Es war dunkel, es war kalt, und es war Montag.
Schlechter konnte die Woche kaum beginnen, dachte ich noch, als ich auf dem Weg ins Büro den Rücklichtern meines Busses durch dichten Schneeregen hinterhersah.
»Zwei Minuten zu früh!«, schrie ich dem Fahrer noch nach. Doch der grinste nur aus seinem Rückspiegel und fuhr weiter. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit all denen, die ebenfalls rechtzeitig zu spät gekommen waren, unter das schmale Vordach der Bushaltestelle zu drängen. Dort wurde heftig über die neue Form der Unpünktlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs diskutiert. Ich aber war zu müde dafür und begann gelangweilt an einem der Zeitungsständer die Überschriften der Tagespresse zu lesen. Die Kälte kroch mir vom Boden her die Beine hoch, doch zum Glück spürte ich meine Füße schon bald nicht mehr.
Staatsbankrott!
Trifft es nun die Sparer?
prangte mir von einer der Boulevardzeitungen in weißer Schrift auf rotem Grund entgegen. Den journalistischen Vierzeiler unterhalb der Pleitegeier-Karikatur konnte ich nur noch überfliegen, als abermals der nächste Bus zu früh kam. Doch diesmal war nicht ich es, der dem Bus vergeblich hinterherlief.
Staatsbankrott !
Das klang unerfreulich, wenn ich an mein mühsam zusammengekratztes Notpolster dachte. Als 38jähriger Angestellter beim städtischen Bauamt rechnete ich schon in guten Zeiten nicht mit nennenswerten Zuwächsen. Eine Notzeit käme mir also denkbar ungelegen. Doch viel Zeit, über meine drohende Privatinsolvenz nachzugrübeln, blieb mir nicht, denn der Verspätung wegen musste ich mich beeilen, ins Büro zu kommen.
Aber die Schlagzeile ließ mich nicht mehr los. Langsam fraßen sich die wenigen Worte einen Weg in mein Bewusstsein und überschatteten die Dolce Vita meines Angestelltendaseins. Eigentlich hätte ich mir bei meiner überschaubaren Rücklage keine Sorgen machen müssen, denn wer nichts hat, kann auch nichts verlieren. Doch die Erfahrung lehrt, dass der Staat selbst einem nackten Mann noch in die Tasche greift, wenn die Pensionen der Staatsdiener in Gefahr sind.
Nervös ließ ich den Morgenkaffee ausfallen und begann im Internet nach dem Kontostand der Republik zu fahnden. Die Seite mit der Schuldenuhr kann ich nur wirklich hartgesottenen Newsjunkies empfehlen. Ich habe mittlerweile statistisch mehr Schulden, als ich in den letzten zehn Jahren ansparen konnte. Doch als ob das noch nicht genug wäre, schiebt meine Hausbank marode Kredite vor sich her, die dem Bruttoinlandsprodukt osteuropäischer Beitrittsländer entsprechen. Damit dürften sich meine von Staatswegen auflaufenden Schulden in Kürze verdoppeln. Das Zahlenkarussell drehte sich und immer mehr Mitfahrer stiegen zu:
Junkbonds, Hedgefonds, Griechenland pleite. Der Euro im freien Fall, Hyperinflation und Bargeld wird strafbar. Investieren Sie in die Bad Bank Ihres Vertrauens.
Mir brummte der Kopf. Zahllose Blogs schienen meine plötzlichen Existenzängste ernst zu nehmen und fütterten meinen verwundeten Geist mit Nahrung, die nicht satt, sondern paranoid machte. Nur die namhafte Presse schwieg. Die Wirtschaftsweisen fuhren sich nachdenklich durch ihre weißen Bärte und sinnierten über die Folgen ausufernder Sozialleistungen für Bezieher niedriger Einkommen, was mich daran erinnerte, Wohngeld zu beantragen.
Seit meine Freundin Tessa bei mir eingezogen war und wir nun täglich heizten, jeden Freitag die Waschmaschine benutzten und sie darauf bestand, mehr als eine abgelaufene Milch im Kühlschrank zu haben, war ich finanziell knapp bei Kasse. Doch als ich nun las, wie viele Milliarden der Staat zur Rettung deutscher Banken aufwenden musste, erschien mir meine Freundin in einem ganz anderen Licht. Von dem Geld hätte man die alten Banken schließen und neue eröffnen können. Ich aber hatte ihr unlängst empfohlen, sich – statt die Heizung anzuwerfen – doch einen Pullover überzuziehen, dann würden 15 Grad zum Überleben reichen. Sollte ihr dann immer noch kalt sein, fuhr ich fort, gäbe es noch andere Wege, sie zu wärmen. Daraufhin schlief ich allein und meine Freundin sprach zwei Tage nicht mehr mit mir. Ihre Laune taute erst bei finanziell unverantwortlichen 22 Grad im Wohnzimmer und einem dicken Strauß Rosen wieder auf. Ich hingegen sann über einen Nebenjob nach. Doch vor einem wirtschaftlichen Weltuntergang würde auch der mich nicht retten. Beunruhigt nutzte ich daher unsere zweite Frühstückspause, um meine Kollegen um Rat zu fragen.
»Wer arbeitet, ist doch immer der Dumme«, brummt Strasser, der in diesem Jahr 69 wurde. Nachdem aber die Personalabteilung seine Pensionierung vergessen zu haben schien und ihm weiterhin monatlich sein Gehalt überwies, kam Strasser jeden Morgen, setzte sich über seine Zeitung und schloss diese kurz bevor er ging. Unterbrochen wurde dieses Ritual nur durch besagte Frühstückspause und einen Mittagsspaziergang durch den begrünten Innenhof der Behörde. Zuhause wartete niemand auf ihn.
»Noch dümmer ist aber, wenn unser Geld trotz Arbeit bald nichts mehr wert ist«, versuchte ich es mit Fakten, erntete jedoch nur ein bemühtes Lächeln eines Kollegen, der überzeugt war, ein Staat könne nicht pleite gehen. Im Übrigen würde Panini auch zur bevorstehenden Fußball-EM wieder Sammelbildchen anbieten. Das interessierte die anderen und erste Tauschgemeinschaften bildeten sich. Ich aber stand vergessen mit meinem Internetausdruck der Neuen Züricher Zeitung, in dem ein düsteres Bild von der Finanzkraft der Eurozone gezeichnet wurde, und ahnte, dass die Welt ohne meine Kollegen untergehen müsse. Doch auch wenn Griechenland ehemaliger Fußball-Europameister war, für die EM gab ich keine Drachme auf dieses Land.
Den restlichen Nachmittag klickte ich mich im Internet durch diverse Wirtschaftsforen, während sich das Hamsterrad im Büro ohne mich drehte. Das war aufreibender, als ich dachte, doch nichts gegen das Gefühl, die Hand gerade noch an der Notbremse zu haben. Dennoch war ich zum Feierabend von der ungewohnten Bildschirmnutzung so ausgelaugt, dass ich die Ausdrucke meiner Recherchen ungelesen dem Reinigungspersonal mitgab. Vermutlich hatten meine Kollegen Recht. Es stand die Fußball-Europameisterschaft bevor, da lässt man keinen Staat kollabieren.
