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Entlassung aus der Staatsbürgerschaft

 

Wieder einmal jährt sich der Tag unserer Ausreise und zwar zum neunundzwanzigsten Mal! Wie jedes Jahr im Oktober denken wir daran und sind uns jedes Mal eine Weile uneinig, an welchem Tag genau es losging. Diesmal habe ich die Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der DDR heraus gesucht und wir haben genau nachgeschaut. Meine habe ich aus irgendeinem Grund mal vernichtet, aber die meines Mannes existiert noch.

 

Im August 1985 hatten wir unseren Antrag auf Ausreise in Berlin am „Tränenpalast“ mit klopfenden Herzen in einen Briefkasten geworfen, nachdem wir unsere engsten Freunde dorthin begleitet hatten und sie nach Westberlin verschwunden waren.

 

Von da an hieß es warten…

 

Wir fuhren nach Rostock, um meinen Vater von unserem Vorhaben zu unterrichten, denn es war möglich, dass ihm dadurch Unannehmlichkeiten entstehen würden. Er meinte jedoch, darüber sei er hinaus, was auch immer das heißen sollte. Aber gutheißen konnte er unseren Wunsch nicht. Meine Mutter war zu der Zeit im Sommerhaus an der Ostsee und erfuhr erst durch meinen Vater von unserem Antrag. Daraufhin sprach sie ein halbes Jahr kein Wort mit uns und war vor allem wütend auf meinen Mann. Niemand glaubte uns, dass die Initiative diesmal von mir ausging.

 

Wir hatten auf Wunsch meines Mannes 1974 schon einmal einen Ausreiseantrag gestellt, ihn dann aber auf meinen Wunsch zurück gezogen, was ich später der Kinder wegen sehr bereut habe.

 

Als nächstes musste mein Mann seinen obersten Chef, den Bischof in Schwerin unterrichten. Das passierte schriftlich auf dem Dienstweg über den Superintendenten.

 

Dann berief er seinen Kirchgemeinderat ein und informierte auch den. Kirchgemeinderat und Gemeinde reagierten sehr betroffen, aber verständnisvoll und baten dringend darum, dass mein Mann bis zur Ausreise im Amt bleiben solle.

 

Als wir zu einem Gespräch zum Bischof eingeladen wurden, fragte der unter anderem nach der Reaktion der Gemeinde und mein Mann erzählte, dass die ihn möglichst bis zur Ausreise behalten wollte. Damit war der Bischof einverstanden.

 

Er hatte jedoch nicht mit dem Superintendenten gerechnet, der diesen „Zustand“ für unhaltbar befand und solange quengelte, bis der Bischof nachgab und die Ordinationsurkunde zurück verlangte. Irgendwie hatte mein Mann das aber verdrängt.

 

Ende Oktober 1985 – einen Tag vor dem Reformationstag – rief der Superintendent stotternd an und fragte, ob mein Mann wohl „trotzdem“ noch den Reformationsgottesdienst halten könne. Er fände so schnell keine Vertretung… Trotzdem? Vertretung? Ja, ob er denn keine Post vom Bischof bekommen hätte. Nein! Das Entlassungsschreiben war irgendwo (bei der Stasi?) hängen geblieben und jedenfalls noch nicht angekommen.

 

Also gut, er ließ sich breitschlagen. Die Gemeinde sollte ja darunter nicht leiden. Aber merken sollte sie es schon, was „Mutter Kirche“ da mit meinem Mann anstellte. Er ging demonstrativ ohne Talar auf die Kanzel und erklärte auch, warum. Er war mit demselben Tage aus dem Dienst der Kirche entlassen – wegen unseres Ausreiseantrages.

 

Die Gemeinde war einstimmig empört!

 

 

Nun hatte der „Sup“ ein Problem – einen arbeitslosen ehemaligen Pastor mit Familie im Pfarrhaus!

 

Auch war er der irrigen Meinung, er könne staatlichen Stellen „Dampf“ machen. Das klappte natürlich gar nicht.

 

Zuerst überließ er uns noch den Dienstwagen, überlegte es sich aber bald anders, weil der angeblich irgendwo gebraucht würde, was nicht stimmte.

