Für Fabienne
(Marion aus Schömberg)
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„Es möcht kein Hund so länger leben!
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis werde kund.“
Johann Wolfgang von Goethe
Faust: Der Tragödie
Erster Teil
Vielleicht erscheint es meinen Lesern wie eine überraschende Neuigkeit, aber für gute Freunde lege ich hin und wieder die Tarot-Karten. Ich übe diese Tätigkeit gern und mit viel Enthusiasmus aus. In den vielen Jahren, in denen ich lernen und erfahren durfte, haben mir meine intuitiv-mentalen Fähigkeiten eine kleine, aber treue Anhängerschaft beschert, die ich menschlich gesehen, sehr schätze. Das Spiel mit den Karten ist für mich nicht nur ein Lernprozess, sondern auch ein wertvoller Erfahrungsschatz, an dem ich euch, meine Freunde und Leser, heute teilhaben lassen möchte.
Obwohl die Kartendeutung mit vielen Vorurteilen behaftet ist, kann ich von mir mit Fug und Recht behaupten, dass ich diese Tätigkeit seriös ausübe. Entgegen dem allgemeinen Trend des Sinnsuchens und Unsinnfindens, sehe ich die Kunst des Kartendeutens nicht unter esoterischen Gesichtspunkten, sondern als pragmatischen und bodenständigen Versuch die Zusammenhänge von Raum, Zeit und Ereignissen in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Das gelingt mir nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit, denn manchmal beginnt der Tag auch bei mir mit geistigem Nebel und gedanklichem Chaos. Davon und von noch viel mehr möchte ich heute berichten.
„Du kannst die Zukunft verändern,
aber die Vergangenheit ist und bleibt wie sie war.
Oder du schreibst ein Buch.“
Paul van Cre
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Kennst du das auch? Es gibt Tage, da ist das Leben wie eine Pralinenschachtel. Man sehnt sich nach Leckerem, aber man weiß nie, was einen erwartet, wenn die Verpackung erst mal weg ist. Auch ich ahnte noch nichts.
Das hell, strahlende Licht des Tages drang durch die feinstaubgepuderten Fensterscheiben, um sich dann rücksichts- und erbarmungslos einen Weg durch die Ritze und Schlitze der das Sonnenlicht abhalten sollenden, von mir nur nachlässig zugezogenen Fensterbehänge zu bahnen. Das fröhliche Pfeifen der Vögel im Geäst der Bäume vor meinem Fenster, erinnerte mich spontan daran, dass der frühe Vogel bekanntlich den Wurm fängt. Ich weiß nicht, ob Vögel bei der frühen Geräuschproduktion generell fröhlich sind, und eigentlich mag ich keine Würmer zum Frühstück. Halb aufgeschreckt, aber im Halbhellen noch schlaftrunken dachte ich spontan an die uralte Vöglerfrage: „Warum haben manche Liebespaare nichts anderes zu tun, als über das ungleiche Vogelgezwitscher von Lerche und Nachtigall zu diskutieren. Da ist Zoff vorhersehbar.“
Zuerst unendlich langsam, dann sich doch etwas schneller engagierend, begann sich mein Gehirn auf die gewohnten Hochtouren einzustellen. Nur mein Wille zum Aufstehen war noch zu schwach. Daran, und an noch viel mehr erinnere ich mich genau, denn es sollte ein denkwürdiger Tag werden. Wenn ich mich richtig erinnere, war es der 10. Mai 2007 und wenige Minuten nach 8 Uhr Mitteleuropäischer Zeit. Es war ein Versuch der Zukunft, mich mit besonderen Ereignissen zu belohnen. An diesem Donnerstagmorgen bahnte sich die Ouvertüre zu einem Konzert an, von dessen mentaler Tragweite ich zu dieser frühen Stunde noch keine Ahnung hatte, denn ich befand mich, träumerisch gesehen, noch im Dialog mit meinen Vorfahren und körperlich im warmen Bett.