Völlig erschöpft schleppte ich mich an diesem Abend in die heimischen, überheizten vier Wände, wo meine Freundin munter im letzten noch gedruckten Versandkatalog blätterte und mich mit strahlenden Augen empfing.
»Schatz, wir könnten echt Geld sparen.«
»Sparen? Hast du auch von dem Staatsbankrott gehört?«
Tessa sah mich irritiert an, doch dann verstand sie.
»Ja, genau Bankrott. Die Kaufhauskette hier ist pleite und verschleudert ihre Restbestände. Schau dir mal den Katalog an, alles bis zu 70% billiger.«
»Und was hat das jetzt mit Sparen zu tun?«
Tessa verdrehte die Augen. »Mann Ben, stehst du auf der Leitung? Guck mal in meinen Schrank, wie leergefegt, und nun gäb’s neue Klamotten fast umsonst.«
»Ja nun, wenn du aber gleich nichts kaufst, sparst du noch mehr?«
»Du willst also, dass ich weiter wie der letzte Penner rumlaufe?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ach, ich laufe also wie der letzte Penner rum?«
Tessas Tonfall hatte umgeschlagen.
»Wieso das jetzt? Du schaust wie immer gut aus«, versuchte ich das verminte Terrain zu umschiffen, doch meine Freundin gab sich unversöhnlich.
»Was heißt hier wie immer? Dir fällt also gar nicht auf, wenn ich was Neues trage? Was zum Beispiel hatte ich gestern an?«
Ich schaute verzweifelt im Zimmer umher. Genauso gut hätte sie mich fragen können, was ich ihr zu unserem ersten Jahrestag geschenkt hatte. Doch bei meinem Glück käme diese Frage als nächstes.
»Tess, ich bitte dich, natürlich fällt mir auf, wenn du etwas Neues trägst. Ich meine ja nur, dass du einen ausgezeichneten Geschmack hast und wenn du sagst, du findest etwas Schönes in diesem Katalog, dann sollten wir nicht länger darüber reden, sondern endlich bestellen.«
Irgendetwas musste ich richtig gemacht haben, denn plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und aufgeregt blätterte sie sich vor meinen müden Augen durch ein gefühltes Dutzend an Seiten und zeigte auf eine unüberschaubare Anzahl von Blusen, Hosen, Schals und Schuhen, bis ich ergeben nickte.
»Alles ganz wunderbar und so billig.«
»Sag ich doch«, nickte Tessa fröhlich, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und griff zum Stift, um das Bestellformular auszufüllen.
Kopfschüttelnd verließ ich das Zimmer, um mir ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Auf dem Küchentisch fand ich einen Brief der Strategie-Finanzberatung. Irritiert entnahm ich dem Kuvert eine Einladung für eine kostenfreie und unverbindliche Anlageberatung. Aufhänger des Schreibens war zu meiner Überraschung die drohende Zahlungsunfähigkeit des Staates und die Notwendigkeit privater Vorsorge und Absicherung.
Da waren sie wieder meine Kopfschmerzen und das dumpfe Gefühl im Brustkorb, morgen nichts mehr zu essen zu haben. Ich wählte also die Nummer der Beratungsstelle und vereinbarte einen Termin für die kommenden Tage. Ich wollte vorbereitet sein und hielt mich für weitsichtig. Der erste Anflug von Panik legte sich wieder.
Tessa hatte mittlerweile ihre Kaufrauschorgie beendet und fragte, was ich zum Abendessen wolle. Mir war jedoch die Talfahrt des Euro auf den Magen geschlagen.
»Ach, nur weil irgendwelche griechischen Olivenbauern über ihre Verhältnisse leben, willst du nichts mehr essen?«, zeigte sie wenig Verständnis für meine Sorgen.
»Und weil ich nicht weiß, ob wir uns morgen überhaupt noch Brot leisten können.«
»Dann essen wir halt Kuchen. Was ist denn plötzlich los, dass du so schwarz siehst?«
Da erzählte ich Tessa von meiner morgendlichen Begegnung mit dem Gespenst der Weltwirtschaftskrise und der Angst, dass in Kürze Toilettenpapier so teuer ist, dass wir uns den Hintern mit Euroscheinen abwischen müssen.
»Na, dann sind die wenigstens für irgendwas gut«, erwiderte sie und öffnete den Kühlschrank. »Wurst oder Käse?«
Ich schüttelte den Kopf. »Euro oder DM müsste die Frage lauten, doch an das heiße Eisen will ja keiner ran.«
Tessa sah mich genervt an. »Jetzt, wo ich langsam aufhöre, im Kopf noch umzurechnen, ohne rot anzulaufen, willst du die olle DM zurück.«
»Ich wollte nie den Euro, wenn du das meinst.«
»Niemand wollte den. Doch das ist Schnee von gestern. Jetzt iss und hör auf, über Sachen nachzudenken, die du eh nicht ändern kannst.«
Mühsam schluckte ich eine Erwiderung hinunter und griff unwillig zum dargereichten Brotkorb. Eigentlich hatte Tessa ja Recht. Was zerbrach ich mir den Kopf über notleidende Kredite, Bailouts und Heuschrecken. Ich hatte kaum Geld auf der Bank, geschweige denn Aktien oder andere Anlagen, um die ich mich sorgen müsste.
Doch so pleite war ich nicht immer. In den Jahren üppiger Verdienste als Student wagte ich mich wie viele meiner Kommilitonen aufs schlüpfrige Börsenparkett und rutschte prompt auf der zerplatzten Blase des Neuen Marktes aus. Millionär mit 30 war das erklärte Ziel. Schulden auch ohne BAföG das Ergebnis meiner Hoffnungen, die ich damals in die absehbaren Folgen der Demografie steckte. Wo man hinhörte, wurde über die Vergreisung der Gesellschaft geklagt. Die Pflegekosten sollten in den Himmel schießen und der Bedarf an medizinischer Versorgung wäre kaum noch finanzierbar. Was also sprach Ende der 90er Jahre gegen die Beteiligung an einer Pflegeheimkette. Nichts, außer der Tatsache, dass diese Firma pleite ging, die Aktien zu Spielgeld wurden und sich meine Altersvorsorge in Rauch auflöste. Zum Glück hatte ich meine Telekom-Aktien gerade noch zum Ausgabepreis wieder los bekommen. Hier scheiterten andere.
Tessa plauderte währenddessen von ihrem Tag und dem allmählich gestörten Verhältnis zu moderner Kunst. Sie hatte Kulturmanagement studiert und arbeitete schlecht bezahlt für eine internationale Galerie im Herzen Münchens, bei der sie die Wechselausstellungen betreute. Zurzeit galt es Ron Mueck klar zu machen, dass sein fünf Meter langes Riesenbaby keinen Saal von 100 Quadratmetern allein befüllen könne, so effektvoll das Ergebnis auch aussähe.