 

Etwa vier Wochen nachdem wir unseren Antrag abgeschickt hatten, wurden wir das erste Mal zum Rat des Kreises zu einem Gespräch eingeladen. Das heißt, mein Mann wurde allein eingeladen, aber ich ging jedes Mal mit. Ich wollte ihn dort nicht allein und ohne Zeugen lassen. Behandelt wurde ich meistens wie Luft. Und meinem Mann wurden immer dieselben provozierenden Fragen gestellt, offensichtlich mit der Absicht, dass er sich zu staatsfeindlichen Äußerungen hinreißen lassen würde. Zum Beispiel: „Was ist denn an dieser DDR so schlecht?“ Aber das klappte nicht. Wenn ich sah, dass die Ader an seinem Hals anschwoll, nahm ich seine Hand, um ihn zu beruhigen und sie konnten ihm nichts anhaben.

 

Dann stellte man fest, dass mein Mann nun arbeitslos war. Das ging ja nun gar nicht! Arbeitslose gab es offiziell in der DDR nicht und hatte es nicht zu geben. Mein Mann sagte, wir hätten genug Geld, um eine Weile über die Runden zu kommen. Wir hatten schon fast unseren gesamten Hausrat verkauft, verschenkt, weggegeben. Das zählte nicht. Arbeitslos durfte er nicht sein!

 

Nach einigem Hin und Her schickte man meinen Mann gleich ab November zwei Dörfer weiter in die volkseigene Tischlerei. Dazu lieh ein Freund ihm sein altes Motorrad, damit er überhaupt dorthin kam. Den Winter über war das nicht gerade angenehm.

Für die Mitarbeiter der Tischlerei, die meinen Mann ja alle als den „Paster“ kannten, war es ein mittlerer Schock, nun dort mit ihm zu arbeiten, der er doch eigentlich „was Besseres“ war.

 

Wie es so seine Art ist, legte er sich sofort mächtig ins Zeug und brach alle Normen und Rekorde, so dass er ganz schnell wieder ausgebremst wurde. Sein Tempo war dort niemand gewöhnt. Man arbeitete lieber gemächlich und lieber morgen als heute…

 

Eine freudige Überraschung war der erste Lohn plus Prämie für irgendeine Fertigstellung. Damit kam das mickrige Pastorengehalt nicht annähernd mit!

 

So ging das bis zum Juli 1986. Dann passierte eines Vormittags der Unfall. Ein dickes Brett hatte sich ein bisschen verkantet auf der Abrichte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren grundsätzlich abgebaut. Mein Mann rutschte ab mit der linken Hand und vom Mittelfinger fehlte die Kuppe…

Als erstes wurden alle Sicherheitsvorkehrungen wieder angebaut und mein Mann verdonnert, davon nichts zu sagen. Dann fuhr der Chef ihn in die nächste Stadt ins Krankenhaus. Dort wurde er ziemlich rüde wieder zusammengeflickt. Das bedeutete aber, dass er schon am nächsten Tag wieder auf der Matte stand, weil er es vor Schmerzen nicht aushielt. Die Wunde war viel zu stramm vernäht worden und der durch das Abtrennen angespitzte Knochen nicht begradigt, so dass die restliche Fingerkuppe abzusterben drohte.

 

Jeder weiß, wie empfindlich die Fingerkuppen sind. Es war erst einmal undenkbar, wieder arbeiten zu können. Der Finger heilte schlecht und blieb sehr empfindlich. Da half auch kein Überzieher aus Leder, den wir zum Schutz besorgten.

 

Also blieb mein Mann zu Hause bei vollem Lohn und pflegte seine Hand. Das behagte so einigen nicht.

 

Die Wochen und Monate vergingen und nichts tat sich.

 

Anfang Oktober 1986 kam der nächste Anruf. Wir sollten wieder zum Rat des Kreises kommen und die Kinder mitbringen. Ein gutes Zeichen! Wir wussten, dass die Kinder befragt werden würden, ob sie mitgehen wollten. Unsere Älteste rebellierte damals sehr und wollte nicht weg. Mein Mann hatte große Angst, dass sie dort nein sagen würde. Es war bekannt, dass die Familie bleiben müsste, wenn nur ein Kind nein sagte…

Ich war sicher, dass sie das nie tun würde. Mein Mann nicht – er vergatterte unsere Tochter ziemlich hart.

 

Beide großen Töchter sagten, selbstverständlich wollten sie mit. Die Kleine war erst drei Jahre alt und wurde nicht gefragt, nur Kinder ab zwölf.

 

Daraufhin bekamen wir unseren sogenannten Laufzettel und die Frist von einer Woche, um ihn abzuarbeiten.

