Ich ärgere mich über die sorgfältig restaurierte Altstadt und meine verschrammten Pumps. Nachdenklich stöckel ich über das Kopfsteinpflaster und denke an meine verheiratete Affäre, der sich seit Tagen nicht mehr gemeldet hat, und vermutlich seine Frau besteigt, oder eine andere, und nicht mich. Bin ich hypernervös, oder nur oversexed and underfucked, wie der der Volksmund sagt?
„Die Gedanken sind frei …“ klingt sanft wie ein säuselnder Wurm in meinen Ohren. Ein kleines Gedrängel macht mich neugierig, und vor meinem Lieblingsschuhladen sehe ich einen großen Ständer.
„Fuck for Plastics“ schreit mich geradezu an.
„Ficken für Plastik?“
Jetzt erst erkenne ich die neue Kollektion mit voll coolen Flips, die nicht floppen werden, weil darüber ein auffälliges Schild angebracht ist. Was will man mir „Fuck for Plastics“ sagen?
Nebenan (im Buchladen) steht Liesbeth (meine Lieblingsbuchhalterin und allerbeste Freundin) am Fenster und beobachtet trübsinnig das bunte Treiben draußen, und ihre hübsch dekorierten Star Wars Figürchen, neben preisreduzierten Tassen, Gläser und Teller mit lustigen Sprüchen und historischen Stadtmotiven.
Ich stelle mich dazu und frage etwas atemlos: „Was ist denn da los?“
„Siehst du doch“ ist Liesbeths patzige Antwort, und meine Phantasie beginnt sich zu bewegen. Sind Gummilatschen in Fetischkreisen jetzt in? Sind die Rosettenroten die Must-Haves, die ich jetzt zum Leben und Überleben brauche, und locken meine sündteuren 13 Zentimeter-High-Heels nicht mal mehr übergewichtige Aufreißer aus den Provinzen an? Bin ich Mega-Out?
Ich frage Liesbeth: „Was sagt denn Yoda dazu?“
„Wer? Yoga?“ antwortet Liesbeth verständnislos.
„Nicht Yoga, Yoda. Das ist der da. Der da, neben Obi-Wan Kenobi.“
„Hä“ ist Liesbeths bündige Antwort, und ich denke mir meinen Teil über Buchläden im Allgemeinen, und Buchhändlerinnen im Besonderen, die Geschäfte machen wollen, und nur über geringe Grundkenntnisse der Allgemeinbildung verfügen. Aber ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass ich nur mit Hilfe des Jedi-Meisters, der in ferner Zukunft gesagt hat: „Versuchen, es gibt kein Versuchen, es gibt nur tun, oder nicht tun“ überleben kann.
Mutig schlage ich vor: „Wir werfen den Star Wars Kram in die Mülltonne und du stellst Fickbücher in den Laden und ein paar schöne Dildos dazu, dann rennen die dir die Bude ein“, aber Liesbeth krampft die blickdicht bestrumpften Beine zusammen und heult wie ein getretener Bücherwurm kaum hörbar auf, denn sie hat viel Geld für den Kram bezahlt, und der Vertreter nimmt nichts zurück.
Pikiert sage ich nichts mehr, aber ich spüre, dass ich ohne die quietschbunten Plastik-Fickdinger aus dem Laden gegenüber nicht mehr leben kann.
Dann sehe ich Liesbeths verzweifelte, und gleichzeitig hasserfüllte Mimik (zusammengekniffene Lippen, heftig gerunzelte Stirn und leicht zusammengezogene Augenlider) und ich erkenne, dass ich helfen muss. Mir fällt ein, dass es höhere Ziele im Leben gibt. Nicht mir und meinen Lüsten, der notleidenden Buchbranche muss geholfen werden. Dennoch sind meine Zweifel noch stark. Ich frage mich, was Freiheit bedeutet, wo Freiheit anfängt, und wo der Freiheit meterhohe Grenzpfosten vor die vorlauten Mäuler gesetzt werden müssen?
