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Abschied vom alten Leben

 

Zehn Jahre lang hatten wir relativ beschaulich mit unseren drei Töchtern auf dem Lande gelebt. Aber Hellmut war fast immer unzufrieden mit unserem Leben.

 

Er hatte schon als Jugendlicher davon geträumt, im Westen zu leben wie zwei seiner Onkel und seine Cousins und Cousinen und das ging ihm auch nie aus dem Kopf.

 

Seine beruflichen Wünsche und Pläne waren ganz andere gewesen, als sie ihm dann von den Umständen auferlegt worden waren. Er wäre gern Augenarzt oder Pilot geworden – beides als Pastorensohn in der DDR ziemlich illusorisch. Da musste man schon allerbeste Noten haben und ein sehr hartnäckiger Kämpfer sein.

 

Es blieb ihm dann nur das Theologiestudium, das sein Vater ohnehin für ihn im Auge hatte, zumal ihm auch das staatliche Abitur verweigert wurde.

 

Da er in einem Pastorenhaushalt aufgewachsen war, machte es ihm keine Schwierigkeiten, sich in das Gebiet hineinzufinden. Die Arbeit mit den Menschen machte ihm auch Freude und er machte sie gut. Aber die Theologie interessierte ihn nicht wirklich – zum Leidwesen seines Vaters, der in dieser Arbeit völlig aufging.

 

Was Hellmut noch große Schwierigkeiten bereitete, war die Verwaltungsarbeit, die ja auch dazu gehört. Fahrtenbuch führen und ähnliche Dinge, waren ein rotes Tuch für ihn und besonders sein vorgesetzter Superintendent, der ein pingeliger Pfennigfuchser war. Sie gerieten darüber regelmäßig aneinander, was Hellmut die Arbeit nicht gerade mehr ans Herz wachsen ließ.

 

Zu den Gemeindemitgliedern hatten wir beide guten und teilweise sogar freundschaftlichen Kontakt. Da gab es keine Schwierigkeiten.

 

Unsere beiden älteren Töchter gingen im Nachbarort in die Schule und hatten dort als die Pastorentöchter einen gewissen Außenseiterstatus. Katrin litt darunter. Sie wollte ganz normal dazu gehören und nicht „Paster“ genannt werden.

 

Als unseren Töchtern dann auch noch von der Direktorin signalisiert wurde, dass sie Oberschule und Abitur vergessen könnten, obwohl sie zeitweise Klassenbeste waren, brachte unter anderem das das Fass zum überlaufen.

 

Noch im Vikariat hatte Hellmut den ersten Ausreiseantrag gestellt – gleich nach der KSZE-Konferenz. Damals aber war ich noch nicht soweit und konnte das Vorhaben nicht mittragen, so dass er den Antrag am Ende schweren Herzens zurück nahm. Ohne seine Familie wollte er nicht weg!

 

Aber zehn Jahre später war das dann etwas anderes. Unsere Freunde wanderten nach und nach ab, die Arbeitssituation wurde für Hellmut zunehmend unerträglich und unsere Kinder hatten keine Aussicht auf Abitur und Studium.

 

Eines Tages im Sommer 1985 setzte ich mich an meinen Küchentisch im Pfarrhaus und schrieb meinen Entwurf eines Ausreiseantrages und übergab ihn Hellmut, als ich damit fertig war.

 

Er stutzte, las meine Zeilen stumm und sagte erst einmal gar nichts. Dann wurde er wütend und fragte, ob ich ihn verarschen wolle. Damit solle ich keine Scherze treiben, er habe das Thema abgehakt.

 

Ich konnte ihn überzeugen, dass ich jetzt soweit war und es wirklich durchziehen wollte.

 

Darauf setzte Hellmut sich hin und schrieb unseren gemeinsamen offiziellen Ausreiseantrag. Den warfen wir dann an dem Augusttag in Berlin in den Briefkasten, als wir unsere Freunde am Tränenpalast verabschiedet hatten - natürlich nicht ohnen es ihnen vorher zu erzählen.

