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MUTTI




Als ich meine Mutter kennen lernte, trug sie schon lange einen für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen, kurzen Herrenhaarschnitt und fast nur Hosen. Sie ging auch nur zum Herrenfriseur. Sie wirkt noch heute sportlich, obwohl sie nie Sport getrieben hat. Aber sie geht täglich spazieren. Das Mittagessen ist immer pünktlich um ein Uhr fertig auf dem Tisch, denn eine halbe Stunde später geht sie in den Zoo, um bei der Robben- und Seehundfütterung dabei zu sein. Sie hat seit einigen Jahren eine Jahreskarte für den Zoo, die mein Bruder ihr immer zu Weihnachten schenkt. Die anderen Tiere interessieren sie kaum. Sie braucht immer ein Ziel – auch für den täglichen Spaziergang. Aber durch den ganzen Zoo zu laufen, ist ihr wieder zu viel. Sie geht auch nicht nur wegen der Robbenfütterung in den Zoo, sondern wegen der "Jungs". Einige der Tierpfleger sind ihr sehr ans Herz gewachsen und besonders einer - Lars - ist so eine Art Kummerkasten für Mutti. Ihm erzählt sie ihre Sorgen und Freuden und er hört zu. Die Freundschaft zu den Zoo-Jungs geht so weit, dass sie sie zu ihren Geburtstagen einlädt und jedes Mal extra für die drei eine Schwarzwälder Kirschtorte macht. Lars besucht sie auch schon mal mit seinen Kindern auf dem Fischland.


Lange Jahre hatte sie einen Mischlingshund, mit dem sie zu sehr festgelegten und unumstößlichen Zeiten raus ging. Hunde hatte sie auch früher immer mal wieder.

Als meine Mutter meinen Vater kennen lernte und seinen seltsamen Nachnamen hörte, war ihr erster Gedanke „oh nein, bloß den nicht heiraten!“ Oder so ähnlich. Und es kam, wie es kommen musste, irgendwann wurde sie schwanger, obwohl mein Vater ja immer „aufpasste“. Tja und dann „mussten“ sie heiraten – meinetwegen!
Beide wohnten noch bei ihren Eltern und studierten. Meine Mutter schlief bei meinem Vater und meinen Großeltern und ging morgens dann zu ihren Eltern, damit mein Vater Ruhe hatte zum Arbeiten.
Meine Mutter hat ein so genanntes „Puddingabitur“, bis zum Vorphysikum Medizin studiert und dann abgebrochen, ich glaube, weil irgendein Professor eine blöde Bemerkung über studierende Frauen gemacht hatte. Schließlich ist sie Skorpion und kann wahnsinnig übel nehmen. In Wirklichkeit war wohl Medizin nicht ihr Ding, obwohl sie sich immer dafür interessiert hat.

Ein lebenslanges „Handicap“, das ihr Selbstwertgefühl noch heute beeinträchtigt, ist ihre Legasthenie, die sie an einige Kinder und Enkel weitergegeben hat. Besonders schlimm – so glaube ich – sie kann dafür niemandem die Schuld geben.

Sie fühlte sich sehr zur Kunst hingezogen und ging dann bei einer Bildhauerin in die Lehre.

Ihre Hochzeit gaben meine Eltern offiziell nicht bekannt, sondern erst meine Geburt. Aber meine Großmutter konnte es dann nicht lassen, laut über das „arme Sechsmonatskind“ zu lamentieren und jeder dachte sich sein Teil.

