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Franz



Franz war sich nicht sicher. Oft sind es Kleinigkeiten, die Veränderungen anzeigen. In seinem Fall waren es die Wolken. Sie bewegten sich nicht mehr. Seit Tagen schon verharrten sie an ihrem Platz, so dass die linke Zimmerecke schon zwölf Uhr mittags ins dämmrige Grau eines Novemberabends getaucht war.
Franz selbst saß im Lehnstuhl seines Zimmers. Doch nicht nur die Wolken standen starr, auch der Wind hatte sich gelegt. Seit Stunden lief kein Mensch an seinem Fenster vorbei, ja selbst die alltäglichen Geräusche um ihn herum waren verstummt. Es fühlte sich an wie unter einem weißen Tuch, das die Möbel vor Staub schützen sollte, das Zimmer jedoch in eine Atmosphäre des Vergessens taucht. Die Uhr stand. Auch das allgegenwärtige Trippeln der Mäuse hinter den Wänden war verschwunden. Franz hätte nicht sagen können, ob ihm warm oder kalt war, es war ihm egal. Er spürte es nicht, er dachte nicht einmal darüber nach. Gestern noch, überlegte er, hatte er beim Aufschlagen der Zeitung das Gefühl gehabt, diese bereits gelesen zu haben. Heute fand er nicht einmal die Kraft, die Zeitung überhaupt zur Hand zu nehmen. Das Titelfoto glich denen der vergangenen Tage. Es interessierte ihn nicht. Nur die Wolken faszinierten ihn, sie und die Erinnerung an die Nacht. Er konnte nicht sagen, wann er das letzte Mal geschlafen hatte, es dunkel war oder er das Zimmer verlassen hatte. Waren es Stunden her oder Tage, Jahre? Kein Telefon, das ihn störte, kein Nachbar, er wohnte allein. So war er froh, zuhause zu sein, ein Zuhause zu haben.
Franz hörte in sich hinein, suchte nach dem Gefühl der Beklemmung, Unruhe, Furcht. Nichts von alle dem, er saß in seiner linken Zimmerecke, sah aus dem Fenster auf die starren Wolken, ahnte die Zierkirsche am Ende des Gartens und sehnte sich nach den Zeiten, wo er am Morgen bereits den Abend kannte. Jetzt erinnerte er sich nicht einmal mehr an den Morgen, der Tag war Stunden alt.
Früher gab es diese Sendung im Radio, in der man eine Stadt aus der Gegend raten musste und einen Korb mit Spezialitäten dieses Ortes gewann. Drei Rätselfragen, die unmittelbar zum Namen des gesuchten Ortes führen sollten, ihn aber meist zusätzlich verwirrten. Heute gab es diese Sendung nicht mehr, es gab gar kein Radio, es gab nicht einmal mehr Geräusche um ihn herum. Franz fühlte sich isoliert, taub in einer Welt der Kommunikation, die ihn verstoßen hatte. Er fühlte sich gefangen in einem schallschluckenden Gefängnis, in dem nicht einmal die Sonne durchs Fenster schien, sondern er tagein tagaus die gleiche Zeitung lesen musste. Er war dankbar um seinen Lehnstuhl. Es war mehr als eine Holzpritsche, eine Nasszelle und ein an die Wand klappbarer Tisch, auf dem eine Blechschüssel und eine Bibel Platz fanden. Franz war zuhause und die Welt stand still.
Die Kinder in der Straße spielten an den schönen Tagen gern Himmel und Hölle. Das Spiel mit den Kreidekästchen auf der Straße, in und über die sie hüpften, lachten und sich auf das komplizierte Leben zwischenmenschlicher Beziehungen vorbereiteten. Noch war es ein Spiel, die Hölle jedoch hatte die Tore bereits geöffnet, und die Straße führte aus dem Himmel hinaus. War Franz am Tor angelangt? Es roch nicht nach Schwefel, es roch nach gar nichts. Auch spielten heute keine Kinder auf der Straße. Keiner war dort, keiner lachte, die Himmelspforte war verschlossen, die Kinder erwachsen. Letztes Jahr war die Katze seiner Nachbarin gestorben. Diese folgte wenige Wochen später beim Überqueren der Hauptstraße. Es war ein Gefahrguttransporter. Der Fahrer konnte sie nicht rechtzeitig sehen, als sie hinter einem Werbeschild auftauchte und in seinen Wagen lief. Sie musste nicht leiden, und auch die Geldbuße für den Fahrer war nicht hoch. Er wurde in den Innendienst versetzt, die Uhren drehten sich weiter, und Franz vermisste die Katze. Heute wünschte er, selbst Tiere gehabt zu haben oder einen Freund. Oder ein Tier als Freund, egal, ihm blieb die Erinnerung an seine Kindheit, die allmählich im Nebel des Lebens versank. Ein Freund war nicht dabei.