 

Dieser Antrag wurde natürlich nicht sofort bearbeitet oder gar genehmigt. Etwa nach vier Wochen bekamen wir den ersten Anruf des Rates des Kreises. Hellmut sollte zu einem Gespräch erscheinen, was sich dann etwa im Vierwochenrhythmus fortsetzte.

 

Ich begleitete ihn jedes Mal zu den Gesprächen, obwohl ich nicht eingeladen war. Ich wurde überhaupt wie Luft behandelt.

 

Die Gespräche liefen immer ziemlich gleich ab. Man versuchte, Hellmut zu provozieren. Aber auch dank meiner Anwesenheit, blieb er ruhig und sagte nur immer wieder dasselbe: Wir wollen weg! Ich sah oft, wie die Schlagader an seinem Hals vor Zorn oder Aufregung pulsierte. Dann legte ich meine Hand auf seinen Arm und er blieb ruhig.

 

Hellmut wurde dann durch das Insistieren des Superintendenten beim Oberkirchenrat gezwungen, seine Ordinationsurkunde zurück zu geben. Das brachte den Rat des Kreises in leichte bis mittlere Bedrängnis, denn offiziell gab es ja keine Arbeitslosen in der DDR. Hellmut aber war jetzt ohne Arbeit. Mit der Arbeit verlor er auch seinen Dienstwagen und somit waren wir auch ohne Fahrzeug.

 

Die Jobs, die man ihm anbot, waren alle nicht ohne Fahrzeug zu erreichen. Schließlich wurde er im nächsten Ort in die Tischlerei geschickt, die er zur Not mit dem Fahrrad erreichen konnte. Aber ein Freund lieh ihm solange sein altes Motorrad.

 

Unsere Töchter reagierten sehr unterschiedlich. Sie waren damals dreizehn und vierzehn Jahre alt und als wir dann ausreisten, ein Jahr älter. Die jüngere, Anna, fand das alles sehr spannend und freute sich auf den Neuanfang. Katrin dagegen rebellierte, was das Zeug hielt und brachte uns manchmal an den Rand der Verzweiflung. Sie war gerade dabei, sich zu verlieben und nahm überhaupt immer alles sehr dramatisch.

 

Beate war mit ihren zwei Jahren noch zu klein, um das Ausmaß der Veränderungen zu verstehen.

 

Wir versuchten, Katrin damit zu trösten, dass sie mit achtzehn Jahren die freie Wahl hätte und zurückgehen könne, wenn sie das dann noch wolle. Außerdem durfte sie jederzeit reisen und ihre Großeltern besuchen, was sie auch im ersten Sommer nach unserer Ausreise tat.

 

Im Frühsommer hatte Hellmut einen Unfall in der Tischlerei an der Hobelmaschine und verlor dabei die linke mittlere Fingerkuppe. Das war eine schmerzhafte und langwierige Angelegenheit und wollte und wollte nicht heilen. Er war wochenlang krank geschrieben.

 

Nach über einem Jahr, noch während seiner langen Krankschreibung,  kamen wir dann endlich in die heiße Phase und erhielten unseren so genannten Laufzettel, auf dem alle Banken, Energieversorger, Vermieter unterschreiben mussten, dass wir keine Schulden bei ihnen hätten. Das war noch einmal eine sehr anstrengende Zeit.

 

Wir mussten uns ständig ein Auto leihen, um überall hinzukommen. Alles musste persönlich erledigt werden. Zum Glück gab es in unserem Dorf eine sehr nette Familie, die uns ohne zu zögern ihren „Moskwitsch“ anvertraute.

 

Nach den Banken und so weiter mussten wir nämlich auch noch sämtliche Familienmitglieder aufsuchen, um von jedem – auch von meiner damals fast neunzigjährigen Oma – handschriftlich bestätigt zu bekommen, dass er oder sie uns nicht zu seinem Lebensunterhalt brauchte. Das war oft nicht leicht zu erklären! Viele waren keineswegs einverstanden mit unseren Plänen und betonten immer wieder, dass sie aber nicht unterschreiben würden, dass sie einverstanden wären.

Hellmut hatte fünf Geschwister an verschiedenen Orten und ich auch, dazu noch die Eltern und meine Oma.

