dieser Berufsstand durch eine hohe Suizidrate unangenehm auffällt. Dass Zahnärzte auch als Handelsunternehmer erfolgreich sein können, war mir neu, aber nichts ist unmöglich. In den USA stand vor einigen Monaten ein Zahnarzt, zusammen mit drei Komplizen vor Gericht. Er soll Patienten nach deren Tod illegal Organe und Knochen entnommen haben, um sie en gros zu verkaufen. Bei seiner Vorgehensweise war er offensichtlich sehr erfinderisch. Damit der Diebstahl nicht auffiel, füllte er zusammen mit drei Helfern die Leichen mit OP-Handschuhe oder Schürzen wieder auf, bevor sie die Körper wieder zunähten. Entnommene Knochen ersetzen sie durch PVC-Rohre, damit die Leichen bei der Beerdigung äußerlich normal aussahen. Die vier Angeklagten sollen Körperteile von mehr als tausend Leichen entnommen und für viel Geld verkauft haben. Totenscheine und Organspenderausweise sollen die Angeklagten gefälscht haben. Ob der Zahnarzt über den oralen Umweg und beim Zahnsteinentfernen auf die inneren Organe und zu der hohen Zahl dahingeschiedener Kassenpatienten gekommen ist, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Spontan fällt mir ein, dass Mörder keinen Interessenverband haben. Ich betrachte nachdenklich die vier Finger meiner linken Hand. Comicfiguren werden auch nur mit vier statt mit fünf Fingern gezeichnet, und das beruhigt mich ungemein.
Ob Titti noch alle Finger hat? Ich kann sie nicht fragen, denn Titania ist in Stammheim und steht unter strenger Observanz, weil sie verdächtigt wird, ihren Mann und meinen Schwiegervater umgebracht zu haben. Ich glaube das nicht, denn Titania kann keiner Fliege etwas antun.
Kann man Geld nur durch Fleiß oder auch durch die Dummheit der anderen erwerben? Leidet die Reinheit meiner Seele unter dem Wettlauf nach Geld und Gut? Sollte ich das Problem von einer anderen, mehr aus einer kapitalistischen Perspektive angehen? Eine international agierende Murder Inc. erscheint mir eine geniale Geschäftsidee. So eine Firma könnte nach dem Gier-Prinzip auch in größeren Dimensionen funktionieren. Die Grundvoraussetzungen sind bekannt. Ich habe einen Auftrag, den ich ausführen muss, weil ich etwas Geld angenommen habe, was meinen Kühlschrank kurzzeitig gefüllt hat, aber meine Seele dauerhaft belastet. Wenn ich die mir lästige Verpflichtung in größeren Dimensionen betrachte, dann könnte aus meinem kleinen Leid eine dauerhafte Freude werden.
Zuerst lege ich überschlägig fest, wie viele Auftragsmorde meine Murder Inc. in den nächsten zwanzig Jahren realisieren könnte. Der geschätzte Umsatz aus Auftragsmorden wird auf einem zum Wertpapier geadelten Schriftstück notiert. Dann wird der Gesamtwert tranchiert. Wer Interesse an einem Mord hat, kann einen Vorzugsanteil, oder sogar mehrere an diesem Wertpapier erwerben und bekommt als Bonus einen schönen Mord zum Spezialpreis und einen Bonus für sein Engagement. Da anzunehmen ist, dass viele Erwerber der Murder Inc.-Wertpapiere keinen Mord in Auftrag geben möchten, sondern nur einen schwunghaften Handel mit meinen Murder Inc. Vorzugsanteilen betreiben wollen, muss schon wegen dem Gesetz von geringem Angebot und großer Nachfrage der Kurswert meiner ausgegebenen Zertifikate steigen. Die von mir prognostizierten und angebotenen Auftragsmorde werden zur Nebensache, denn für die Investoren sind nur noch die steigenden Kurse interessant. Wenn man meine geniale Geschäftsidee weiter denkt, könnte ein Syndikat, vielleicht die Mafia, eine Vielzahl meiner Murder Inc.-Zertifikate kaufen, und die Papiere zum Beispiel bei einer deutschen Großbank als Sicherheit für einen Kredit hinterlegen, um mit dem geliehenen Geld in Reha-Kliniken für misshandelte Ehemänner zu investieren. Damit würde der eigentliche Geschäftszweck meiner Murder Inc. - der klassische Mord - zur Nebensache. Wirklich wichtig werden dann nur noch steigende Kurse. Ich muss das Geschäftskonzept gelegentlich mal in einem Business-Plan dokumentieren.
Al Capone war der Erfinder der Geldwäsche, aber im Vergleich zu meiner Geschäftsidee ein Stümper. Er investierte die Gewinne aus seinen kriminellen Geschäften in Waschsalons. Das money laundering, die Geldwäsche, hatte seinen Namen. Mein System könnte als Mörder-Business ohne Mord in die Geschichte des Kapitalismus eingehen.
Ich bin müde. Mein Gehirn ist immer noch untot und meine Gedanken drehen sich im hohlen Raum. Ich habe einen Auftrag und Geld angenommen.
Ich soll einen Krimi mit einem schönen Mord schreiben, und ich habe eine depressiv motivierte Schreibblockade. Vielleicht wird daraus ein Fickbuch, oder mordsmäßiges, verficktes, Scheiß-Fickbuch? Ob mir Sina mit ein zwei oder drei kleinen Morden aushelfen kann? Ich versuche meine schläfrigen Augen zu öffnen. Es gelingt mir nicht.
Wie aus weiter Ferne höre ich das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels. Dann das knisternde Rascheln von Plastikfolie. Ist es eine Plastiktüte? Dann flüstert Sinas zärtliche Stimme: „Schatz, lebst du noch?“
Ich antworte: „Honey, da bist du ja wieder. Hast du etwas vergessen?“
[1] Luca Brasi ist eine Figur in dem Film „der Pate“ (The Godfather). Anmerkung des Autors: Achtet auf die Hände, wenn Sonny den toten Fisch auf dem Schoß liegen hat. Als zu ihm gesagt wird: „Es bedeutet, dass Luca Brasi bei den Fischen liegt“ hat er die rechte Hand ausgestreckt, und die linke Hand an der Verpackung. Nach einem Schnitt ist das umgekehrt.
[2] Nach einer Romanfigur von Raymond Chandler in dem Film „Fahr zur Hölle Liebling“
mit Robert Mitchum
[3] In der Traumdeutung bedeutet ein abgeschnittener Finger, Handlungsunfähigkeit und ehrenrühriges Verhalten des Träumers im Wachleben. Ein Bild, das auch Blut an den Händen symbolisiert. Es bezieht sich auf tief sitzende Schuld an einer Tat. (Siehe auch Shakespeares Lady Macbeth). Nach Gerüchten werden Spielern, die ihre Spielschulden nicht bezahlen, die Finger abgeschnitten.
[4] Noch einmal aus dem Film „Fahr zur Hölle Liebling“
[5] Etwa wie die unvergleichliche Velma oder Helen Grayle (Charlotte Rampling) aus dem Film „Fahr zur Hölle Liebling“
[6] Professor Abronsius, hat sich mit seinem Assistenten Alfred nach Transsylvanien (Siebenbürgen) aufgemacht, um dort „lebende“ Vampire zu erforschen, und die Untoten zu pfählen. Aus dem Film „Tanz der Vampire“ von und mit Roman Polanski.
[7] Corleone ist eine Stadt in der Provinz Palermo in Italien. Die Stadt Corleone wurde durch den Roman Der Pate von Mario Puzo weltweit bekannt. Der Roman aus dem Jahr 1969 schildert die Ereignisse rund um den fiktiven Mafiaboss Vito Corleone und seinen Clan. 1972 entstand unter der Regie von Francis Ford Coppola der erste Teil einer gleichnamigen Filmtrilogie mit Marlon Brando und Al Pacino in den Hauptrollen. Pacinos Vater stammte aus Corleone. (Aus Wikipedia)
[8] Lupara ist eine Bezeichnung für eine abgesägte Flinte, bei der sowohl Lauf als auch Kolben gekürzt wurden. Ursprünglich stammt sie aus Italien, wo sie von Hirten zur Abwehr von Wölfen geführt wurde. Beliebt war diese Waffe auch für Gewaltverbrechen, da sie sich durch die geringe Länge unauffälliger transportieren lässt. Da der Lauf der Lupara kürzer ist als der einer herkömmlichen Flinte, verteilen sich die Schrotkörner früher und weiter als bei herkömmlichen Flinten. Durch die erhebliche Streuung der Schrotladung ist das Wirkungsfeld wesentlich größer als üblich. Die effektive Reichweite ist hingegen geringer. Auf Entfernung wirkt die Lupara abschreckend, doch aus nächster Nähe ist sie tödlich. (Quelle: Wikipedia)
[9] Aus „Also sprach Zarathustra“ Friedrich Nietzsche
[10] Nach Professor Abronsius haben Vampire kein Spiegelbild.
[11] Über das Thema „Knallroter Lippenstift und Wirtschaftkrisen im Spannungsfeld der letzten zweihundert Jahre“, habe ich ein interessantes Buch geschrieben, das zwar momentan vergriffen, aber in den nächsten Monaten hoffentlich wieder veröffentlicht wird.
[12] Nach dem Bericht (Auszug) des Sonderermittlers Kenneth Starr ereignete sich am Sonntag, dem 31. März 1996, dieses im Oval Office: „Im Gang neben dem Studio küssten sich der Präsident und Ms. Lewinsky. Dabei - so die Zeugin - 'ging er ziemlich zur Sache', küsste ihre bloßen Brüste und streichelte ihre Genitalien. Dann führte der Präsident eine Zigarre in Ms. Lewinskys Vagina, steckte sie dann in den Mund und sagte: 'Das schmeckt gut'."
[13] Das Lustprinzip ist eine Theorie der klassischen Psychoanalyse von Sigmund Freud.
[14] Mir ist momentan entfallen, ob es zwischen 1918 und 1923 schon Currywurst und Burger gab. Aber wegen der besseren Lesbarkeit behaupte ich das jetzt einfach mal.
