Vorwort
Ein zweites Zuhause ist nicht immer an Menschen gebun-
den. Manchmal ist es ein Ort; manchmal sind es Bäume, denen man seine Träume, Sehnsüchte und Gedanken anvertraut.
Die Autorin beschreibt in ihrer Kurzgeschichte die Geschichte der ihr lieb gewordenen Weiden, die für sie Zuflucht und somit auch ein zweites Zuhause wurden und immer noch sind.
Eine lesenswerte Geschichte, die mit Fotos der Autorin präsentiert und damit ein besonderes Büchlein wird.
Signe Winter aka gnies.retniw
WEIDENGESCHICHTE
Lange stehen sie schon da, die zwei alten Weiden, solange ich denken kann.
In meiner Kindheit standen sie am Rande eines Teiches.
Treffpunkt für uns Kinder aus dem Dorf, Sommer wie Winter.
Im Sommer war bei den Weiden der Anlegeplatz für ein selbstgebautes Floß.
Im Winter saßen wir Kinder dort und zogen uns die Schlittschuhe an, um über das Eis zu flitzen.
Den Teich gibt es nicht mehr, aber die Weiden stehen noch.
Heute teilen sie, eingesäumt von Sträuchern, den Fußgängerweg.
Eine der alten Weiden soll gefällt werden.
Morsch ist sie und hohl.
Die Männer sind mit Motorsägen angerückt und beginnen mit ihrer Arbeit.
Schnitt vorne, Schnitt hinten…unwiderruflich…
Es ist Winter.
Ich sitze unter den Weiden.
Sitze da und warte voller Ungeduld, der Bruder möge die Schlittschuhe herausrücken.
Ich warte heute wohl vergebens, der Bruder spielt mit den Jungs Eishockey.
Gebogene Holzkrücken, herausgesägt aus den anliegenden Holunderbüschen, dienen als Schläger; ein großes Stück Eis ist der Puck.
Fröhliches munteres Treiben und ich sitze zwischen den Weiden und warte.
Es dämmert bereits.
Da kommt Frau Puschkin. Sie ist Lehrerin. Alle gehorchen ihr.
Das weiß ich, seit ich selbst zur Schule gehe.
„Frau Puschkin. ...“, beginne ich zögernd, „ich will auch Schlittschuh laufen, …aber der Bruder gibt sie mir nicht.“
Gleich!
Gleich wird sie das Weltgeschehen ändern!
Gleich wird der Bruder antreten und die Schlittschuhe herausrücken müssen!
So!
Aber nichts dergleichen geschieht.
Stattdessen ruft ein kleiner Knirps: „Mutti, Mutti…“, und läuft auf sie zu.
Ich versteh die Welt nicht mehr.
Die Lehrerin hat sich einfach in eine Mutti verwandelt!
Enttäuscht hocke ich mich zwischen die Weiden und wische mir schniefend die Tränchen weg.
„Blöder Bruder“, hören die Weiden mich schimpfen. „Und…und Frau Puschkin ist auch doof.“
Aber was verstehen Weiden schon davon.
Stehen da, links eine Weide, rechts eine Weide und ich dazwischen, selbst schon angewurzelt wie ein Baum.
Die Weide senkt sich.
Plötzlich fällt sie krachend zu Boden, reißt mich heraus aus meiner Träumerei.
Ächzend gibt sie einen letzten Seufzer von sich.
Da liegt sie, die alte Weide, quer über die Straße... mit ihr ein Stück Kindheitserinnerung...
Zwei Weiden stehen und teilen, eingesäumt von Sträuchern, den Fußgängerweg.
Eine alte, uralte und eine kleine, zierliche, neu gepflanzt für die nächste Generation...
Texte: RangerWoman
Bildmaterialien: RangerWoman
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2012
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