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Am 28. Oktober 1986, einem Dienstag, kam morgens der langersehnte Anruf. Nach einem Jahr und zwei Monaten seit unserem Ausreiseantrag, sollte es endlich losgehen Richtung Westen!
Anzeichen dafür gab es schon seit etwa zwei Wochen. Wir hatten den so genannten Laufzettel abarbeiten müssen, auf dem uns von allen amtlichen Stellen Schuldenfreiheit bescheinigt werden musste. Wir hatten schon seit einer ganzen Weile unsere bewegliche Habe auf ein Minimum reduziert, Flohmarkt veranstaltet, viel verschenkt.
Als wir sicher waren, dass es bald losgehen würde, hatten wir alle erreichbaren Freunde und Kollegen eingeladen und eine grandiose Abschiedsparty gefeiert, die ein bisschen wehmütig begann, dann aber umso lustiger wurde. Noch nie hatten wir soviel Sekt gekauft!

Wir hatten gemeinsam beschlossen, dass jeder von uns nur einen Koffer packen sollte mit Lieblingssachen, je einmal Bettwäsche, Handtüchern und was man einfach immer braucht. Wir hatten zuvor die größten Koffer gekauft, die wir finden konnten. Die der Kinder waren eine Nummer kleiner. Ich hatte in meinen Koffer auch noch ein paar Küchenutensilien, vor allem Messer, eingepackt, damit wir sowas nicht gleich kaufen mussten. Entsprechend schwer war unser Gepäck.
An Möbeln wollten wir nichts mitnehmen, ausser meiner geliebten alten Vitrine, die ich von meinem allerersten Gehalt antiquarisch erworben hatte und deren Inhalt, eine Mokkatassensammlung und andere schöne Dinge. Diese und ausgewählte Bücher würde ein Freund und Kollege von Hellmut uns nachschicken, sobald wir eine Adresse hätten. Wir hatten noch weitere Antiquitäten, deren Mitnahme sich aber in unseren Augen nicht lohnte. Sie hätten alle restauriert werden müssen. Heute tut es mir Leid um manches schöne Stück. Aber nach der Wende hat niemand, an den wir die Sachen verschenkt hatten, gefragt, ob wir sie vielleicht zurückhaben wollten. Egal, das ist Vergangenheit.

Wir sollten mittags beim Rat des Kreises erscheinen, um unsere Papiere abzuholen. Ab sofort ging alles nur noch im Eiltempo, denn wir hatten eine lange Liste abzuarbeiten: Hellmuts letztes Gehalt abholen, Bescheinigung für die Rente, Fahrkarten, Proviant besorgen, Koffer zuende packen. Unsere Grosse brauchte unbedingt zwei und wurde und wurde nicht fertig. Ihr fiel der Abschied besonders schwer und sie wollte nicht wirklich weg. Katrin war fünfzehn und gerade dabei, sich zu verlieben! Anna, die vierzehn war, fand alles sehr spannend und Beate war mit drei Jahren noch zu klein.
Da wir kein Auto mehr hatten, mussten wir uns jedesmal eines leihen, wenn wir in die Stadt mussten. Zum Glück hatten wir viele nette Leute um uns herum, die uns bereitwillig halfen.
Dann mussten wir organisieren, daß uns jemand - und zwar brauchten wir wegen der Riesenkoffer und uns Fünfen zwei Autos und einen Anhänger! - zum Bahnhof fuhr. Der Zug, mit dem wir fahren mussten, fuhr auch nicht etwa vom nächsten Bahnhof ab, sondern in Neustrelitz, etwa fünfzig Kilometer von unserem Dorf entfernt. Die Papiere, die besagten, daß wir nun "staatenlos" waren, gab es in der Kreisstadt Altentreptow, Hellmuts letztes Gehalt - er musste ein gutes halbes Jahr in einer Bautischlerei arbeiten - ebenfalls. Aber die Fahrkarten konnten wir nur in Neubrandenburg bekommen. Dort gingen wir noch einmal richtig gut Essen und dann war unser Geld auch fast zuende. Hellmuts Kollege bekam noch etwas für das Nachsenden unserer Sachen, dann standen wir ohne einen Pfennig da.
Man hatte uns weisgemacht, daß wir über die Grenze kein Geld mitnehmen dürften, was sich später als falsch erwies.

Es war eine Wahnsinnshektik den ganzen Tag. Hellmut war, wie jeden Morgen in dieser Zeit, um sechs Uhr aufgestanden und rotierte innerlich und äusserlich. Ich fühlte mich wesentlich ruhiger und die Kinder hatten sowieso die Ruhe weg. Und unsere Begleiter erst!

