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ABSCHIED

Hanna stand wie versteinert mit einem Bund weißer Rosen in der ersten Reihe, während der Sarg langsam herab gelassen wurde. Ihre Augen waren leer, keine Träne war mehr übrig, die letzte nach zwei Tagen ohnmächtigen Weinens endlich versiegt. Jetzt umfasste sie Kälte, eine Unendlichkeit an Schmerz und der übermenschliche Wunsch, sich zu Franz in diese tiefe, nasse Grube, in die Dunkelheit dieser Gruft zu werfen, sich daneben zu legen und nie mehr aufzuwachen. Fast war ihr, als ob sie einen zaghaften Schritt nach vorn, dem erdigen Loch entgegen getan hätte, als sie Leonies Hand in ihrer spürte und diese sie festhielt. Sie konnte sich nicht mehr an die Worte des Pfarrers erinnern, nicht mehr an die Menschen, die ihr kondolierten, ihr, die nur eine Freundin war, aber alle wussten es besser. Einzig die beiden Söhne von Franz standen abseits und verließen nach der Beerdigung ohne ein weiteres Wort den Friedhof.
Sie war wie immer etwas zu spät dran, als sie im Krankenhaus ankam, um Franz abzuholen. Abermals kreiste sie einige Minuten auf dem Parkplatz bis eine Lücke frei wurde und der Lift bewegte sich wie zähflüssiges Wachs, während sie ungeduldig auf und nieder wippte die Stockwerksanzeige im Blick. Rechts, links, dann die zweite nochmals rechts, das letzte Zimmer am Gang, sie kannte den Weg. Als sie etwas außer Atem die Tür erreichte, sie öffnete und ins Zimmer trat, fand sie dieses leer. Die Zimmernummer stimmte, Franz musste bereits entlassen sein und würde auf sie warten, doch wo?
Auf der Suche nach einem Besucherraum bemerkte sie nicht, wie die Schwestern ihre Köpfe zusammensteckten und hinter ihr her flüsterten, auf sie zeigten und traurig den Kopf schüttelten, doch keine kam, um Hannas Suche zu beenden. Der Stationsarzt war es schließlich, der sie bat, sich zu setzen, ihre Hand nahm und ihr versicherte, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hatten, doch mit einem Rückfall hatte keiner gerechnet. Die Worte erreichten Hanna spät, sehr spät, eigentlich erst als sie wieder im Auto saß, nach dem Gurt suchte, diesen mehrmals verfehlte und die Wut darüber in ihr aufsteigen spürte, so stark, dass sie schrie, tobte und auf das Lenkrad schlug, wieder und wieder bis sie die Kräfte verließen, sie in sich zusammensank und der Schmerz kam. Leise, fast schwebend stach er zu, so unsichtbar, so kraftvoll, so unerwartet, so unmenschlich, so vernichtend. Hanna sah nur noch Tränen, Bäche, Ströme, Meere davon.
Die Trauergesellschaft fand sich im Anschluss an die Beerdigung in Hannas Haus ein. Gern hätte sie auch die Söhne von Franz dabei gehabt, doch diese reagierten nicht auf Ihre Einladung.
Hanna hatte das Lieblingsgericht von Franz gekocht, Grünkohl mit Pinkel, sie selbst allerdings brachte keinen Bissen runter. Gezeichnet von den Entbehrungen der letzten Tage, den durchweinten Nächten, grau und hager, von einer unsichtbaren Last gebeugt saß sie stumm im kleinen Kreis der Verbliebenen. Draußen hatte es zu regnen begonnen, Wolkenberge türmten sich am Himmel und ließen nur die fahle Scheibe der Novembersonne ahnen. Die wenigen Kerzen neben dem Bild von Franz auf der Anrichte der Wohnstube sorgten für ein bedrückendes Zwielicht, in dem sich die zumeist schwarz gekleideten Gäste schemenhaft abhoben.
Eingerahmt von ihren beiden Töchtern saß Hanna in der Mitte des Tisches. Leonie hatte abermals ihre Hand ergriffen und drückte sie sanft. Worte brauchte es keine. Marc saß neben Leonie und einige Nachbarn und Freunde von Franz auf der anderen Seite des Tisches. Leise unterhielten sich einige, andere kratzten stumm die Reste ihres Essens auf dem Teller zusammen, doch Hanna nahm all das nicht wahr.
Plötzlich erklang ein heller Ton, einer der Gäste hatte mit einem Messer sein Glas berührt und erhob sich. Die Gespräche verstummten, 20 Augenpaare folgten einem älteren Herrn, den Hanna ein paar Mal im Haus von Franz gesehen hatte. Sie kannte ihn flüchtig.
»Liebe Trauernden, liebe Hanna, liebe Freunde«, hob er mit belegter, rauer Stimme an, während er nervös die Serviette in seinen Händen wieder und wieder faltete.