Aber kann Literatur nicht auch zu einem Stück Freiheit werden? Zauselige, chinesische Dissidenten machen das doch vor. Die sprechen das aus, was sie bewegt, und werden weltberühmt. Setzt literarische Freiheit den Mut und das Können voraus, das zu ignorieren, was mich manipulieren, gängeln und einsperren will?
Wenn fickende Plastiklatschen die Menschen anzieht, wie Pflaumenkuchen die Bienen, dann wird das auch in anderen Lebensbereichen funktionieren - hundertprozentig.
Meine Gedanken sind frei und meine Phantasie kennt keine Grenzen, aber mein Verhalten kann man mit einer weißgefleckten Maus im ungeölten Tret-Rädchen vergleichen. Nicht nur meinen Leserinnen und Lesern geht es so und nicht anders. Auch ich lebe in einem gut abgesicherten Käfig der Konventionen.
Manchmal rümpfe ich provozierend mein Näschen. Ich freue mich wie ein Kind beim Anblick eines bunten Lutschers mit Himbeergeschmack. Mein Herz hüpft wenn ich ein nettes Kompliment bekomme, auch wenn mein Verstand sagt, dass das frech gelogen ist. Und ich fühle mich ins finstere Rechtfertigungseckchen gedrängt, wenn ich anecke, nicht den Erwartungen der Latte-macchiato-Mütter und deren genormten Gutmänner aus meinem näheren und weiteren Bekanntenkreis entspreche, und nicht so funktioniere, wie man es von mir erwartet.
Warum soll ich die Tatsachen wegdiskutieren? Ich bin nicht frei, ich bin zu einer biederen Konformistin mit kleingärtnerisch-revolutionären Gedankenspielchen verkommen.
Vielleicht kann ich mich nicht frei fühlen, weil ich nicht das beschreiben darf, was ich denke? Weil ich spüre, dass meine geschriebenen Gedanken meine Leserinnen und Leser irritieren könnten, weil es sich nicht gehört, freiheitliches Gedankengut zu verbreiten?
Zu allen Zeiten wuchsen Mord und Tyrannei im moralingedüngten Boden der Sprache. Saugen Diktatoren ihr geheimes Wissen um die Mechanismen der Manipulation mit der Muttermilch auf? Gelingt die Unterdrückung und Gleichschaltung der Massen nur durch eine größere Ansammlung das-sagt-man-nicht-gesäuerter Gehirne in konsumgeilen Körpern? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen verdrängen die bunten Plastiklatschen aus meinem Gehirn.
Ich weiß, meine Gedanken klingen verworren und subversiv, aber sie sind es nicht, und ich werde das erklären.
Nehmen wir einmal an, mich würde die triebhafte Lust packen, ein kleines Büchlein zu schreiben. Ich weiß, unzählige Frauen und Männer werden früher oder später von der Schreibseuche befallen, um die Menschheit zu beglücken, und um Freunde und Verwandte damit zu pesten. Ich gestehe hier und jetzt, auch ich bin eine hochgradig Anfällige.
Die Gründe für mein Laster sind vielfältig, aber was soll ich darüber diskutieren? Tatsache ist, dass vordergründig meine Ruhmsucht, aber letztendlich auch mein qualvoll überzogenes Konto bei der Volks- und Raiffeisenbank befriedigt werden muss, die mir zwar den Weg frei machen will, aber kein Verständnis für meine Ambitionen zeigt.
Das Thema meines noch zu schreibenden Buches steht noch nicht fest, aber es wird das enthalten, was zu einem Millionen-Bestseller gehört. Vor allem soll mein Buch die verhärteten Herzen von Millionen, wenn nicht der Weltbevölkerung berühren. Das ist mein kurz- und mittelfristiges Ziel, und dazu stehe ich.