»Wenn wir so planen würden, könnte die Galerie gleich schließen. Aber Künstler haben keine Ahnung von wirtschaftlichen Dingen«, stöhnte sie.
»Ach, wer wird denn gleich schwarz sehen?«, lächelte ich. Doch Tessa antwortete nicht, sondern blätterte in der Zeitung, während ich den Tisch abräumte.
»Hier zumindest steht noch nichts vom Weltuntergang. Apropos Untergang, die alte Schmidt von schräg über uns lag angeblich zwei Wochen tot in ihrer Wohnung. Die Hausmeisterin hat’s mir vorhin in der Waschküche erzählt. Muss ganz großes Kino gewesen sein, Krankenwagen, Polizei, Feuerwehr und zum Schluss Zinksarg und ab in die Pathologie.«
»Feuerwehr?«, wunderte ich mich.
»Ja, die mussten die Wohnung desinfizieren. Kein Wunder bei dem Gestank die letzten Tage im Treppenhaus. Jedenfalls war’s nicht der Hund von den Albrechts.«
»Meinetwegen, aber wer hat die Schmidt gefunden?«
»Ihre Zugehfrau. Die hatte Urlaub und konnte deshalb nicht früher kommen. Muss ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein. Kannst dir ja vorstellen, zwei Wochen tot in einer völlig überheizten Wohnung. Keine Ahnung, ob die jemals wieder bezogen werden kann.«
»Na ja, die Schmidt war ja nicht mehr die Jüngste. Trotzdem kein schönes Ende.«
»Nee, die ist nicht sanft entschlafen. Die soll erstickt sein. Angeblich ragte ihr ein halber Muffin aus dem Mund. Apropos, noch Nachtisch?«
Dankend lehnte ich ab. Mir war der Appetit zum zweiten Mal heute Abend vergangen.
»Ich denke, da hat einer nachgeholfen«, flüsterte Tessa und blickte sich verstohlen zur Küchentür um, als ob dort jemand lauschen könnte.
»Ach, hör auf. Für das bisschen Rente vergreift sich doch keiner an der alten Schmidt. Das erklärt höchstens, wieso man nicht in Pflegeheime investieren sollte, wenn die Rentner lieber daheim sterben.«
»Jetzt sei nicht geschmacklos, Ben. Zumindest lag sie mit unserem Vermieter im Clinch. Er wollte ihr wegen der geplanten Modernisierung kündigen, doch sie hatte sich bis zuletzt dagegen gewehrt.«
»Ach, und deshalb, meinst du, stopft ihr unser Hausherr einen Muffin in den Mund und wartet zwei Wochen, bis sich die Maden ins Sofa gefressen haben und die Wohnung unbewohnbar ist?«
»Natürlich nicht. Aber der konnte ja nicht wissen, dass die Zugehfrau zwei Wochen Urlaub hatte.«
»Und ich denke, heute Abend bist eindeutig du die Schwarzseherin. Unser Vermieter ist sicher kein Samariter. Aber ein Mörder? Hör auf.«
»Ich sag’s ja nur. Vielleicht sollten wir uns doch langsam mal nach Eigentum umsehen. Sonst liegen wir zum Schluss noch ersoffen in der Badewanne.«
Ich grinste Tessa an.
»Ach, daher weht der Wind. Das Häuschen am Stadtrand, kleiner Garten und Kindersocken auf der Wäscheleine im Wind. Ist es das?«
Tessa lächelte versonnen zurück. »Vielleicht.«
Mich fröstelte.
In dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, immer den Wecker im Blick, dessen Uhrzeit zu stehen schien. Dennoch ahnte ich mit jeder quälend langsam verronnenen Minute, wie erschlagen ich mich am nächsten Tag im Büro fühlen würde. Doch das Kopfkino fand kein Ende. Düster zogen Wolken am deutschen Wirtschaftshimmel auf und ließen Szenarien regnen, in denen ich mich mit einer Plastiktüte von Müllkorb zu Müllkorb auf der Suche nach leeren Pfandflaschen schleppte. Vielleicht sollte ich ein Instrument erlernen? Einen Hut hätte ich schon, aber wer würde dann noch in den Fußgängerzonen flanieren, wenn in Europa die Lichter ausgingen? Alptraumhaft dachte ich an Tessas Kinderwunsch und spürte den Druck der Verantwortung wie ein Kissen, das man mir auf den Mund presste. Panisch schnappte ich nach Luft, suchte in der Dunkelheit nach der Wasserflasche, die immer auf Tessas Nachttisch stand, und verfluchte den Busfahrer, der mich gezwungen hatte, im Schneeregen vom drohenden Untergang der Republik zu lesen. Künftig würde ich fünf Minuten früher an der Haltestelle stehen und tagelang keine Nachrichten mehr lesen.
Wieder und wieder suchte ich nach einem persönlichen Ausweg, einer Chance, meine Existenz zu retten. Doch was, wenn sich der Staat kein Bauamt mehr leisten konnte und ich arbeitslos würde? Mich schauderte, hörte ich mich doch schon eine flammende Rede vor meinem Abteilungsleiter halten, wieso ich, unverheiratet und ohne Kinder, als jüngster Angestellter im Büro gegen all die anderen Großfamilienbesitzer mit Beamtenstatus beschäftigt bleiben müsse. Leider gingen mir nach gefühlten zwei Sekunden die Argumente aus und mein Chef schüttelte in meinen Gedanken nur mitleidig den Kopf, wies mir freundlich, aber bestimmt die Tür und empfahl mir, Zeitungen zu sammeln, die wärmen, wenn man im Park überwintern muss.
Irgendwann schien ich trotz aller Sorgen in einen unruhigen Schlaf gefallen zu sein, denn als der Radiowecker mit einem ohrenbetäubenden Schlagzeugsolo anging, durchzuckten letzte Sequenzen eines wirren Traumes mein Hirn.
Ich hatte zusammen mit einer Vielzahl zerlumpter Leute in einer Schlange angestanden, einem Raum, nicht unähnlich einer Bank, und auf ein Gespräch mit dem Mann hinter dem Schalter gewartet. Doch kaum, dass ich an der Reihe war, zog dieser ein Rollo an der perforierten Sichtscheibe herunter, auf dem
GELD IST AUS
stand. Im daraufhin ausbrechenden Tumult rettete ich mich unter einen Beratertisch, hinter dessen gigantischem PC-Monitor eine Frau saß, die ich nicht deutlich erkennen konnte. Plötzlich war der Monitor verschwunden und meine verstorbene Nachbarin grinste mich zahnlos und leeren Blickes an, streckte ihre wurstig bleichen Finger nach mir aus und fragte mit hohler Stimme, ob ich ihr Muffins mitgebracht hätte. Plötzlich verwandelte sie sich in meinen Vermieter, der mir eine Schale voller Schokoladentörtchen entgegenhielt und leise flüsterte:
»Du bist der Nächste.«
Das Schlagzeugsolo im Radio rettete mich, doch ich hätte schwören können, für den Bruchteil einer Sekunde noch den Geruch von frisch Gebackenem in der Nase gehabt zu haben.