Die ersten Ehejahre waren sicher nicht leicht. Der Krieg war noch nicht lange vorbei. Vater studierte noch und beide hatten erstmal kein eigenes Einkommen, sondern wurden von den Eltern unterstützt.
Zuerst wohnten sie mit mir zur Untermiete bei einer Witwe und ihrer Tochter. Dann kam die erste richtige Wohnung – und mein erster Bruder!
Mutti hat später so oft gesagt, eigentlich wollte sie nie Kinder und wenn schon, dann wenigstens zuerst einen Sohn!
Das hat ja nun nicht geklappt. Dafür war er dann wohl als zweites Kind umso willkommener. Sein zweites Plus – er war dunkel, wie meine Mutter! Ich war ein blond gelocktes zartes Mädchen. Davon hielt sie irgendwie nicht viel. Eines ihrer vielen Vorurteile – Blonde sind ja so empfindlich!
Ja und drei Jahre später kam wieder ein Junge – ein süßer zarter Blondschopf. Der fiel mit eineinhalb Jahren im ersten Stock unserer dritten Wohnung aus dem Kinderzimmerfenster, weil er es schließen wollte. Da war ich schon in der Schule und erfuhr es erst mittags, als ich nach Hause kam.
In solchen Situationen schoss meiner Mutter natürlich auch das Adrenalin durch die Adern, aber sie wurde nie panisch und reagierte immer sehr vernünftig. Gott sei Dank war meinem kleinen Bruder nichts passiert, außer vielleicht einer leichten Gehirnerschütterung. Sie hatte ihn hoch getragen, auf die Couch gelegt und erstmal beobachtet und mit ihrem Vater, der Heilpraktiker war, telefoniert. Der hatte ihr gesagt, worauf sie achten müsste. Mittags kam großes Geheul von der Couch. Muttis erster Gedanke: Oh je, jetzt hat er doch was! Aber er hatte nur Hunger!

Ich erinnere mich, dass meine Mutter immer gern viele Menschen um sich hatte und auch heute noch ist das so. Sie kocht gern, experimentiert auch gern mal in der Küche. Und sie redet gern!

Früher hat sie sogar Faschingsfeste in unserer Etagenwohnung ausgerichtet – nicht für uns Kinder, sondern für sich und Vater und ihre vielen Freunde. Im Nachbarhaus wohnten mehrere Medizin-studenten, mit denen meine Eltern sich schnell anfreundeten, obwohl die alle zehn Jahre jünger waren. Eine Studentin wohnte auch in unserem Fremdenzimmer unterm Dach. Mutti war oft der Kummerkasten, wenn einer oder eine von ihnen Liebes- oder anderen Kummer hatte. Irgendeiner saß immer bei ihr in der Küche.

Ja, Mutti ist eine Kümmerin. Auf Großvatis Bitte hatte sie in unsere Vierzimmerwohnung noch eine alte Dame aufgenommen, die sie auch beköstigte. Vermutlich brauchte sie die Miete, denn am Anfang verdiente mein Vater sicher noch nicht allzu viel als junger Anwalt.

Inzwischen waren wir also drei Kinder und meine Eltern wussten nicht mehr so recht, wie sie mit fünf Personen in den Urlaub fahren sollten. Und mit drei Kindern im Hotel ist es ja auch nicht so lustig.

Wir verbrachten mal wieder die Ferien an der Ostsee, aber diesmal nicht in Kühlungsborn, sondern auf dem Fischland bei einer Fischerfamilie, die im Sommer Zimmer vermietete. Die brachten meine Eltern auf die Idee, Land zu pachten und ein Häuschen zu bauen, was dann auch ziemlich schnell in die Tat umgesetzt wurde.

Von da an hatte meine Mutter glückliche und entspannte Sommer und Wochenenden, sowie es warm wurde. Na ja, bis das nächste Kind sich ankündigte. Der Sommer war weder für Mutti noch für mich besonders toll – ihr war ständig schlecht, sie lag auf ihrer Bettcouch und ich musste den Haushalt schmeißen mit meinen zwölf Jahren. Es war zwar ein lockerer Sommerhaushalt, aber ich hatte das Gefühl, überhaupt keine Ferien zu haben, während meine Brüder herumtollen konnten, wie sie wollten.

Es wurde dann im Frühling eine süße blonde Schwester mit großen blauen Kulleraugen.

Die Woche über waren wir mit Mutti allein an der Ostsee. Vater kam freitags abends erst raus und verschwand am Sonntagabend wieder in die Stadt.

Zwei Jahre später kam meine jüngste Schwester zur Welt, aber diesmal im Juni, so dass in den Sommerferien schon alles überstanden und wieder „normal“ war. Die Kleine war pflegeleicht und zu Muttis Freude dunkel und stand den ganzen Tag in ihrem Wagen draußen, während ich mit meiner anderen Schwester in der Sportkarre durch die Gegend zog.