[15] Jokus ist der Gott des Scherzes
[16] Ein kleiner Windstoß unter den kurzen Rock enthüllte in den vergangenen Jahren zuweilen Ungeheuerliches: Einige Damen hatten auf ein nicht unwesentliches Kleidungsstück verzichtet - und das im Angesicht der Queen und ihrer royalen Verwandtschaft. Jetzt greift die Modepolizei durch. Im englischen Ascot, bei den glamourösesten Pferderennen der Welt, wurde nun ein expliziter Dresscode für die Gäste erlassen. „Tragen Sie auf jeden Fall eine Unterhose, allerdings - liebe Damen - nicht so, dass man sie sieht“, heißt es darin. Straftaten gegen den guten Stil ahndet Ascot nun mit einem Platzverweis. Aus der Augsburger Zeitung
[17] Zitat von Goethe, Zahme Xenien IV
[18] Warnhinweis: Alle Teile der Eibe sind giftig- außer der roten Fruchthülle. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich beim Kochen auch Giftstoffe aus den Samen lösen.
[19] Ein Birdseye entsteht, wenn schwarze Walnussbäume krank werden. Dabei stülpen sich Tumore aus dem Stamm nach außen. Dieser Prozess kann mehrere hundert Jahre dauern. Wenn man solche Wucherungen durchsägt, entdeckt man ein sternförmiges Muster, das sogenannte „Birdseye“. Walnussholz mit einem Birdseye ist sehr selten und entsprechend teuer.
[20] Henri Désiré Landru (* 12. April 1869 in Paris; † 25. Februar 1922 in Versailles) war ein französischer Heiratsschwindler und Serienmörder, der mutmaßlich elf Menschen und einen Hund, davon zehn Frauen, während des Ersten Weltkriegs getötet, ihre Körper zerteilt und in einem Ofen verbrannt hat. (Quelle: Wikipedia)
[21] Zitat sinngemäß aus „DER STERN“ 16/2004
[22] Aus DER SPIEGEL 14/2007 Seite 134
[23] Siehe auch meinen Roman „TREUFLEISCH“
[24] Malcolm McDowell in dem Film „Uhrwerk Orange“
„Das ganze Übel, das die Welt wie eine Seuche befallen hat, und die eines schönen, nicht zu fernen Tages die Menschheit mit Sumpf und Stil ausrotten wird, hat nur eine Ursache - es entsteht schlicht und ergreifend aus der ständigen Jagd nach Profit.“
Karin von Stahl
Stuttgart
Sonntag, 30. Oktober 2005
Zwischen 8:32 Uhr und 8:56 Uhr
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Trotz seiner trüb verhagelten Sonntagmorgenstimmung, zeichnete sich in Jewgenij Feodorowitsch Krasovs markantem Gesicht der sparsame Anflug eines gequälten Lächelns ab. Voller Vorfreude dachte er an Paul van Cre, seinen guten, wenn nicht sogar seinen derzeit besten Freund, der ihm in guten Tagen viel Freude bereitet hatte, und in den er große Hoffnungen setzte. „Paul wird mich nicht enttäuschen. Jeder andere, nur Paul nicht. Nicht Paul. Mein Paul ist ein Guter …“
Obwohl von Kirchenvorständen und Gewerkschaften nicht gern gesehen, lag an diesem Sonntag ein langer und schwerer Arbeitstag vor ihm. Es gab viel zu tun, und es musste etwas geschehen.
„Mein Rücken ist wie ein rostiges Trageseil der Golden-Gate-Bridge verspannt. Ich halte den Dauerstress nicht mehr aus. Mein Leben ist ein einziger Scheißhaufen.“ Das dachte Jewgenij Feodorowitsch Krasov, und gedankenverloren griff er in ein hellblau lackiertes Holzkästchen um sein Strickzeug zu entnehmen, und um noch ein paar grau-roséfarbene Sonntagsmaschen anzuschlagen.
Sie hielt nichts von transzendentaler Gedankenübertragung, aber so ähnlich dachte in diesem Moment auch die Staatsanwältin Karin von Stahl. „Alles Scheiße, deine Elli. Es muss etwas geschehen …“ um mit einem „… aber wer weiß, vielleicht geschieht auch nichts. Nichts ist für die Ewigkeit und das Leben ist zu kurz, um sich zu viele Gedanken zu machen“ ihr gedankenvolles Selbstgespräch fortzusetzen.
Ein morscher Zweig, vom Wind abgerissen und lieblos auf den sich sanft windenden Weg zum Bärenschlössle geworfen, zerbrach knackend unter ihrem festen Tritt. Kaum verständlich aber unübersehbar schlecht gelaunt flüsterte sie: „Scheiß Montag. Ich denke besser nicht dran. Was interessiert mich, was morgen geschieht? Die Psychofuzzys behaupten doch immer, dass nur der Moment zählt. Vielleicht haben die torfköppe ja recht …“ um dann mit missbilligendem Blick und gerunzelter Stirn „und hier sieht’s auch aus wie Sau. Da muss mal mit starker Hand durchgegriffen werden“ hinzuzufügen.
Diesiges Morgenlicht verwandelte die letzten Blätter an den Eichen und Buchen in eine altgold- und messingfarbige Pracht. Nicht wegen Karin von Stahls schlechter Laune, sondern saisonal bedingt-zögernd, fast ängstlich tastend, durchbrach die Sonne den sämigen Morgennebel. Der aromatische Duft von nasswelk moderndem Herbstlaub, gut gemischt mit einer minimalen Südwest-Brise kühlklarer Morgenluft tat ihr gut, und sie versuchte tief einzuatmen, was ihr aber nur unzulänglich gelang. Zwei- dann nocheinmal zog sie die Nase hoch, aber eingedenk ihrer guten Erziehung, vermiet sie es, das hochgezogene auszuspucken. Obwohl es so aussah, als ob es ein schöner und besinnlicher Herbstsonntag werden könnte, litt Karin von Stahl unter starken Kopfschmerzen und den Spätfolgen des längst überschrittenen Übergangs von der reproduktiven in die postmenopausale Phase. Diese Malaise, die Sorgen, was am kommenden Montag garantiert und unausweichlich auf sie zukommen würde, der Dauergedanke an ihre immer frecher werdende, „kleine Möse“, die nur noch Ärger verursachte und zu einem ernstzunehmenden Problem herangewachsen war, nebenbei auch an Dr. med. Dr. h.c. Friedemann Thaddäus Walter, den sie nur „mein kleines Schnippelmännchen“ nannte, und der sich neuerdings standhaft weigerte, zu- und beherzt einzugreifen, wo es unübersehbar nichts mehr wegzudiskutieren gab. Dazu kamen stechende Schmerzen an ihren rechten Brustwarzen (auf die sie auch wegen den Vergrößerungen durch tägliches Saugnapftraining so stolz gewesen war. Bei Saunagängen und jährlichen Sommerurlauben Urlauben in der Cap d’Agde Naturist Village waren die aufmerksamkeitserregende Hingucker gewesen Anm. des Autors) wegen einer Entzündung durch ein zweites, vor wenigen Tagen unsauber gestochenes Piercing durch einen Hangaround der Hells Angels der seinen monatlichen Mitgliedsbeitrag von 110 Euro nicht bezahlen konnte, und darum auf einen kleinen Nebenerwerb angewiesen war. Das alles und noch viel mehr, hatten Karin von Stahls Sonntagslaune auf einen Rekord-Tiefpunktwert sinken lassen.
„Scheiß Sonntag. Ich fühl mich wie der letzte Lagerkommandant von Dachau, einen Tag bevor die Kaugummifresser einmarschieren, und Armin geht mir voll auf den Keks. Der ist wieder einmal ganz unmöglich.“
Vorsichtig steckte die den kleinen Finger ihrer rechten Hand ins rechte Nasenloch, um den Sitz ihrer Scheidewand aus echtem Platin zu prüfen und zu korrigieren. „Das Scheißding sitzt auch nicht mehr richtig.“
In dieser fast klassischen Denkerpose, gelangweilt und gleichzeitig genervt transpirierend, versuchte sie Armin nicht zu beachten, der sie mit einem demütigen Blick ansah, weil er einem drängenden Bedürfnis nachgehen musste. Nach einigen Minuten der Verrichtung rümpfte sie ihr hübsch gestyltes Näschen.
„Mein Großer, das hast du brav gemacht. Das ist ja ein Kunstwerk“ sagte sie lobend, als sie den fast akkurat mittig auf den sanft ansteigenden Weg gesetzten Haufen sah. Das waren Worte, die Armin, der Sohn von Petra vom Bärenfeld, die zwar einen starken, läufigen Hang zum gewöhnlichen Volk gehabt hatte, aber durch einen Zufall von einem Reinrassigen geschwängert worden war, gern hörte.
Obwohl sich um diese Zeit nur selten eine Menschenseele im Wald aufhielt, kam ihr der asthmatisch keuchende Jogger Hans-Günther Schubert (58, und in Sindelfinger Jahrgangskreisen auch „Kuh-Schuppi“ genannt), der wegen einer nicht therapierbaren Schuppenflechte und weil er als Fünfzehnjähriger am Vatertag im Vollrausch am versucht hatte, am Katzenbacher See eine Kuh zu penetrieren, was kläglich und mit mehreren Rippenbrüchen - bei Hans-Günther Schubert, nicht bei der Kuh - gescheitert war, entgegen.
Manchmal kann sich in Bruchteilen von Sekunden alles vom scheinbar Guten zum Üblen ändern. Das wusste die Staatsanwältin Karin von Stahl aus ihrer langjährigen Berufspraxis. Ihr besorgter Zuruf: „Schätzelchen musst keine Angst haben, der tut dir nichts …“ kam für Armin zu spät. Armin richtete sich in majestätischer Größe auf, denn Armin war von hohem Wuchs und wie bereits erwähnt, auch von feinstem Adel. Der erschrockene Läufer wollte aus begreiflichen Gründen der blaublütigen Gefahr ausweichen, aber übersah das auf dem Weg platzierte Hindernis.