Tessa war schon aufgestanden. Aus dem Bad hörte ich die elektrische Zahnbürste herüber summen, während ich ihre Wärme noch immer auf dem Laken spürte. Stöhnend ließ mich in mein Kissen zurückfallen, schloss die Augen und hätte bis in den Abend weiterschlafen können, wenn sich nicht launige Werbejingles unerbittlich in mein übernächtigtes Gehirn gebohrt hätten. Manische Radiomoderatoren überboten sich bei dem vergeblichen Versuch, komisch zu sein und auf den weltbesten Wetterbericht folgte der unkomische Hinweis, dass grün-weiße Fotografen auf Münchens Ring- und Einfallstraßen Passbilder schössen. Es war unerträglich. Ich hasse Frühstücksradio und die aufgesetzte Heiterkeit von mindestens drei Wahnsinnigen, die seit fünf Uhr morgens gegen den Tiefschlaf der Nation anmoderierten. Alle erschießen.
So quälte ich mich schließlich aus dem Bett, haderte mit meinem Schicksal und suchte nach meinen Hausschuhen. Im Bad hörte ich Tessa duschen und erschrak mich jeden Morgen aufs Neue, wenn ich sie mit zum Turban aufgetürmtem Handtuch vor dem Badspiegel antraf.
»Morgen Schatz«, brummte ich verschlafen, griff nach meiner Zahnbürste und verzog mich aufs Gästeklo. Keine fünf Sekunden später steckte Tessa ihren Kopf zu mir ins Klo und fragte, ob ich wüsste, wo ihre Pflegecreme sei. Dabei ignorierte sie meinen genervten Gesichtsausdruck, während ich zähneputzend versuchte, die Toilettenschüssel zu treffen. Stumm zuckte ich mit den Schultern und wies auf die Bürste in meinem Mund. Keine Ahnung, wo sie ihre Creme hatte, ich zumindest hatte keine Lust, mich direkt nach dem Aufstehen zu unterhalten.
Nicht so Tessa. Amüsiert sah sie mir beim Pinkeln zu und plauderte über Belanglosigkeiten, wie die Frage, was sie bei diesem schrecklichen Aprilwetter anziehen solle.
»Schau mal raus, es schneit schon wieder und mittags hat’s dann 20 Grad. Rock oder Hose? Was meinst du?«
Ich hatte keine Meinung und sagte ihr das auch, doch das war für sie kein Argument.
»Ja, ihr Männer redet euch leicht. Hose, Hemd, vielleicht mal ’ne Krawatte und das war’s. Aber ich?«
»Schatz, zieh dir ’ne Hose an und nimm den Rock mit.«
Ich kam mir so schlau vor, bis ich in Tessas Gesicht sah.
»Super Idee«, verdrehte sie spöttisch die Augen. »Und was zieh ich dann oben rum an? Nee, entweder oder.«
Resigniert drückte ich die Spülung.
Die nächsten Tage trugen nicht gerade zur Beruhigung meiner übermüdeten Nerven bei. Unvorsichtigerweise hatte ich auf Amazon nach Büchern zur drohenden Wirtschaftskrise gesucht und war zu meiner Bestürzung fündig geworden. Dutzende Untergangspropheten sagten wenig subtil das Ende der Welt voraus und boten nun ihre Überlebensstrategien zu Preisen an, die mich an eine Hyperinflation glauben ließen. Der Strohhalm, an den ich mich mit meiner Buchbestellung klammerte, kostete mich das Monatseinkommen eines ostanatolischen Dorfes und füllte mein Büroregal oberhalb der Schreibtischablage. Doch die Zukunft meiner ungeborenen Kinder war es mir wert.
Rückblickend kann ich niemandem empfehlen, sich mit den Mechanismen globalisierter Finanzströme und den Folgen so genannter billiger Geldpolitik zu beschäftigen. Das verursacht neben Kopfschmerzen auch Schlafstörungen und unruhigen Stuhlgang. Das größte Übel unserer Zeit scheint dabei der Zins zu sein, die Idee, Geld gebiert Geld, auch wenn keiner dafür arbeitet. Dieser Unsinn gliche, schrieben Berufenere als ich, einem Pyramidenspiel, bei dem solange oben Geld verdient wird, solange unten ein Dummer aufsteht und brav seinen Lohn zur Bank trägt. Der ist es am Ende aber auch, der vor verschlossener Banktür steht und sich wundert, wieso das Schild mit den Öffnungszeiten verschwunden ist.
Ich hingegen wunderte mich, wieso meine Kollegen angesichts der beunruhigenden Vorzeichen nicht schreiend durch den Tag liefen. Stattdessen saßen sie unberührt an ihren Schreibtischen. Emotionslose Gesichter, die nur vom flackernden Schein der Bildschirme erhellt wurden. Sie taten mir leid, wie sie ahnungslos an ihrem eigenen Ast sägten, sich in ihrer Reihenhaussiedlung mit Hund, Frau und Kleinwagen sicher wähnten und deren größte Sorge es war, den günstigen Damenradsattel mit Gelpolster bei Tchibo zu verpassen.
Doch bevor auch ich zu Tchibo ging, um Tessa einen neuen Fahrradsattel zu kaufen, erstellte ich ein Positionspapier, das meine Kollegen wachrütteln und über die einzelnen Stufen des von langer Hand geplanten Systemcrashs aufklären sollte. Wir befanden uns gegenwärtig auf Stufe vier der acht Endzeitszenarien, nämlich unmittelbar vor dem Zusammenbruch der auf Stufe drei künstlich erzeugten Einheitswährung, dem Euro. Danke Theo Waigel, Blumen für Helmut Kohl, einen Sarg für Deutschland. Letzterer prangte als Eyecatcher am Ende meines Achtpunkteprogramms und sollte mein Anliegen unterstreichen. Doch als ich aus der Mittagspause zurückkehrte und kleine Dankgeschenke für meine Weitsicht erwartete, rief mich Holthausen, mein Chef, in sein Büro.
Holthausen, 41jähriger Ex-Hiwi vom Bürgermeister, war Abteilungsleiter in unserem Referat, Sozialdemokrat und der geborene Radfahrer. Angefangen als Assistent der Geschäftsleitung war er innerhalb von nur fünf Jahren in so viele Ärsche dieser Behörde gekrochen, dass er ungeachtet der üblichen Wartezeiten an sämtlichen Kollegen vorbei befördert wurde. Entsprechend beliebt war er unter den Zurückgebliebenen, abgesehen von denen, die sich eine ähnliche Blitzkarriere von einem guten Kontakt zum Chef versprachen. Ich gehörte nicht dazu.