Die Geschichte die ich dir jetzt erzähle ist kein Traumgespinst. Und so wahr ich hier schreibe, sie hat sich tatsächlich so zugetragen und sie begann mit dem penetrierenden Störsignal meines Telefons. Das Geräusch war der Befehl für eine, und zwar meine Reaktion. Es riss mich aus meinem Halbschlaf und unterbrach rüde meine wohligen Träume. Bis zu diesem Zeitpunkt, wenige Minuten nach 8 Uhr, wusste ich es noch nicht, aber Viola, meine allerwerteste und äußerst vollgutgeformte Freundin bat nicht um Hilfe. Das ist nicht ihre Wesensart. Du musst wissen, dass Viola nicht das Bitten, sondern das Quälen im Blut hat. Es gibt solche Frauen, und Viola ist ein besonders exquisites Exemplar dieser Gattung. Wenn sie fordert, dann sofort und ohne Widerspruch. Meine Telefondomina rief nach mir, und ich wusste, auch das ist Teil meiner vorausschauenden Fähigkeiten, dass sie mir keinen schönen Donnerstagmorgen wünschen wollte. Eine unbestimmte Vorahnung sagte mit, dass ihr kompliziertes Liebesleben, direkte Auswirkungen auf mein Leben in den nächsten Tagen haben wird.
„Hi, sag mal, hast du heute Abend eine halbe Stunde Zeit für mich? Kannst du mir die Karten legen?“
Violas etwas atemlos-strenge, ohne überflüssige Begrüßungsformalitäten und antwortheischende Pausen, aber doch fröhlich-aktive Stimme am Telefon ließ keinen wirksamen Widerspruch zu. Sogar im Halbschlaf konnte ich ihre gute Laune spüren, was ohne große Phantasieleistungen auf einen erfolgreichen Ausflug aus ihrem goldenen Ehe-Käfig, mit anschließender Freivögelei bis in die frühen Morgenstunden schließen ließ. Trotz meinem Dämmerzustand konnte ich aus dem ersten gesprochenen Satz schon so viele Informationen heraushören, dass jedes weitere Wort eigentlich überflüssig gewesen wäre.
Wie du vielleicht weißt, weiß ich was sich gehört. Mit meinem dynamisch klingenden „Ja, natürlich hab ich Zeit …“ beantwortete ich halb aus dem Tiefschlaf herausgerissen ihre Doppelfrage, um wenig erfolgreich darüber hinwegzutäuschen, dass ich noch im Bett lag, um sofort ein geheuchelt-interessiertes „… was ist denn passiert?“ nachzuschieben.
Nicht das mich Violas Antwort auf meine mitfühlende Frage wirklich interessiert hätte. Nicht um diese Zeit, und nicht solange ein zugegeben schönes Maiwetter meine Aufstehenergie zwischen der schweren Entscheidung von Sein und Nichtsein, oder Aufstehen und Liegenbleiben, gnadenlos auf Sparflamme hielt. Meine rhetorische Frage war in Wirklichkeit nichts anderes als ein präventiver Schutz vor absurden Forderungen. Zum Beispiel vor möglichen Anleihen zur Überwindung vorübergehender Zahlungsschwächen (dann hätte ich kurzfristig in den Harz verreisen müssen), oder die Forderung nach klarer Positionierung für die zuerst anfragende Partei bei eheliche Differenzen, was aktiv-aggressive Feindschaft der anderen Partei, und bei mir als Fluchtlösung einen sofortigen, stark ansteckenden, grippalen Infekt in Verbindung mit einer schweren Migräne nach sich gezogen hätte.
Noch kannte ich die eigentlichen Ursachen nicht, aber die Kräfte der Wirkung fingen an meine Gedankengänge zu beeinflussen. Es war die Eröffnungsfrage, die nur dem Wissenden zwei Besonderheiten offenbarten.
Erstens: Violas Frage war keine Frage sondern eine Überraschung mit Folgen. Und die zweite Besonderheit - bei Viola dauert eine halbe Stunde üblicherweise und mindestens zweihundertvierzig Minuten mit der Chance auf unlimitierte Verlängerung der pausenlosen Redezeit in der ersten Halbzeit.
Mit einer Gewissheit, die ich mit einer neunundneunzig prozentigen Chance fair bewerten konnte, wurden meine spontanen und geplanten Aktionen für diesen Tag mit Violas erstem Satz begraben. Mein Organizer begann wie erwartet und zusammen mit meinem Time-System auszuflippen und kollektiven Selbstmord durch einen Sturz aus dem dritten Stockwerk zu begehen.