Stolpernd und zuerst sprachlos ging sein Griff voll in´s Warmweiche. An Knien, Händen und am Trikot (mit der aufgeflockten Aufschrift „VfL Sindelfingen 1862 e.V.“) mit Armins Exkrementen beschmutzt, begann er gotteslästerlich und nicht jugendfrei zu fluchen. Der Jogger versuchte sich aufzurappeln, aber Armin stand groß und furchteinflößen über ihm. Vor Freude hechelnd und aus dem Schlappermaul sabbernd, wollte Armin einem uralten und genetisch bedingten Jagdtrieb nachgehen, und seine schlecht riechende Beute am Genick packen, aber Karin von Stahl war wegen der Störung ihres rituellen Sonntagsspaziergangs erbost. Ärgerlich runzelte sie die Stirn. Dann hob sie streng den Zeigefinger und rief vorausschauend: „Liebling mach dich nicht schmutzig. Du siehst doch, dass der Mann vollkommen verdreckt ist.“
Armin senkte ergeben den Kopf, und der nicht mehr gut riechende Jogger rief empört: „Ich zeige Sie an. Das wird ein Nachspiel haben.“
„Als ob mich das juckt du Pisser“ rief Karin von Stahl mit herablassender Stimmlage. Das war sehr mutig, denn der ehemals wohlbeleibte Jogger war nach achtmonatigem Intensivtraining (seine Ehefrau hatte mit Scheidung gedroht) von durchtrainierter Gestalt und stinksauer dazu. Aber Armin zog die Lefzen hoch und zeigte sein makelloses Gebiss, das jedem Dentisten zur Ehre gereicht hätte. Dann fing er drohend an zu knurren, und für den Jogger war der Sonntag gelaufen. Humpelnd und mit aufgeschlagenen Knien lief er weiter, um sich Zuhause (in Maichingen) zu reinigen und mit seiner grinsenden Ehefrau Heidrun, geborene Hering, zu zoffen. Obwohl sie das Ereignis durchaus amüsant fand, nahm sich Heidrun Schubert fest vor, am kommenden Montag ihr schon länger geplantes Vorhaben in die Tat umzusetzen, da sie schon seit geraumer Zeit die sprichwörtliche Schnauze gestrichen voll hatte. Sie konnte ihren Ehemann Hans-Günther wegen seiner Gewohnheit, die Ablichtungen ihrer Brüste, von ihm auch als „Euter“ bezeichnet, im Internet zu verbreiten, und in seiner Gesamtheit als Mann und Mensch nicht mehr ertragen. Sie beabsichtigte unter Weg- und Mitnahme aller verwertbaren Vermögensgegenstände die Trennung von Tisch, Bett und Einfamilienhaus. Davon ahnte Hans-Günther Schubert noch nichts, was uns aber nicht weiter stört, denn dieses und andere Ereignisse sind für den weiteren Verlauf in den nächsten Wochen und Monaten von eher untergordneter Bedeutung.
Für die Staatsanwältin Karin von Stahl war die Drohung mit einer Anzeige so bemerkenswert, wie ein Fliegenschiss im linken Auge eines asthmatisch keuchenden Rikschalenkers auf der Dong Khoi Street in Saigon. Sie kannte den kleinen Dienstweg in den Behörden der schwäbischen Landeshauptstadt - intern auch das Stuttgarter Ho-Chi-Minh-Pfädle genannt - nur zu gut. Mit etwas gutem Willen und einem offenen Täschchen, dazu einem warmen Händchen an der richtigen Stelle, konnte alles spurlos und mit etwas gutem Willen und viel Gottvertrauen auch auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Der Nachteil war, dass es zwar selten, aber manchmal doch vorkommen konnte, dass ein als verschollen geglaubter Akt an den unmöglichsten Stellen wieder auftauchen und mächtigen Ärger bereiten konnte, und zwar dann, wenn man am wenigsten damit rechnete. Akkurat von den zu erwartenden Folgen dieses ungewöhnlichen Ereignisses war Karin von Stahl betroffen, wobei Armin in ihren miteinander verwobenen Überlegungen eine wichtige, aber Günther Schubert und seine Frau Heidrun (geborene Hering) nur eine metaphorische Statistenrolle spielten.
Zweiundsechzig Kilometer entfernt und doch so nah am Geschehen, musste sich Paul van Cre eingestehen, dass die letzten Wochen mit dem vollen Griff in die ungespülte Keramik eines überbelegten Männerwohnheims zu vergleichen waren. „Scheiß Starfighter. Immer munter rauf und runter, rauf und runter“ versuchte er nicht nur sich als Mensch und Steuerzahler, sondern auch sein schlaffes Glied zu motivieren. Spontan musste Paul van Cre an seinen Schwiegervater Gutfried, an Salome und auch an seine Schwiegermutter Titania denken. „Wenn das Ding nicht starten will, muss ich nachhelfen und meinen Denkprozess neu organisieren. Ich muss das alles nur neu organisieren, und Ordnung in mein System bringen. Vielleicht gelingt es mir, aus Fehlern zu lernen, und mit etwas Glück kann ich die Mängel ohne Rücksicht auf Verluste und Konsequenzen elimiminieren.“ Geschmückt mit solchen Gedanken, lastete der Frust über die noch nicht identifizierten Fehler im seienden Sein seines Systems besonders schwer auf seiner Seele.
„Wie bekomme ich das Ding hoch, und zum Durchstarten? Der Scheiß-Russe mit seinem Gelaber muss noch mal ran …“ Zwar durfte, wollte und konnte Paul van Cre seinem guten Freund und Genossen im Geist Jewgenij Feodorowitsch Krasov vertrauen, aber auf Dauer war optimistischer Glaube an eine Wunderheilung seiner fleischlichen und systemischen Probleme im Zusammenhang mit dem größeren Ganzen unter Berücksichtigung der verwandschaftlichen Lasten, vollkommen unangemessen. „Sobald Starfighter durchstartet werde ich den Blödmann mit seinem Ami-Fusel abschießen. Dann werde ich eine schöne Reise unternehmen …“
Auch Heribert (Härry) Hohlberg war in Erwartung einer baldigen Reise in froher Erwartung. Vertrauen und Freundschaft waren für ihn eine heilige Macht, und nur gute Freunde (wozu wir gehören) durften ihn mit „Härry“ anreden. Darum nennen wir ihn auch im weiteren Verlauf der Ereignisse so.
Die Nachbarn nannten das kleine Backsteinhaus nur das „des Schlafjäckleshaus.“ Für Härry Hohlberg hatte der Sonntagmorgen wie jeder Morgen in den letzten zehn Jahren mit schlafwandlerischer Routine angefangen. Um 8.30 Uhr und nur sehr selten eine halbe Minute später, ging Härry Hohlberg (als Fan der Stuttgarter Kickers, im blauweiß gestreiften Schlafanzug) durch sein akribisch gepflegtes, aber kaum badetuchgroßes Vorgärtle zum rostrotbraunen Blechbriefkasten am eigenhändig weiß gestrichenen Holzlattenzaun. Härry Hohlberg ging auch an Tagen zum Briefkasten, an denen keine Post ausgeliefert, oder Tageszeitungen gedruckt wurden, denn so war er es gewohnt, und nur Ungerechtigkeiten hasste Härry Hohlberg mehr, als Abweichungen von seinem üblichen Tagesablauf. Wie vorstehend bereits erwähnt, war an diesem frühen Morgen nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Ludwigsburg das Wetter herbstlich-diesig mit der Aussicht auf einen schönen End-Oktober-Sonntag. Obwohl ihn keine nennenswerten Sorgen plagten, war für Härry Hohlberg alles grau, oder sogar eine Schattierung grauer als sonst aus. Daher kam ihm der dunkle Fleck, mittig auf seiner blauweißen Schlafanzughose platziert, äußerst verdächtig vor. War es ein göttliches Zeichen, oder die End-Botschaft seines Apostels? Sollte heute der Tag der Landung sein? „In dieser Welt wird man nur betrogen, und wir müssen uns kasteien, um rein auf die Reise zu gehen.“ Eilig ging er in sein kleines haus zurück, um über die mitzunehmenden Dinge nachzudenken. Sollte er sich seinem grauen Engel offenbaren, oder ihn (auch an die Anwendung von sanfter Gewalt haatte Härry Hohlberg gedacht) in einen Kleidersack stecken und zum Heil führen. Härry Hohlberg musste eine Entscheidung treffen, und zwar bald.
Verkehrt schien es auch bei der Staatsanwältin Karin von Stahl zu laufen. Zwar hatte sie auf ihrem Morgenspaziergang ihre Nachtbekleidung nicht mehr an, aber sie war, wie es dem Anlass geziemte, in eine modische, braungrüne Barbour Jacke gehüllt, die in der Taille vielleicht etwas zu groß, aber um die Brust eine gewisse Spannung erzeugte. Das Kleidungsstück erfüllte seinen Zweck, und nur darauf kam es in diesem Moment an. Mit modischer und anlassgerechter Kleidung kannte sie sich aus. An diesem frühen Morgen entsprach ihr Style einer modernen Ausgabe des in Stuttgarter Unternehmerinnenkreisen angesagten Ilse Koch Looks. Dementsprechend graugrün war auch ihre Gemütsverfassung. Dazu kam, dass fragiles Vertrauen in die menschliche Natur etwas war, was die Staatsanwältin Karin von Stahl nicht kannte. Seit Kindergarten- und Grundschultagen verließ sie sich auf ihre intuitiven Fähigkeiten, in einem dreidimensional Netzwerk von diskreten Gaben und Gefälligkeiten die richtigen Fäden zu ziehen. Aber seit einigen Wochen schien ihr das Spiel nicht mehr richtig zu gelingen. Zu viele Drähte waren tot, und andere gefährlich heiß geworden. In schwierigen Situationen, in denen das Unheil wie ein sich ankündigendes Gewitter in der Luft hing, hatte die sie die Angewohnheit mit den Zähnen zu knirschen. An diesem Sonntagmorgen im Oktober 2005, und in Anbetracht des kommenden Montags hätte der Zwang der Gewohnheit fast zum Total-Abrieb ihrer Komposite-Füllungen geführt. Obwohl sie es sich nicht eingestehen wollte, lechzte ihre geschundene Seele nach tröstendem Zuspruch und mentalem Balsam. In trübsinnigem Gedankendickicht verloren wich sie gewohnheitsmäßig vom rechten Weg ab, und stapfte mutig, ihre tiefen Ängste vor schrecklichen Monstern und im Unterholz auf Beute lauernden Raptoren unterdrückend, durchs Gestrüpp. „Ich glaube, ich sehe Gespenster, wo keine sind, und nichts, wo etwas sein müsste. Ich muss mit dem Scheisszeug aufhören“ murmelte sie vor sich hin. Immer war er treu gewesen, und immer hatte er auf sie gewartet, und wie ein erfahrener Zen-Meister war er immer ein guter und schweigsamer Zuhörer gewesen. Kopfschüttelnd sah sie sich um. Doch dort, wo bis vor wenigen Tagen ihr treuester Freund, unverrückbar wie eine altdeutsche Schrankwand gewartet hatte, war eine Lücke.