Es waren Kinder auf seiner Schule, doch diese Kontakte endeten mit dem letzten Läuten zum Schulschluss. Denn seine Eltern lebten in einem abgelegenen Hof nahe der Stadt. Sein Vater war Forstarbeiter, seine Mutter verkaufte Gemüse am Markt. Da durfte Franz gelegentlich mit und war fasziniert vom Leben, dem Treiben, dem Pulsieren in den Straßen und auf dem Markt. Da waren alte Frauen, die mürrisch um wenige Pfennige feilschten, junge Männer, die ihren Freundinnen Blumen kauften, Einkäufer großer Restaurants und Hotels, Familien beim Flanieren, Frauen, deren Tag sich um die Zubereitung der Mahlzeiten drehte und Kinder wie er. Aber auch mit diesen hatte er wenige Gelegenheiten zu spielen, seine Mutter mochte es nicht, ihn zu suchen oder rufen zu müssen. So hockte er neben ihrem Stand, beobachtete die Menschen, erfand sich Geschichten zu deren Leben und träumte davon, selbst in der Stadt zu leben. Heute sah er aus dem Fenster auf eine dieser gesichtslosen Straßen dieser Stadt und suchte vergebens, sich den Reiz von damals ins Gedächtnis zu rufen. Es war wie ein vergessener Geruch, es hängt alles an einem einzigen Molekül. Verschwindet es, stirbt mit ihm die Erinnerung.
Und noch immer bewegten sich die Wolken nicht, der Tag ruhte, die Zeit stand still. Ähnlich still wie seine Zeit beim Militär, wo sie monatelang in einer Außenstelle des neunten Infanterieregiments im französischen Lairoux ausharren mussten, in der Annahme, die Alliierten kämen, um die Gegend zu befreien. Doch diese kamen nicht, denn sie waren schon da, die Front verlief hinter ihnen, sie waren bereits im Frieden angekommen. Vom Kriegsende erfuhren sie erst im Herbst, einem Tag wie heute. Für Franz war die Jugend vorüber und das Leben ohne Aufgabe. Er hing nicht an der Uniform, sondern diese an den Haken, begab sich zurück auf den Hof seiner Eltern und verkündete, dass er in die Stadt ginge. Die Bauverwaltung suchte Leute, die halfen, die Gebäude an den richtigen Stellen wieder aufzurichten, mit stoischer Genauigkeit das Elend des Krieges zu vermessen, zu katalogisieren und auf neuen Karten neue Häuser, Heimaten, Schicksale zu planen. Franz wurde einer von ihnen, gab die Hoffnung auf, jemals Architektur zu studieren, und der Stadt ihr Gesicht zurück. Ein von Brandnarben entstelltes, doch ein eigenes. An seines erinnerte er sich schwach, es muss Ewigkeiten her sein als er sich das letzte Mal in einem Spiegel betrachtet hatte. Es war kein Genuss für ihn, er war müde, fühlte sich leer und einsam. Es fiel ihm schwer, früh in den Tag zu finden, abends die Augen zu schließen. Er hatte Angst, nicht zurückzukehren, noch mehr jedoch, es zu tun. Er war alt, seine Uhr quälte sich Zeigerschlag um Zeigerschlag.
Die Zierkirsche hatte er selbst gepflanzt. Es war wenige Wochen nach seinem Einzug in dieses Haus. Er fand den Garten so leer, unpersönlich, uniform. Die ganze Gegend war uniform, am Reisbrett seiner Behörde geplant, Werkswohnungen für städtische Angestellte. Die Zierkirsche war seine kleine Rebellion, blieb es auch. Keiner seiner Nachbarn hielt sich je in dem kleinen Garten hinter dem Haus auf, er verwilderte, nahm Konturen einer Persönlichkeit an, um die Franz den Garten beneidete. Später lebte die Katze der Nachbarin dort. Als sie starb, starb auch ein Teil des Gartens, schien es Franz, vielleicht war es auch ein Teil von ihm, denn es war auch ein Teil der Bewegung um ihn herum gestorben.
Heute war es so still, dass man nicht einmal die Stille hören konnte. Franz sank in seinen Lehnstuhl zurück, genoss den Augenblick, das Polster unter sich zurückweichen zu spüren und dachte über den Tag nach, an dem er erfuhr, dass das Leben endlich ist, als seine Großmutter starb. Er war fünf, sie knorrig wie die Eiche neben dem Haus seiner Eltern, er hatte sie geliebt. Heute fühlte er sich ihr nah, fühlte ihre Nähe, den Geruch seiner Kindheit. Er schloss die Augen…

Impressum

Texte: - Roman bestellbar unter ralf.during@gmail.com -
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2009

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