Gegen fünf Uhr nachmittags ging die Autokarawane dann endlich auf den Weg und Katrins Freund mit Moped vorweg. Als wir in Neustrelitz ankamen, stand der Zug schon da und ein "völlig unauffälliger" Mann im Ledermantel auch und umkreiste uns und unsere Freunde weitläufig.
Kurz nach achtzehn Uhr rollte unser Zug ins neue Leben aus dem Bahnhof. Nachts gegen halb zwei waren wir an der Grenze bei Hof, wo der Zug eine ganze Weile hielt und die üblichen Kontrollen stattfanden. Zu unserem Erstaunen durfte Beate, die unter Hellmuts Jacke schlief und kaum zu sehen war, weiterschlafen, ohne daß wir sie überhaupt aufdecken mussten.
Dann rollten wir durch dunkles Niemandsland und waren im Westen. In Hof war die Reise erstmal zuende, dank unzureichender Auskünfte der ostdeutschen Bahn und zwar bis gegen sieben Uhr morgens! Hellmut und ich ziemlich bis total übernächtigt - die Kinder aufgedreht und ausgeschlafen, durstig und quengelig. Überall Automaten mit Getränken und Süßigkeiten - und wir hatten keinen Pfennig dabei! Ein mitleidiger Grenzpolizist spendierte den Kindern seinen eigenen Orangensaft.
Dann kam endlich unser Anschlusszug nach Gießen - d.h. erstmal nach Würzburg. In Würzburg mussten wir umsteigen und zwar innerhalb von zwei Minuten, wie durchgesagt wurde! Auf unserem Plan stand zwar etwas anderes, aber egal.
Und dann saßen wir zum ersten Mal im Intercity in einem Großraumwagen - wow! Die "Strafe" folgte ziemlich bald in Form von einem unerbittlichen Zugbegleiter, der von uns fünfundzwanzig DM Intercity-Zuschlag haben wollte, die wir natürlich nicht hatten. In Hellmuts überreiztem Zustand klang es, als würde der Herr Zugbegleiter den gesamten Zug darüber informieren, daß wir unberechtigt darin säßen. Es war jedenfalls sehr unangenehm, mir aber ziemlich egal - Hauptsache es ging voran und wir wären bald am Ziel: Gießen! Nachdem Hellmut dem Zugbegleiter versichert hatte, dass wir sofort in Gießen den Zuschlag nachzahlen würden, liess er uns in Ruhe.

In Frankfurt mussten wir noch einmal umsteigen. Und mittags gegen ein Uhr waren wir endlich am Ziel. Wir mussten uns im Auffanglager Gießen melden - dachten wir. Wir hätten ebenso gut direkt zu Verwandten oder Freunden fahren können. Das wollten wir aber ohnehin nicht, denn wir wollten nicht von irgendjemandem abhängig sein, sondern uns gleich selbst eine neue Existenz aufbauen.
Kaum waren wir in Gießen angekommen, meldete sich schon wieder das leidige Geldproblem. Wir wollten eigentlich unsere Koffer deponieren und erstmal das Lager suchen und ein Transportmittel für unsere schweren Koffer. Das ging nicht, denn Deponieren kostete natürlich etwas, wenn auch nur fünfzig Pfennig.

Also zog Hellmut los, mit Anna im Schlepptau, während wir anderen das Gepäck bewachten und kam nach etwa zwanzig Minuten - gefühlten zwei Stunden! - mit einem unsäglichen, riesigen Karren zurück, der aus vier großen Rädern, einer Plattform und Deichsel bestand, wie man sie von Bildern aus den vierziger Jahren kennt. Darauf luden wir dann unsere Koffer und als ich unsere kleine Beate obendrauf setzen wollte, wäre Hellmut fast ausgeflippt. Das ertrugen seine völlig überreizten Nerven nicht mehr. Er hatte wirklich nicht eine Minute geschlafen seit dem vorigen frühen Morgen und das Essen von unserem Proviant hatte er auch abgelehnt. Als er dann doch etwas wollte, war natürlich nichts mehr da.

Als wir dann endlich gegen zwei Uhr mittags alle am Lager ankamen, war der Pförtner der erste nette Mensch seit langem, denn er fragte, ob wir schon gegessen hätten. Nein! Dann sollten wir uns beeilen und erstmal in die Kantine gehen und essen. Was gab es dort? Rouladen!
Damit war Hellmuts Welt wieder in Ordnung und das neue Leben konnte beginnen.

Impressum

Bildmaterialien: Cover: eigenes Foto
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2011

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