Laut und mit hysterischer Stimme rief sie: „Wo bist du …“ Aber nicht einmal Armin, der in Baumangelegenheiten ein anerkannter Experte war, konnte die Frage beantworten. Dabei hatte er den Kontakt vermittelt, der zu einer innigen Freundschaft geworden war, von der ich kurz berichten möchte.
Im Frühsommer 2004 - Armin war wieder einmal unausstehlich - hatte er sie mit seiner neuen, gummierten, zwanzig-Meter-Schleppleine zu seinem heimlichen Lieblingsstammbaum gezogen. Ursprünglich wollte Karin von Stahl da nicht hin, denn sie fürchtete sich seit ihrer Kindheit vor Unterholz und Gestrüpp jeder Art, und ganz besonders vor den Überraschungen, die sich darin verbergen konnten. Aber sie konnte nicht loslassen, da sich ihr rechtes Handgelenk in der Handschlaufe verfangen hatte. Als Karin von Stahl vollkommen außer Atem und mit rasendem Herzklopfen versuchte, Armins animalische Zugkräfte abzumildern, umarmte sie spontan eine knorrige Eiche.
In diesem mystischen Moment, der schon die keltischen Druiden zu ihren blutigen Opferritualen inspirierte - vor Erregung am ganzen Körper zitternd und wie von einem magischen Zwang geleitet - schloss sie die Augen, und begann mit den beiden Armen den Baum zu streicheln und zu liebkosen. Und für einen Moment kam es ihr vor, als ob sie einen uralten Zauber hören könnte. Wie zur Bestätigung war im Laub der Äste ein Wispern und Raunen, wie von tausend flatternden Feen. Plötzlich spürte sie eine Leichtigkeit des Seins, und dazu eine besonders angenehme Wärme, die wie ein urodermisches Lebenselixier an ihren Beinen hinablief.
Die nüchtern und kühl agierende Staatsanwältin Karin von Stahl spürte im ganzen Körper ein Krippeln, wie durch pulsierende Stromwellen, ausgesand von Außerirdischen, die kurz vor der Landung stehen.
War es ein mystisch verklärtes Wunder, oder besaß das alte Nutzholz die Fähigkeit, Karin von Stahls Körper und dazu ihre verhornte Seele zu berühren? Mit seiner durchdringenden Aura unter der rissigen Rinde, gelang es der alten Eiche (es kann auch eine Buche gewesen sein, Karin von Stahl war zum damaligen Zeitpunkt im Holzstreichelfach eher im Stand einer Brettergymnasiumsanwärterin) Karin von Stahls energetischen Speicher neu aufzufüllen. Mit ihren glühenden Wangen, gepresst an Risse und eingeschnitzten Herze, mit Namen, die Geschichten erzählten und schon längst vergessene Geschichte waren, spürte Karin von Stahl eine nie gekannte Hochstimmung in sich aufsteigen. Noch nie zuvor hatte sie sich so glücklich gefühlt, und wie ein junges Mädchen im ersten Liebesrausch, fing sie an zu seufzen und zu schluchzen.
In diesem Moment öffnete der Himmel seine rostigen Schleusen, und Karin von Stahl war nicht nur an den Beinen und in den Stiefeln (Chantebelle Noir Größe 37), sondern überall pitschnass. Seit diesem Erweckungserlebnis war es ihr zur lieben Gewohnheit geworden, an Sonntagen, bei denen das Datum eine bestimmte, nur ihr bekannte und durch Fünf teilbare Zahlenkombination ergab, aber auch in Vollmondnächten zu dem Baum, der jetzt ihr persönlicher Stamm- und Sorgenbaum war, zu gehen, um stille Zwiesprache zu halten, kleine Nothilf-Zettelchen in Astlöcher zu stecken, um die Alltagsmisslichkeiten auf den wehrlosen Baum zu transmittieren.
Doch an der Stelle, an der bis zum Fällungszeitpunkt am 28. Oktober 2005 (gegen 9:00 Uhr und zweiundvierzig Minuten) ihr Lieblingsbaum gestanden hatte, lagen nun nackte, wie Leichenteile fein säuberlich übereinander gestapelte und maschinell entrindete Stämme.
Obwohl Karin von Stahl wahrlich nicht zu den Sensibelchen gehörte, musste sie bitterlich weinen.
Der Text zum Lied „ich hatte manches dir zu sagen und wusste du wirst mich verstehn. Mein Freund der Baum ist tot er fiel im frühen Morgenrot“ fiel ihr ein. Zwar gab es noch viele alte und schrumpelige, aber auch junge und stramm stehende Bäume in der näheren Umgebung, sonst nicht und niemals, aber in diesem besonderen Fall war Karin von Stahl konsequent treu. Ein anderer Baum war für ihre kombinierten Umarmungs- und Zahlenmystik-Rituale vollkommen indiskutabel. Nur dieser Baum hatte ihre tiefen, inneren Bedürfnisse verstanden. Jetzt war er tot, in transportable Stücke filetiert, und nur noch als Furnierrohstoff für wacklige, schwedische Selbstaufbauküchen zu gebrauchen.
„Legal, Illegal, Selbstaufbauregal. Geliebter Freund, hoffentlich endest du nicht so …“
Armin hob respektlos sein rechtes Hinterbein, und das Zähneknirschen von Karin von Stahl klang, als ob sie als Qualitätstesterin in einer Gebissfabrik angestellt wäre.
„… du fielst heut früh, ich kam zu spät, du wirst dich nie im Wind mehr wiegen. Du musst gefällt am Wege liegen …“
Karin von Stahl war über den Fall ihres holzigen Freundes traurig, aber was nicht zu ändern war, war für sie auch schnell abgehakt. Alternativen würden sich früher oder später finden, und ihre Gedanken begannen sich spontan um Tabea zu drehen.
Salomes Tochter und Karin von Stahls Patenkind, das sie früher, vor einem viel zu schnell vergangenen Jahrzehnt liebevoll „mein kleines Taliebchen“, oder auch, wenn Klein-Tabea unartig gewesen war, auch „Taböschen“ genannt, und später, als Tabea etwas größer und konfirmiert worden war, mit „mein süßes Tamöschen“ geherzt und geküsst hatte, war von einem Problemchen zu einem ernstzunehmenden Problem herangewachsen.
Seit einigen Monaten hatte die kleine Tabea den Wert des Geldes, und wie neugierige Mädchen nun mal sind, auch die kleinen Vorlieben der spendablen Patentante entdeckt und schätzen gelernt. Karin von Stahl dachte praktisch, und ließ das „Ta“ weg, und Tabea im Tausch gegen Scheinchen ihre Höschen, was Karin von Stahl mit dem schwäbischen Satz „die gaht los wie a Käpsele …“ kommentierte.
Doch Tabea van Cres Beziehung zu ihrer Patentante hatte sich seit einigen Wochen merklich abgekühlt. Die kleine Tabea benötigte für ihr vorwitziges Näschen größere Summen, als Karin von Stahl bereit war, aus ihrem Handtäschchen zu finanzieren.
Während Karin von Stahl zwischen Wut, Verzweiflung und Nachgeben schwankte, hatte Tabea das alles mehr sportlich gesehen, denn neue Klamotten und Partymachen kosteten mehr Geld, als eine Vierzehnjährige üblicherweise zur Verfügung hat. Dazu kam ein Ereignis, das Karin von Stahl mit dem resignierten Unterton „im Fünften, das ist zu spät …“ flüsternd kommentierte, um dann seufzend hinzuzufügen: „… warum konnte der fette Saubär seine Finger nicht von ihr lassen. Aber ich häng mit drin und muss da raus, egal wie.“
Karin von Stahls Schlussfolgerungen waren richtig. Früher oder später würde Tabea reden, und dann würde man ihr Fragen stellen, und die Spur würde über das feine Pülverchen zu ihr führen, und irgendetwas würde an ihr hängenbleiben, und es gab kein Entkommen, denn Tabea war auch auf vielen Filmchen äußerst präsent gewesen.
„Bei der Zahlenkombination war ja auch nichts anderes zu erwarten. Ein toter Baum. Dreißig plus Zehn gibt Vierzig, und die Sieben plus Vierzehn ist die Einundzwanzig. Das sind nur Unglückszahlen …“
Für Karin von Stahls Nerven war das zu viel. Sie begann hysterisch zu kichern, denn sie musste an die lustigen Spiele denken, und daran, dass sie ihr Herz an die Woche für Woche runder werdende Tabea verloren hatte.
„Ich hasse die Sau …“ und für einen Moment dachte Karin von Stahl auch daran, Jewgenij Feodorowitsch Krasov um eine Unterredung zu bitten.
„Der hat Verbindungen, und das Problem muss unauffällig und schnell gelöst werden.“
Dann fiel ihr Friedemännchen (oder „der Metzger“. Wie sie ihn manchmal nannte) ein, dem sie viel zu verdanken hatte, aber mit dem sie heute auch noch ein ernstes Wörtchen über Dies, Das, unauffällige Frühgeburten und andere Entsorgungsprobleme reden wollte. Sie griff in die linke Tasche ihrer moosgrünen Barbour Jacke um mit vor Erregung zitternden Fingern die Nummer von Dr. med. Dr. h.c. Friedemann Thaddäus Walter auf ihrem Handy einzutippen.
„Hallo Friedemännchen. Schläfst noch, oder bist schon wach?“
„Guten Morgen meine Herzallerliebste. Ich bin schon seit Stunden wach. Ich sitze am Schreibtisch und bearbeite Patientenakten. Außerdem will ich noch an meiner Rede für den Ärzte-Kongress arbeiten …“ log Dr. med. Dr. h.c. Friedemann Thaddäus Walter.
