Mord im Netz
Eigentlich wollte er ihr nur in den Mantel helfen, als sie sich zu ihm umdrehte, ihm die Arme um den Hals schlang und die Augen schloss. Ihr sinnlicher Mund näherte sich seinem, und er glaubte zu träumen. Dieses unglaublich hübsche Mädchen, das er eben erst hier an der Bar kennen gelernt hatte, liebte ihn und wurde von ihm geliebt. Eigentlich hatte er noch nie so viel für eine Frau empfunden wie in diesem Augenblick, in dem er sie in seine Arme nahm, an sich zog und küssen wollte, als ein dröhnender Schrei den Moment zerriss. Ein Hüne von vielleicht zwei Metern tobte durch das Lokal, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, während Lobinger das Herz in die Hose rutschte. Plötzlich war das Mädchen verschwunden, doch der Hüne kam näher, und seine urzeitlichen Rufe wurden schriller, immer höher, unrhythmisch und hysterisch, ein metallenes Kreischen, unglaublich nah, bis Lobinger im Bett hoch schreckte. Es war halb acht Uhr morgens, die Türklingel schellte, und seine Frau lag schnarchend neben ihm. Er warf sich fluchend einen Bademantel über und schlurfte müde zur Tür. Fetzten des Traumes hingen ihm noch nach, und das Gefühl für das unbekannte Mädchen in seinen Armen wollte nicht verschwinden. Müller stand vor der Tür und stopfte sich sein Hemd in die Hose. Anscheinend hatte man ihn auch aus dem Schlaf gerissen.
„Mensch Müller, sagt dir der Begriff Sonntag was? Sonntag, wie frei?“
„Beschwer dich bei dem Idioten, der ausgerechnet heute früh eine Frau erschlagen musste. Übrigens schönen Guten Morgen, Frau Lobinger“, grüßte Müller die Frau seines Kollegen, die gerade gähnend auf dem Weg zur Küche war.
„Frühstück die Herren?“, fragte sie noch, doch ihr Mann brummte nur etwas von ‚Kaffee und Zigarette würden genügen’. Müller sagte nicht nein und informierte Lobinger am Küchentisch über die Vorkommnisse der letzten Stunden.
„Gegen sechs Uhr ging ein Anruf auf der Wache ein, dass es einen Überfall gegeben hätte. Zwei Kollegen sind dann los, um die Sache aufzunehmen und fanden einen völlig apathischen Jugendlichen in einer Wohnung, der neben seiner Mutter hockte, die mit einer schweren Kopfverletzung am Boden lag. Der Notarzt konnte nur noch den Tod infolge eines Aufpralls auf der Kante des Schuhschranks feststellen. Tragisch.“
„Mag sein, aber wieso reißt du mich deswegen aus dem Schlaf? Daheim sterben die Leute, na und?“
„Wenn die Gute lediglich gestolpert und gegen die Kante geknallt wäre, läge ich auch noch im Bett. Da unsere Kollegen allerdings Spuren einer vorausgegangenen Misshandlung an dem Opfer feststellen mussten und der Junge irgendwas von einem Streit gestammelt haben soll, kam irgendwer auf dem Revier auf die bescheuerte Idee, die Mordkommission einzuschalten. Und da dir dort keiner das Wasser reichen kann, war es an mir, in der Höhle des Löwen vorbeizufahren, um dich abzuholen. Die Spusi wartet schon, und die Gerichtsmedizin kümmert sich um die Leiche.“
„Welche Art Misshandlungen? Und wer hat sich gestritten, der Sohn mit seiner Mutter?“
„Langsam, langsam, auch für mich ist es noch früh. Der Sohn behauptet, die ganze Nacht vor seinem PC gesessen und irgend so ein Multiplayergame gezockt zu haben. Wir prüfen das gerade, und…“
„Ein was?“, unterbrach ihn Lobinger.
„Ein Computerspiel im Internet zusammen mit anderen perspektivlosen Studienabbrechern, die nicht schlafen können.“
„Und was hat das mit der Toten zu tun?“
„Nichts, aber ich war ja noch nicht fertig. Zumindest saß der Sohn die ganze Zeit über mit Kopfhörern vor seinem PC und spielte, während irgendwer seiner Mutter den Schädel einschlagen wollte.“
„Ich dachte, die wäre an die Schrankkante geknallt?“, wunderte sich Lobinger.
