SCHWARZ WEISS
Das einzige, was man von ihm gelegentlich sah, war sein Schatten. Es war der Mann ohne Gesicht, ohne Namen, Vergangenheit oder Zukunft. Er was das Jetzt und ebenso flüchtig, schneller als ein Wimpernschlag, verletzlich wie eine Seifenblasenhaut und blieb denen, die ihn sahen, nur als Ahnung im Gedächtnis. Es gab ihn nicht und dennoch war er allgegenwärtig, stellte sich dem Licht in den Weg und legte sich über den Schlaf vieler, wurde deren Alptraum, ließ die inneren Stimmen stöhnen. Manche nannten ihn Schmerz, andere Schicksal. Ich nenne ihn mein Gewissen.
Wenn ich um den Schlaf ringe, in meinem Kopf die Gedanken Pyramiden bauen, Grabmale errichten und mein Leben mit jedem Ziffernschlag verrinnt, ist er da, legt mir seine kalte Hand auf die Stirn und lässt mich das Ende spüren. Er ist mein Vater, meine Familie, mein Alptraum.
Doch die Tage sind Licht, Musik und voller Blütenblätter, die zu Boden sinken und mich an die Nächte erinnern, die Stunden, die dem Tode näher als dem Leben sind, dem Schlaf, des Gevatters Bruder. Manchmal, wenn ich aufwache und mich in einem Tunnel wieder finde, einem langen Gang mit einer Tür ganz am Ende der Flucht, nehme ich mir vor, die Augen fest zu schließen, um nochmals aufzuwachen. Doch vergebens. Man zwingt mich, auf die Tür zuzulaufen, an schartigen Wänden und rostigen Kerzenhaltern vorbei, leicht bergauf, der Tür entgegen. Ich ahne, was sich hinter dieser Tür verbirgt, ich fürchte mich vor dem Wissen um die Ängste hinter der Tür, meinem ganz persönlichen Raum Nummer 13. Haben Sie schon mal versucht, in der Badewanne zu ertrinken? Hinter dieser Tür klappt das, dort sterben Sie auf vielfältige Weise immer aufs Neue, und die Schmerzen nehmen zu. Masken blicken von den Wänden des Ganges, gesichtslose Fratzen, namenlose Schatten, die der Welt die Wärme stehlen und die Zeit zum Halten zwingen. Zeit, die in Angst verbracht wird, ist endlose Zeit, Unendlichkeit und Ewigkeit, der Apokalypse gleich, hoffnungslos und dennoch so fassbar wie kalter Schweiß auf der Stirn.
Manchmal, wenn ich die Tür öffne und nochmals aufwache, finde ich mich in einem gelähmten Körper wieder, einer toten Hülle, einem menschlichen Kokon, der mich verzweifeln lässt, doch meine Versuche zu schreien lassen nur Blasen vom Grund der Badewanne aufsteigen, über mir die Gesichter all derer, die sich über meinen Tod freuen, ihr alle.
Hoffnung schwingt mit in diesen Zeilen, Hoffnung, dass das Ende weit weniger schwarz sein wird, denn stets erscheint ein weißes Leuchten am Ende des Ganges, eine Lampe über der Tür, ein Grablicht, das mich zur letzten Ruhe begleitet, Schatten erst ermöglicht.
Erst wenn die Vögel aus dem Himmel fallen, die Fische im Meer ertrinken und der Mensch zum Schatten wird, ist die Erlösung nah, das Ende des Heiligen Buches geschrieben und die Engel in Ungnade gefallen. Dann bricht die Zeit der Rückkehr derer an, die uns im Schlaf erscheinen, uns mahnen, deren Erbe zu bewahren, es mit unserem Leben zu schützen, das dann überflüssig wird, wenn das Jüngste Gericht tagt und sein Urteil über uns gefällt hat. Schuldig. Und wieder wird er es sein, der die Tore für die ewigen Seelen öffnet, er der Schatten, die dunkle Gestalt vor einer schwarzen Wand, der Wimpernschlag, der die Welt stillstehen lässt. Mein Vater, meine Familie, mein Alptraum.
In meinen Träumen ist das Lachen ebenso erstarrt, wie das Blühen, das sich Regen und Entstehen, das Atmen. Es herrscht Stille, tonlose Schreie vibrieren in der Luft, erfüllen den Raum mit Schmerz, Trauer und Agonie, mit dem Elend, dessen Last meine Schultern beschwert, meine Seele verdörrt, meine Wärme vertreibt, mich sterben lässt. Es ist diese Ahnung vom Ende, die mich seit dem Beginn begleitet, bei jedem Schritt die Grube näher kommen lässt, mir sagt: Mensch, du bist endlich, du bist klein, du bist nichts. Und ich bete, dass diese Stimmen Recht behalten und gebe auf.
Texte: - Roman bestellbar unter ralf.during@gmail.com -
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2009
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