„Du denkst an unsere Verabredung heute Abend?“
„Aber selbstverständlich meine Allerbeste“, flötete Dr. med. Dr. h.c. Friedemann Thaddäus Walter ins Telefon, um ein „ich soll dir einen Gruß von unserem Freund sagen. Er denkt, dass wir uns alle in den nächsten Tagen zu einem schönen Essen treffen sollten. Er freut sich, uns bald wiederzusehen“ hinzuzufügen. Karin von Stahl erschrak, als ob ihr der Leibhaftige wie ein stinkender Ziegenbock in den verlängerten Rücken getreten hätte. Ein eisiger Windhauch rauschte durch den Herbstwald, und sie spürte, wie ihr gleichzeitig heiß, kalt und sehr unwohl im Gedärm wurde. Stotternd und hüstelnd antwortete sie: „Ja, ja ich freue mich auch.“ Sie wusste, dass dies keine Einladung zu einem zwanglosen Treffen mit alten Freunden war. Eine Ausrede, oder sogar eine Weigerung hätte die gleichen Folgen, wie eine päpstliche Bannbulle, zu der es keinen Widerspruch und vor der heiligen Inquisition keine Hoffnung auf Gnade gab.
Dr. med. Dr. h.c. Friedemann Thaddäus Walter hörte noch ein „Bussi“, und Karin von Stahl hatte aufgelegt.
„Ich hasse das Kriechzeug …“ Unwirsch und mit zwei energischen Absatzaufstampfbewegungen, dazu einem verächtlich wirkenden Nachtritt zermatschte Karin von Stahl eine goldbraun glänzende Schnecke, die sich ihr zaghaft und mit zitternden Fühlern, aber unvorsichtigerweise auf dem feuchten Waldweg in den Weg gestellt hatte. Ohne weiter auf das sich im Todeskampf windende Gewürm und dessen trauende Angehörige zu achten, ging sie mit forschem Schritt auf dem leicht ansteigenden Weg durch den herbstlichen Laubwald zum malerisch gelegen Bärenschlößle.
Neben ihr lief frei und gut erzogen, und ausgestattet mit einem Pass für den braven Hund, aber ohne seinen durchbisssicheren Maulkorb (den hatte sie vergessen, weil Armin ein „ganz Lieber“ ist, und keiner Fliege etwas antun kann) die schwarz-weiß gefleckte Bordeaux-Dogge Armin.
Der ursprünglich als leichtes Jogging geplante Spaziergang tat Karin von Stahl nicht so gut, wie an anderen Tagen, denn sie brauchte einen klaren Kopf, und für Laufexzesse fühlte sie sich durch den Verlust ihres Lieblingsbaums und im Bewusstsein der unausweichlich kommenden und vorhersehbaren Ereignisse nicht in der richtigen Stimmung. Sie wusste, dass es an der Zeit war, sich nicht nur auf die fragile Hoffnung auf Irgendetwas, sondern dass Entscheidendes, und das ziemlich zügig, zu ihrem Vorteil geschehen musste.
„Sag ich es ihm, oder lass ich sie ihn ins Messer laufen, und warte ab, was passiert? Oder schneide ich ihm das ab, was der alte Sack nicht bei sich behalten kann? Wie kappe ich alle Verbindungen? Andrerseits kann ein Feuchtbiotop nur der halbe Weg auf dem Weg zur Lösung des Problems sein. Wenn die anfangen, da zu buddeln, was dann? Und wenn ich nur daran denke, dass das Problem im Tümpel vor sich hin fault, aber der Rest immer noch da drin ist, und ich nur vermute, dass meine Probleme gelöst sind, aber in Wirklichkeit immer noch existieren, dann entstehen nur neue, größere Probleme. Und Möschen redet früher oder später. Für Geld macht das kleine Ferkel doch alles und mit Allen, und die braucht ihr Stöffchen wie eine Primel das Wasser aus der Blechgieskanne …“
Wirre Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Aber Karin von Stahl gehörte zu den Menschen, bei denen selbst flüchtige Gedanken sehr schnell zu präzise ausgeführten Taten führen. Andrerseits konnte sie bei einem absehbaren Misserfolg sofort in die entgegengesetzt Richtung wechseln und drohendes Ungemach mit viel Geschick Anderen, oft völlig Ahnungslosen anlasten und sich damit von jeder Verantwortung reinwaschen. Spontan und fast zwangsläufig sah sie ihr taktisches Verhalten nicht als charakterliche Schwäche, sondern als einen seltenen Wesenszug, der nur Genies, Kaisern und Päpsten zu Eigen ist. Dann fiel ihr wieder ihr gefällter und toter Freund ein, der ihr in seinen letzten Minuten eine Botschaft, wie aus dem Jenseits hinterlassen hatte, und ihr sorgenvolles Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
„Das ist die Lösung. Man muss den Baum frühzeitig fällen und die Wurzeln kappen. Ist der Mensch weg, ist das Problem weg“ murmelte sie in die Herbstluft. Aber in diesem Fall und an diesem Morgen war der Vorsatz nicht so einfach umzusetzen, denn sie wusste nicht, welche und wie viele Spuren zu ihr führten. „Titti ist die Richtige. Die Kuh wird geschlachtet, und die Sache ist gegessen. So mach ich es.“
„Meine Liebe hat die Anziehungskraft eines Sahnetörtchens.
Aber das Törtchen ist dumm, denn es kennt seine Wirkung nicht. Eigentlich ist mir ein deftiges Wurstbrot lieber. Aber in diesem besonderen Fall, ist ihre Süße eine überaus angenehme Erfahrung. Wer so ein Sahnetörtchen nicht mag, kann auch kein Verlangen danach entwickeln. So schwierig sind die Frauen, und so einfach kann man meine große Liebe beschreiben.“
Heribert (Härry) Hohlberg
Sonntag, 30. Oktober 2005
Akkurat 8:36 Uhr und keine Minute später
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Da sich auch in Ludwigsburg der herbstliche Morgennebel aufzulösen begann, konnte man unschwer erkennen, dass der Himmel bis auf ein dräuendes, kaum bemerkbares Wolkenband strahlend blau war. Doch an diesem Sonntagmorgen sah die Welt für Härry Hohlberg noch grauer aus als sonst. Sogar die aufgedruckten, blauen Streifen auf seinem Schlafanzug unterschieden sich nicht wesentlich von der Farbe, die er am Himmel sah.
Nach einem kurzen Blick nach oben, in der Hoffnung, dass das Monaten überfällige UFO aus dem Sagittarius-Nebel (vom Doppelstern zeta Sgr b 51) endlich eintreffen auftauchen würde (was nicht der Fall war, denn das Flugobjekt hatte mehr Verspätung als alle Züge der deutschen Bundesbahn zusammen), schickte er ein kurzes Stoß- und Bittgebet nach oben. Danach senkte er seinen Kopf nach unten, um nachzusehen, ob der Boden sich öffnen und der Bocksbeinige nach ihm greifen würde. Aber die Straße hatte sich nicht geöffnet, und Härry Hohlbergs Herz machte einen klopfenden Freudensprung, als er nocheinmal den dunklen Fleck auf seiner Schlafanzughose genauer untersuchte, der in seinen Augen sehr verdächtig danach aussah, als ob es eingetrocknetes Menstruationsblut wäre. Spontan fielen ihm Maria Magdalena und die mystischen Zeichen des Allmächtigen ein.
Um das biologische Wunder der an dieser Stelle ungewöhnlichen Stigmata auch mental zu verarbeiten (bei dem was Härry Hohlberg dachte, hätte die Kirchengeschichte neu geschrieben werden müssen), betrachtete er erschrocken und mit schlechtem Gewissen auch seine Handflächen, da er in der vergangenen Samstagnacht beim Anblick eines, und zwar seines in mausgrauem Nylon nur spärlich verhüllten, spindeldürren Engels, das erstemal das Kunststück vollbracht hatte, beidhändig und fast exzessiv gegen das Gebot des heiligen Moses zu verstoßen, und wie der Sünder Onan seinen Samen ins Gebüsch und auf die Erde fallen und verderben hatte lassen.
Härry Hohlberg hob seinen Kopf, um ein weiteres Bittgebet in die Richtung des vermuteten Aufenthaltsortes des schon bald kommenden, Gekreuzigten zu senden, denn er wußte, dass Onan seiner gerechten Strafe nicht entkommen war.
Mit schlechtem Gewissen und wegen der Verspätung des angekündigten Flugobjekts noch schlechterer Laune zog Härry Hohlberg seine Schlafanzughose aus, und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum. „Onan verzeih mir“ murmelte er leise vor sich hin, um sich in Gedanken an seinen grauen Engel einen kleinen Nachschlag herunter zu holen.
Da Härry Hohlbergs kaum fünfzehn Quadratmeter großes Büro auch gleichzeitig sein Wohn- und Schlafzimmer war, musste er zu seinem Arbeitsplatz nicht weit gehen. Nachdem er gatan hatte, was er tun musste, füllte er ein als Weinbrandschwenker umfunktioniertes Senfglas mit Scharlachberg Meisterbrand, das er in einem Zug austrank. Etwas wacher stellte er kopfschüttelnd fest, dass auch ein ergebener Diener der höchsten Ordnung, das Opfer einer teuflischen Illusion werden kann. In einer verderbten Welt, in der scheinbar alles schief ging, zog er seine Schlafanzughose wieder hoch, die er vorher verkehrt herum angezogen hatte. Außerdem machten sich seine Hämorrhoiden wieder schmerzhaft bemerkbar.
Härry Hohlberg ließ sich durch solche Widrigkeiten nicht irritieren. Das alles, und noch viel mehr waren göttliche Prüfungen, die nur einem Zweck dienten, ihn im Glauben zu festigen und seinem grauen Cherubim näher zu bringen. Doch vorrangig musste er den Auftrag seines Gönners erfüllen, und gut versteckte Hintergründe gnadenlos ans Licht der Gerechtigkeit zerren.
Auf dem Küchentisch stand seine beigegraue Brother-Schreibmaschine, und wartete schweigend auf seine Befehle.