„Ja, aber ihr Gesicht ziert eine interessante Anzahl von Schlagspuren, die wohl zum Sturz und damit erst zu dem Aufprall am Schrank geführt haben. Ihre Stirn ist von kleinen viereckigen Druckstellen übersäet.“
„Druckstellen?“
„Egal, darum kümmert sich die Gerichtsmedizin. Wir sollen zum Tatort, den Jungen noch mal befragen und die Ermittlung aufnehmen.“
Übermüdet und schlecht gelaunt trafen Lobinger und Müller in der von der Polizei bereits abgesperrten Wohnung ein, kämpften sich durch ein gutes Dutzend neugieriger Nachbarn und Medienvertreter und besahen sich den Tatort. Ein Kreideumriss im Flur zeigte die Lage der Toten, während eine kleine Blutlache im Bereich des aufgemalten Kopfes einzutrocknen begann. Müller zog Lobinger am Ärmel ins Wohnzimmer, wo der Sohn in sich versunken auf einem Stuhl hockte, während ein Beamter das Protokoll aufnahm.
„Hatten Sie Streit mit Ihrer Mutter?“, hielt sich Lobinger nicht lange mit einer Begrüßung auf, doch der Junge schüttelte nur den Kopf.
„Er war in seinem Zimmer und hatte lediglich laute Stimmen gehört, ohne sich näher dafür zu interessieren. Erst als er in den Flur kam, sah er seine Mutter am Boden liegen und verständigte uns“, erklärte stattdessen der Protokollführer.
„Welche lauten Stimmen?“, wandte sich Müller direkt an den Jugendlichen.
„Ich dachte, meine Eltern schreien sich mal wieder an, deshalb hatte ich dann auch Kopfhörer auf“, flüsterte der Sohn leise. Er war ungefähr 16 Jahre alt, blass, übergewichtig und hatte Ringe unter den Augen. Er schien die Nächte nicht zum ersten Mal vor dem PC verbracht zu haben.
„Wo ist dein Vater jetzt?“
„Keine Ahnung, in seiner Wohnung?“
„Ach, der wohnt gar nicht hier? Stritt sich aber ungefähr um fünf Uhr morgens mit deiner Mutter?“
Der Teenager zuckte nur mit den Schultern. „Die lassen sich grad scheiden. Keine Ahnung, ob der da war, ich hab nicht nachgeschaut. Irgendwelche Stimmen halt.“
Lobinger schüttelte den Kopf und flüsterte Müller zu, er möge sich mal um den Vater kümmern. Dafür ließ sich der von dem Sohn die Anschrift auf einen Zettel schreiben und verließ den Tatort.
Lobinger hingegen sah sich noch etwas in der Wohnung um und blieb vor einem Foto an der Pinnwand im Flur stehen, das neben einem handgeschriebenen Einkaufzettel hing. Die dort abgebildete Frau erinnerte ihn an seinen Traum, als er eine Tränen erstickte Stimme hinter sich hörte und sich umdrehte. Überrascht stand er der Frau auf dem Foto gegenüber, die nur in einen Morgenmantel gehüllt und mit rotgeränderten Augen auf den Kreideumriss im Flur starrte.
„Bringt die Frau hier raus“, hörte Lobinger einen Kollegen der Spurensicherung rufen, griff den Arm der Frau und führte sie ins Schlafzimmer der Toten.
„Darf ich fragen, was Sie hier tun und wer Sie sind?“
Doch die Frau schien ihn nicht gehört zu haben. Panisch versuchte sie sich aus Lobingers Griff zu befreien, um wieder in den Flur zu eilen, aber Lobinger zog sie zurück, drückte sie auf die Bettkante und wiederholte seine Frage. Da sah die Frau ihn überrascht an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brach aber stattdessen erneut in Tränen aus.
Doch schließlich erfuhr Lobinger, dass die ihm gegenüber sitzende Frau, die Nachbarin und Geliebte der Toten und damit auch der Grund für deren Scheidung war. Auch sie hatte den Streit gehört und war, als dieser plötzlich verstummte, von außen an die Wohnungstür getreten, hatte gelauscht, sich aber nicht getraut, mitten in der Nacht zu klingeln. Erst als der Notarztwagen und die Polizei kamen, war ihr bewusst geworden, dass ihre Freundin hinter dieser Wohnungstür verblutet war.