Das bedeutete, dass wir innerhalb einer Woche sämtliche Banken, den Stromanbieter und den Vermieter abklappern und um Bescheinigungen und Stempel bitten mussten, dass wir keine Schulden bei irgendjemandem hatten.

 

Der „Sup“ verlangte prompt noch Miete nach. Mit soooo einer langen Wartezeit hätte er ja nicht gerechnet. Den kirchlichen Mitarbeitern, die das mit erlebten, war das sehr peinlich, zumal der „Sup“ gar nicht wusste, wie viel er verlangen sollte. Ich glaube, mein Mann gab ihm dann von sich aus fünfhundert Mark. Damit war er zufrieden.

 

Und dann mussten wir innerhalb dieser einen Woche jedes einzelne Familienmitglied beider Seiten besuchen und uns von jedem einzeln handschriftlich versichern lassen, dass er uns nicht für seinen Unterhalt braucht. Sogar meine damals noch lebende Oma war davon nicht ausgenommen.

 

Das war wohl die schwerste Woche, die wir je erlebt haben. Einerseits waren wir ziemlich euphorisch, weil wir wussten, es geht los. Andererseits mussten wir jedem einzelnen die Situation erklären und was sie für uns tun sollten, uns gleichzeitig verabschieden und von fast jedem Elternteil und Geschwistern – wir hatten jeder fünf Geschwister! – anhören, dass sie aber nicht unterschreiben würden, dass sie einverstanden wären. Die reinste Tortur!

 

Es war ja auch nicht so, dass wir kommen, die Bescheinigung schreiben lassen und wieder verschwinden konnten. Viele hatten wir länger nicht gesehen. Sie freuten sich über unseren Besuch, bis wir unser Anliegen vorbrachten…

Bei meinen Eltern mussten erstmal Möbel gerückt werden, bis wir überhaupt zu Wort kamen. Mein ältester Bruder war verschwunden, als wir ankamen und das trotz Anmeldung und Dringlichkeitsbekundung. Und dann wohnten ja auch nicht alle an einem Ort. Wir mussten nach Rügen, in die Altmark und nach Rostock und Umgebung. Dazu – wie auch für alle anderen Fahrten - mussten wir uns auch noch ein Auto leihen, das eine Familie aus der Gemeinde uns netterweise zur Verfügung stellte.

 

Aber wir schafften es – trotz aller Widrigkeiten konnten wir alle Papiere fristgerecht abgeben.

 

Danach kauften wir eine Kiste Rotkäppchensekt und luden spontan alle Freunde und ehemaligen Kollegen aus der Nähe ein zu einem Abschiedsumtrunk. Sie kamen alle in mehr oder weniger gedrückter Stimmung. Aber einer oder zwei brachten ihre Gitarren mit und es wurde ein wunderbares und sehr gelungenes Abschiedsfest.

 

Dann kamen für die Kinder die einwöchigen Herbstferien. Wir waren sicher, sie würden uns während der Ferien verschwinden lassen. Aber nichts passierte…

 

Die Kinder wollten auf keinen Fall nach den Ferien wieder in die Schule, weil klar war, dass es bald losgehen würde und sie sich schon überall abgemeldet hatten. Wir behielten sie erstmal zu Hause.

 

Am Montag passierte nichts. Mein Mann putzte schon seit einer Woche immer wieder das Haus von unten bis oben, um sich zu beschäftigen und abzulenken. Der große Boden war noch nie so sauber…

 

Schon früh am Morgen saß er dicht neben dem Telefon.

 

Am Dienstagfrüh kam der ersehnte Anruf: „Herr E. ich muss Sie sagen, kommen Sie morgen um 12 Uhr und bringen Sie die Kinder mit, Ihre Ausweise und dreißig Mark.“

 

Es ging also wirklich los!

Wir wussten, dass wir in Gutenfürst über die Grenze fahren würden und dass der einzige Interzonenzug - bei uns Mumienexpress genannt, weil ja fast nur Rentner damit reisten - abends um 18.05 Uhr in Neustrelitz abfuhr und erst nachts um zwei die Grenze passieren würde.

 

Neustrelitz lag etwa sechzig Kilometer von unserem Dorf entfernt.

 

Nachdem wir wussten, dass es losgeht, hatten wir uns vier große Koffer gekauft und die Töchter gebeten, schon mal ihre wichtigsten Sachen zu packen.

