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Teil 1



Am geheiligten Abend, noch am späten Nachmittag verließ ich das Haus meiner Familie, in der zur Zeit allerhand Trubel und Unruhe aufkam. Wir hatten Besuch, den ich nicht unbedingt sehr mochte. Es war eine Tante, deren Mund nie still zu stehen schien. Sie fragte und fragte, erzählte und erzählte unentwegt einen Haufen unwichtige Dinge. Sie war eine exquisite Plaudertasche, in der tausende unnützer Episoden hervorkamen, die uns alle manchmal belustigten, aber meist nervten. Niemand konnte sie stoppen oder nachdenklich stimmen. Sie störte mich ungemein, denn ich hatte meine eigenen Gedanken zu denken und brauchte Zeit für Rück- und Zukunftsbesinnung. Somit suchte ich die Ruhe der Straße, die nur an diesen Abend gegeben zu seien schien. Wo sollte ich auch sonst hin? Ich hatte keine Freunde und auch keine Freundin, zu der ich hätte gehen können.
Warum eigentlich nicht?
Ich war jung, kräftig und intelligent, konnte gute Konversation üben, hatte immer einen Vers zum Lachen parat oder ein spitzfindiges Zitat.

Was mir zu fehlen schien, war die unbekümmerte Ausgelassenheit und Naivität, die der Jugend eigen zu seien schien. Mir fehlte die blödelnde Ausgelassen-heit und Maßlosigkeit der Lebensweise in fast jeder Beziehung. Dies hatte natürlich seine Ursachen. Ich war anders als meine Altersgenossen. Ich suchte die Stille, die Harmonie, welche ich aber nur in der Einsamkeit zu finden glaubte. Lag es an meiner Narbe im Gesicht oder dem Geruch an meinem Körper? Meine kleine Schwester mochte mich riechen und konnte mich leiden und sie hätte mir 100pro – Bescheid gestoßen, wenn ich irgendwie unkultiviert daher traben würde. Wir waren richtige Freunde, aber eben Geschwister. Irgendwie passte alles nicht so recht zu einander. Ich suchte die Ruhe und wollte aber auch nicht einsam sein. Gab es denn kein Mädchen, was die Ruhe und die Harmonie liebte und suchte, wie ich? Ich hatte keinen gefallen am Punk- und Black Metal. Diese Totentrommeln waren mir suspekt. Nur harmonische Klänge waren mein Heilszauber der Seele. Die Disharmonie stieß mich ab wie das Feuer das Wasser.

Jedenfalls schlenderte ich die Straße entlang und hörte das Knirschen des Schnees unter den Sohlen und empfand ihn als Naturwunder, regelrechte Zauberei. Über Nacht war alles weiß und der Müll der Welt plötzlich verborgen, eine Märchenlandsilhouette hatte sie verzaubert und getarnt. Lag darin nicht auch Verlogenheit?
War ich nicht noch zu jung um mir Sorgen um die Umwelt zu machen? Vielleicht säuft sich die Jugend ins Koma, weil sie sich auch Sorgen macht, oder eben schon nicht mehr? Viele scheinen sich aufgegeben zu haben, der Welt schon überdrüssig als Kind. Mich schauderte und die Welt roch lieblich nach geweihter Nacht im Unschuldsweiß verborgen - wartend bis Väterchen Frost alles zerbricht.

Ich bog jetzt in den Schlosspark ein und hörte plötzlich wie einen unterdrückten Aufschrei. Ich drehte ein zwei Pirouetten, sah und hörte aber nichts weiter, war immer noch schön allein. Was ist schöner, als seinem inneren Ich, diesem Geist der tiefen Weisheit zu lauschen, zu meditieren. Manchmal glaube ich, dass Gott da rumflüstert und suggeriert. Andererseits flüstert da auch jemand eine menge Scheiß. Der scheint das Gegenteil von Gott zu sein. Ein gehörntes Arschloch, der sich die Hörner abstoßen will. Oder bin ich eine gespaltene Persönlichkeit? Psychisch krank? Oh man, was für Heiligkeiten. Heil! Heilen! Reif ich verschreckt aus. Und wieder störte ein Ruf durch die Stille. War es ein Echo? Niemand hier, kein Engel, kein Gott der die Welt rettet. Wer das behauptet, hat seine Offenbahrungen nicht gelesen. Die Welt geht zugrunde, sie löst sich auf in der Glut der Elemente oder in der Sucht der Eitelkeiten. Lieber Gott im Himmel, nicht jetzt, nicht sobald, warte noch und hör mich an.