„Du bist das Werkzeug, das meinem aufrichtigen Charakter dient.“ Seine Zeigefinger ausstreckend betrachtete er QWERTZ von A bis Z. Mit seiner komplizierten Mechanik entsprach das Gerät Härry Hohlbergs Vorstellung von einer geordneten Welt, denn jede Taste besaß eine für alle Zeiten unumstößlich festgelegte Funktion.
Er setzte sich an seine Schreibmaschine und mit einem rrrrrratschenden Geräusch zog die Maschine ein weißes Blatt Papier ein. Umsichtig die Tastenbezeichnungen suchend, versuchte sich Härry Hohlberg auf sein Vorhaben, die obligatorischen Wochenberichte an seine Auftraggeber zu konzentrieren. Die ersten Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, da das Farbband auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Nach einem weiteren Glas deutschem Qualitäts-Weinbrand fielen ihm die Augen zu, und in seinem Traum zogen verdrängte Erinnerungen und scheinbar Vergessenes aus seiner Jugendzeit an ihm vorbei.
Härry Hohlberg war stark ihm Nehmen. Er hatte sich daran gewöhnt, als einsamer und unverrückbarer Fels, aufrecht am Boden der Abgründe des Zwischenmenschlichen zu stehen.
In den letzten Jahrzehnten war es für ihn nicht besonders gut gelaufen. Aus vielerlei Gründen war es nicht einfach so geschehen, und das war auch nicht von ihm beabsichtigt. Nach einem geheimnisvoll gestrickten Schicksalsmuster hatte es sich so und nicht anders ergeben. Seine menschlichen Entäuschungen setzten sich in seinen beruflichen Misserfolgen fort.
Ein Grund war darin zu suchen, dass Härry Hohlberg das Gegenteil von dem war, was man umgangssprachlich einen cleveren Unternehmer und einen vom Erfolg verwöhnten Menschen nennt. Doch er nahm sein Schicksal gelassen, denn er war ein unverbesserlicher Optimist mit einem festen Glauben an den tieferen Sinn der Ereignisse auf einem schmalen, irdischen Weg, nur beeinflusst von einer höheren Macht. Eine Gerechtigkeit die die Glaubensstärke des Guten und Reinen prüft und bei willfährigem Verhalten auch reichlich belohnt, aber den Sünder für eine verdammt lange Ewigkeit hart bestraft.
„… und die Ewigkeit ist im Vergleich zum Irdischen verdammt lang …“ um mit drohend erhobenem Zeigefinger ein „… das kannst du mir glauben“ hinzuzufügen. Das und ähnliche Sprüche verkündete er oft und gern auch lautstark, wenn ihn die Prüfungen des Schicksals wieder arg gebeutelt hatten.
Tragende Stütz- und Schmucksäulen in Härry Hohlbergs Leben waren seine vergeblichen Versuche, so etwas fragiles, wie systemische Ordnung in allen Lebenslagen zu schaffen. Hilfreich war seine feste Überzeugung, dass es eine geheimnisvolle Verstrickung zwischen bestimmten Planeten, deren Konstellationen und irdischen Ereignissen geben muss. Besonders fasziniert war Härry Hohlberg von der Sagittarius Galaxie. In dieser Anhäufung von Himmelskörpern vermutete er das Hauptlager der himmlischen Heerscharen, und mittendrin, wie es sich für seinen Sohn gehört, und logischerweise konnte dann der Große Führer und Allmächige auch nicht weit sein.
Da Härry Hohlberg wußte, dass zum Beispiel das Licht eines Planeten einige Zeit braucht, um auf der Erde wahrgenommen zu werden, war es für ihn nur verständlich, dass die durch göttlichen Willen beeinflußten Ereignisse auf der Erde verspätet erlebt und wahrgenommen werden. Oder mit den Worten von Härry Hohlberg ausgedrückt: „Das was passiert ist Vergangenheit. Also ist die Gegenwart gar nicht so schlimm…“
Das klingt kompliziert, ist es aber nicht, denn Härry Hohlberg konnte sich auf ein von göttlichen Wesen oder von „Eingeweihten“ mitgeteiltes Wissen berufen - nachzulesen in der uralten, hermetischen Tabula Smaragdina, die da lautet: „Wie oben, so unten“, und mit dem oft unterschlagenen Zusatz: „Das ungläubige Packzeug bleibt da unten.“
Da Härry Hohlberg der transzendenten Macht der göttlichen Wesen nichts entgegenzusetzen hatte, hielt er konsequent an seinen eisernen Prinzipien fest. Einer seiner unumstößlichen Grundsätze war auch die unabdingbare Verpflichtung zur Ehrlichkeit. Härry Hohlberg hasste Lügen und er bestand darauf, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn ihm die Folgen seiner Offenheit schon oft übel mitgespielt hatten.
Nicht nur im Grund seines Herzens, sondern auch in seinem Tagwerk war er ein religiös motivierter Mensch mit einem unendlichen Vertrauen auf Gottes Wege und Entscheidungen.
„Mein Glaube und mein unerschütterlicher Optimismus können die Widersprüche der schnöden Wirklichkeit aufheben. Positives Denken ist ganz einfach. Ich muss nur die Abstraktion der Verhältnisse im Hier und Jetzt verstehen. Auf sieben schlechte Jahre kommen, nein müssen zwangsläufig auch sieben gute Jahre folgen. So steht es in der Bibel und die Bibel ist vom lieben Gott. Das ist die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit.“
Zweifel kamen in seiner Welt nicht vor, denn in Härry Hohlbergs Vorstellung, lag seine goldene Zukunft in der späteren, der paradiesischen Ewigkeit.
Nach seinen unumstößlichen Ansichten waren alle weltlichen Ereignisse in für den ungebildeten Laien nicht verständlichen, aber gottgewollten Zyklen gegliedert, und darum ließ sich Härry Hohlberg von den kleinen und großen Widrigkeiten des Lebens nicht demotivieren. Sein Glaube an eine alles lenkende Macht und an die göttliche Unfehlbarkeit gab ihm die Kraft für die irdischen Schritte auf einem steinigen Weg, der ihm in den vergangenen Jahrzehnten scheinbar vorgegeben war, und der ihn moralisch über die Sünder der Welt auf ein imaginäres Podest erhob.
„Der Weg der Guten ist nun mal schmal und mit Fallstricken versehen. Nur wer nicht an den Schwierigkeiten scheitert wird auch das Himmelreich sehen.“ So dachte und sprach Härry Hohlberg, denn solche Lehrsätze und noch viel mehr hatte er vor vielen Jahren in einem tantrischen Selbsterfahrungskurs für angehende Manager (und solche die es werden wollen) gelernt, und sein Leben danach ausgerichtet. Allerdings dauerte Härry Hohlbergs schlechter Sieben-Jahre-Zyklus nun schon sehr lang, fast sein ganzes, irdisches Leben, also sechsundfünfzig Jahre an. Aber das Wechselspiel von zaghaften Aufstiegen und schnellen Abstiegen, verbunden mit kleinen und größeren Missgeschicken brachte ihn nicht von seinem, dem geraden und darum für ihn richtigen Weg ab.
Trotz seiner eigenwilligen Wesensart war Härry Hohlberg von einem eigenwilligen Charme. Mit seiner sonoren Stimme, garniert mit breitschwäbischem Akzent, seiner gedrungenen und muskulös erscheinenden Statur, dazu einer gesund gebräunten Hautfarbe und stahlblauen Augen besaß er durchaus Chancen bei bodenständigen, etwas reiferen Frauen, zu denen ihm sein längst verstorbener Großvater, ein erfahrener Stalingrad-Kämpfer einst den metaphorischen Rat mit auf den Lebensweg gegeben hatte: „Heribertchen merk dir gut fürs Leben. Alte Hütten brennen schnell und lang. Achte immer darauf, dass du einen Platz ganz nah am Feuerchen bekommst. Denn draußen ist´s oft sehr kalt und gefährlich auch.“
Härry Hohlberg dachte oft an seinen Großvater, aber den gut versteckten Sinn der weisen Worte hatte er nicht verstanden.
Trotz seiner wenig routinierten Bemühungen lief es im Privatleben auch nicht gut. Eine vor fünfunddreißig Jahren in einem für ihn ungewöhnlichen Mischungsanfall von tiefer Anbetung und ungezügeltem Verlangen eingegangene Ehe, ging für ihn vollkommen überraschend, nach zwei Monaten und zwölf Tagen voll in die Sindelfinger Binsen. Sabine Hohlberg, gebohrene Bächtle, seine damalige Frau hatte sich unter Mitnahme der gesamten ehelichen Barschaft, der beweglichen Möblage und seiner Trix-Eisenbahn schon nach wenigen Ehe-Tagen für einen Musiker (elektrisch verstärkte Bassgitarre) der Flying Rockets, einer einst regional populären und heutzutage längst vergessenen Beat-Band, den sie anlässlich einer Wahl zur Miss Minirock in der Sindelfinger Stadthalle kennengelernt hatte, entschieden. Der schwarzgelockte Musiker hatte als Teil der Jury die schwere Aufgabe zugewiesen bekommen, den Oberschenkelumfang der Kandidatinnen zu vermessen. Beim Anlegen des Maßbandes war er an Stellen gekommen, die Härry Hohlberg bei seiner Ehefrau noch nicht gesehen, geschweige denn berührt hatte. Die weiteren Ereignisse bei den Vorausscheidungen und die Qualifikation der Siegerin bei der denkwürdigen Misswahl gehören zu den kleinen Histörchen der Sindelfinger Geschichte, aber Härry Hohlberg war schon am Tag nach der Misswahl das erste Mal ohne Erspartes und Ererbtes und mutterseelenallein.
Seinen zweiten Versuch, eine passende Frau für seine Bedürfnisse zu finden, unternahm Härry Hohlberg viele Jahre später und unmittelbar nach Öffnung der östlichen Grenzen mit einem hoffnungsfrohen Ausflug ins Tschechische. Die an sich genügsame junge Frau aus einer rotbeleuchteten Bar an der Schnellstraße in Richtung Prag, die er nach zwei Lokalrunden und intensiven Verhandlungen mit dem Wirtschafter des Etablissements überreden konnte, mit ihm zusammen zu leben, entschied sich nach sechsundzwanzig Tagen im Schwäbischen für ein anderes Leben ohne Härry Hohlberg, aber mit seinen nicht niet- und nagelfesten Habseligkeiten.