 

Wir baten unseren Freund und Nachbarpastor, uns ein paar wenige Dinge mit Spedition nachzuschicken, wenn wir wüssten, wo wir bleiben würden und ließen ihm Geld dafür da. Das hatten wir für unsere Berliner Freunde auch getan.

 

Wir fuhren also am Mittwoch, dem 28. Oktober 1986 in die Kreisstadt Altentreptow, um unsere Visa in Empfang zu nehmen. Vorher musste mein Mann sich noch seinen letzten Lohn abholen und die Bescheinigung, die er später für die Rente brauchen würde. Dann haben wir noch einmal richtig gut gegessen im besten Hotel der Bezirkshauptstadt Neubrandenburg.

 

Wie sich dann beim Rat des Kreises herausstellte, brauchten wir nicht dreißig Mark für alle, sondern pro Person – außer für die Kleine. Unsere Älteste wollte dann noch mit der Beamtin streiten, dass ihre Augenfarbe falsch eingetragen war. Das ließ die aber nicht gelten.

 

Dann waren wir „staatenlos“ und hatten das heißersehnte Visum in der Hand. Fehlten noch die Fahrkarten nach Giessen. Die mussten wir wiederum in Neubrandenburg am Schalter für Reisende ins nichtsozialistische Ausland kaufen. An diesem Schalter stand keine lange Schlange…

 

Dann wurde es eng und die Zeit sehr knapp. Wir mussten bis zum 30. Oktober um Mitternacht ausgereist sein. Da der Zug erst gegen zwei Uhr nachts die Grenze passieren würde, mussten wir also am selben Tag noch fahren. Das war uns vorher klar und wir hatten unseren Fahrern schon in etwa Bescheid gegeben. Für uns und unser Gepäck brauchten wir zwei Autos, eins davon mit Anhänger.

 

Wir mussten die Koffer noch zu Ende packen, Brote für die lange Reise schmieren, Getränke besorgen und unseren Fahrern Bescheid geben, dass es heute losgeht!

 

Und unsere Große saß im Wohnzimmer im Kreise all ihrer Freunde vor ihren Koffern – sie brauchte zwei! – die noch längst nicht fertig gepackt waren und machte uns wahnsinnig.

 

Ich hatte kaum Zeit, die Brote für alle zu machen. Wie sich später herausstellte, waren es viel zu wenige. Wer kennt das nicht – kaum sitzt man im Zug, werden die Brote ausgepackt und verputzt. Schließlich war Abendbrotzeit!

 

Die Zeit schritt unaufhaltsam voran. Ich hatte keine Sekunde, um wenigstens meinen Eltern Bescheid zu geben, dass es losging. Ehrlich gesagt, war mir das ganz recht. Ich würde mich von Giessen aus melden.

 

Dann war es gegen fünf Uhr, die Autos bereit und wir fuhren im Konvoi nach Neustrelitz. Ein Freund unserer Großen war mit seinem Moped voraus gefahren, um dort noch einmal Abschied zu nehmen. Und ein betont unauffälliger Herr stand auch schon auf dem Bahnsteig und beobachtete das Geschehen…

 

Wir kamen ziemlich knapp vor der Abfahrt des Zuges an, konnten uns nur schnell verabschieden, einsteigen und schon ging es los.

 

Trotz der ganzen Hektik fühlte ich mich den ganzen Tag ausgesprochen ruhig, während mein Mann die Aufregung pur war. Er hatte ständig Angst, es könne noch irgendwas schief gehen. Selbst im Zug kam er nicht zur Ruhe. Wir anderen aßen entspannt unsere Brote – er lehnte ab. Der Erfolg war, dass für ihn nicht ein Krümel übrig blieb. Auch Getränke hatten wir viel zu wenig mitgenommen. An den Koffern hatten wir ja schon schwer zu tragen. Vielleicht hatten wir darum alles andere so weit wie möglich reduziert. Wahrscheinlich konnte ich beim Brote machen auch nicht mehr richtig denken…

 

Außer unserer Kleinen konnte niemand schlafen. Wir wollten nichts verpassen! Schon gar nicht den Grenzübertritt.