Ich habe noch nie geliebt, konnte die Sehnsucht, die mich umtreibt, noch nicht stillen. Meine Seelenliebste ist nicht von dieser Welt. Sie soll lieb sein, bescheiden, die Harmonie suchen und mich finden. Gib du mir diesen Engel, zeige Großzügigkeit, ich werde ihn nie enttäuschen, auch dich nicht. Ich rutschte aus und knallte hart auf, beim Aufstehen landete ich nochmal auf den Knien. Gott was soll das! Rief ich ärgerlich. Streut denn hier keiner! Die Knie schmerzten. Dieser märchenhafte winterliche Park war Gott geschaffen schön. Seltsame Dankbarkeit überkam mich. Ich schaute zum Himmel und lies den fallenden Schnee meinen Hitzkopf kühlen. Er hatte es wahrlich nötig. Jede dieser Flocken besteht aus unzähligen Sternchen und keines ist identisch. Diese Vielfalt und der überwältigende Überfluss in der Natur, verwundert mich immer wieder und lässt mich fragend staunen. Ist da nicht auch etwas für mich Gott. Nur ein kleines Liebchen! Ich will doch keine Rosamundeprinzessin!

Ich immer noch auf Knien, hörte plötzlich: „Bitte“, „Hallo!“ Eindeutig ein Rufen, weiblich und engelhafte Stimme. Ich schoss wie eine Neujahrrakete aus dem Schneehaufen, sah aber Niemanden. Vor mir stupsnasige Wacholderbüsche die mir zu zuwinken schienen. Eine Wegbiegung hinter dem Wacholder war jetzt mein neues Ziel. Noch mal: „Hier bin ich!“ Wie ein zu schnelles Ren(n)tier kam ich aus der Kurve und stürzte wieder hin. Ein herzlichstes Lachen und zarte, peinliche Schamröte überfielen mich. Keine fünf Meter vor mir saß ein Mädchen im Schnee, besser eine Frau, die vom Himmel gefallen zu sein schien. Schwarze Locken, große Rehaugen und Kirschmund, die Wangen wie bei einem Festapfel. Ich rieb mir die Augen und fragte sie: "Ist hier eine versteckte Kamera?" Sie lachte wieder herzlich. „Nein, wir sind wohl beide gestürzt, um uns einander helfen zu können.“ Ich sprang hoch, lief behutsam knirschend, sehr langsam auf das Opfer – Unfallopfer – zu. „Hi, sind sie verletzt?“, „oh, oh,“ stotterte ich, „oder wie kann ich ihnen helfen?“ „Hallo, ich kann nicht mehr laufen, habe mir das rechte Fußgelenk verstaucht, bitte rufen sie einen Notarzt mit ihrem Handy.“ Schon wieder stotterte ich! „Oh, oh, ich habe gar kein Handy Frau Nachbarin.“ Was für ein blöder Spruch! Vollkommen deplaziert in dieser Situation. Man, sie friert und hat Schmerzen und du machst hier blöde Machosprüche, gab ich mir zum Vorwurf. „Wenn sie mir helfen würden, versuche ich aufzustehen. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam bis zu meiner Wohnung. Ist nicht weit.“ Ich musste kurz überlegen, wo ich sie anfassen könnte. Männlich griff ich endlich zu und stellte sie auf die Füße. Sie stöhnte leise, roch bezaubernd lieblich, war schlank und leicht wie eine Feder, nicht menschlich, göttlich. Ich stand hinter ihr und hielt den schwankenden Engel fest, ich wollte und konnte ihn nicht loslassen. Ihre Haare kitzelte meine Wange. Hüpfend drehte sie sich zu mir um. Staunend, beide den Mund offen, schauten wir uns viel zu lange tief in die Augen. Und bei Gott, ich sah diese Sternschnuppe doppelt im Spiegelbild ihrer Augen. SIE oder keine! war der Wunsch und ich hatte noch einen offen.

Jetzt erst im blassen Mondlicht bemerkte ich eine große Narbe, die meist von ihren Locken umspielt war. Ich berührte sie zaghaft, als würde ich sie trösten wollen. Sie drehte den Kopf so, dass ich die Narbe voll sehen konnte. Sie berührte auch jetzt meine Narbe. Mir fehlten die tröstenden Worte, die sie aber fand. „Gott hat wohl an uns Beiden die Eitelkeit gezüchtigt.“ Lange noch dachte ich über diese Eitelkeiten nach. Ja, alles ist Eitelkeit!