Kaum hatte ich sein Büro betreten, hielt er mir meine Kampfschrift wider den Zins entgegen.
»Ist das auf Ihrem Mist gewachsen, Kuhn?«, waren seine ersten Worte und ich nickte hoffnungsfroh.
»Dann haben Sie damit nicht nur den Kopierer verstopft, sondern auch die Postfächer Ihrer Kollegen?«
Das Nicken fiel mir schon schwerer.
»Der Aushang am schwarzen Brett und die Rundmail stammen dann wohl ebenfalls von Ihnen?«
Irgendetwas in seiner Stimme ließ mich auf ein weiteres Nicken verzichten und Ausschau nach einem Stuhl halten. Es drohte ein längeres Gespräch zu werden, doch ich irrte.
»Mensch Kuhn, sind Sie noch ganz bei Trost? Machen hier die Pferde scheu mit Ihrem Verschwörungsgedöns und halten die Leute von der Arbeit ab? Von der Material-verschwendung mal ganz abgesehen. Haben Sie gerade geistigen Leerlauf oder sind Sie unterbeschäftigt? Ich hätte da noch eine vakante Stelle im Archiv, wenn Sie mit der Hälfte Ihres Gehaltes auskämen. Scheint ja eh nicht mehr lange was wert zu sein.«
Ohne meine Erwiderung abzuwarten, wies mich der Imperator mit einem stummen Wink seiner rechten Hand aus seinem Büro und knüllte meinen vergeblichen Versuch, Deutschland vorm Untergang zu retten, zusammen. Ich warf ihm noch einen letzten aufrüttelnden Blick zu und flüsterte beim Verlassen des Raumes, dass es noch nicht zu spät sei, ahnte aber, auch hier zu irren.
Auf dem Weg zurück an meinen Schreibtisch fühlte ich die Ohnmacht derer, die in der Geschichte der Menschheit die Mauer der Unwissenheit niederreißen wollten und dahinter den Felsen der Ignoranz vorfanden. Doch anders als Galileo würde ich nicht widerrufen. Mein Chef hatte gut lachen. Zwei Häuser, mehrere Wohnungen und eine vorzügliche Pensionsregelung, da kann man ein paar Jahre Geldentwertung leicht wegstecken. Doch meine Kollegen sahen das sicher anders und würden meine Warnungen zu schätzen wissen.
Noch heute sehe ich diese grinsende Judasbande vor mir, als ich unser Großraumbüro betrat. Papierflieger meiner Ausdrucke drehten sanfte Runden unterhalb der Deckenlampe, der Rest füllte die Papierkörbe oder stapelte sich mit wenig schmeichelhaften Aufschriften auf meinem Tisch. Keiner kam, um mir zu danken oder gemeinsam zu überlegen, wie wir uns vor dem Untergang des Abendlandes schützen konnten. Wieder war ich auf mich allein gestellt und wusste, dass ich bessere Argumente brauchte als mein Achtthesenpapier.
»Hey Ben«, sprach mich plötzlich Kollege Rubenbauer vom Schreibtisch gegenüber an. »Weißt du, wie man die Letten seit dem EU Beitritt nennt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Euro-Paletten«, wieherte Rubenbauer los und bekam sich fast nicht mehr ein. »Verstehst du? Europa Letten. Kapiert?«
Natürlich hatte ich den Witz verstanden, nur war mir nicht nach Lachen zumute.
»Sehr lustig. Noch so ein Staat, für den ich Steuern zahle.«
»Na ja, so schlimm wie in deinem Papier hier, wird’s schon nicht werden«, grinste mich Rubenbauer an und hielt mein Achtthesenpapier hoch.
»Oder schlimmer. Weißt du, was 1923 hier in Deutschland los war? Inflation war ein Krieg zwischen zwei Kriegen, nur dass jeder gegen jeden kämpfte«, widersprach ich meinem Kollegen. Doch der lachte nur.
»Jetzt mach mal halblang. Schau in die Zeitung. Wir haben die geringste Teuerung seit Jahren und du redest von Inflation.«
»Ja, wenn ich Herrenhüte und Damenstrümpfe mit Billigcomputern aus Fernost vergleiche. Aber geh doch mal essen. Da zahlst du locker Preise in Euro, die früher in Mark unverschämt gewesen wären.«
»Mann, keiner zwingt dich, essen zu gehen. Die haben halt auch ihre Ausgaben, Lohnkosten und so weiter, und Fleisch ist nun mal teuer.«
»Fleisch? Ich rede von Pizza für neun Euro? Hey, das waren mal 18 Mark. Kein Mensch hätte das damals bezahlt und heute tun alle so, als hätte sich auch ihr Gehalt verdoppelt.«
»Deins nicht?«, grinste Rubenbauer und begann wieder in seine Tastatur zu hacken.
»Nee, dafür meine Miete, Heizöl, Strom, Kino, Pfisterbrot und tausend andere Dinge, die wir täglich brauchen.«
»Also, ich kauf meine Semmeln im Supermarkt. Die kosten dort nur die Hälfte und schmecken genauso. Da kannst du sagen, was du willst, wer teuer kauft, ist selber schuld.«
Mir fehlten die Worte, wohl auch, weil mein Telefon schrillte und mein Lieblingskunde wissen wollte, wann ich ihm nun endlich den »scheiß Garagenneubau« bewilligen würde. Originalton und genau das, was ich im Augenblick brauchte.
»Stecken Sie sich doch Ihre beschissene Garage an den Hut. In ein paar Wochen können Sie sich das Benzin für den Wagen darin eh nicht mehr leisten.«
Danach legte ich auf. Rubenbauer sah mich überrascht an und drehte mit seinem rechten Zeigefinger einen Kreis an seiner Schläfe.
»Hey Kollege, nimm dir mal frei. Sonst geht dir tatsächlich bald das Geld aus, wenn der sich da oben beschwert.«
Dabei blickte Rubenbauer demonstrativ zur Decke, wo im 5. Stock die Amtsleitung residierte.
Missmutig folgte ich seinem Rat, nahm meine Tasche und hielt wenige Minuten später meine Karte an das Zeit-erfassungsterminal. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen, Schirmträger huschten an mir vorüber, eine Katze duckte sich unter das Dach der Firmeneinfahrt und in zwei Wochen war Frühlingsanfang. Ich fror.
So mies hatte ich mich zuletzt vor knapp zwanzig Stunden gefühlt, als ich dem Strategie-Finanzberater gegenüber saß und wir meine Einkünfte mit den Ausgaben verglichen. Es galt, eine krisensichere Anlage zu finden, die mich nachts wieder ruhig schlafen ließ.