Ein Jahr später kam im August noch ein kleiner Bruder dazu – unser geliebtes Nesthäkchen.
In diesen Jahren der Kinderaufzucht kam Mutti natürlich nicht viel zu künstlerischer Betätigung. Irgendwann verlegte sie sich mehr auf’s Malen, aber das kam erst später, als die Kleinen auch endlich aus dem Gröbsten heraus waren.

Erst als meine jüngste Schwester schon über ein halbes Jahr alt war, konnten wir endlich in ein eigenes Haus ziehen. Wie hat meine Mutter es nur so lange den ganzen Tag in der engen Wohnung ausgehalten? Die alte Dame wohnte ja immer noch bei uns, ist sogar mit umgezogen. Das Sommerhaus muss das Paradies für Mutti gewesen sein. Nein, das ist es heute noch!

Wir Kinder waren alle schnelle Hausgeburten. Mutti hatte fast immer dieselbe Hebamme, die ihr beistand, Schwester Emmi. Als mein jüngster Bruder – als erster und einziger – im neuen Haus geboren wurde, kam die Hebamme zu spät. Vater hat ihn raus gezogen, als er stecken blieb und Mutti hat ihm die Nabelschnur vom Hals gewickelt.

Als Mutti noch mittendrin war in der Kindererziehung, machte ich sie zur Großmutter. Das gefiel ihr zwar nicht, aber das kleine Mädchen, das ihr erstes Enkelkind wurde, versöhnte sie mit ihrem neuen Stand. Sie ließ sich jedoch nie – auch heute nicht – Oma oder ähnlich nennen, denn alle gängigen Bezeichnungen waren schon „besetzt“. Bis heute ist sie für alle Mutti, auch für die Urenkel, von denen sie inzwischen elf hat. Das hat sie aber nicht so bestimmt, es hat sich ergeben durch unsere Tochter. Ich war Mama und Mutti blieb Mutti. Nur mein Vater wurde umbenannt. Der war bis dahin Papa gewesen. Aber zwei Papas – das ging nicht. Also wurde mein Papa Vater.

Mutti war nie besonders streng und auch nicht besonders konsequent. Aber sie war immer sehr dominant und ließ selten eine andere Meinung gelten als ihre. Vielleicht hatte ich deswegen immer ein bisschen Angst vor ihr.

Wir durften immer Freunde mitbringen und wurden von unseren Freunden oft beneidet um unsere tolerante Mutter. Wir fanden sie gar nicht so tolerant.
Aber wenn ich mal wieder einen „Kandidaten“ angeschleppt hatte – kaum war er weg, bekam ich zu hören: „Das ist aber kein Mann zum Heiraten!“ Ich hatte ans Heiraten überhaupt noch nicht gedacht! Als mein zukünftiger Mann dann auftauchte, hat sie das nicht gesagt.

Für Mutti galt nichts so sehr, wie die Meinung oder das „Urteil“ ihres Vaters. Der ist zwar schon Ende der fünfziger Jahre gestorben, aber ich höre heute noch: „Großvati hat gesagt…“
Erst in den letzten Jahren stellt sie seine Meinung öfter mal in Frage und räumt ein, dass auch er sich geirrt haben könnte.

Wenn Mutti jemanden nicht mag, hat er keine Chance bei ihr. Sie wird nie oder selten zugeben, dass er oder sie eigentlich doch ganz nett ist. Auch einen Irrtum gibt sie selten zu, selbst wenn sie es bemerkt. Das wird dann elegant übergangen.

Als auch die jüngsten meiner fünf Geschwister größer wurden, begann Mutti wieder mehr, sich mit der Kunst zu beschäftigen, ging noch mal zu einem bekannten Bildhauer in die „Lehre“, besuchte Malkurse. Als Bildhauerin hat sie sogar einige kleine Aufträge bekommen, für ihr Selbstwertgefühl jedoch viel zu wenige.

Sie war schon immer im Kulturbund engagiert dabei und auch in der Kunsthalle. Viele Künstler unserer Stadt zählten zu ihrem Freundeskreis und wurden auch zu uns eingeladen, ebenso wie die ehemaligen Medizinstudenten, die teilweise noch heute zu ihren Freunden zählen.