 

Wir waren sehr unter Zeitdruck, da wir bis zu einem bestimmten Termin diesen Laufzettel und die Erklärungen abgeben mussten. Insgesamt hatten wir dafür vierzehn Tage.

 

Da wir zu manchen Verwandten ziemlich weit fahren mussten, schrumpfte unser Zeitlimit immer schneller. Hinzu kam, dass sie uns natürlich erst einmal als Besuch ansahen. Dann begriffen sie langsam, dass es wohl ein Abschiedsbesuch war und niemand sagen konnte, wann und ob wir uns wieder sehen würden. Das machte die Sache nicht gerade leichter.

 

Wir hatten unseren Besuch natürlich jeweils angekündigt und auch den Grund. Jeder reagierte anders darauf. Meine Eltern ignorierten erstmal völlig, warum wir da waren. Hellmut musste helfen, einen Schrank woanders hin zu transportieren. Es wurde zusammen Tee getrunken. Erst dann ging mein Vater an seinen Schreibtisch und nahm Hellmut mit dorthin. Auch mein Vater musste noch einmal betonen, dass er nicht zustimmen würde. Dann ging meine Mutter nach einer Weile an den Schreibtisch und dann meine Geschwister, die noch bei ihnen lebten beziehungsweise gerade dort waren.

 

Als wir danach zu meinem Bruder kamen, war er nicht da und niemand wusste, wann er zurückkäme. Also wurde erst einmal Abendbrot gemacht, während wir auf Kohlen saßen. Unsere Kinder waren allein zu Hause geblieben und das Auto sollte noch am selben Abend wieder abgegeben werden. Wir hatten noch etwa hundertzwanzig Kilometer auf Landstrassen bis nach Hause zu fahren.

 

Als wir dann mit meiner Schwägerin und deren Kindern am Tisch saßen, tauchte auch mein Bruder wieder auf. Er war ziemlich einsilbig. Gerade zu der Zeit waren die meisten seiner ehemaligen Kommilitonen und Freunde in den Westen verschwunden, was ihm sehr zu schaffen machte.

 

Wir hatten in den letzten Wochen so viel zu tun und zu organisieren, dass wir an großes Abschiednehmen gar nicht denken konnten. Wir lösten unseren Haushalt auf, so weit es irgend ging, veranstalteten einen Flohmarkt im Gemeinderaum, wo alles, was wir los sein wollten, wegging wie warme Semmeln.

 

Wir bestellten einen Traktor mit großem Hänger, der mehrmals auf die Müllkippe fahren musste mit all unserem Sperrmüll, der dann anschließend von den Dorfbewohnern geplündert wurde.

 

Wir beschlossen gemeinsam, dass jeder einen Koffer packen sollte mit seinen liebsten Sachen und Dingen. Dazu kauften wir uns die zwei größten Koffer, die wir bekommen konnten und zwei  kleinere. In unsere großen Koffer musste auch Bettwäsche für den Anfang mit hinein. Und ich nahm noch meine Lieblingsküchenmesser mit.

 

Jeder sollte natürlich auch sein Gepäck selbst tragen können, was für unsere Kleine ja schon mal wegfiel. Ich weiß nicht mehr, ob wir für sie einen eigenen Koffer hatten. Wahrscheinlich hatte ich ihre Sachen wohl mit in meinem.

 

Katrin brauchte mal wieder eine Extrawurst – sie bestand darauf, zwei Koffer zu packen und mitzunehmen. Von meiner Oma hatte sie einen mittelgroßen alten Pappkoffer  geerbt. Der musste mit!

 

Ein paar Dinge, an denen wir hingen, sollten mit einem Container nachgeschickt werden, wenn wir wieder eine Adresse hätten.

 

Nachdem wir unseren Laufzettel und die Erklärungen abgegeben hatten, war klar, dass es demnächst losginge. Eine Bestätigung dafür bekamen wir aber nicht.

 

Wir kauften jedenfalls mehrere Kisten Rotkäppchensekt und riefen alle Freunde und Kollegen aus dem Umkreis an, sich abends bei uns zu treffen zu einem Abschiedsschluck.

 

Unser Pfarrhaus war inzwischen so gut wie leer. Wir holten die Stühle aus dem Gemeinderaum und nach und nach füllte sich die Bude. Alle kamen mit trauriger Miene an, aber sie kamen. Sogar Musikinstrumente wurden mitgebracht.