Natürlich hatte ich eine mindestens zweihundertvierzigminütige halbe Stunde Zeit um meiner Freundin Viola die Nebel der Zukunft mit Hilfe der Tarot-Karten und meinen Fähigkeiten als Medium zu lichten. Dafür gab es sehr pragmatische Gründe. Einerseits sagte mir meine Forscherneugier, dass neue psychologische Erkenntnisse der sexuell-zwischenmenschlichen Kommunikation darauf warteten, von mir entdeckt zu werden. Zum anderen reizte mich die Aussicht auf eine eventuelle Chance, an Violas Liebesleben zumindest akustisch, wenn nicht sogar körperlich teilzunehmen. Denn Viola hat eine äußerst promiskuitive Ader, und ganz besonders dann, wenn sie Lust auf einen kleinen Nachschlag hat, was der Kenner weiblicher Psyche auch mit „Restgeilheit“ bezeichnet. Ganz nebenbei hatte ich, wenn ich mich richtig erinnere, an diesem Tag auch keine Lust, mich aktiv zum Zweck des Broterwerbs zu bewegen.
Nach einigen taktischen Fragen, die nur temporär Violas heiteren Redefluss hemmen konnten, gelang es mir, die Ursache für das Bedürfnis nach meiner Gesellschaft heraus zu hören. Die vor mir noch kunstvoll verborgende Ursache für Veränderungen war in einem ihrer üblichen, inszenierten Ehekräche ums liebe, weil fehlende Geld zu suchen.
Wie du vielleicht noch weißt, ist Werner Steuerberater, außerdem Violas Ehemann und mein bester Kumpel, denn er bearbeitet meine steuerlichen Angelegenheiten sehr korrekt und kostengünstig.
Ich sehe es an deinem ratlosen Gesichtsausdruck, dass du keine Ahnung hast, wer „zum Teufel“ Viola ist? Wenn ich den etwas altmodisch klingenden Begriff „Charme“ bei einer Frau definieren soll, dann fällt mir spontan das Zusammenspiel von Augen und Stimme ein. Für mich sind Augen und Stimme der Schlüssel zum mühsam Verborgenen. Daran erkennst du schon, dass ich nicht zu den Oberflächlichen gehöre. Ich bin eher der voyeuristische Entdecker, der sich mit heimlicher Freude an einem ästhetischen Gesamtkunstwerk erfreuen kann. Für mich ist es die wahre Lust, die schwarzen Stellen in den Seelen und Gedanken sinnlicher Frauen zu finden, und Viola gehört dazu. Sie ist ein ganz besonders exzentrisches Exemplar der Gattung Frau. Nicht irgendeine wuschelig verhuschte Allerweltsfrau. Viola ist „die“ Frau. Eine Frau, die mit entwaffnendem Charme und besonderer Ausstrahlung ihre Intelligenz gut versteckt. Eine attraktive Frau (zumindest in meinen Augen) mit diesen kleinen Aufmerksamkeitsfängern, den kleinen Details, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, und die prickelnde Spannung im sonst perfekten gestylten Bild erzeugen.
Viola ist fünfunddreißig. Zumindest behauptet sie das. Es ist das Alter, in dem Frauen mit wild wuchernden Haaren unter den Achselhöhlen und zwischen den Beinen, nach dem Sinn des Lebens suchen, weil sie die viel zu schnell vergangenen Jahre mit gelben Quitsche-Entchen, vereintem Singen in der Waldorfschule und engagierten Elternabenden verbracht haben - oder durch konsequente Selbstverwirklichung, zum Beispiel durch die erfolgreiche Leitung eines für den Ehemann steuersparenden, weil steuermindernd abzuschreibenden Kosmetik- oder Nagelbetriebs und mehrerer, ständig wechselnder Liebhaber jung geblieben sind. Viola hat sich frühzeitig für die zweite Kategorie entschieden, wodurch die zuerst beschriebenen Merkmale nachweislich entfallen.
Obwohl ich mir den Rat von Sokrates zu Herzen genommen habe, dass man sich nur von der Last des Eros befreien kann, wenn man sich mit den weniger schönen Weibern einlässt, kann ich es nicht lassen. Viola ist schön wie ein reifer Apfel im Paradies, und sie tut mir gut. Sie ist ein hoch dosiertes Kreativitäts-Aphrodisiakum, das meine Phantasie anregt, und sie besitzt dieses besondere Etwas, dass vorzugsweise die männlichen Sinne zum vibrieren, und die weiblichen auf „höchste-Gefahr-in-der-Gabardine-Anzughose-meines-Mannes“ Alarm stellt. Viola hat unzweifelhaft das besondere Etwas eines für ihre Bestimmung vollkommenen Wesens, über das ich mir in den letzten Jahren bewusst geworden bin. Vielleicht hast du es schon bemerkt, ich komme etwas ins Schwärmen. Das ist eine entschuldbare Verfehlung, denn auch ich bin ein Mann und ich kann allem wiederstehen, nur nicht der Versuchung. Natürlich schaue ich mir auch gern ihre Gaudinockerln und ihren charmanten Po an, der mich irgendwie an das meist unerreichbare Ideal männlicher Träume, die geschwungenen Formen eine Corvette aus den späten 50er Jahren erinnert.
