SUIZID
»Achte auf den Kernschatten«, rief ihr Marc zu, während er den Reflektorschirm über die kleine Modelfigur inmitten der Hohllkehle hielt. »Auf diese Art vermeidest du harte Kanten und die Übergänge zwischen hell und dunkel werden fließend.«
Leonie war beeindruckt und richtete das Stativ in Augenhöhe der Figur auf, kontrollierte die Kameraeinstellungen und löste aus. Minuten später in der Dunkelkammer erschien das hässliche Gesicht dieser kleinen afrikanischen Götzenstatue in ungeahnter Plastizität auf dem Fotopapier, das Marc aus der Entwicklungsflüssigkeit zog.
»Der Hintergrund tritt zugunsten der klaren Linien des fotografierten Objekts zurück und bildet lediglich einen farbgeeigneten Rahmen für das Motiv selbst«, dozierte er über das Ziel seiner kleinen Ausleuchtungsübung kurz zuvor im Atelier.
Leonie freute sich über das Ergebnis und noch mehr über Marcs Vorschlag, hoch in die Küche zu gehen und bei einem Kaffee eine kurze Pause zu machen.
Auf dem Weg dahin fiel ihr ein gerahmtes Schwarzweißfoto in einem der Regale der Dunkelkammer auf, das einen Teenager von vielleicht 17 Jahren mit freiem Oberkörper, hochgekrempelten Jeans und einem Sonnenhut zeigte, der verträumt auf einem Grashalm kauend ins Nichts hinter dem vermuteten Fotografen schaute.
»Hübscher Bursche da unten auf dem Foto«, sagte sie zu Marc, als sie in der Küche ankamen und er ihr einen Topf Kaffee hinstellte.
Dieser tat so, als müsse er überlegen, welche Männerfotos er in seinem Studio beherbergte, während er sich setze.
»Stimmt.«
Leonie sah ihn erwartungsvoll an und hoffte auf mehr als nur diese wortkarge Erwiderung, doch Marc schwieg.
»Stimmt? Kenn ich ihn? Schaut nach einem älteren Bild aus, oder wann waren lange Haare bei Männern modern?«, lächelte sie ihn aufmuntern an, neugierig auf das Geheimnis hinter dem Foto. Marc jedoch zögerte.
»Das ist Martin, mein Bruder, oder besser das war er. Es ist das letzte Bild, bevor er starb. Ist ewig her.«
Leonie war bestürzt und suchte nach Worten der Entschuldigung, wollte sie doch mit ihrer Frage keine alten Wunden aufreißen, doch Marc winkte ab.
»Wie gesagt, ist ewig her.«
»Du hast mir nie erzählt, dass du einen älteren Bruder hattest«, zögerte sie, das Gespräch fortzusetzen.
Marc nickte, stand auf, suchte im Kühlschrank nach Milch, setzte sich wieder, erhob sich abermals, entnahm der Spüle einen kleinen Löffel, rührte die Milch in seiner Tasse um, setzte sich erneut und holte Luft.
»Das war im Sommer, ein Jahr nachdem meine Mutter wieder geheiratet hatte. Den Vater von Trish, bevor Ben kam.«
»Wie alt warst du damals?«
»Noch nicht ganz Fünfzehn. Wir lebten seit gut einem Jahr von Vater getrennt bei unserer Mutter. Die Scheidung war laut, unschön und schmerzhaft. Martin litt sehr unter der Trennung von unserem Vater. Er war dessen Erstgeborener und hatte anders als ich ein sehr gutes Verhältnis zu ihm. Doch das Sorgerecht bekam meine Mutter, worauf sich mein Bruder noch mehr als sonst abkapselte. Ich glaube, sie hatte seinem Wunsch, bei unserem Vater zu bleiben, nur widersprochen, um ihrem Ex-Mann eins auszuwischen. Dass sie meinen Bruder damit traf, wurde ihr zu spät bewusst, wenn sie das überhaupt jemals erkannt hat.« Leonie bemerkte einen bitteren Zug um Marcs Mund.
»Und woran ist er gestorben?«
»An einem Sprung vom Dach des St. Michaels Turmes in meiner Heimatstadt, sehr romantisch.«
Leonie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Erst dachten wir, es war ein Unfall, eine Mutprobe im Vollrausch oder so was, aber die Obduktion ergab keinen Blutalkohol, und eine Tagebuchnotiz, die man später im Rahmen der Ermittlungen fand, bestätigte, dass er sich umgebracht hatte.«
In Leonies Gesicht war ein stummes Warum gemeißelt.
