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Oh, ich kann mich überhaupt nicht erinnern, ob wir Klassenfahrten gemacht haben, glaube aber nicht. So etwas wie Schullandheime gab es wohl eher selten bei uns. Wir hatten schöne Wandertage, aber mit der Klasse weggefahren sind wir nach meiner Erinnerung nur einmal. Das war die so genannte Jugendweihefahrt in der siebten Klasse. Dieses Ereignis wurde natürlich von allen Schülern fieberhaft erwartet und herbei gesehnt.

Bei uns hieß das, wir sollten für eine Woche zusammen mit der Parallelklasse mit der Deutschen Reichsbahn ins Vogtland fahren – also einmal durch die gesamte DDR. Unser Ziel war Klingenthal.

Es war im Februar 1962. Ich war noch nicht ganz vierzehn und schwer verliebt in Leo. Wir freuten uns riesig auf diese Reise und das Zusammensein.

Meine Eltern hatten sich endlich ihren Traum vom eigenen Haus erfüllen können und wollten ausgerechnet in der Woche umziehen, in der ich unterwegs war.

Ich wusste, dass ich zum ersten Mal ein eigenes Zimmer bekommen würde und war hin und her gerissen von der Vorfreude darauf und der auf die Klassenfahrt. In der alten Wohnung, aus der ich abreiste, musste ich mir mit meinen beiden jüngeren Brüdern und meiner kleinen Schwester ein Zimmer mit Doppelstockbetten teilen. Dem war ich nun langsam wirklich entwachsen. Das sahen meine Eltern genauso.

Das einzig "Geheime", das ich besaß, waren meine Tagebücher. Die sollte beim Umzug natürlich niemand finden. Also nahm ich sie mit auf die Reise. Aber vermutlich hatte meine Mutter sie längst gelesen.

An die Abreise und das ganze Drum und Dran kann ich mich auch nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass Leo und ich unsere junge Liebe im Zug zum ersten Mal öffentlich machten, indem er nach etwa der Hälfte der Fahrt von den Jungen zu mir wechselte und wir gemeinsam unter seiner aufgehängten Jacke verschwanden und eifrigst das Küssen übten. Es war himmlisch!

Leo war der „Exot“ in unserer Klasse. Er war erst im Jahr davor mit seinen Eltern aus Sachsen nach Rostock gezogen, sprach leicht sächsisch, war hochintelligent und wirkte ausgesprochen erwachsen. Sibylle, die intelligenteste und strebsamste unter den Mädchen, hielt es für ihr Privileg, seine Freundin zu werden.

Leo schwankte eine Weile zwischen uns beiden und ich „gewann“! Ich, das zierliche, schüchterne und schweigsame Küken in der Klasse! Und er, der große „erwachsene“ Fast-Mann! Eine Rolle für seine Wahl spielte vermutlich auch, dass ich – außer ihm – die Einzige aus der Klasse war, die zum Konfirmandenunterricht ging. Dort sahen wir uns einmal in der Woche außerhalb der Schule. Ich liebte den Konfirmandenunterricht, besonders den Heimweg! Dann begleitete Leo mich durch den dunklen Wald nach Hause. Meistens gingen wir schweigend den ganzen Weg. Am Tag darauf überreichten wir uns Briefchen mit allem darin, was wir uns nicht zu sagen trauten. Ich besitze sie immer noch!

Nun war es also offiziell! Ich fühlte mich toll, war die Auserwählte und alle Mädchen waren neidisch – besonders natürlich Sibylle. Irgendwann teilte sie mir großmütig mit, dass sie ihn mir gönnt und mir „verzeiht“.

Ab sofort gingen wir auch endlich offiziell Hand in Hand, was wir seit dem Herbst nur gemacht hatten, wenn es niemand sah und möglichst dunkel war.

In Klingenthal waren wir in einer Art Schullandheim untergebracht mit größeren Schlafsälen. Die begleitenden Lehrer hatten natürlich alle Hände voll zu tun, abends die Jungen und Mädchen zu trennen, Alkohol von uns fern zu halten und ähnliches.

Tagsüber wurde Ski gelaufen. Ich hatte noch nie auf den Brettern gestanden, die ja damals wirklich noch Bretter waren und ständig gewachst werden mussten, was dann Leo gern für mich machte. Im Skilaufen war er mir weit voraus und entsprechend den Tag über kaum zu sehen. Ich glaube, ich habe mich nicht sehr geschickt angestellt und mehr Langlauf geübt als Abfahrt, während er und andere Jungen und die Mädchen, die es konnten, die schwarze Piste bevölkerten.

Leider gibt es von dieser Reise überhaupt keine Fotos. Ich habe jedenfalls keine.

Abends saßen wir alle zusammen, aber was wir gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Die Pärchen – es gab noch eines außer uns beiden - haben vermutlich in den dunklen Ecken gekuschelt und die anderen haben sich unterhalten.

Dann kam die lange Rückreise und die Vorfreude auf mein Zimmer rückte wieder in den Vordergrund.

Mein Zimmer war ein Traum – in weiß und hellblau. Eine winzige Bude – nur so breit, wie das Bett lang war, das am hinteren Ende des Raumes quer eingebaut war. Es hatte zwei große Schubladen, in denen ich meine Schätze verstauen konnte. Direkt neben dem Kopfende war ein kleines Waschbecken. Es war wohl früher das Zimmer eines Hausmädchens gewesen. Und es hatte zwei Türen über Eck. Eine Tür führte ins Nebenzimmer, in dem zuerst unsere alte Untermieterin wohnte, später mein jüngerer Bruder. Die war also tabu und wurde abgeschlossen.
Die andere, sehr kleine Tür führte durch einen Einbauschrank auf den Flur. Ich musste also immer durch meine Kleider kriechen, um rein und raus zu kommen. So was hatte garantiert niemand sonst! Unterm Fenster war ein Klapptisch angebracht, an dem ich meine Hausaufgaben machen konnte. Aber die machte ich meistens lieber morgens im Bett. Dann war noch Platz für zwei kleine Bücherregale und das Zimmer war voll. Mehr als ein Stuhl passte nicht hinein.

Es war mein Reich und es war völlig egal, wie groß oder klein es war!

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Bildmaterialien: Cover: Klingenthal, Vogtland - internet
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2013

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