Naturgemäß wird der Freundeskreis immer kleiner, auch die Kinder sind weggezogen und kommen fast nur noch zu Familienfesten. Darunter leidet meine Mutter, denn unser Vater war noch nie sehr gesprächig. Sie aber braucht Ansprache und Gedankenaustausch.

Einmal in der Woche etwa telefoniere ich mit Mutti. Dann ist sie immer vergnügt und wir lachen viel, obwohl sie nur noch wenig zu lachen hat. Seit einigen Jahren bedankt sie sich jedes Mal für meinen Anruf. Das ist immer noch ungewohnt für mich.

 

Schier verrückt macht es Mutti, wenn sie oder jemand anderes irgendetwas vermisst und nicht wiederfinden kann. Dann gibt sie keine Ruhe, bis der Gegenstand wieder aufgetaucht ist und wenn es Jahre dauert!


Es war eine schwere Umstellung für meine Mutter, als Vater mit über achtzig Jahren seinen Beruf als Anwalt aufgab und nun jeden Tag zu Hause ist. Er funkt ihr nicht unbedingt im Haushalt dazwischen, aber er ist da und er braucht ihre Hilfe und Betreuung. Sie kann zwar jetzt von Mai bis Oktober auf ihrem geliebten Fischland sein – nur jetzt ist auch da Vater immer dabei!

Bis heute hat sie nur sehr selten einen Arzt gebraucht – außer dem Zahnarzt - und war in ihrem Erwachsenenleben nie in einem Krankenhaus und das, obwohl sie als Kind sehr krank und vom Arzt schon aufgegeben war. Ihr Vater hat sie damals mit Homöopathie wieder auf die Beine gebracht. Vielleicht hing sie auch deswegen so sehr an ihm, während sie ihre eigene Mutter nie leiden konnte.

 

Nachtrag:

Am 14. Dezember 2016 starb unser Vater.

 

Im Sommer 2020 erkrankte unsere Mutter an einer sehr schmerzhaften Gürtelrose und konnte ihren letzten Sommer auf dem Fischland nicht mehr genießen. Die meiste Zeit lag sie und hatte keine Kraft mehr, sich selbst zu versorgen. Meine jüngste Schwester fuhr fast täglich vor der Arbeit hin, um Mutti etwas zu Essen zu machen, zu putzen oder was so anfiel. Ab und zu nahm unsere älteste Tochter ihr das ab, die seit ein paar Jahren mit ihrer nur zehn Jahre älteren Tante zusammen wohnt.

 

Irgendwann konnte meine Schwester nicht mehr und bat mich, eine Weile zu kommen, was ich auch tat.

 

So zog sich das über den Sommer hin und wurde nicht besser. Mitte September hatte Mutti genug und wollte wieder nach Hause. Da sie aber noch nie ein geduldiger Mensch war und nicht auf unseren Bruder warten wollte, setzte sie sich mit ihren fünfundneunzig Jahren in ihr Auto und fuhr nach Rostock zurück. Am Telefon erzählte sie mir stolz, sie wäre prima durchgekommen und hätte nur eine halbe Stunde gebraucht.

 

Anfang Oktober fuhr sie mal wieder zum Supermarkt in einen anderen Stadtteil und dort in die Tiefgarage. Vor der Tiefgarage ist ein grüner Markt, zu dem sie auch wollte. Sie ging die ziemlich steile Auffahrt hinauf und merkte auf halber Strecke, dass sie es nicht schaffen würde, drehte um, bekam zu viel Tempo und stürzte. Oberschenkelhalsbruch! Es kamen Passanten zu Hilfe, wollten die Rettung rufen, aber Mutti bestand darauf, dass man sie zu ihrem Auto brachte. Sie fuhr nach Hause, in ihre Garage und ist dann wohl auf allen Vieren durch die Garage, durch die Waschküche, einen längeren Flur und eine steile Kellertreppe nach ob gelangt, hat sich auf die Couch gelegt und gewartet, dass irgendwann jemand kommt.

 

Am Nachmittag hat dann einer meiner Neffen nach ihr geschaut - seine Schwester hatte ein "komisches Gefühl" und ihn hingeschickt. Er rief dann sofort die Rettung. Mutti kam das erste Mal in ihrem Leben in ein Krankenhaus, wurde am selben Abend - einem Freitag - noch operiert und bekam eine "neue Hüfte". Etwa zehn Tage war sie in der Klinik. Dort konnte sie jeden Tag jemand besuchen. Das gefiel ihr wohl ganz gut.