Trotz einer tagelangen Traurigkeit, einem verstärkten Harndrang und den sich bis in seine gewellte Kopfhaarpracht, in seinen Schnäuzer und in die Nasenhaare vermehrenden Filzläusen, nahm er ihr die Entscheidung nicht übel, denn er war seit vielen Jahren weitgehend bedürfnisfrei und konnte zwar nicht mit dem Juckreiz, aber mit seinem Leben und den überraschenden Wendungen der Liebe umgehen.
Auch in den folgenden Jahren verlief Härry Hohlbergs Liebesleben wenig erfolgreich. Trotz seiner strahlend blauen Augen und seiner unzweifelhaften, besonderen inneren Werte, konnte er bei bindungswilligen Frauen jeglichen Alters und sozialem Stand nur geringe Erfolge verbuchen. Über die eigentümliche Zurückhaltung der weiblichen Aspirantinnen und solchen die es mit etwas gutem Willen hätten werden können, dachte er nicht nach, denn die wahren Ursachen wären ihm nie in den Sinn gekommen. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, aber die in Frage kommenden Damen schreckten vor seiner exzentrischen Gesamtoptik zurück. Wegen, oder trotz seiner Idealmaße in der Herren-Konfektionsgröße 50 war Härry Hohlberg der Idealkunde aller desillusionierten und schlechtbezahlten Verkäufer für Herrenober- und Unterbekleidung. Mit stilsicherem Griff gelang es ihm, grellfarbige Jacken mit konträr-schrillbunten Hosen und farbenprächtigen Krawatten zu wild gemusterten Hemden und vorzugsweise roten Schuhen, in denen Füße mit rosaweiß verfärbten Tennis-Socken steckten, zu kombinieren. Sein ergrautes Haupthaar, mit am Hinterkopf gelichteter und ansonsten mittellanger, Vorne-kurz-Hinten-lang-Minipli-Haarpracht war von seinem Ludwigsburger Stammfriseur, der sein ganzes Schaffen und Streben in der Beibehaltung des Ibiza-Löckchen-Stils der späten Siebziger sah, künstlerisch gewellt, und bot zu Härry Hohlbergs martialischem Schnäuzer einen durchaus harmonischen Gesamteindruck. Unter diesen Gegebenheiten war es nicht zu übersehen. Härry Hohlbergs optisch sichtbarer Geschmack wich deutlich vom Mainstream-Schönheitssinn der großen Mehrheit der europäischen, zivilisierten Bevölkerung ab.
Durch seinen ausgeprägten Hang zu Misserfolgen, war es Härry Hohlberg vergönnt, praktische Erfahrungen in vielen Berufen zu sammeln. Früher, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, war er für kurze Zeit Bauunternehmer. Seine Geschäftsidee klang für Laien durchaus erfolgversprechend und folgte dem uralten Prinzip erfolgreicher Manager, nach dem man billig einkaufen und teuer verkaufen müsse. Die Errichtung luxuriöser Eigentumswohnungen war sein Wunsch, um damit viel Geld zu verdienen. Theoretisch und innerhalb der Planungsphase wäre ihm sein Vorhaben fast gelungen. Als unüberwindliches Problem erwies sich nur eine an sich unbedeutende Kleinigkeit. Seine Mittel zum Zweck waren leer stehende Textilfabrikgebäude, sogenannte Mantelfabriken (der gescheiterte Unternehmer durfte als einziger, ihm verbleibender Besitz vor dem Konkurs, seinen Mantel mitnehmen) in den letzten Winkeln der Schwäbischen Alb, die günstig für den sprichwörtlichen unausgereiften Appel und einem ungelegten Ei aus Konkursmassen zu erwerben waren. Mit einfachen Mitteln und etwas Raufasertapete gedachte Härry Hohlberg die öden Industrieruinen in steuerbegünstigtes Wohneigentum für betuchte Kapitalanleger umzuwandeln. Doch zu seinem Kummer wollte niemand mit einigermaßen klarem Verstand freiwillig in die gottverlassenen Gegenden ziehen und ebenso gering waren die Chancen, für die halb fertig gestellten Wohnungen gutgläubige Investoren mit der Hoffnung auf steuersparende Cost-Leverage-Effekte in geschlossenen Immobilien-Fonds zu finden.
Der nach vielen kleinen, erste große insolvente Griff in die Kloschüssel seiner unternehmerischen Laufbahn, war für Härry Hohlberg kein Grund, eine gering bezahlte, aber abhängige Lohnbeschäftigung zu suchen. Zwar hatte ihn die routinemäßig ermittelnde Unterstaatsanwältin Karin von Stahl streng ermahnt (vielleicht weil sie ihn aus Sindelfinger Jugendtagen vom Sehen kannte, und sich auch einmal knutschend auf dem Böblinger Schloßberg „vergessen“ hatte), in Zukunft einen weiten Bogen um Steuersparendes zu machen, und ihn nach Zahlung einer beträchtlichen und in monatlichen Teilbeträgen abzustotternden Summe für soziale Zwecke (berechnet nach Tagessätzen), wieder in Freiheit entlassen. Aber Härry Hohlberg war nach diesem Missgeschick nicht resigniert. Nach einer kurzen Phase der Besinnung und Orientierung, aber belastet mit dem Makel des Bankrotteurs, sah er seine Chancen im neu eröffneten Osten. Hinter den ehemaligen, innerdeutschen Betongrenzen versuchte er sich als Projektentwickler ohne jemals konkrete Projekte zu haben, die er hätte entwickeln können.
Einige Zeit hielt er sich noch als Subunternehmer eines Subunternehmers für den Aushub und die gärtnerische Gestaltung von Friedhofsparzellen über Wasser, bis ihm letztendlich eine ältere Witwe (Ehefrau eines verstorbenen Lufthansa-Flugkapitäns) einen Strich durch die Rechnung machte. Sie empfand Härry Hohlbergs farbenfrohe Anwesenheit während der Trauerfeier für ihren im thailändischen Pattaya plötzlich und unerwartet verstorbenen Ehemann unpassend, und auch andere Hinterbliebene, Freunde und Geschäftspartner waren einhellig derselben Meinung.
Auch seine Erfindung eines wiederverwendbaren Klappsarges für weniger betuchte Hinterbliebene (der Sarg hatte am Boden eine Klappvorrichtung, die durch einen Sargträger ausgelöst werden konnte, und den Leichnam in die Grube plumpsen ließ) war kein Erfolg. Bei der ersten Demonstration mit einer armlosen Schaufensterpuppe und einem betrunkenen Sargträger, der ausrutschte und ins geöffnete Grab viel, war auch ein Pressevertreter anwesend, der Härry Hohlbergs Erfindung gnadenlos verriss und zu allem Überfluss auch noch ins Lächerliche zog. Das alles und noch viel mehr, bedeutet das endgültige Ende von Härry Hohlbergs Karriere in der Bestatterbranche. Folgeaufträge blieben aus, und Härry Hohlberg war gezwungen, sein Glück in anderen Geschäftsbereichen zu suchen.
Nach eigener Aussage und dem Stempel auf seinen neuen Visitenkarten war er nun erfolgreicher Privatermittler und Consultant für schwierige Fälle.
Am 20. Dezember 2004, es war ein nasskalter Montag, stand Härry Hohlberg wieder einmal kurz davor, mangels Nachfrage nach seinen Leistungen den Beruf zu wechseln. In der Ludwigsburger Tageszeitung hatte er ein Stellenangebot als freiberuflicher Finanzmanager für liberianische Goldzertifikate und Bougainville-Kupferkontrakte entdeckt, als die Tür zu seinem Büro in einer abgelegenen Seitenstraße in der Ludwigsburger Vorstadt aufging. Härry Hohlberg war über die noch nie dagewesene Erscheinung so verdattert, dass sein vom linken Arm gestütztes Kinn fast in seinen aufgestellten Brieföffner gestürzt wäre, den er spielerisch in der rechten Faust gehalten hatte.
Auch Gutfried Treufleisch war etwas irritiert, als er die strubbelige und unrasierte Gestalt im blaugestreiften Pyjama vor sich sah.
Die Gründe, warum Gutfried Treufleisch an diesem besagten Montagmorgen im Dezember 2004 Heribert Hohlbergs Büro betreten und nicht sofort auf dem Absatz kehrt gemacht hatte, sind aus vielerlei Gründen nicht mehr nachvollziehbar. Auch Gutfried Treufleisch konnte zum heutigen Tag nicht mehr befragt werden. Anzunehmen ist, dass es keine göttliche Fügung, sondern ein simpler Zufall war, weil sich der Fleischwurstfabrikant Gutfried Treufleisch an dem besagten Montagmorgen auf der Suche nach einem Parkplatz befunden hatte, und nach langem Umherirren in der mit rigiden Parkverboten belegten Innenstadt ausgerechnet vor dem Messing-Firmenschild von Heribert Hohlberg einen Parkplatz entdeckte. Vielleicht nahm Gutfried Treufleisch fälschlicherweise auch an, dass nur exzentrische Personen solche Berufe ausüben konnten, und das Aussehen des Privatermittlers Heribert Hohlberg etwas mit Tarnung und Verkleidung zu tun hätte.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten, hatte sich Gutfried Treufleisch spontan und ohne lange Diskussion um Kosten und Vorgehensweise, mit den Worten: „Ich möchte, dass Sie einen gewissen Paul van Cre rund um die Uhr überwachen und mir einen lückenlosen Bericht seiner Aktivitäten fertigen“, entschlossen, Heribert (Härry) Hohlberg, den Erfolglosesten unter den Erfolglosen für detektivische Routinearbeiten zu beauftragen.
Härry Hohlbergs stotternde Rückfrage: „Möchten Sie alles über die Gewohnheiten des Delinquenten erfahren, oder gibt es etwas Spezielles, auf das Sie besonderen Wert legen?“, wurde von Gutfried Treufleisch in seiner ihm eigenen, etwas rustikal-barschen Art beantwortet: „Ich will alles erfahren was die Sau treibt. Seinen privaten Umgang, seine Geschäfte hinter meinem Rücken - ich weiß, dass da etwas faul ist - und ich will wissen wen er fickt und mit wem er meine kleine, unschuldige Tochter betrügt.“
Der Auftrag erschien nach Gutfried Treufleischs beiläufig ausgesprochenem Zaubersatz: „Tun Sie Ihr Bestes, Geld spielt keine Rolle“ einfach und verlockend.
