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Ungewöhnliche Tage in der Reha

 

Seit vierzehn Jahren arbeite ich als Aushilfe in einer geriatrischen Reha-Klinik. Meine Aufgaben reichen vom Empfang, mit allem, was dort so anfällt wie Gesprächsvermittlung, Telefoneinrichtung für neue Patienten, Postein- und –ausgang, Auskunft und vieles andere mehr über die Cafeteria bei Wochenenddienst. Wenn ich Abenddienst habe, mache ich die Abrechnungen von Portobuch und Zeitungsverkauf, packe die Remissionen für die Rückgabe, fahre die Essenwagen in die Küche und mache einen allgemeinen Rundgang, wo ich alle Türen abschließe – zuletzt das Bewegungsbad, damit dort nachts niemand hinein fällt, der sich im Haus verirrt hat.

 

Zwischendurch passieren immer mal wieder mehr oder weniger ungewöhnliche Dinge.

 

Wir haben auch ab und zu demente Patienten, denen man das nicht unbedingt anmerkt. Aber auf diese Patienten müssen wir natürlich besonders Acht geben.

 

Trotzdem geht uns bisweilen einer durch die Lappen und muss dann manchmal stundenlang – auch mit Hilfe der Polizei – gesucht werden.

 

Es war noch ziemlich am Anfang meiner Tätigkeit, als ein alter Herr nach dem Essen spurlos verschwunden war. Die Schwestern und Pfleger waren verzweifelt. Er war einfach weg. Niemand hatte ihn gesehen. Die Angehörigen kamen, die Polizei kam. In der ganzen Stadt wurde nach dem Mann gesucht, auch in der Tagesklinik, nur nicht auf den beiden anderen Stationen.

 

Als der Patient endlich und zufällig gefunden wurde, hatte er seelenruhig den ganzen Nachmittag in einem gerade leer stehenden Zimmer auf einer anderen Station geschlafen.

 

Einmal hat sich ein Patient das Leben genommen, indem er sich aus dem dritten Stock oder vom Dach in einen Schacht hinter der Physiotherapie stürzte. Warum weiß ich nicht. Ich kannte ihn nicht. Aber die Aufregung im Haus war natürlich gewaltig.

 

Ab und zu löst ein Fehler an den Feuermeldern Alarm aus oder die Küche dampft zu stark. Das ist dann ein Riesentheater, das auch nicht gerade billig für die Klinik ist. Die Feuerwehr muss dann mit allem Drum und Dran anrücken und prüfen, wo der Auslöser war.

 

Das ist jedes Mal ziemlich aufregend. Ich habe das schon mehrmals miterlebt.

 

Vor etwa drei Wochen ist ein junger Pfleger unseres Hauses gestorben. Es wird gemunkelt, er habe sich das Leben genommen. Das macht natürlich jeden Mitarbeiter sehr betroffen. Er war so ein netter und ruhiger Kollege, den alle mochten.

 

Dann haben wir eine Dauerpatientin, die seit über zwei Jahren bei uns wohnt, weil sie in ihrem Haus nicht mehr allein zurecht kommt. Offenbar gefällt es ihr bei uns, wenn sie freiwillig die hohen Kosten bezahlt. Mit ihr unterhalte ich mich öfter einmal, wenn etwas Zeit ist.

 

Neulich erzählte sie mir, sie habe nächtlichen Herrenbesuch gehabt und kicherte schon dabei. Die Dame ist zweiundachtzig. Der alte Herr kam in Schlafanzug und Bademantel und wollte sich bei ihr rasieren – morgens um halb sechs! Als eine Schwester ihn weggebracht hatte, erfuhr Frau B., dass der Herr nicht mal von ihrer Station war.

Sie erlebt öfter mal solche Abenteuer und wir haben dann viel zu lachen, wenn ich wieder Dienst habe.