 

Aber dann folgten drei Wochen Reha in Tessin - einer Kleinstadt, nicht gleich um die Ecke. Dort waren Besucher wegen der Pandemie verboten. Das war gar nicht gut! Mutti bemühte sich zwar, wieder zu laufen - der junge Therapeut gefiel ihr - aber so richtig wollte alles nicht. Einen Tag vor dem Ende der Reha hielt sie es nicht mehr aus und bestand darauf, nach Hause gebracht zu werden.

 

Meine Geschwister, Nichten und Neffen hatten mit Hochdruck das Haus umgeräumt und Muttis Zimmer vom ersten Stock ins Hochparterre geholt. Die ersten zwei Wochen sollte ich mich um sie kümmern. Ich wollte am Abend vor Muttis Eintreffen dort sein und noch ein bisschen durchschnaufen. Das klappte leider nicht, denn sie war vor mir da!

 

Mutti war am Arm des Sanitäters, der sie heim gebracht hatte, die Treppe zur Haustür hochgegangen. Auch in der Reha war sie Treppen gestiegen. Zu Hause war dann vollständig die Luft raus. Sie legte sich in ihr Bett und stand praktisch nicht mehr auf.

 

Diese ersten zwei Wochen waren nicht leicht. Manchmal bin ich schier verzweifelt. Niemand konnte es ihr recht machen. Der erste Pflegedienst, den meine Geschwister engagiert hatten, wurde sofort wieder vergrault. Den zweiten hat sie dann später notgedrungen akzeptiert, nachdem wir ihr gedroht hatten, dass sie sonst ins Pflegeheim müsste. Anders ging es nicht.

 

Während ich in Rostock war, wurde Mutti sechsundneunzig Jahre alt. Sie war manchmal etwas verwirrt, aber meistens klar, erkannte jeden und bekam auch mit, was man ihr erzählte.

 

Anfang Februar war ich noch einmal in Rostock, weil es hieß, es würde nun wohl zu Ende gehen. Da war die Situation ganz anders als im November und viel entspannter. Mutti hatte sich mit dem Unvermeidlichen offenbar abgefunden. Sie aß und trank so gut wie nichts mehr und schlief die meiste Zeit. Mein zweiter Bruder war die meiste Zeit mit mir dort und die anderen kamen immer mal vorbei. Es musste praktisch nur jemand da sein. Der Pflegedienst übernahm morgens und abends die Körperpflege. Das war ja in den ersten Wochen ganz anders und für uns sehr anstrengend, weil Mutti sich da noch gegen alles wehrte, was ihr helfen sollte. Diesmal hatte ich eine schöne Zeit in Rostock.

 

Wenn ich ihr erzählte, dieser oder jene sei da gewesen, um nach ihr zu schauen, schimpfte sie, wenn wir sie nicht geweckt hatten.

 

Am 11. Februar fuhr ich wieder nach Hause und am 18. Februar kam die Nachricht, dass unsere Mutter für immer und friedlich eingeschlafen ist. Und sie war nicht allein - ein großer Teil ihrer Kinder und Enkel war bei ihr.

 

unsere Mutter etwa ein Jahr vor ihrem Tod

 

Nachtrag:

Am 31. März 2021 wurde Mutti im Familiengrab meiner Großeltern väterlicherseits neben unserem Vater beigesetzt. Seine Eltern und seine Großmutter liegen auch dort. Zuerst wollte Mutti nicht dort liegen, aber am Ende war es ihr egal. Sie war wohl immer ein bisschen eifersüchtig auf ihre Schwiegermutter, die so ganz anders war als sie. Umgekehrt war es ähnlich.

 

Ich bin am 30. März mit zwei erwachsenen Enkeln nach Rostock gefahren bei herrlichem Frühlingswetter. Am späten Nachmittag trafen wir in unserem Elternhaus ein. Dort herrschte fröhliche Stimmung. Meine liebe Schwägerin Ina schenkte schon großzügig Rotkäppchen Rosè aus. Das Haus füllte sich nach und nach mit den Nachkommen. Wir konnten bis spätabends vor dem Haus auf der Terrasse sitzen und klönen. Tochter Anna sorgte zwischendurch für einen leckeren Imbiß.