»Ganz sicher bin ich mir nicht. Meine Mutter kehrte die ganze Sache ziemlich rasch unter den Teppich und ließ nicht nur mich, sondern auch unseren Vater im Unklaren, was letztlich die Gründe waren. Vielleicht war er auch nur unglücklich verliebt.«
»Glaubst du, er gab ihr die Schuld an der Scheidung?«
»Mag sein, aber es kamen wohl einige Dinge zusammen, nicht zuletzt die Hochzeit unserer Mutter mit Mathis, meinem Stiefvater, den mein Bruder nie akzeptiert hatte.«
»Wie war euer Verhältnis?«
»Zu meinem Stiefvater?«
»Nein zu deinem Bruder.«
Marc überlegte.
»Er war nur zwei Jahre älter. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich mochte ihn, auch wenn man sich bei ihm nie ganz sicher sein konnte, was er von einem dachte. Er sprach nicht viel und verbrachte die meiste Zeit am liebsten allein. Einzig mit unserem Vater unternahm er manchmal an den Wochenende Ausflüge zum Angeln, in den Wald oder bastelte in dessen Werkstatt an irgendwas herum.«
»Ohne dich?«
»Ja, meistens nur die zwei. Ich hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu meinem Vater, was sich nach dem Selbstmord noch stärker abgekühlt haben dürfte, zumindest habe ich seit der Beerdigung nichts mehr von ihm gehört.«
Leonie schüttelte traurig den Kopf.
»Ja, ein Selbstmord kann eine ganze Familie zerstören. Bei uns wäre es auch fast soweit gekommen.«
Marc sah sie überrascht an, nahm ihre Hand und zog sie auf seinen Schoß.
»Was meinst du?«
»Mein Vater ließ sich scheiden, als ich ungefähr vier Jahre alt war. Allerdings gegen den Willen meiner Mutter. Er hatte eine andere und ließ meine Mutter zusammen mit mir und meiner drei Jahre älteren Schwester allein in einem Haus voller Schulden und einer völlig vagen beruflichen Zukunft.«
Marc wartete schweigend ab.
»Meine Mutter war erst kurz vor der Geburt meiner Schwester in diese Einöde, wo wir heute noch wohnen, gezogen, nachdem mein Vater aus seiner Umgebung nicht weg wollte. Sie war gerade fertig mit ihrer Ausbildung zur Altenpflegerin und hatte meinen Vater kurz vor ihrem Abschluss an der Berufsschule kennengelernt, wo dieser sich zum Masseur ausbilden ließ. Da war meine Mutter noch verlobt.«
Marc beugte sich interessiert vor und schob Leonie von seinem rechten auf den linken Oberschenkel.
»Doch die Verlobung hielt keinen Sommer, in dem mein Vater nichts unversucht ließ, meine Mutter für sich zu interessieren, letztlich mit Erfolg.«
»Oder auch nicht«, dachte Marc laut.
»Oder auch nicht, zumindest löste die dumme Henne die Verlobung, zog bei ihrem damaligen Freund aus und bei meinem Vater oder besser dessen Familie ein. Allein da hätte sie aufwachen müssen, denn meine Großmutter, also Vaters Mutter, ist ein bösartiger Drache und ließ meine Mutter täglich spüren, für welchen Fehler sie diese Verbindung hielt.«
»Doch deine Mutter hatte die rosarote Brille auf?«
»Das und sie war schwanger. Nicht, dass mein Vater keine Kinder wollte, doch ohne Job, noch nicht einmal ganz zwanzig und ohne eigene Wohnung, war das kaum oberste Priorität auf seiner Wunschliste.«
»Wen wundert’s«, zeigte Marc Verständnis und sah nicht, wie sich Leonies Blick verfinsterte.
»Egal, zumindest mussten sie schnellstmöglich heiraten, bezogen eine baufällige Hütte, aus der in den letzten 20 Jahren unser Haus wurde, und sahen sich beide nach Jobs um. Meine Mutter fand im naheliegenden Kurhaus eine Anstellung und bat dort, auch ihren Mann als Masseur zu übernehmen. Die Kurleitung hatte zwar Interesse, aber kein Budget für zwei Stellen, so dass meine Mutter auf ihre Anstellung verzichtete und die daraufhin meinen Vater nahmen. Dort ist er heute noch und dort hat er auch seine jetzige Frau kennengelernt. Doch das kam später.«
Leonie stand auf und holte sich ein Wasser, nahm wieder am Tisch Platz und schloss kurz die Augen, um sich besser erinnern zu können.