Die Zutaten zu meinem literarischen Menü sind bekannt und schnell zusammengerührt. Ein großer, gutaussehender Mann mit Geld und standesgemäßem Background (Arzt, Adliger oder Revolutionär mit adligen Wurzeln), liebt eine sensible, blonde und mittellose (junge) Frau. Sie will ihn auch, aber bevor es zum Showdown kommt, gerät sie ohne ihr Zutun und darum unverschuldet in eine prekäre Lage. Vielleicht ist sie in die Hände von schlimmen Mädchenhändlern gefallen, oder sie hatte eine schwierige Jugend mit inzestuösem Hintergrund, oder sie hatte alles zusammen und noch viel mehr erdulden müssen.
Die schöne und sensible (blonde) Frau muss durch allerlei Untiefen wandern (huren), um dann stolz und aufrecht den Schmutz und die Demütigungen hinter sich zu lassen. Auf dem langen Weg dahin, hat sie zwar ihre Dessous verloren (was ich ausgiebig zu beschreiben gedenke), oder gar nicht mehr angezogen, aber sie hat ihre Würde behalten, und durch ihre Unschuld einen Strich gemacht. Aber ihr Stolz ist ungebrochen. Die schöne, jung (blonde) Frau hat sich (und das ist wichtig) aus eigener Kraft von allen auferlegten Zwängen böser Männer und neiderfüllter Ex-Freundinnen (rot- oder schwarzhaarig) befreit. Etwa im letzten Drittel (allerspätestens im letzten Viertel) meines Bestsellers wird sie wie ein weiblicher Phönix (oder elfenhaftes Einhorn) aus der Asche der Demütigungen aufsteigen, und sich zur anbetungswürdigen Heiligen in knapp sitzender Wäsche wandeln. Solche Geschichten lassen aufatmen, denn wer denkt nicht spontan an eigene Befindlichkeiten und lästige Ehemänner die nicht mehr zur durchgestylten Wohnung passen.
Meine Protagonistin wird ihren gutaussehenden Arzt (oder revolutionären Adligen) heiraten, der zwischenzeitlich die Armen gespeist und die Welt vor dem drohenden Untergang gerettet hat. Ich bin noch am überlegen, ob der Revolutionär blutüberströmt in ihren Armen sterben soll, oder gerettet wird. Aber dieses Detail werde ich noch recherchieren, und den Schluss meines Buches dem aktuellen Zeitgeist anpassen.
So etwa und auf geschätzten hundert- bis sechshundert Seiten könnte sich der Handlungsstrang in meinem zukünftigen Millionen-Bestseller in die Länge ziehen, wobei es keine Rolle spielt, ob die Story im Mittelalter, in der Neuzeit, oder in der Zukunft spielt. Immer sollte die große und ewige Liebe das Ziel aller Träume sein. Niemals, also wirklich niemals darf sich die reine Liebe nur auf den ex-und-weg-Austausch von Körperflüssigkeiten reduzieren.
Soweit sind mir die Marktmechanismen klar, und ich bin so vernünftig, dass ich weiß, dass mein zukünftiger Bestseller ein großes und wunderbares Gefühl vermitteln soll, das von der Seele, über den Körper bis zu meinem monetären Wohlbefinden alles beeinflussen kann.
Doch die Anarchie in meinem Kopf sagt etwas anderes. Mein Gehirn fragt: „Und wo bleibt in deinem Schmöker die literarische Freiheit?“
Ich antworte mit einer listigen Gegenfrage: „Freiheit?“
Und das graue Ding in meinem Kopf antwortet: „Solange du nicht schreibst, was du denkst, bist du nicht frei, und deinen Bestseller kannst du in die Tonne kloppen.“
Schüchtern versuche ich das Aufbegehren zu beschwichtigen, denn mein Gehirn kennt mich besser, als ich mich. Ich frage: „Aber was ist mit meinen kritischen Bloggerinnen und sinnsuchenden Rezensionistinnen? Werden die nicht voll total erschrecken und mich wie wochenlang mit Shrimps-Cocktails gefütterte Berber-Löwinnen zerreißen?“
In meinem Kopf rumort es, und ich spüre, wie mein Gehirn einen mittelschweren Lachanfall bekommt. Dann höre ich ein kicherndes: „Ja das werden die, und die werden dich steinigen und wie eine Aussätzige aus ihren dünkeligen Literaturkreisen verjagen.“
Ich antworte verängstigt: „Aber …“
„Nichts aber. Es ist deine revolutionäre Pflicht, das zu tun, was ich dir sage.“
„Ich weiß ja nicht. Soll ich das wirklich …“ Meine Zweifel sind unüberhörbar. Zu tief sitzt meine Angst vor der schreibenden Solidargemeinschaft, die harmlose Liebstiftlerinnen duldet, und Abweichlerinnen wie tollwütige Hündinnen aus den Kreisen wegknüppelt.