Auf Lobingers Frage, ob die Tote Feinde gehabt hatte, führte sie ihn wie in Trance in ihre Wohnung, hieß ihn sich setzten und holte aus einer Schrankschublade ein Päckchen Briefe hervor, deren Handschrift einen älteren Absender ahnen ließ. Tatsächlich handelte es sich um Droh- und Schmähbriefe des Gemeindepfarrers, der die gleichgeschlechtliche Beziehung der Toten mit deren Nachbarin als Teufelswerk ansah und mit dem Zorn Gottes drohte, für dessen Werkzeug er sich hielt. Lobinger hatte verstanden und machte sich auf den Weg zur Pfarrei. Unterwegs versuchte er seinen Kollegen telefonisch zu erreichen und erzählte dem von der lesbischen Beziehung der Toten.
„Müller, ich glaube, der Pfarrer war’s.“
„Bist du so verzweifelt Lobinger, dass du jetzt sogar die Kirche verdächtigst? Das glaubst du wohl selbst nicht?“, schien Müller eher amüsiert als erstaunt über die Mutmaßung seines Kollegen.
„Schalt mal nen Gang runter“, ärgerte sich Lobinger. „Der Pfaffe hat der Toten schriftlich mit dem jüngsten Gericht auf Erden gedroht.“
„Ja, aber wieso sollte der ausgerechnet mitten in der Nacht bei der Toten auftauchen, wenn auch noch deren Sohn da ist?“
„Keine Ahnung, drum fahr ich ja hin, um das heraus zu finden. Hast du den Ehemann ausfindig machen können?“
Müller bejahte und berichtete von der Vernehmung. Im Ergebnis hatte der Mann zwar einerseits geschockt über die Nachricht vom Tod seiner Frau reagiert, im Übrigen aber relativ emotionslos auf die Fragen geantwortet.
„Ich unterstellte ihm, dass ein Wort das andere gab und ihm im Streit mit seiner Frau irgendwann die Hand ausgerutscht ist. In der Panik über diese Tat habe er sich dann aus dem Staub gemacht, statt den Notarzt für seine verunglückte Frau zu rufen.“
„Ok, und was sagt er dazu“, fragte Lobinger ungeduldig.
„Dass er von 5 bis 7 Uhr in der Morgenmesse war. Damit konnte er unmöglich zeitgleich seine Frau erschlagen. Wer’s glaubt.“
Lobinger beschloss, das Alibi anlässlich seines Besuchs in der Pfarrei zu überprüfen und steuerte seinen Ford Taunus auf den Hof des Pfarrhauses. Unterwegs hatte er sich in der Gerichtsmedizin erkundigt, ob man bereits den genauen Todeszeitpunkt ermitteln konnte. Die Ärzte gingen von 6 bis 7 Uhr am Morgen aus, was sich mit den Zeitangaben der Nachbarin und des Sohnes deckte, aber eine Menge Spielraum für die Frage nach einem Alibi ließ.
Die alte Haushälterin des Pfarrers teilte Lobinger mit hoher Stimme mit, dass die Messe bereits zu Ende sei. Der brummte nur, dass er sonst auch nicht hier wäre und fragte nach dem Pfarrer. Der würde gerade zusammen mit dem Küster in der Kirche die Kerzen erneuern, erklärte die Haushälterin und bot an, den Vater über den Besuch des Kommissars zu informieren. Lobinger bat darum und versprach, derweilen in der Stube zu warten. Doch kaum, dass die Haushälterin die Wohnung verlassen hatte, inspizierte er den privaten Bereich des Pfarrers und fand eine Tafel mit Fotos aus der Gemeinde, wo er zu seiner größten Überraschung die Nachbarin der Toten auf fast jedem Foto erkennen konnte. Allem Anschein nach ging es dem Kirchenmann weniger um die moralische Verfehlung lesbischer Liebe als vielmehr um die eifersüchtige Wut des unerfüllten eigenen Verlangens.