 

Kurz vor Gutenfürst wurde es sehr ruhig im Zug. Der Zug hielt auf einem hell erleuchteten Bahnhof. Uniformierte mit Hunden gingen auf dem Bahnsteig entlang und ließen die Hunde den Zug von unten inspizieren. Dann erschien ein ebenfalls Uniformierter mit finsterer Miene in unserem Abteil, das wir für uns allein hatten und verlangte unsere Visa. Mein Mann hielt ihm alle Visa hin, aber das passte dem Herrn nicht. Jeder sollte sein Papier selbst in der Hand halten und er verglich dann die Angaben mit denen, die er auf einem Brett vor dem Bauch bei sich hatte.

Unsere Jüngste lag auf der Sitzbank und schlief und war fast vollständig unter Papas Jacke verschwunden. Er fragte nur, ob das da Beate sei. Wir bejahten und er war zufrieden.

 

Dann waren wir wieder allein. Kurze Zeit später setzte der Zug sich wieder in Bewegung und alle Passagiere kamen aufatmend und viel munterer als zuvor wieder aus ihren Abteilen hervor.

 

Keine halbe Stunde später landeten wir in Hof. Von der Grenze war im Dunkeln nicht viel zu sehen gewesen. Eigentlich gar nichts. Das enttäuschte meinen Mann ein wenig.

 

Aber nun waren wir in Hof und dort endete die Fahrt erst einmal. Wir erfuhren, dass erst früh zwischen sechs und sieben der nächste Zug Richtung Giessen ginge. Solange mussten wir auf dem Bahnhof in einem Aufenthaltsraum bleiben und die Stunden zogen sich wie Kaugummi.

 

Gleich bei der Ankunft hatte uns ein grün Uniformierter empfangen und befragt. Er wollte wissen, woher wir kommen, warum und wieso. Am Ende meinte er, also aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. Kurz gefasst war es so.

 

Wir saßen in dem kleinen Aufenthaltsraum. Unsere Kleine hatte erstmal ausgeschlafen. Alle anderen waren hundemüde und durstig.

 

Als der Polizist noch einmal auftauchte, fragte mein Mann ihn, wie wir wohl an etwas zu trinken für die Kinder kommen könnten. Ja, da wären doch Automaten. Tja, aber ohne Moos nix los. Wir durften ja angeblich keinen Pfennig mitnehmen, was sich dann als Fehlinformation herausstellte. Und mein Mann hatte dem „Sup“ am Schluss fünfhundert D-Mark überreicht, die wohl eigentlich eine Spende an uns gewesen waren… Dieses Geld fehlte uns jetzt sehr.

 

Der nette Polizist nahm meinen Mann dann mit in seinen Dienstraum und gab ihm eine Flasche Orangensaft aus seinem Vorrat. Die nächste Stunde war erstmal gerettet.

 

Irgendwann war auch diese Nacht zu Ende und unser Anschlusszug da. Wir stiegen ein und konnten aus den Sitzen im Abteil wunderbar bequeme Liegen machen und uns endlich für eine Weile hinlegen. Mein Mann hatte dafür allerdings keine Ruhe. Für ihn war das alles besonders aufregend. Inzwischen hatte er durch den Schlafmangel knallrote Augen und war eigentlich nicht mehr ansprechbar.

 

Dann landeten wir in Würzburg, wo es hieß, der Zug nach Frankfurt stünde auf dem Bahnsteig gegenüber, man solle sich beeilen. In zwei Minuten ginge es weiter. Wir rafften unsere Riesenkoffer und stiegen Hals über Kopf in den anderen Zug. Der war wesentlich moderner und chicer als der vorige. Wir landeten in einem Großraum-Panoramawagen, wo wir allerdings nicht zusammen sitzen konnten, weil der ziemlich voll war.

 

Nach einer Weile kam der Schaffner und kontrollierte die Fahrkarten. Mein Mann hielt ihm unsere hin. Der Schaffner fragte nach dem Zuschlag. Welcher Zuschlag? Für den ICE! Hatten wir offenbar nicht. Meinem Mann war das sehr peinlich. Er musste dem Schaffner klar machen, dass wir kein Geld hätten, gerade aus der DDR kämen und so schnell wie möglich nach Giessen wollten. Der äußerst „feinfühlige“ Schaffner trompetete: „Was, kein Geld?“ durch den ganzen Waggon und verstand nur Bahnhof. Schließlich verlangte er, dass wir am nächsten Bahnhof den Zuschlag nachzahlen sollten und ließ uns in Ruhe. Mein Mann wollte am liebsten im Erdboden versinken. Ich war eher empört über diesen Herrn. Ich hatte schon von Reisenden gehört, denen dieser ICE-Zuschlag erlassen worden war.