Gefunden hatten wir eine Deckungslücke, in der ganze Hollywoodproduktionen von Alpträumen Platz gefunden hätten. Ich schien chronisch unterversorgt und bat meinen Berater, mir das schriftlich für die nächste Gehaltsverhandlung zu geben. Es war ein Wunder, dass ich mir bei meinem Gehalt überhaupt ein Leben in München leisten konnte, ohne am Monatsende bei der städtischen Tafel zu landen. Mir fehlten monatlich gut 300 Euro, um meine laufenden Kosten zu bedienen. Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich mir das Haushaltsgeld mit meiner Freundin teilte? Doch seinen mitleidigen Blick ersparte ich mir. Glücklicherweise hatte mein kaum volljähriger Berater wohl seine Ansprüche zu Grunde gelegt, als er monatlich 750 Euro für persönliche Lebensführung veranschlagte. Geschmeichelt, als Yuppie durchzugehen, widersprach ich ihm nicht. Auch die angesetzten 200 Euro für Handy und Telefonanschluss ließ ich unkommentiert, dachte ich doch an Tessas Gesprächsbedarf. Mich hingegen rief niemand an, mit wem also hätte ich telefonieren sollen? Dass ich kein Auto fuhr und die entsprechenden Aufwendungen von meinen gerade ermittelten Schulden abziehen konnte, behielt ich als stille Reserve im Hinterkopf. Dennoch blieb mir mehr Monat als Geld übrig und meine Hoffnung schwand, eine krisensichere Anlage empfohlen zu bekommen.
Doch das jugendliche Finanzgenie überraschte mich. Er traute mir eine Gehaltsentwicklung in den nächsten Jahren zu, die Balsam für meine geschundene Seele war, wenn auch unrealistisch. Doch damit ließen sich komfortablere Anlageszenarien spinnen, die eine kurzfristige Inflation ebenso überstehen würden wie einen weiteren Finanzcrash, vorausgesetzt der deutsche Steuerzahler würde wieder Milliarden in das weltweite Bankenmonopoly pumpen. Doch davon war auszugehen. Munter schoben wir die Euros von einem Steuersparmodell in ein anderes, kauften probeweise Schifffonds und Rohstoffderivate und legten die Dividenden auf karibischen Inseln an. Es wurde ein lustiger Nachmittag, bis mir Unterlagen vom Umfang des Giesinger Telefonbuches zur Unterschrift vorgelegt wurden. Da fiel mir meine gegenwärtige Finanzlücke wieder ein und ich gab vor, mir die Unterlagen nochmals zuhause durchlesen zu wollen. Wir vereinbarten einen zweiten Termin, den ich beim Verlassen der Finanzagentur bereits vergessen hatte.
Also, dieser Weg schien vorerst verschlossen, denn trotz deutlich sparsamerer Lebensführung würde ich das zu Grunde gelegte Gehalt in zehn Jahren nicht verdienen. Zumindest nicht, solange ich unverbeamtet beim Staat arbeitete. Doch wenn die Vorhersagen meiner Internetrecherchen eintrafen, wäre Deutschland spätestens in fünf Jahren am Ende, kurz nachdem neben Griechenland auch Portugal, Irland und der ganze Ostblock Konkurs beim IWF angemeldet hatten. Dann wäre auch die städtische Bauverwaltung überflüssig, mit ihr mein Arbeitsplatz und der Traum von einem höheren Gehalt.
Ich musste daher einen anderen Weg finden, die kommenden Jahre zu überleben. Was hatte der Finanzkasper noch mal gesagt? Schulden braucht man bei Inflation und Immobilien in Krisenzeiten. Wieso nicht beides? Immerhin träumte Tessa von einer eigenen Wohnung, das hieße Schulden und Immobilie in einem. München war voller Häuser, da musste doch irgendwo etwas frei sein, das sich sogar ein kleiner städtischer Angestellter leisten konnte. Immerhin gab es von meiner Sorte nicht gerade wenige in der Stadt, auch wenn immer mehr aus sozialen Nischen wie Augsburg, Rosenheim oder Landshut kamen.
Tessa war noch in der Galerie und mochte es nicht, wenn ich sie dort besuchte. Die Künstler seien sensibel und wünschten keine Gäste vor dem offiziellen Ausstellungsstart. So zumindest ihre stereotype Antwort, wenn ich anbot, sie von der Arbeit abzuholen. Also fuhr ich mit der Tram zum Max-Weber-Platz und setzte mich in eine der Fensternischen im Wiener Café. Dort breitete ich die Süddeutsche Zeitung aus und schlug den Immobilienteil auf. Die Bedienung schien mich zu ignorieren, ich fühlte mich zuhause und sagte mir, dass mich jeder gesparte Euro ein paar Quadratzentimeter näher an die gewünschte Traumimmobilie brächte. Bei den Münchener Cappuccino-Preisen stand ich damit schon fast vor der Haustür.
Doch zuerst hieß es, ein Gespür für die drei wichtigsten Kriterien beim Wohnungskauf zu entwickeln. Das waren Lage, Lage und Lage. Wo also lag meine zukünftige Altersvorsorge? Schwabing, Haidhausen und das Glockenbachviertel schieden rasch aus, ebenso Solln, Isarvorstadt und Nymphenburg. Aber auch Neuhausen, Gern und das Maxviertel schienen unerschwinglich. Es war frustrierend. Tessa hatte während ihres Studiums im Westend gewohnt, eine damals üble Gegend. An solchen Erinnerungen merkt man, dass man älter wird. Fanden sich doch in dieser Ausgabe der Süddeutschen im ganzen Westend nichts unter „100 Quadratmeter Loft“ oder Penthäuser zu Preisen, von denen man außerhalb Münchens Häuser abzahlen konnte. Die Gegend schien beliebt zu sein und aus einst üblen Ecken wurden Anlageobjekte. Nur nicht für mich. Und so ahnte ich, aus Giesing nicht raus zu kommen.
Eine Gegend mit Potential
hatte unser Vermieter die damalige Mieterhöhung anlässlich unseres Einzuges begründet. Vermutlich war das auch der Grund, weshalb seit dem Freiwerden der Schmidt’schen Wohnung das ganze Haus eine einzige Baustelle war. Vollwärmeschutz hieß das Zauberwort, das mir die nächsten Monate den letzten Nerv rauben sollte und uns oft am Frühstückstisch das zweifelhafte Vergnügen eines winkenden Bauarbeiters auf dem Gerüst vor unserem Küchenfenster bescherte. Das war meist der gleiche Bauarbeiter, der Tessa zuvor beim Umziehen im Schlafzimmer begrüßt hatte. Zum ersten Mal war ich froh, dass unser Bad kein Fenster besaß. Kein Geld für hohe Mieten zu haben, hat manchmal auch Vorteile, man muss sie nur erkennen.
Jetzt aber galt es eine bezahlbare Bleibe zu finden, bei der sich Zins und Tilgung in akzeptablen Grenzen hielten und dennoch ausreichend Schulden anfielen, um die kommenden Jahre der Geldentwertung zu überstehen. An Schulden sollte es in München nicht mangeln, musste ich nach nochmaligem Studium der Wohnungsanzeigen feststellen. Insgesamt brächten Tessa und ich als Eigenanteil kaum zwanzig Prozent der ortsüblichen Wohnungspreise auf, vorausgesetzt, ihre Eltern würden einiges beisteuern. Über Renovierung, Hausgeld und Einrichtung dachte ich damals zum Glück noch gar nicht nach.