Gerade noch rechtzeitig verließ Lobinger das Privatgemach des Pfarrers, als dieser den Flur betrat und fast mit dem Kommissar zusammengestoßen wäre. Mit der Suche nach einer Toilette überspielte Lobinger das peinliche Gefühl, auf frischer Tat ertappt worden zu sein und bat nach Rückkehr vom Klo den Pfarrer um ein kurzes Gespräch.
Wie erwartet hatte der sich am Morgen ausschließlich in der Kirche aufgehalten, was die Haushälterin bestätigte. Solange die Gerichtsmedizin keinen genauen Todeszeitpunkt herausfand, blieb Lobinger nichts anderes übrig, als dem Geistlichen zu glauben. Auf die Drohbriefe angesprochen, stritt der Pfarrer ab, jemals auch nur eine Zeile an die Tote geschrieben zu haben. Um ein Haar vergaß Lobinger, sich nach dem Besuch des Ehemanns der Toten bei der Morgenmesse zu erkundigen und erfuhr zu seiner Überraschung, dass dessen Alibi erfunden war.
„Der hat dir einen Bären aufgebunden“, erzählte er Müller, als sie sich abermals vor dem Haus des Ehemanns trafen, um ihn diesmal gemeinsam zu befragen.
„Der ist raus zum Weiher, angeln“, teilte ihnen ein Nachbar des Gesuchten mit, als sie vergeblich an dessen Tür klingelten.
Der Weiher war eine ehemalige Kiesgrube, in der nach Beendigung des Kiesabbaus Fische ausgesetzt wurde, doch von dem Ehemann war weit und breit keine Spur.
„Meinst du, der Typ schlägt seine eigene Frau nieder und lässt sie verbluten, während sein Sohn im Nebenzimmer sitzt?“
Lobinger kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich würde ihm nicht unbedingt Vorsatz unterstellen, aber bei Eifersucht im Affekt ist schon Manchem die Hand ausgerutscht.“
„Nee, der war nicht eifersüchtig. Ich habe mir nach unserem Telefonat noch mal den Jungen vorgenommen und gefragt, ob es bereits früher zu Tätlichkeiten zwischen seinen Eltern wegen dieser Nachbarin gekommen wäre. Doch der meinte nur, dass seinem Vater diese Lesbensache egal gewesen wäre, die hätten nur wegen des Geldes gestritten.“
Lobinger sah seinen Kollegen erstaunt an und grübelte.
„Wollte der keinen Unterhalt zahlen?“
„Nein, der Sohn meinte, sein Vater hätte Schulden gehabt und deshalb seine Mutter angepumpt.“
„Dafür bringt man keinen um.“
„Eben, und doch suchen wir hier nach dem Mörder.“
„Nein, wir gehen nur jeder Spur nach und wollen eine Antwort, wieso der Typ dir ein falsches Alibi gegeben hat.“
Schweigend setzten sie ihren Weg fort und umrundeten langsam den Weiher. Ein Käuzchen rief, hier und da raschelte es im Gras, doch von dem Angler war noch immer nichts zu sehen. Trotz des vorangeschrittenen Morgens hielt sich der Bodennebel über den Wiesen und verlieh dem Ort eine zeitlose Traurigkeit, die Müller schaudern ließ.
„Unheimlich hier, findest du nicht?“
Doch Lobinger antwortete nicht, sondern steckte sich eine Zigarette an und ging näher an den Uferrand, wo er sich plötzlich bückte und ein daumendickes Hanfseil aufhob.
„Ja, was ist das denn?“, fragte er mehr sich selbst und zog an dem Seil, dessen anderes Ende hinter Nebelschwaden im Wasser verschwand. „Müller, lang mal her und hilf mir ziehen.“
Gemeinsam mühten sie sich, das Seil Stück für Stück einzuholen, während es in ihre Handflächen schnitt und in der Stille des Sees ächzte. Allmählich sahen sie einen dunklen Schatten auf dem Wasser durch den Nebel treiben und wenige Minuten später erkannten sie einen Körper, der verfangen in einem Fischernetz leblos im Wasser trieb. Das Ende des Netzes hatten sie in der Hand und zogen die zweite Leiche des Tages ans Ufer.
„Da setzt dich nieder. Ist das der Ehemann?“
Müller nickte nur stumm.