 

Zu Anfang herrschte eine regelrechte Beerdigungsstimmung, die aber mit zunehmendem Alkoholpegel immer fröhlicher wurde. Zuletzt wurde nur noch gesungen, getrunken und gelacht. Gute Wünsche wurden ausgetauscht und dann waren wir wieder allein und das Warten begann.

 

Die Kinder hatten Herbstferien. Es war Oktober 1986. Die Herbstferien gingen zu Ende. Die Mädchen wollten auf keinen Fall wieder in ihre Schule, waren aber so oft wie möglich mit ihren Freunden zusammen. Wir warteten!

 

Hellmut saß schon morgens um sechs in Telefonnähe.

 

Im Laufe der Tage fegte er mehrmals das ganze Haus sauber, sogar den Boden unterm Dach.

 

Dann eines Morgens der erlösende Anruf des Rates des Kreises – die ganze Familie sollte am nächsten Tag mittags erscheinen! Es wurde ernst!

 

In Windeseile packten wir die Koffer, denn wir ahnten, dass wir noch am selben Tag los müssten. Wir kannten den Fahrplan! Nur Katrin ließ sich viel Zeit mit ihren beiden Koffern und immer hockte eine Traube von Freundinnen um sie herum.

 

Wir liehen uns wieder den hellblauen „Moskwitsch“ von Familie Jakob – ein letztes Mal! – und fuhren mit den Kindern in die Kreisstadt Altentreptow. Das Amt war wie ausgestorben – Mittagspause! Wir wurden in den Raum „Genehmigungen“ gebeten. Dort wurde jeder noch einmal gefragt, ob er mit wolle. Dann wurden uns die provisorischen Ausweise – jeweils ein Doppelblatt – und die Ausbürgerungsurkunden für insgesamt hundertzwanzig Ostmark überreicht.

 

Hellmut musste sich noch sein restliches Gehalt abholen und seine Papiere für die Rente. Vorher gingen noch einmal fein essen und holten uns dann die Fahrkarten – zum ersten Mal am Schalter für Reisen ins nichtsozialistische Ausland in Neubrandenburg. Das letzte Gehalt meines Mannes reichte genau dafür.

 

Der Tag schritt voran und wir mussten noch den Transport zum Bahnhof organisieren. Unser Zug fuhr – damit es nicht zu einfach würde – um achtzehn Uhr fünf in Neustrelitz ab. Das war von unserem Dorf aus etwa fünfzig Kilometer entfernt.

 

Auf dem Weg von Neubrandenburg nach Hause, machten wir einen Abstecher zu einem Freund und Kollegen von Hellmut, der unsere Sachen nachschicken sollte und dem wir die Schlüssel übergeben wollten. Kaffeetrinken war nicht mehr drin – die Zeit raste! Eckard kam gleich mit zu uns.

 

Uns war inzwischen eingefallen, dass wir uns und unsere Koffer ja unmöglich in Eckards Trabant hinein kriegen würden. Also wurde noch jemand aus unserem Dorf geordert, der einen Anhänger hatte. Koffer auf den Anhänger, Familie in die beiden Autos verteilt, ging es dann so ziemlich in letzter Minute los, nachdem ich schnell noch Brote geschmiert und etwas zu Trinken besorgt hatte.

 

Es war nicht mal Zeit, noch meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass es losging.

 

Katrins angehende junge Liebe war mit seinem Moped voraus gefahren und ein „ganz unauffälliger“ Mann in Lederjacke und mit Herrentäschchen umkreiste schon den Bahnsteig…

 

Unsere fünf superschweren Koffer in den Zug gehievt, kurze Abschiedsumarmungen. Eckard, der selten Gefühle zeigte, hatte Tränen in den Augen. und dann waren wir auch schon auf dem Weg in unser neues unbekanntes Leben!

 

 

Das waren die Strecken, die wir wegen der Erklärungen der Verwandtschaft zurücklegen mussten. Das Kreuz rechts von der Streckenkreuzung - unser damaliger Wohnort Kastorf.

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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2014

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