»Kein Wort vermag die Lücke auszufüllen, die uns heute hier zusammen geführt hat. Ein Platz bleibt leer, ein Platz, der einem wunderbaren Menschen, einem Freund gehörte, dessen Verlust, dessen so plötzliches Lebewohl die Welt verstummen ließ. Es bleibt Kälte, wo einst so viel herzliche Wärme und Menschlichkeit waren, Schmerz, wo Liebe sein sollte, Trauer, wo der Verlust nicht begreifbar ist. Franz, ich kannte ihn seit unserer Einschulung nunmehr 65 Jahre, war mein ältester, mein bester Freund. Es brauchte nie vieler Worte zwischen uns. Auch Jahre der Trennung, Jahre, in denen er in der Stadt wohnte, die er zuvor mit aufzubauen geholfen hatte, konnten unser Band nie zerreißen. Unsere Wege kreuzten sich und blieben dennoch parallel, verbunden durch eine enge und ehrliche Freundschaft. Franz war nie bequem, nie ging er den offensichtlichen, den einfachen Weg. Er suchte stets die Herausforderung, suchte Lösungen, wo andere aufgaben, imponierte mir mit seiner Energie und Optimismus. Er würde uns heute hier auffordern, das Glas zu erheben, anzustoßen und uns zu freuen, mit ihm zu freuen, dass er sich nun größeren Aufgaben stellen kann, einer höheren Macht helfen wird, besser zu werden, gerechter und menschlicher, denn auch Gott, so mächtig er sein mag, so uneinsichtig dessen Taten wirken mögen, wird von einer Seele wie der von Franz noch lernen können. Franz wird es ihm dabei aber nicht leicht machen, zu anspruchsvoll war er mit sich und seinen Zielen, zu groß war sein Herz, um sich nicht gegen die vielen Ungerechtigkeiten dieser Welt aufzulehnen. Doch es sieht ihm auch ähnlich, dass er ohne große Worte ging, kein langjähriges Leiden, Siechen oder Jammern. Ein starker Abgang, kurz, aber prägnant, kein Vorhang, der für eine letzte Verbeugung nochmals aufgeht, bis der Applaus verstummt. Franz hat es nie auf Beifall oder Dank abgesehen, bescheiden, ehrlich und großzügig war er zur Stelle, wenn man Hilfe brauchte, war seinen Söhnen, aber auch Hannas Töchtern ein Vater und Freund, so er auch unser aller Freund war. Ich lieb dich Franz und ich vermisse dich. Doch eines weiß sich sicher, wir sehen uns wieder, vermutlich schneller als du denkst. Schau dich schon mal da oben nach einem gemütlichen Plätzchen für uns um, einem Häuschen, wie dem deinen, dass in all seiner Gemütlichkeit auch immer ein Zuhause für all jene war, die dir nahestanden, denen du nun fehlst, denen eine Heimat, die du zu geben wusstest, genommen wurde. Alter Freund, verzeih mir meine Tränen, verzeih mir mein Hadern, verzeih mir den Schmerz, der mich lähmt, doch du bist zu früh gegangen, zu viele hätten deiner Hilfe und Nähe noch bedurft, eine zu große Lücke in unser aller Leben lässt du zurück. Schau auf uns herab, beschütze uns und lass uns in unseren Träumen wissen, dass es dir gut geht.
Lieber Franz, ich erhebe mein Glas auf dich, sage Lebwohl und danke dem Leben, dass es mich dein Freund sein ließ.«
Hanna schluchzte, Tränen liefen ihr die Wangen herab. Leonie, selbst Tränen in den Augen, reichte ihr eine Serviette und suchte mit ihrer anderen Hand nach der von Marc. Jeder der Gäste erhob sein Glas und gedachte stumm des Verstorbenen.
»Danke«, flüsterte Hanna mit tränenerstickter Stimme, der ältere Herr setzte sich und nickte ihr mit einem Zittern um die Mundwinkel zu.
Marc fragte Leonie leise, wo die Gästetoiletten wären; es war sein erster Besuch in Leonies Haus.
»Warte, ich zeig sie dir, muss auch mal kurz raus«, flüsterte sie und versprach ihrer Mutter, gleich zurück zu sein.
Draußen schaltete Marc als erstes sein Mobiltelefon an und kontrollierte die eingegangenen Kurzmitteilungen. Er erwartete eine Nachricht von Alexander, der eine Software gefunden haben wollte, mit der sie auf eigene Rechnung ihr Fotoportal betreiben konnten. Alexander wollte dieses auch gleich auf einem von Marc dafür ausrangierten PC installieren und die Daten der bisherigen Fotoserien überspielen. Marc hatte ihm eine entsprechende CD vorbereitet und wollte sicher gehen, dass diese ihn auch erreicht hatte, schlief Alexander doch noch, als Marc zur Beerdigung aufbrach. Es war die nackte Angst, Paul oder ein anderer Gast der WG könnten vor Alexanders Erwachen diese Daten in die Finger bekommen, die Marc auf die Idee brachte, das Gästeklo aufzusuchen. Leonie ahnte nichts von Marcs Sorgen, quittierte das Anschalten des Handys jedoch mit einem Stirnrunzeln.