»Meine Mutter hingegen tingelte von Altenheim zu Altenheim und half aus, wo gerade Not am Mann war bis kurz vor der Entbindung. Als sie wenige Wochen nach der Geburt meiner Schwester wieder arbeiten wollte und bei ihrer Schwiegermutter anfragte, ob sie auf den Säugling aufpassen könne, lehnte diese das schlichtweg ab und empfahl ihr, das Kind doch zur Adoption freizugeben.«
»Nicht dein Ernst?«
»Leider schon, zumindest war auch mein Vater keine große Hilfe, kümmerte er sich weder um den Haushalt noch um seine Tochter, stattdessen suchte er, so oft es ging, Abwechslung außerhalb der Probleme zuhause, weit weg von schreiendem Kleinkind und depressiver Ehefrau.«
»Und wie ging es weiter?«
»Das lief ein, zwei Jahre so. Zum Glück fand meine Mutter eine Freundin, die gern tagsüber auf meine Schwester aufpasste, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. So arbeitete meine Mutter wieder halbtags in den Pflegeheimen und kam aber hinten und vorn nicht mit dem Geld und den Hypothekenbelastungen des Hauses zurecht. Mein Vater gab seinen Verdienst mit vollen Händen aus und kümmerte sich einen Scheiß um die Konsequenzen. So kam meine Mutter auf die Idee, die Altenpflege nicht mehr als unterbezahlte Aushilfskraft anzubieten, sondern sich mit einem mobilen Pflegedienst selbständig zu machen.«
»Respekt!«
Marc sah Leonie bewundernd an.
»Und das gegen den Widerstand meines Vaters, dessen Familie und der meisten engstirnigen Bewohner dieses Kaffs. Das Blöde war nur, dass sie kurz nach dieser Entscheidung abermals und diesmal mit mir schwanger wurde.«
»Unfall oder Wunschkind?«
»Weder noch. Heute würde man das eine eheliche Vergewaltigung nennen, doch damals krähte kein Hahn danach. Mein Vater kam eines Abends mal wieder sternhagelvoll nach Hause, packte meine Mutter und verging sich noch in der Küche an ihr. Danach hat er sie nie wieder angefasst.«
Marc griff nach seiner Zigarettenschachtel und ging ans Fenster. Er brauchte fünf Minuten Pause, doch Leonie erzählte unbeirrt weiter.
»Mit mir wurden die Probleme nicht kleiner, das Haus ertrank noch immer in Schulden und mein Vater ließ sich quasi nur noch zum Schlafen daheim blicken und selbst das immer seltener. Meine Mutter konnte nur ahnen, wo er sich die Nächte vertrieb, doch sie schloss ihret- und unsretwegen die Augen.«
Marc zog an seiner Zigarette, atmete den Rauch tief ein und blies ihn langsam zum Fenster hinaus.
»Und wie kam es zur Scheidung?«
»Irgendwann musste mein Vater genug von seinem Doppelleben gehabt haben, zumindest begann er ganz offiziell und für alle im Dorf sichtbar eine Beziehung zu einer Kollegin vom Kurhaus, zog bei uns aus und reichte die Scheidung ein. Davon wollte meine Mutter jedoch nichts wissen und schrieb bis nach Rom an den Vatikan, er möge verhindern, dass eine katholisch geschlossene Ehe zerstört werden würde. Das war ihr ein größeres Gräuel als weiter mit diesem Mann zusammen zu leben, aber meine Mutter ist sehr religiös und glaubte an das Sakrament der Ehe.«
»Und wie hat der Papst reagiert?«
»Die haben nie geantwortet, was dachtest du denn? Zumindest wurde sie nach drei Jahren zwangsgeschieden und brach zusammen. Da stand sie nun. Ihr Leben lag in Scherben, zwei minderjährige Büchsen am Hals, ein baufälliges Haus, das ihr zwar vom Gericht zugesprochen wurde, ihr aber den letzten Heller aus der Tasche zog und einen Job, der sie 14 Stunden am Tag forderte. Das geht an die Grenzen.«
»Zahlte dein Vater gar nichts mehr?«
»Nur für uns auf Mahnung. Meine Mutter hingegen hat wegen des Hauses auf ihren Unterhalt verzichtet. Sonst wäre es zwangsversteigert und ihm die Hälfte ausbezahlt worden.«
»Und wer hat sich in eurer Familie nun umgebracht?«
»Niemand zum Glück, aber damals stand meine Mutter psychisch und physisch vor dem Aus. Sie hatte hundert Wege überlegt, sich das Leben zu nehmen. Sie liebte diesen Sack von meinem Vater und hat die Trennung nie überwunden. Sie hätte ihm alles verziehen, wenn er nur zurück käme, hat ihn auf Knien bei uns in der Küche angefleht, sich erniedrigt und wochenlang nur geheult, doch all das half natürlich nichts.«