 

Bedingung für die Teilnahme an der Trauerfeier war ein Corona-Schnelltest. Viele hatten ihn schon hinter sich. Einige hatten sich Tests für den Selbsttest geholt. Ich hatte mich online für den nächsten Vormittag in einer Apotheke angemeldet. Alle waren negativ!

 

Es gab ein schönes gemeinsames Frühstück. Dafür hatte ich am Abend zuvor einen Osterzopf gebacken. Den Teig hatte ich schon zu Hause zusammen geknetet. Für mittags hatte mein mittlerer Bruder eine leckere Suppe vorbereitet.

 

Um 14 Uhr sollte die Trauerfeier direkt am Grab stattfinden. "Die Himmelslotsen" hatten ein bisschen Deko aufgestellt, die teilweise aber dem Wind nicht standhielt und einfach umgeweht wurde. Wir waren uns einig, dass diese hohen Pampasgrasbüschel unserer Mutter sowieso nicht gefallen hätten. Sie fielen dreimal um!

 

Meine älteste Tochter hatte am Abend zuvor einen wunderschönen Kranz für das Grab gebunden. Das Grünzeug stammte alles vom Sommergrundstück unserer Mutter, dazu weiße und rosa Rosen.

 

 

Als sich alle am Grab eingefunden hatten, erklang als erstes die Tosca-Arie "e lucevan le stelle" mit Rolando Villazòn, für den Mutti regelrecht schwärmte. Die Arie - eine ihrer Lieblingsarien.

 

Dann sprach der Pastor über Muttis langes und erfülltes Leben. Er hatte gut zugehört.

 

Als die Urne neben unseren Vater ins Grab hinunter gelassen wurde, erklang Placido Domingos wunderbare Stimme mit "Dein ist mein ganzes Herz". Da war es dann mit der Fassung der meisten vorbei... Auch mit meiner.

 

Ich weiß nicht genau, wer auf die Idee gekommen war oder ob Mutti es sogar gesagt hatte - jedenfalls hatten meine jüngste  Schwester und meine Tochter Kirschwasser und Kirschlikör dabei und viele kleine Gläser. Das Kirschwasser hatte ich mitgebracht. Ein Geschenk unseres Vermieters. Wir tranken alle einen "Kirsch" auf Mutti, denn Kirschwasser hatte sie als einzigen Schnaps immer im Haus - für ihre berühmte Schwarzwälder Kirschtorte.

 

Alle zusammen sangen wir unser "Familienlied" "Geh aus mein Herz", das an diesem herrlichen Frühlingstag besonders gut passte.

 

Am Schluss sang Caruso noch die Händel-Arie "Ombra mai fu", zu dem sie auch ein "besonderes Verhältnis" hatte. Mein Großvater war ihm in Hamburg mal begegnet. Carusos Familie hatte dort einen Fruchtgroßhandel. Dort erschien er einmal und soviel ich von Mutti weiß, fing er zwischen den Obstkisten sofort an zu singen, was unser Großvater miterlebt hat.

 

Die Grabstelle liegt sehr schön frei an einer Ecke. Es gibt eine Bank dort. Zum Parkplatz seitlich am hinteren Friedhof sind es nur ein paar Schritte. Wir hielten uns noch eine ganze Weile dort auf, liessen ein Familienfoto machen und unterhielten uns. Mutti hatte sich gewünscht, dass wir auf keinen Fall in Schwarz erscheinen, sondern uns fröhlich kleiden sollten. Daran haben wir uns gehalten.

 

Dann ging es zurück ins Haus und zum gemeinsamen Kaffeetrinken, nach dem sich die Runde langsam wieder verkleinerte.

Beim Abendbrot waren wir schon wieder deutlich weniger. Noch ein feuchtfröhlicher Abend, ein gemeinsames Frühstück, dann musste ich auch schon wieder Abschied nehmen...

 

Ob das mein letzter Besuch im Elternhaus war? Ich weiß es nicht.

Impressum

Bildmaterialien: Foto: eigene Fotos
Cover: Selbstbildnis meiner Mutter in Ton, eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Geschwister, Kinder und Enkel

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