Härry Hohlberg verstand den Wink des Schicksals und versicherte seinem überaus sympathischen Auftraggeber schnellstens greifbare Ergebnisse zu liefern. Ausgestattet mit einem größeren Bar-Vorschuss und Gutfried Treufleischs ganzen Hoffnungen ging er nicht ganz frisch, aber gutgelaunt ans Werk.
Als erste Investition und unabdingbares Handwerkszeug des erfolgreichen Privatermittlers erstand Härry Hohlberg ein starkes Nachtfernglas für den Preis von sechzehn Euro und fünfundneunzig Eurocent in der Filiale eines Hamburger Kaffeerösters. Dann fuhr er mit seinem dunkelblauen VW-Golf aus der Pink Floyd Serie in ein bekanntes Einkaufszentrum an der Autobahnausfahrt Ludwigsburg Süd und erwarb in einem Elektronikfachmarkt, der bundesweit für seine Geilheit bei den Preisen bekannt ist, eine einfache Digitalkamera. Jetzt ausgestattet mit einer für Privatermittler üblichen Profiausrüstung wurde er hungrig und suchte zur Stärkung ein gutes Selbstbedienungsrestaurant auf, um die nächsten Schritte zu überdenken. Er achtete nicht auf die junge blonde Frau die sich an ihm vorbeidrängte, und ihm ohne ihn zu beachten, das letzte Stück der Lasagne, sozusagen vor der Nase wegschnappte. Härry Hohlberg nahm die spröde Benachteiligung mit resigniertem Langmut hin. Er war es gewohnt, dass sich die Menschen rücksichtslos benahmen und ihn nicht nur attraktive Frauen mit großen Brüsten mit einer Selbstverständlichkeit ignorierten, als wäre er verpestete Luft.
Als er am späten Nachmittag zurückkam und die Tür seines Büros öffnete, lag ihm das überbackene Rotbarschfilet, das er anstelle der Lasagne verzehrt hatte, noch schwer im Magen und auf seinen Geschmacksnerven. Für einen Moment dachte er daran, sich ein Schlückchen aus der eckigen Flasche von Aldi zu genehmigen, die er für Notfälle bereithielt, aber die rumorenden Fischbestandteile in seinem Magen begann sich zu einem drängenden Problem am Darm-Ende zu entwickeln.
Härry Hohlberg hatte seine Hose noch nicht geschlossen und er saß auch noch nicht auf der Bettkante an seinem Schreib-, Ess- und Küchentisch, als das Telefon klingelte. Vor Schreck über das Geräusch blieb ihm der Mund offen stehen. War das ein Zeichen des Anführers der himmlischen Heerscharen aus dem Universum? Denn noch ein potenzieller Auftraggeber überstieg sein geistiges Fassungsvermögen.
In der Stille des Raums war das Telefon nach seinen Erfahrungen ein in passiver Ruhestellung verharrender Gegenstand, der zu einem Unternehmerschreibtisch gehört, wie das Bild der Ehefrau im silbernen Wechselrahmen. Härry Hohlberg war nicht mehr verheiratet und das Geräusch des Gerätes ein optimistisches Zeichen von ungewohnt aktiver Energie.
Die Duplizität der Vorzeichen sah nach einer Glückssträhne aus und Härry Hohlberg dachte für zwei bis drei Sekunden an ein neues Fischwunder, mit dem bekanntlich vor zweitausend Jahren die Hungrigen abgespeist worden waren. Sein Glaube an die überirdische Gerechtigkeit des Herrn im Himmel und an die unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten der Serie, die zu einem durch göttliche Allmacht bestimmten Zeitpunkt endet, und durch eine neue, vollkommen andere Serie ersetzt wird, bekam durch das für ihn überraschende Klingeln des Telefons neue Nahrung.
Telefone haben zwar im Allgemeinen die Angewohnheit Geräusche von sich zu geben. Da aber Härry Hohlbergs Kundenstamm bis dato aus keinem Kunden, und seit wenigen Stunden nur aus Gutfried Treufleisch bestand, war das Telefon in der Vergangenheit ein eher nutzloser weil schweigsamer Gegenstand gewesen.
Zuerst erschrocken, dann aber mit der dynamischen Stimme des erfolgreichen Unternehmers nahm Härry Hohlberg den Hörer vom Gerät.
„Büro Härry Hohlberg, Privatermittler und Consultant für schwierige Fälle. Was können wir für Sie tun?“, las er von dem vor ihm liegenden, in Folie eingeschweißten Schriftstück ab.
Wie bekannt, glaubte Härry Hohlberg felsenfest daran, dass sich für die Guten das Blatt eines Tages wenden würde, und er wollte vorbereitet sein. Es war sein schon vor Monaten schriftlich vorbereiteter Telefongesprächsleitfaden, den für alle Fälle, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich ein ernsthafter Interessent bei ihm melden würde, neben seinem Telefon auf seinem Schreibtisch mit transparentem Klebeband befestigt hatte.
Über die domiant klingende Ansage etwas eingeschüchtert stotterte am anderen Ende der Telefonleitung der Praktikant einer renommierten Hamburger Anwaltskanzlei, der die Aufgabe zugeteilt bekommen hatte, ein engagiertes Nachforschungsunternehmen im Süddeutschen ausfindig zu machen. In der erwartungsvollen Vermutung, dass sich eine gewisse Brigitte Barascheck im Raum Stuttgart - Heilbronn aufhalten könnte, war er aus unerfindlichen Gründen, vielleicht durch eine Anfrage bei der Telefonauskunft, auf Heribert (Härry) Hohlberg gestoßen.
Nach einer kurzen Schilderung der Umstände und der suggestiven Doppelfrage: „Haben Sie Erfahrung im Aufspüren solcher Personen, und können Sie den Fall übernehmen?“, musste sich Härry Hohlberg intuitiv entscheiden. Einerseits war er ein Mensch mit unwandelbaren Richtsätzen. Ein felsenfester Wert in seinem Leben war die absolute Ehrlichkeit, von der er in keinem Fall abweichen wollte. Andrerseits konnte er Ungerechtigkeiten nicht ausstehen und spontan fiel ihm die Bibel ein, in der für den Gläubigen unrüttelbar festgeschrieben steht, dass Sünder der Gerechtigkeit zugeführt werden müssen, aber hingegen ein bekehrter Sünder mehr wert ist als tausend Brave, wenn er denn gefunden und gehörig belehrt wird.
In Sekundenbruchteilen, in denen er zuerst eine zögernde, aber redliche Antwort geben wollte, sah er, wie sich die Wolken am Himmel verschoben und die Sonne mit strahlendem Licht in sein kleines Büro kam. Er entschied sich, die plötzliche Helligkeit auf der mit grauschwarzen Schimmelflecken gesprenkelten und sich stellenweise von der Wand lösenden Tapete, als engelgleiche Aufforderung für eine positive Antwort zu deuten. Legitimiert mit göttlichem Willen dem er nicht zuwider handeln konnte, entschied er sich gegen die absolute Wahrheit und für ein unverfänglich dynamisches „Ja“, denn eine gegen Honorar zu bekehrende Sünderin war eine zu verlockende Perspektive.
Mit seiner positiven Bestätigung sagte Härry Hohlberg nicht ganz die Unwahrheit, denn der zweite Teil der Frage war wahrheitsgemäß beantwortet, und außerdem gedachte er im Erfolgsfall die Sünderin auch streng zu ermahnen und behutsam zur Buße anzuleiten und auf den rechten Weg zurück zu führen.
Der noch sehr unerfahrene Praktikant nahm, froh seine erste Aufgabe erfolgreich bewältigt zu haben, die Informationen des erfolgreichen Privatermittlers dankbar auf, und nach kurzer Rücksprache mit den Seniorpartnern der Anwaltskanzlei erhielt der Consultant und Privatermittler Heribert Hohlberg im Namen dreier verärgerter Landmänner und der misstrauischen Schwester eines kürzlich Verstorbenen, den Auftrag, den Aufenthaltsort einer gewissen Brigitte Barascheck, und falls möglich und noch vorhanden, den Verbleib eines unter sinnlichen Versprechungen erbeuteten Barvermögens ausfindig zu machen. Da auch hier im Zusammenhang mit der Auftragserteilung die Anweisung einer größeren Abschlagszahlung angekündigt worden war, sah sich Härry Hohlberg mit Fug und Recht als aufgehender Stern am überregionalen Ermittler-Himmel.
Für Härry Hohlberg war es eine ehrenvolle Aufgabe, die er voller Elan bewältigte. Er war glücklich, weil er das erste Mal in seinem Leben, sozusagen offiziell betraut, seine Nase in ihm fremder Menschen Angelegenheiten stecken durfte, obwohl ihm der intellektuelle Spürsinn für so diffizile Aufgaben eindeutig fehlte.
Von so viel unternehmerischem Glück überwältigt und mit vollem Magen brauchte er spirituelle Hilfe. Zuerst nahm er einen weiteren tiefen Schluck aus der bereit stehenden Flasche mit Poire William um den immer noch unangenehmen Fischgeschmack, der sich durch leichtes Aufstoßen aus seinem Magen in seinem Mund angesammelt hatte, zu vertreiben. Den weiteren Spät-Nachmittag verbrachte Härry Hohlberg als gläubiger Mensch betend, und wegen seiner kleinen Abweichung vom Pfad der Ehrlichkeit tief bereuend, in der menschenleeren Kirche der Heiligen der Letzten Tage.
Beim Anbruch der Dunkelheit ging er körperlich, geistig und seelisch gestärkt, frisch und frohgemut ans Werk um den leichteren Fall des Schurken Paul van Cre vorrangig zu lösen um sich nach baldigem Abschluss auf die Fahndung nach der gesuchten Dame zu konzentrieren.
Texte: Raoul Yannik
Bildmaterialien: Raoul Yannik
Lektorat: Amélie von Tharach
Übersetzung: Amélie von Tharach
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2016
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Widmung:
Für Amélie und die unvergessene Sina