»Aber wie habt ihr als Kinder das verarbeitet?«
»Wahrscheinlich gar nicht, aber ich erinnere mich nur schwach an die Zeit. Doch meine Schwester hat bei Jungs seitdem ihren Knacks weg. Sie sucht sich stets Typen, die sie wie Dreck behandeln, die sie hintergehen und fallen lassen und gibt sich die Schuld dafür. Ganz meine Mutter.«
»Was hat deine Mutter vom Schlussmachen abgehalten?«
»Wieder ihr Glauben und die Angst vorm Jüngsten Gericht. Natürlich auch wir, aber ich fürchte, wir waren damals eine größere Belastung als denn eine Hilfe für sie und Freunde, die ihr hätten beistehen können, hatte sie kaum. Deshalb hatte sie auch kurz darüber nachgedacht, uns mitzunehmen.«
»Wohin?«
»Na wohin schon, sie konnte uns unmöglich allein zurücklassen. Ihre Eltern selbst lebten nicht mehr, ihre Geschwister waren weit weg und ihre Freundin, bei der meine Schwester aufwuchs, hatte einen neuen Lebensgefährten, der keine Kinder mochte. Sie wollte erst uns und dann sich mit einem Schlafmittel vergiften, doch dieser Gedanke verging, und wir hatten Glück.«
Marc schwieg betroffen, griff nach Leonies Händen, küsste sie und flüsterte, dass er froh sei, dass sie noch lebe.
»Ja, das bin ich auch, doch so langsam verzogen sich auch die Schatten. Sie lernte Franz kennen, der sich wie ein Vater um uns Mädels kümmerte, ihr Geschäft lief allmählich an, und sie ging jeden Morgen joggen, um die Leere in sich zu vertreiben. Nur schläft sie seitdem kaum, hat einen Reizdarm und diverse andere Beschwerden. Psychosomatisch, wenn du mich fragst.«
Marc wusste nichts darauf zu erwidern, erstmals kamen ihm seine eigenen familiären Probleme kleinlich vor und die Scheidung seiner Eltern wie das Normalste der Welt. Allerdings konnte all das auch den Tod seines Bruders nicht rückgängig machen, doch hier galt es nicht, Schicksale gegeneinander aufzurechnen. In diesem Augenblick hatte er fast das Gefühl, in Leonie verliebt zu sein, die ihrerseits aufs Klo musste und die Küche verließ.
Im Bad blieb sie vor dem Spiegel stehen, starrte sich selbst ins Gesicht und sah, wie ihr plötzlich Tränen die Wange hinab rannen. Sie fühlte sich in diesem Moment ihrer Mutter sehr nah und hatte doch nicht einmal eine Ahnung von dem Schmerz, den diese jahrelang durchlitten haben musste. Hätte sie die Kraft für all diese Erniedrigungen gehabt? Leonie wusste keine Antwort und griff nach einem Handtuch, um sich das Gesicht abzutrocknen. Als sie es wieder von ihren Augen nahm, sah sie, dass sie sich mit einem T-Shirt das Gesicht abgewischt hatte. Es war Pauls Shirt, sie erkannte es an seinem Deo. Plötzlich drückte sie es sich wieder ins Gesicht, sog Pauls Duft ein und blieb eine Weile mit dem T-Shirt in der Hand stehen, bevor sie es zusammenlegte, gerade strich und fast zärtlich zurück auf den Wäschekorb legte.
Marc saß noch immer in der Küche, hatte sich ein Bier aufgemacht, hielt Leonie bei deren Rückkehr die halbleere Flasche hin und steckte sich eine weitere Zigarette an.
»Du rauchst zuviel«, ärgerte sie sich und nahm einen Zug aus der Flasche. Marc blies statt einer Antwort genussvoll den Rauch aus dem Fenster, drückte die Kippe aus, sah Leonie an, und als sie nickte, nahm er sie bei der Hand, öffnete die Küchentür, löschte das Licht und zog Leonie hinter sich in sein Zimmer, schloss von innen ab und zog ihr die Bluse über den Kopf. Sie streifte sich den Rock herunter, öffnete seinen Gürtel, schob ihm die Hose auf Kniehöhe und wenige Sekunden später landeten sie nackt in seinem Bett.
Paul staunte nicht schlecht, als er Leonie am nächsten Morgen beim Betreten des Bades in der Pyjamajacke von Marc vorfand. Sie versuchte ein Lächeln, während sie sich vor dem Badspiegel die Zähne putzte.
Texte: - Roman bestellbar unter ralf.during@gmail.com -
Tag der Veröffentlichung: 05.09.2009
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