Viola hat in ihren Körper, in einer Art kapitalistischem Tauschgeschäft, viel investiert. Eigentlich hat sie das Materielle nicht selbst erbracht, denn Viola ist gut situiert mit Werner verheiratet, und sie verfügt über gefragte Tauschwerte. Werner, ihr Mann und Lebensgefährte hat die laufenden Investitionen übernommen, und sie dankt es ihm pflichtbewusst und vertragstreu mit den routinemäßigen Ehe-Gegenleistungen und den in Bildungsbürgerkreisen üblichen in- und aushäusigen Repräsentationsaufgaben.
Nach meiner Meinung haben sich die Renovierungsarbeiten für Beide gelohnt. Viola ist ein absolut repräsentatives Jugendstilobjekt. Nicht mehr ganz jung, also kein Neubau mit versteckten Macken, aber auch nicht durch ein ständiges Kommen und Gehen verwohnt, obwohl Viola den nervenaufreibenden Fulltimejob der Hausfrau ausübt.
Der anstrengende Beruf der Haus- und Hauptfrau bringt es mit sich, dass Viola auch gewisse Ansprüche hat. Die geschmackvoll arrangierten, schmückenden Accessoires an Armen, Hals und sonstigen Körperteilen signalisieren selbst einem Blinden den diskret-kultivierten Anspruch, dessen laufender Unterhalt das Brutto-Monatseinkommen eines normal verdienenden Bürgers locker überschreitet. Ich vermute, ihre Ehe gibt ihr eine Art zusätzliche Sicherheit, unter anderem durch mehrere, unlimitiert einsetzbare Kreditkarten.
Das alles und noch viel mehr ist an mir vorübergegangen. Viola ist Werners Angelegenheit, denn mit Werner ist sie verheiratet und ich mit ihm befreundet.
Als nicht betroffener, aber subversiver Beobachter kann ich auf spannende Erzählungen hoffen. Ich weiß, Viola wird mir ein Menü mit scharfen Gewürzzutaten servieren, die das Leben in der City schmackhaft und spannend machen. Sex, Liebe, Treue, Seitensprünge, Herzschmerzen, Eifersuchts- und Gelddramen werden sich mit hinterlistigen Macht- und brutalen Kampfspielen abwechseln. Im Grund hat sich nicht viel geändert, seit die Menschen das finstere Mittelalter überstanden haben. Zivilisierte Menschen schlagen sich, jedenfalls nicht im Allgemeinen, manchmal nur im Besonderen, aber nicht mehr offensichtlich und für jeden erkennbar mit Knüppeln und schartigen Schwertern tot. Archaisches Verhalten passt einfach nicht mehr in unsere zivilisierte Welt. Dennoch wird im engen Freundeskreis diskutiert und es werden Ränke geschmiedet. Nicht anders ist das Verhältnis zwischen Viola und mir. Mit Viola diskutiere ich immer wieder gern, aber natürlich nur theoretisch, weil ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Lektorat: Amélie von Tharach
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4266-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Verehrte Leserin, lieber Freund. Was ich hier, auf diesen wenigen Seiten geschrieben habe, stammt aus meiner privaten Schreib-Werkstatt. Ich habe es mir in langen, einsamen Nächten, im Schein einer Glühlampe, oft frierend, hungrig und durstig, ausgedacht.
Vielleicht denkst du: „Das ist doch alles dummes Zeug. Das stimmt doch nicht. Das kann doch niemals so geschehen sein, was der da geschrieben hat ...“
Du hast recht, es stimmt nicht und es kann nicht stimmen. Obwohl, manches ist tatsächlich so geschehen. Darum schüttle nicht gleich mit dem Kopf, wenn es bei dir ein bisschen anders ist. Oft ist das ist nur eine Laune des Zufalls. Wenn du aber sagst: „Das ist es. Das muss ich Werner (oder wem auch immer) schicken, dem Blödmann!“ dann fühle ich mich reichlich belohnt ...
Übrigens: Falls du es noch nicht bemerkt hast, das Zitat ist frei nach Kurt Tucholksky