Plötzlich mischt sich mein Verstand ein.
„Hör genau zu. Du musst dich befreien, sonst wird das nichts. Die Ratgeber, die Schreibschulen und die Flachfrauen, die dir einreden wollen, wie und was du zu schreiben hast, sind alle für ‘n Arsch.“
Habe ich da richtig gehört? Mein sonst so nüchterner und logisch taktierender Verstand hat „Arsch“ gesagt - ein schmutziges und intolerables Wort? Wenn der das darf, darf ich das dann auch?
Ich sage mit unüberhörbar zweifelndem Unterton in der Stimme: „Und was ist mit (kurzes Hüsteln) Ficken?“
Niemand antwortet, und ich fühle, wie mich der Gottseibeiuns alleingelassen hat.
„Fuck for Peace“ klingt revolutionär-romantisch, und ich muss an den gutaussehenden Arzt in meinem Buch denken, der die blonde, junge Frau leidenschaftlich küsst. Aber wie klingt in so einer Situation die Feststellung: „Schatz denk an Plastiklatschen. Wir ficken für den Frieden.“
Das klingt nicht romantisch. Das klingt direkt, vulgär und lässt keine Zweifel aufkommen. Die blonde und junge Frau kann und darf nicht hauchen: „Ja fick mich für Plastik“, weil sie schüchtern ist, und ich bin es auch. Sie kann sich nur empört abwenden, und aus dem Happy-end wird nichts. In meinem Bestseller dürfen weder der Arzt (und auch nicht der Adlige) das böse Wort verwenden. Ficken zerstört die Spannung, denn der Satz: „Ich will ficken“ gehört sich nicht. So etwas darf weder geschrieben, noch gedacht werden, und ich bin verzweifelt. Was wird aus meinem Bestseller, wenn ich schon am ersten Wort in Gewissensnöte komme. „Ficken“ reduziert meinen Roman auf Plastiktreter-Niveau, weil „Ficken“ das Wesentliche ohne Umwege und Zweideutigkeiten beschreibt. Literarische Größe, und das ist mein Ziel, wird durch „Ficken“ auf guten, ehrlichen, direkten und schmutzigen Sex reduziert.
Ich bin verzweifelt, weil ich schüchtern bin. Ich kann es nicht leugnen. Ich bin angepasst und ich kann nicht aus meinem Käfig raus. Darf ich mein Buch „Fickbuch“ nennen? Können „Fickbücher“ zu Bestsellern werden, oder werden mich die Liesbeths in den Buchhandlungen boykottieren? Werde ich es wagen, in eine der Pflege des deutschen Kulturguts verpflichtete Buchhandlung zu gehen, und selbstbewusst ein „Fickbuch“ zu verlangen? Ein Buch, in dem das Wort „Ficken“ verwendet wird, kann man weder der Großtante schenken, noch den stolzen Eltern. Über „Ficken“ kann man nicht diskutieren, weil „Ficken“ genau das aussagt was es bedeutet.
Mein Instinkt sagt mir, dass aus meinem Bestseller nichts wird, aber morgen gehe ich los, und sage zu der Verkäuferin: „Ich hätte gern die Fuck-Plastikdinger in Größe 37.“
Nachtrag
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Tag der Veröffentlichung: 08.03.2016
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