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-Prolog-




Sie hört Möwenschreie. Wellen. Schiffsglocken. Das Gesumme von hunderten Gesprächen.
Sie hört zornige Schreie. Fussgetrappel. Das Klirren von Waffen und Rüstungen.
Sie riecht den salzigen Duft des Meeres. Frischen und weniger frischen Fisch. Gekochte Mahlzeiten und Bier aus der nahegelegenen Gaststätte.
Sie riecht das faulige Holz der vermodernden Kiste, hinter der sie sich verbirgt. Den Gestank menschlicher Hinterlassenschaften in der Gasse, die sie sich als Zuflucht gewählt hat. Ihren eigenen, aus Angst geborenen Schweiß.
Sie fühlt den Puls der Stadt. Unendlich viele Schritte auf dem löchrigen Pflaster. Den stetig wehenden Luftzug.
Sie fühlt die Feuchtigkeit des Boden, auf dem sie kauert. Die Geldkatze in ihren Händen. Das rasende Hämmern ihres Herzens.

Sie sieht... nichts. Nur die Schwärze hinter ihren Augenliedern. Sie sind der einzige Schild gegen die Welt, der ihr zur Verfügung steht.

So hockt sie dort, in ihrem Versteck, und wartet ab, ob es nun wohl soweit ist. Ob sie nun das Schicksal ereilt, von dem sie schon immer gewusst hat, das es das ihre sein muss: eingefangen und zur Rechenschaft gezogen, die Hand abgeschlagen oder (vielleicht auch und) wieder zurück in die Sklaverei.

Zeit verstreicht. Sekunden, Minuten, Stunden?
Sie weiß es nicht. Es ist auch einerlei. Nur eine Verzögerung des Unausweichlichen.
Fast wünscht sie sich, dass der Zeitpunkt gekommen ist. Dass es vorbei ist.

Hastiges Fußgetrappel und zornige Rufe nähern sich, kommen auf sie zu. Fast sind sie da. Jetzt... jetzt ist es soweit. Sie haben sie. Werden sie aus ihrem Versteck zerren und mit sich schleifen, zu ihrer sogenannten Gerechtigkeit. Noch näher kommen sie, noch lauter werden ihre Jäger.
Und dann... werden sie wieder leiser. Sie sind direkt an ihrem Versteck vorbei gerannt, irgendeinem Schatten hinterher.

Ungläubig sitzt das Mädchen dort, wartet noch immer darauf, dass sie gepackt und angeschrien wird. Doch nichts geschieht. Sie starrt auf ihre Beute, Auslöser der Verfolgungsjagd, ein warmer Laib Brot und etwas frisches Obst.
Entkommen. Sie ist wieder einmal entwischt, mit genug Nahrung, um ein paar Tage länger über dir Runden zu kommen. Bis zum nächsten Mal.

Ein Grund zur Freude, nicht wahr...?

Hätte jemand das bittere, zynische Lächeln gesehen, mit dem sie diese Frage beantwortet, er wäre sicherlich erschrocken gewesen, einen solchen Ausdruck auf dem Gesicht eines keine acht Winter zählenden Mädchens vorzufinden. Doch niemand sieht sie, als sie in den Schatten der verwinkelten, schmutzigen Gassen verschwindet.

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Tag der Veröffentlichung: 17.06.2011

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