»Wollen Sie was, oder kann ich Feierabend machen?«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und war begeistert. Nicht von dem typischen Münchener Dienstleistungston, den kannte ich bereits aus meiner Behörde. Nein, von dem sicher erst achtzehnjährigen Mädchen in Top, Minirock und Springerstiefeln, das hier anscheinend bediente.
Ein gestammeltes »nen Kaffee bitte« später suchte ich krampfhaft nach einem unverbindlichen Thema, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Als sie mir aber den Kaffee mit einem barschen »drei Euro« hinknallte, fiel mir nichts Besseres ein, als sie nach dem Unterschied zwischen Käse- und Quarkkuchen zu fragen.
»Quark ist aus«, antwortete sie mit einem Gesichtsausdruck, der mich ahnen ließ, dass andere Männer schon mit originelleren Sprüchen gescheitert waren.
Von dem fahrig hingehaltenen Fünfeuroschein sah ich nichts mehr, ebenso wenig von der Bedienung selbst, egal wie oft ich die nächsten Wochen im Wiener Café vorbeischaute. Tessa glaubte mich derweil beim Kieser Training, fand aber angesichts meiner gleich bleibend undefinierten Oberarme, dass das rausgeschmissenes Geld wäre.
So richtig rausschmeißen konnte man sein Geld aber auch für Dachterrassen, hohe Decken, sanierten Altbau oder fünf Quadratmeter Rasenfläche zur freien Gartennutzung, wenn man schon im Souterrain wohnen wollte. Tessa wollte nicht, sie wollte ganz ins Grüne, am besten mit S-Bahnanschluss und Seenähe. Ja, das waren auch meine Bilder, wenn ich an all das dachte, was wir uns nicht leisten konnten. So schlug ich eine 65 qm Wohnung im vierten Stock ohne Aufzug vor.
»Die hat ja gar keinen Balkon«, waren Tessas erste Worte beim Besichtigungstermin.
»Davon stand auch nichts in der Anzeige«, versuchte ich diplomatisch zu sein, erntete aber ein genervtes Augenrollen und die Frage, wozu wir dann überhaupt hier wären.
Diese Frage hörte ich die nächsten Wochen mehrfach, schien ich doch von den elementarsten Ausstattungsmerkmalen einer Wohnung nicht die leiseste Ahnung zu haben. Mal war die Küche zu klein, dann wieder der Flur zu groß, das Bad ohne Wanne oder ungünstig geschnitten. Der Balkon ging nach Norden, das Schlafzimmer zur Straße raus, der Keller war zu schmal und die Waschküche zu weit weg. Kein Parkett ging ebenso wenig wie eine Wohnung im Erdgeschoss. Aber eine Innentreppe zum nächsten Stock fand Tessa todschick, auch wenn dank der Schrägen im Obergeschoss kein einziger Schrank Platz gefunden hätte.
»Wozu brauchen wir da oben Schränke«, fragte sie mit verzücktem Blick beim Durchschreiten der ersten Maisonette, die wir uns ansahen.
»Na, falls das Bett da hoch soll, wären Kleiderschränke vielleicht nicht unpraktisch.«
»Ach was, wenn wir die Sachen in den Flur hängen, ist das wie bei einem begehbaren Kleiderschrank.«
»Du meinst, auf dem Weg von der Treppe zum Bett hängen wir unsere Klamotten an die Wand?«
»Das kann doch originell aussehen. Natürlich müsste ich mir erstmal neue Sachen kaufen, wenn die dann jeder sehen kann.«
»Guter Plan. Wie wär’s mit neuen Schuhen, denn im Flur ist auch kein Platz für einen Schuhschrank.«
»Na siehst du Schatz, endlich verstehst du mich und ja, das ist eine fabelhafte Idee«, lachte Tessa, hakte sich bei mir unter und zog mich in das nächste Zimmer.
Ich blieb ihr kopfschüttelnd eine Antwort schuldig. Letztlich kam aber auch diese Wohnung nicht in Frage, als Tessa unterhalb des Küchenfensters einen Kinderspielplatz entdeckte und ahnte, dass es dann mit unserer Ruhe vorbei wäre.
»Ich dachte, du magst Kinder«, freute ich mich über ihre Entscheidung, doch Tessa winkte ab.
»Vermutlich nur die eigenen.«
Schweigend fuhren wir mit dem Bus zu unserer Mietbaustelle zurück und hingen unseren Gedanken nach. Woran Tessa dachte, wusste ich nicht. Mir jedoch gingen die immer deutlicheren Anzeichen für den Niedergang meiner gesicherten Existenz durch den Kopf. Heute Morgen noch hörte ich von den Plänen der EU, die nationale Bankenkontrolle der Europäischen Zentralbank zu übertragen und die Länderfinanzaufsichten abzuschaffen. Was nach Entbürokratisierung klang, waren genau die Schritte auf dem Weg zur Finanzdiktatur, vor der in meinen neuen Ratgeberbüchern gewarnt wurde. Das nächste wäre eine europäische Transfergemeinschaft, bei der Zahlerstaaten wie wir, die Bankrotteure der EU auffangen müssten. Ein Fass ohne Boden, aber anders könne Deutschland nicht pleite gehen. Das wiederum war die Voraussetzung für ein Niedriglohn-Europa im Wettbewerb mit Asien und ein wichtiger Schritt zur politischen Entmachtung der Nationalstaaten. Brüssel als die neue Hauptstadt Europas ohne lästige Widerstände nationaler Regierungen, Banken oder einzelner Völker. Ein Eldorado der Bürokratie und der ideale Weg, eigene Versorgungslücken zu schließen, sofern man Mitglied der Europabehörden wäre.
»Schatz, was hältst du von einem Häuschen im Grünen?«, unterbrach Tessa plötzlich den Mahlstrom meiner Gedanken.
»Eine Menge. Wieso? Hast du geerbt?«
»Red nicht. Natürlich kein Neubau. Aber so was Kleines, Schnuckliges mit Spitzdach, Garten und einem Wald, wo wir unseren Hund laufen lassen können.«
»Unseren Hund?«
»Na ja, irgendwer muss ja unser Haus bewachen, wenn wir im Geschäft sind«, lächelte sie mich an.
»Das würde dann unser Hund übernehmen?«
»Zumindest bis ich wegen Philipp und Marie zuhause bleibe.«
»Wer sind Philipp und Marie?«, fragte ich so laut, dass das uns gegenüber sitzende ältere Paar verwundert aufsah.
»Na, unsere Kinder, du Held, wenn wir da mal zu Potte kommen«, flüsterte sie und schmiegte sie sich an mich.