Während Lobinger die Kollegen im Innendienst über den Toten informierte, zog Müller einen durchweichten Zettel aus dessen Jackentasche, den er auf der Wiese ausbreitete.
„Da schau mal an, ein Schuldschein“, wies er Lobinger auf den handschriftlichen Fetzen Papier hin, dem zu entnehmen war, dass der Tote einem Martin Strasser 125.000 Euro schuldete.
„Strasser? Klingelt da was bei dir?“
Müller überlegte, nickte und wählte nochmals die Nummer vom Revier. „Jungs, prüft mal bitte, ob der Inhaber der Strasser GmbH mit Vornamen Martin heißt.“
„An den dachte ich auch, wenn ich das verwaschene Logo hier oben richtig deute. Schrott und Sondermüll GmbH Strasser. Wofür hat der dem Toten so viel Geld geliehen?“
„Mich würde eher interessieren, wieso der hier tot im Wasser treibt, statt für die Rückzahlung zu sorgen oder meinst du, der Strasser war es leid, länger auf sein Geld zu warten?“
Lobinger verneinte, denn so doof wäre niemand, sein Opfer in einem Fischernetz auf dem See treiben zu lassen, ohne den verräterischen Schuldschein zu vernichten.
„Vorausgesetzt, der Mörder wusste, dass der Tote diesen Schein bei sich trug“, gab Müller zu bedenken, doch Lobinger zweifelte noch immer, dass es sich überhaupt um Mord handelte.
„Vielleicht hat der sich auch aus plötzlicher Reue über seine Torschusstat heute Morgen selbst ertränkt?“
Da drehte Müller die Leiche um und wies auf ein in dessen Rücken steckendes Messer.
„Wohl kaum.“
Da klingelte Lobingers Diensttelefon. Stumm nickend hörte er seinen Kollegen am anderen Ende der Leitung zu. Schließlich legte er auf, rieb sich die Augen und stöhnte.
„Strasser stimmt, der Inhaber heißt tatsächlich Martin und kannte den Toten hier. Das geht aus einer Akte hervor, als die sich vor Monaten mal gegenseitig ein Alibi anlässlich einer Kneipenschlägerei gaben. Aber spannender ist die Frage nach den Motiven beider Morde. Gerade erfuhr ich, dass die Tote aus der Wohnung über ein beträchtliches Vermögen verfügte, dass ohne die drohende Scheidung an den Ehemann, also den Typ hier gegangen wäre.“
„Und jetzt erbt der Sohn alles? Du meinst…?“
„Nein“, winkte Lobinger ab. „Als Alleinerbin ist die Freundin der Toten, also deren Nachbarin eingesetzt. Dem Sohn verbliebe nur der Pflichtteil, vorausgesetzt, die Scheidung ist durch.“
„Dann hätte die Nachbarin sogar zwei Motive und kein Alibi.“
„Das ist aber noch nicht alles. Die Nachbarin ist gar keine Vollblutlesbe, sondern die Exfreundin von, jetzt halte dich fest, Martin Strasser. Komischer Zufall oder?“
Müller blieb überrascht stehen und starrte seinen Kollegen mit großen Augen an.
„Vielleicht sollten wir uns doch mal diesen Strasser näher ansehen. Doch vorher lassen wir die Nachbarin aufs Revier bringen.“
Wehmütig dachte Lobinger an die Frau in seinem Traum, bevor er seine Kollegen vom Morddezernat bat, die Nachbarin der Toten festzunehmen. Als die Mitarbeiter der Spurensicherung am Weiher eintrafen, machten sich Lobinger und Müller auf den Weg zur Strasser GmbH.
Diese lag am Ende des städtischen Industriegebiets und schien, wie nicht anders am Sonntag zu erwarten, menschenleer. Zweimal umrundeten die Beamten das Gelände in Lobingers Dienstwagen, bevor sie sich vom Revier die Privatadresse von Strasser geben ließen und diesen dort aufsuchten. Martin Strasser war ein stämmiger Mittvierziger, dem die harte körperliche Arbeit in seinem Schrottwerk anzusehen war. Entsprechend fest fiel auch dessen Händedruck aus. Müller rieb sich verstohlen die Finger.