 

In Frankfurt hatten wir etwa eine halbe Stunde Aufenthalt, ehe es weiter ging. Unseren Mädchen gingen die Augen über als sie die vielen Verkaufsstände sahen mit Obst und Süßigkeiten, Getränken und vielem anderen mehr. Wir mussten sie wieder vertrösten.

 

Dann die letzte Etappe. Wir fuhren noch etwa eine Stunde nach Giessen, wo wir mittags gegen halb eins ankamen. Wir hätten gern unsere Koffer erst einmal untergestellt und uns das Auffanglager gesucht. Das ging mangels Kohle wieder nicht. Also blieb ich mit zwei Töchtern beim Gepäck und mein Mann zog mit einer Tochter los, um nach dem Lager und einem Gepäckwagen zu schauen. Das Lager lag direkt hinter dem Bahnhof. Man musste nur in einem größeren Bogen drum herum gehen.

 

Nach einer Weile hörten wir Geratter auf der Strasse und sahen Vater und Tochter mit einem Ungetüm von Holzkarren ankommen. Jedenfalls konnten wir unsere Koffer alle darauf verstauen und dann Richtung Lager ziehen. Ich wagte den Vorschlag, unsere Kleine könnte doch obendrauf mitfahren. Das ließ bei meinem Mann das Fass beinahe überlaufen. Er war verständlicherweise fix und fertig, hatte weder geschlafen, noch gegessen und morgens in Hof nur einem anderen Reisenden beim Frühstücken und Kaffeetrinken zugeschaut, mit dem er sich unterhalten hatte.

 

Als wir dann endlich beim Lager ankamen, fragte uns der freundliche Pförtner als erstes: „Haben Sie schon etwas gegessen?“ „NEIN!“ Er ließ uns das Gepäck absetzen und schickte uns sofort in die Kantine. Dort gab es Rouladen! Die Welt war wieder in Ordnung!

 

Gleich nach dem Essen wurde uns ein Zimmer mit Doppelstockbetten zugewiesen und Laufzettel in die Hand gedrückt, die wir ausfüllen und abarbeiten sollten. Mein Mann legte wieder sein übliches Tempo vor und war in Windeseile durch alle notwendigen Büros durch – vom Arbeitsamt bist zu den verschiedenen Geheimdiensten.

 

Beim Arbeitsamt bekamen wir endlich wieder Geld in die Hand, von dem wir aber nicht wussten, wie lange es reichen müsste. Fünfundsiebzig Mark Begrüßungsgeld. Was tat mein korrekter Schatz? Er ging als erstes zum Bahnhof und bezahlte unsere „Schulden“! Das hätte erstens durchaus Zeit gehabt und zweitens war es überflüssig. Wo hätte die Bahn uns suchen sollen? Das war uns aber nicht bewusst.

 

Wir richteten uns in unserem Zimmer ein und die Kinder gingen auf Entdeckungsreise. Schnell hatten sie herausgefunden, dass es eine Kleiderkammer gab, wo man sich Kleidung aussuchen konnte. Und einen Fernsehraum gab es auch, wo aber die Männer dominierten und meistens Sport sahen.

 

Am Donnerstagmittag waren wir angekommen. Freitagmittag war mein Mann mit dem Laufzettel durch und alle Büros machten Wochenende. Wir meldeten uns bei meinen Eltern und bei unseren Freunden, die inzwischen in der Nähe von München lebten. Alle die wir kannten, wohnten zu weit weg für einen Wochenendbesuch. Also mussten wir das Wochenende allein herumbringen.

 

Wir schauten uns ein wenig die Stadt an. Am Sonntag gingen wir in eine Kirche – ein merkwürdiger Betonbau mit noch merkwürdigerem Pastor und einer Predigt wie Donnerhall.

 

Und dann war auch schon Montag, die Büros wieder besetzt und wir so gut wie fertig. Man fragte, zu welchen Verwandten wir wollten. Zu keinen! Wir wollten auf eigenen Beinen stehen. Das sah man dort erstmal nicht so gern. Wir bräuchten einen Ansprechpartner. Also gaben wir den Patengemeindepastor an und landeten auf diese Weise am Dienstag, dem vierten November in Würzburg.

 

 

 

 

 

 

Wie es weiterging, kann man hier lesen:

 

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Impressum

Cover: eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2015

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