 

Am letzten Samstag gab es wieder einmal ungewöhnliche Vorkommnisse mit einer speziellen Patientin, die mich schier in den Wahnsinn getrieben hat. Eine neunundsiebzigjährige Dame mit Doppelnamen, die rein äußerlich zehn Jahre jünger wirkt. Sie macht den Eindruck, als sei sie Lehrerin gewesen, sehr energisch – aber wohl leicht dement.

 

Meine Güte, war das ein Tag! Vormittags ging es los. Ein anderer Patient wies mich darauf hin, dass vor dem Haus am so genannten Rondell ein Rollstuhl stehe. Die Dame sei zu Fuß ins Haus gegangen. Aha und oh!

Dazu muss man wissen, dass es vor der Klinik, die an einem Hang steht, gleich ziemlich flott bergab geht, mit einer Kurve bis auf den Parkplatz unten. Auch bis zum Rondell lassen wir die Patienten mit Rollstuhl nie allein fahren.

Ich hatte die Patientin nicht bemerkt, weil ich gerade erst von den Stationen gekommen war. Am Wochenende sollen wir vom Empfang dort immer Wasser verkaufen, damit die Patienten ans Trinken denken.

 

Ich holte also den Rollstuhl – Name und Station standen drauf – und brachte ihn auf die Station. Dort war Frau W.-H. gerade angekommen und die Schwester wunderte sich, wo denn ihr Rollstuhl sei. Sie sollte doch das linke Bein nicht belasten und nicht herum laufen. Die Patientin reagierte störrisch. Der Doktor habe ihr drei Schritte erlaubt!

 

Kaum war ich wieder unten, war auch Frau W.-H. wieder da – im Rollstuhl. Ich bat sie, nicht raus zu fahren, das sei zu gefährlich. Sie meinte aber, sie wisse schon, was sie tut und ihr Körper gehöre ihr! Aha!

 

Also wieder Anruf auf Station – Schwester genervt. Als die Schwester kam, war die Patientin nicht mehr zu sehen. Sie war mit Karacho die ganze Schräge hinunter gebrettert und kam dann mit der Schwester zu Fuß, den Rollstuhl schiebend, wieder nach oben. Die Schwester hätte es gar nicht geschafft, sie im Rollstuhl hoch zu schieben.

 

Das Mittagessen war gerade vorbei und ich in die Cafeteria hinüber gewechselt, da sah ich Frau W.-H. schon wieder draußen im Rollstuhl, obwohl es inzwischen regnete. Kaum hatte ich sie entdeckt, fiel sie plötzlich um und aus dem Stuhl heraus. Ich sprintete hin – inzwischen war die Cafeteria halbvoll und ich hatte eigentlich genug zu tun – und sammelte sie wieder auf.

 

Der Sturz hatte sie nicht verletzt, war ihr aber sehr peinlich.

 

Kurze Zeit später tauchte Frau W.-H. in der Cafeteria auf und verlangte fünf Flaschen Bier. Sie bekäme noch Besuch. Wir führen nur alkoholfreies Bier. Trotzdem war das ungewöhnlich.

 

Kaum hatte sie das Bier auf ihr Zimmer im ersten Stock gebracht, sah ich sie – jetzt mit Jacke – draußen wieder die Schräge abwärts laufen, diesmal ganz ohne Rollstuhl. Ich rief wieder auf der Station an. Diesmal kam ein entnervter Pfleger, der glatt von mir verlangte, ich solle den Haupteingang absperren, wenn sie käme.

 

Vollkommen unmöglich, wir hatten jede Menge Besucherverkehr. Außerdem ist zur Zeit die Sicht auf die Halle versperrt durch Stellwände einer Ausstellung, so dass ich sowieso nur nach draußen sehen konnte.

 

Einmal habe ich die Dienst habende Ärztin wegen dieser Patientin angerufen, aber die fühlte sich nicht zuständig. Das sei Sache der Schwestern und Pfleger, sagte sie nur.

 

Ein gewöhnlicher Klinik-Tag war das jedenfalls nicht! Ich war heilfroh, dass es keine weiteren Vorkommnisse gab….

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Tag der Veröffentlichung: 09.05.2013

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