Selbst kühlte sich Leonie in der Küche kurz die Augen mit kaltem Wasser. Auch wenn sie keinen Spiegel am Abwaschbecken hatte, wusste sie, dass ihr Gesicht von all den Tränen aufgedunsen und gerötet sein musste, doch das war ihr egal. Einzig die Sorge um ihre Mutter schnürte ihr die Kehle zu und ließ sie sich seit Tagen schon vor der nächsten Zeit allein mit ihr in diesem großen Haus fürchten. Ihre Schwester war ihr dabei keine große Hilfe, denn weit weg in Köln und mit eigenen Sorgen, an denen mal wieder ihr völlig unbekannte Männer Schuld trugen, fehlte sie hier an der Seite ihrer Mutter.
Leonie dachte an den Anruf, der sie vor wenigen Tagen erreichte. Eine junge Frauenstimme war am Telefon, fragte nach einer Frau Herbst. Leonie bestätigte. Eine traurige Mitteilung hieß es, ein großes Bedauern und herzliches Beileid hörte Leonie, sie hörte den Namen von Franz und irgendwas von einem späten Gerinnsel, einem Rückfall und keiner rechtzeitigen Hilfe. Sie erfuhr, dass ihre Mutter im Krankenhaus sei, sie hätte einen Zusammenbruch am Steuer ihres Wagens gehabt, auf dem Parkplatz und ob sie kommen könne, sie hörte ihr Blut in den Schläfen rauschen, spürte den Stein, der sich in ihrem Magen bildete und sie nach unten zog, fühlte den kalten Schweiß auf der Stirn, die Dunkelheit, die sie plötzlich umgab, das Nichts, das sie aufsog, in die Knie zwang, ihr das Telefon aus der Hand riss und die Stille, in die das Besetztzeichen eintönig piepte, als sie wieder zu sich kam und neben sich das Handy liegen sah.
Marc kehrte vom Klo zurück, sah kurz in die Küche und fragte Leonie, ob sie wieder mit ins Wohnzimmer käme. Diese nickte und gemeinsam begaben sie sich zurück an den Tisch, auf dem sich mittlerweile die leeren Teller und Schüsseln stapelten. Eine Schnapsflasche machte die Runde und einige der Gäste nippten an kleinen Gläsern mit der weißen, öligen Flüssigkeit. Andere hielten sich an ihrem Wasser- oder Bierglas fest, einzig Hanna saß vor einem unberührten Teller und ebenso vollen Glas.
Zwei der Nachbarinnen tauschten Anekdoten über Franz aus, vereinzelt schmunzelte man sogar über die eine oder andere Begebenheit und erinnerte sich gern an diesen feinen, stillen Menschen, dessen Anwesenheit erst jetzt, wo er fehlte, richtig auffiel.
»Schade, dass Paul nicht kommen konnte«, flüsterte Hanna plötzlich zu Leonie, die nervös an der Tischdecke spielte bis sie verlegen antwortete:
»Ich habe ihn gar nicht gefragt. Keine Ahnung, es ging die letzten Tage alles so schnell, so dass ich nicht einmal Zeit für die Uni fand und Paul nirgends traf. Ich wollte aber auch am Telefon nicht über Franz sprechen und in der WG war er seit Samstag nicht mehr. Samstag, dem Tag, an dem Franz eigentlich entlassen werden sollte. Dem Tag, als die Techniker des Krankenhauses einen Defekt an dem Kontrollgerät bemerkten, das eigentlich die Funktion des Herzens von Franz hätte überwachen und ein Aussetzen dessen Schlages melden sollen. Dem Tag, an dem jede Hilfe zu spät kam.
Kaum einer bemerkte, wie Hanna die kleine Trauergesellschaft verließ. Sie musste allein sein, allein mit ihrem Kummer, ihrem Schmerz und vor allem mit der Wut, die in ihr kochte, die fast alle anderen Gefühle verdrängte. Sie schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein, kniete sich vor ihren Gotteswinkel und senkte stumm den Kopf. Doch nicht um zu beten. In ihrem Inneren schrie sie gegen diese Ungerechtigkeit an, gegen diesen Gott, der sie wieder und wieder prüfte, ihren Glauben herausforderte und ihr Lasten auf den Rücken packte, denen sie sich nicht mehr gewachsen fühlte. Wie konnte sie noch an dessen Güte glauben, wenn er sie quälte, ihr so viel nahm. Immer wenn sie dachte, es geht nicht tiefer, mehr könne sie nicht ertragen, fand sich eine Luke, die sie weiter ins Bodenlose stürzen ließ. Wie einst bei der Trennung von ihrem Mann, dem Vater ihrer Töchter fragte sie auch jetzt Gott, wieso sie noch leben solle, wieso er sich ihrer nicht erbarme, sie zu sich nahm. Wollte er sie zwingen, sich selbst zu erlösen, sich dem ewigen Feuer anheim zu werfen, in Sünde zu sterben, nur um dieses Jammertal endlich hinter sich zu wissen? Sie war nicht HIOB, sie war eine schwache, alte, kranke Frau, der der Lebensmut abhanden gekommen war, der die täglichen Lasten zu schwer wurden, zu Leiden erwuchsen und sie erdrückten. Sie flehte um die Gnade zu sterben und quälte sich mit der Angst, nicht erhört zu werden.


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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2009

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