Haus, Hund und Kinder, drei weitere Sargnägel meiner Lebensplanung und sicher das Letzte, was ich mir im Augenblick wünschte.
»Habe ich das jetzt richtig verstanden? Wir kaufen uns demnächst ein Haus am Waldrand und gehen dort solange mit unserem Hund Gassi, bis wir zwei Kinder haben, die wir Philipp und Marie nennen? Und wie heißt der Hund?«
»Versuchst du komisch zu sein?«, schaute mich Tessa fragend an und wies, ohne meine Antwort abzuwarten, auf eine Werbeanzeige oberhalb unseres Sitzes:
Immobilienbüro Donnersberg
Wir machen Ihr Traumhaus wahr.
»Das ist doch die Idee, andere für uns suchen zu lassen.«
»Und dafür ein paar Tausend Euro Provision abzudrücken«, zeigte ich mich wenig begeistert von Tessas Vorschlag.
»Wer es warm haben will, muss heizen, hat mein Vater immer gesagt«, entschied Tessa für mich mit und notierte sich die Telefonnummer des Immobilienbüros.
»Vielleicht aber steht unsere eigene Wohnung bald zum Verkauf«, erinnerte ich mich an ein vorgestern belauschtes Gespräch zwischen Herrn Riebmann aus Parterre und dem Hausmeister.
»Die olle Bude? Wer will die denn?«
»Na, wenigstens könnten wir uns die eventuell leisten.«
»Du wolltest doch Schulden machen, je mehr desto besser. Was also spricht gegen ein Häuschen?«
»Vielleicht, dass wir uns nicht einmal eine Wohnung leisten können, egal wie viele Schulden wir machen?«
»Was bist du nur für ein Pessimist, Ben. Ich dachte, draußen auf dem Land ist die Welt für Familien noch in Ordnung?«
»Mag sein, doch in Zeiten wie diesen würde ich das mit den Kindern nicht überstürzen.«
»In Zeiten wie diesen?«, sah mich Tessa überrascht an. »Als meine Mutter kurz nach dem Krieg geboren wurde, musste meine Oma mit ihr und meinem Onkel vor den Russen fliehen. Das waren beschissene Zeiten.«
»Ja, klar, aber heute sind die nicht viel besser. Der Russe hockt mittlerweile hinter jeder dritten Wohnungstür, wenn nicht die halbe arabische Unterwelt das Haus besetzt hat.«
»Nur weil du ausländerfeindlich bist, soll ich auf Kinder verzichten?«
»Ich bin nicht ausländerfeindlich, nur inländerfreundlich. Denn auf unsere Kinder warten nicht nur unabzahlbare Staatsschulden, sondern auch die ganze gescheiterte Integrationsfantasterei der Alt-68er mit ihrem Multi-Kulti-Wahn.«
Der Herr mir gegenüber nickte leicht.
»Fängst du schon wieder an? Deine Panikmache nervt langsam. Wer erzählt eigentlich den Schwachsinn, dass wir demnächst pleite sind?«
»Das ist kein Schwachsinn, sondern bittere Realität, vor der ich unsere Kinder gerne bewahren würde.«
»Indem sie gar nicht erst geboren werden, tolle Logik.«
Erschöpft sah ich Tessa in die wütenden Augen und suchte nach einem Funken von Verständnis. Wieso nur stritten wir in letzter Zeit so oft? Natürlich hatte ich nichts gegen Kinder. Aber konnte ich mir diese Verantwortung aufladen? Jetzt, wo Europa zerbrach und kein Wirtschaftswunder wie in den 50er Jahren bevorstand? Ohne ein weiteres Wort gingen wir an diesem Abend früh zu Bett, wo ich erneut lange keinen Schlaf fand.
Meine persönliche Krise kündigte sich mit einem gebrochenen Zeh und einer Krankschreibung an. Doch begonnen hatte es mit der Idee, Gold zu kaufen. Darauf brachte mich ein Werbespot im Frühstücksfernsehen, in dem ein Typ mit dem Charme eines GEZ-Gebühreneintreibers die Nation aufrief, ihm gegen Bargeld altes Gold, Schmuck oder sogar goldenen Zahnersatz in einem Kuvert zuzuschicken. Das ließ meine Alarmglocken schrillen, waren sich doch alle Wirtschaftsweisen einig, dass die einzig sichere Anlageform in Krisenzeiten Gold wäre. So schlecht wie dieser Spot produziert war, musste es der Auftraggeber sehr eilig gehabt haben, die letzten Goldreste aus verstaubten Schubladen einzusammeln. Das klang nach kurz vor Zwölf und plötzlich hatte auch ich es eilig, schnappte mir mein letztes sauberes Hemd, wand mir noch im Gehen eine Krawatte um und betrat wenige Minuten später meine Hausbank. Das Büro musste heute auf mich warten.
In der Bank herrschte kurz nach Neun ein eher gemächliches Treiben. In den Kassenhäuschen zählten müde dreinblickende Damen das Wechselgeld und der Sicherheitstyp im Eingangsbereich gähnte mürrisch, als ich den Schaltervorraum betrat. Nach einigem Suchen wandte ich mich an einen der herumstehenden Anzugträger, der so aussah, als ob er direkt von der Grundschule zur Bank gewechselt wäre. Fast hätte ich ihn geduzt und gefragt, ob denn heute keine Schule sei, als mir der Grund meines Besuches wieder einfiel.
»Sie wollen Gold kaufen?«, schaute er mich gelangweilt an und machte selbst auf mein eifriges Nicken hin keine Anstalten, in den Tresorraum zu eilen und die erwünschten Barren herbei zu holen. »Ich weiß gar nicht, ob Sie das hier können.«
Erwartungsfroh hoffte ich, die Frage von ihm beantwortet zu bekommen, doch weit gefehlt. Erst nach einigen Minuten peinlichen Schweigens bequemte sich mein Finanzdienstazubi und zeigte ins Innere der Bank.
»Wenden Sie sich mal an den Herrn dort drüben mit der roten Krawatte, der müsste sich auskennen.«
Unsicher, welcher der drei Herren mit einheitlich roter Krawatte auf hellblauem Hemd gemeint war, wollte ich meinem Banker des Vertrauens danken, doch der hatte sich bereits zu seiner Kollegin umgedreht und erzählte von seinem gestrigen Partyabsturz. Da wollte ich nicht stören und begab mich in den Kundenbereich der Bank, tastete mich von Servicepoint zu Servicepoint, hinter denen vereinzelt Bankangestellte saßen und so intensiv auf ihre Bildschirme starrten, dass ich mich nicht traute, sie dabei zu stören. Schließlich machte einer der roten Krawattenträger den Fehler, den Blick zu heben und mich just in dem Augenblick anzusehen, in dem ich vor seinem Schreibtisch stand. Man konnte ihm die Enttäuschung förmlich ansehen, als
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2012
ISBN: 978-3-86479-329-5
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Die Zukunft war früher auch besser.
Karl Valentin