Sein Kollege hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf, sondern konfrontierte Strasser mit seiner Vermutung, dass er oder dessen Exfreundin mindestens einen Menschen heute Morgen umgebracht hätten. Zu seiner Überraschung brach Strasser in schallendes Gelächter aus, hielt sich den Bauch und wischte sich schließlich Tränen aus den Augenwinkeln.
„Zusammen mit meiner Exfreundin? Das ist ja köstlich.“
„Stört es Sie, wenn ich nicht mitlache?“, fragte Lobinger irritiert und sah Müller mit hochgezogenen Augenbrauen an. Der griff in seine Gesäßtasche, wo er Handschellen aufbewahrte, doch Lobinger gab ihm ein Zeichen, noch abzuwarten. Strasser konnte sich kaum beruhigen, noch immer fing er wieder und wieder an zu kichern und lachte, bis er endlich und völlig außer Puste die Herren in sein Haus bat.
„Entschuldigen Sie, aber das ist zu absurd. Wenn ich jemanden umbringen würde, wie gesagt – wenn –, dann einzig und allein meine Exfreundin selbst. Und die scheint ja unglücklicherweise noch zu leben, wenn ich Sie richtig verstanden habe.“
Müller nickte. „Dann können Sie uns sicher auch sagen, wo Sie heute zwischen 6 und 7 Uhr morgens gewesen sind.“
„Natürlich hier, im Bett.“
„Wofür es Zeugen gibt.“
„Natürlich nicht, ich lebe allein und wusste nicht, dass man fürs Schlafen Zeugen braucht.“
„Schadet zumindest nichts“, schaltete sich Lobinger ein, während er sich im Haus des Schrott-Königs, wie Strasser an den Stammtischen der Stadt genannt wurde, umsah. Es war dezent, aber umso edler eingerichtet, was nicht nur von Geschmack, sondern auch Stil zeugte. Nichts, was Lobinger diesem grobschlächtigen Schrotthändler zugetraut hätte.
„Das hat noch meine Exfreundin eingerichtet“, interpretierte Strasser den Rundblick des Kommissars richtig und bot den Beamten Kaffee an.
Lobinger lehnte ab, fragte aber, ob man hier rauchen dürfe und steckte sich, noch bevor Strasser nicken konnte, eine Zigarette an.
„Sie haben also keinen Kontakt mehr zu Ihrer Exfreundin. Wissen Sie um deren neue Beziehung?“
„Und ob“, nickte Strasser, wobei jedes Lächeln aus seinem Gesicht weggewischt war. „Ich kenne die neue Schlampe, mit der sich meine Ex vergnügt. Das ist die ehemalige Frau eines Kunden von mir.“
„Der Ihnen 125.000 Euro schuldet.“
„Genau, Sie sind gut informiert.“
„Das ist unser Job“, nickte Müller und zog den noch immer triefenden Schuldschein aus einer Asservatentüte hervor.
„Die ich hoffe, auch noch zu bekommen. Wozu hat dessen Frau Millionen.“
„Hatte. Sie ist tot, ebenso wie deren Mann, Ihr Schuldner, den wir gerade aus dem Kiesweiher gezogen haben. Können Sie hierzu etwas sagen?“
Strasser sah die beiden Kommissare überrascht an, das Lachen von eben schien vergessen, der Schock wirkte echt.
„Was soll ich dazu sagen? Ich wusste bis eben nichts von diesen Morden.“
„Wer sprach von Morden?“, unterbrach ihn Lobinger, doch Strasser winkte müde ab.
„Geschenkt. Keine Ahnung, woran die gestorben sind, doch wenn die Kripo an einem Sonntagvormittag hier auftaucht und ein Alibi von mir will, muss ich wohl von einem Verbrechen ausgehen. Bitter, da die kurz vor einer Versöhnung standen.“
Müller horchte interessiert auf. „Was meinen Sie?“
„Dass sich Manni und seine Inge, also die beiden Toten wieder versöhnen wollten. Zumindest hat mir Manfred das erzählt, als ich ihn auf die Schulden ansprach, hoffte der doch, seine Frau würde dafür aufkommen.“
„In jedem Fall erbt Ihre Exfreundin den Großteil des Vermögens ihrer Gespielin.“
„Na wenigstens habe ich dann endlich Ruhe“, stöhnte Strasser auf und ließ sich in einen seiner Sessel fallen.
Auf den fragenden Blick der Kommissare hin erzählte Strasser, dass er seit einigen Wochen Erpresserbriefe erhielt, die mit der Offenlegung firmeninterner Details drohten, wenn er nicht regelmäßig einen bestimmten Betrag an ein Nummernkonto überweisen würde. Er vermutete seine Exfreundin hinter den Briefen, doch die Handschrift war ihm unbekannt. Lobinger bat um einen der Briefe. Als Strasser diese holen ging, nutze Müller die Zeit für eine neue Theorie.
„Wenn sich die beiden Toten versöhnen wollten, hieße das doch auch, dass der Mann der Toten weiter Begünstigter ihres Testaments geblieben wäre. Dann ginge die Freundin leer aus. Wenn das mal kein weiteres Motiv ist. Gut, dass die Jungs sie aufs Revier bringen.“
In diesem Augenblick klingelte erneut Lobingers Telefon, und ein Kollege teilte knapp mit, dass sie bei dem Festnahmeversuch der besagten Nachbarin diese vergiftet in ihrem Bett vorgefunden haben.
Lobinger musste sich nun auch setzen und nahm das Wasser, das ihm Müller aus der Küche holte, dankend entgegen.
„Ist Ihnen nicht gut“, erkundigte sich Strasser, der gerade mit einem Stoß Briefe in der Hand zurück kam.
Lobinger winkte nur müde ab, während Müller nach einem der Briefe griff. Auf einem pastellfarbenen Blatt Papier fanden sich nur wenige handgeschriebene Worte, die unmissverständlich zu einer weiteren Zahlung von 5.000 Euro aufforderten.
„Sehen Sie, ich bin erpresst worden, ein Motiv mehr, aber ich schwöre Ihnen, ich weiß weder, wer mir diese Briefe schickt, noch habe ich irgendwen umgebracht“, brummte Strasser, und Lobinger nahm seinem Kollegen den Zettel aus der Hand.
„Und Sie erkennen diese Handschrift nicht als die Ihrer Exfreundin wieder?“, fragte er Strasser. Der schüttelte den Kopf.
„Also die Tote schrieb auch anders“, erinnerte sich Lobinger an die Einkaufsliste an der Pinnwand im Flur der Ermordeten. Da schaute ihn Müller plötzlich mit großen Augen an, riss ihm den Brief förmlich aus der Hand und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
„Dass ich nicht eher darauf gekommen bin, na klar, das ist die Schrift von…
In diesem Augenblick blickte Niels auf einen schwarzen Bildschirm. Die Spielszene im Haus des Schrotthändlers war jäh unterbrochen und die Ankündigung seines Mitspielers, das Rätsel gelöst zu haben, verhallte in seinem Kopfhörer. Stille, dann plötzlich rumorte auf dem Gang ein Staubsauger, seine Mutter schien aufgestanden zu sein und putzte die Wohnung. Wie oft hatte er ihr gesagt, sie solle das Kabel in der Flursteckdose nicht ziehen, bevor sie ihn nicht gefragt habe. Seit Tagen spielte er im Internet dieses Multiplayer Kriminalspiel und war noch nie so nah an der Auflösung des Falls wie gerade eben. Seine Figur des Lobingers war ihm mehr ans Herz gewachsen, als sonst irgendwer auf dieser Erde und ausgerechnet seine unfähige Mutter beendete das Game, bevor er den Spielstand abspeichern konnte. Er war halb wahnsinnig vor Wut und lief mit der Tastatur in der Hand auf den Flur, trat mit aller Kraft auf den Netzknopf des Staubsaugers und schrie seine Mutter an, was ihr einfiele, ihm den Strom zu kappen. Diese sah ihn nur verwundert an, schüttelte den Kopf und forderte ihren Sohn auf, lieber mal sein Zimmer aufzuräumen. Da holte dieser mit der Tastatur aus, traf seine Mutter frontal im Gesicht, sie stürzte und schlug dumpf an der Kannte des Schuhschrankes auf….
Tag der Veröffentlichung: 22.10.2009
Alle Rechte vorbehalten