Sie war klug, hatte schon Lebenserfahrung gesammelt, gut beobachtet, analysiert, bewertet und in Prioritäten sortiert. Sie wusste was sie tat. Sie war ihr Herr über Geist und Handeln. Sie war mir ebenbürtig, seelenverwandt und in magischer Verbundenheit. Ich ahnte und fühlte es. Ein Schatz von wertvollster Erhabenheit. Meine Traumfrau! Mir wurde schwindlig, so dass ich nicht wusste wer wohl wen stützen musste. Sie erkannte meine seelische Benommenheit sofort. Wir waren beide verletzt, hatten beide Narben des göttlichen Lebens, brauchten beide Hilfe, Zuneigung, Liebe. Die plötzliche Nähe dieser jungen Frau berauschte mich magisch. Alle meine Sinne waren nur auf sie gerichtet. Ich ertastete sie, roch sie, sah sie und selbst die Luft schmeckte nach ihr. „Es tut mir leid, dass ich sie gerade an diesem Tag bemühen muss, “sagte sie schüchtern, „wir sind gleich da.“ Vorsichtig tasteten wir uns zur Straße des Engels. Ihre Leichtigkeit und Nähe war mir Vergnügen. „Wohnen sie auch hier in der Nähe?“ fragte Sie. „Ja, drüben auf der anderen Parkseite.“ „Sie wollen bestimmt schnell zu ihren Lieben zurück, an so einem Tag wie Heute?“ fragte sie mich zärtlich aus. „Nein, im Gegenteil, ich habe die Ruhe und Schönheit im Park gesucht und auch gefunden“, sagte ich schelmhaft lächelnd.
Wir waren nun angekommen; sie wohnte unterm Dach im vierten Stock. Beherzt und Macho spielend nahm ich sie in beide Arme und trug sie bis hoch. Ein Raucher hätte das nie geschafft. Sie schloss, sitzend in meinen Armen, die Tür auf. „Ich werde jetzt einen Arzt rufen“, sagte ich zögerlich fragend. Nein, nein“, sagte sie, „ist bestimmt nur eine Verstauchung oder Bänderzerrung.“ Auf ihre Anweisung hin fand ich den Sanikasten und durfte nun ihren Fuß ausziehen. Oh! war dieses Teil schön, trotz leichter Schwellung; er roch wie damals der Babyfuß meiner Schwester.
Ich besorgte eine Schüssel und Schnee vom Fensterbrett und stopfte ihn in eine Plastiktüte um den Fuß kühlen zu können und band mit einer elastischen Binde kunstgerecht den Fuß ein. Davor ließ ich sie den Fuß in alle Richtungen bewegen. Nichts gebrochen. Perfekt gelaufen! Jetzt konnte sie sogar wieder auftreten und gehen.

Sie bestand darauf, einen Tee zu machen und wollte sich unbedingt mit einem Geschenk bedanken, für die ritterliche Hilfe. Sie verriet mir, dass sie auf dem Weg zur Tankstelle war, um noch paar Kleinigkeiten zu besorgen. Sie sei dieses Jahr alleine, weil ihre Eltern im Ausland seien und - nach langer Pause - einiges schief gegangen sei. Nun hatte ich schon meine zweite Chance, bei der ich unbedingt Punkten wollte.

Sie hieß Marie-Luise, genannt Liesel oder kurz Ma-Lu. Ich bot ihr an, dass ich alle Besorgungen noch für sie machen kann und möchte. Ich müsste nur mal kurz nach Hause, um Bescheid zu Geben. Das war auch falsch und blöde, denn nun sollte ich sofort nach Hause gehen und Weinachten feiern. Sie bestand mit beharrlichem Anstand darauf. Ich erklärte ihr, dass meine Eltern beide Nacht-Dienst hätten und erst gegen Morgen zurückkämen und meine Schwester sich bereits zwei Filme im Fernsehen auserkoren hätte, die sowieso nichts für mich seien und sie auch mein Gehen gar nicht weiter stören würde. Die unheilige Tante verschwieg ich. Sie forderte ein heiliges Versprechen ab. Ich nickte lächelnd und sagte lieber nix.

Sie schrieb einen Zettel, der eher einem Großeinkauf würdig war. Sicher war auch, dass diese zarte Frau, das alles nicht tragen hätte können.

Als ich zurückkam, packte ich alles in die Küche und erstarrte plötzlich zur Salzsäule. Da stand eine Babyflasche, nee drei, eine halb voll.

Sie war nicht allein!

Jeden Moment könnte es Klingeln und ich würde von dem eifersüchtigen Freund im hohen Bogen die Treppe runter geprügelt. Wo her nahm nur mein Gedächtnis solche Horrorgeschichten. Ich stürmte in die Stube und stotterte, mit dem Finger auf die Küchentür zeigend: „Da, da ist en Babyfläschchen.“ Sie zog den Kopf leicht ein, hob die Augebrauen und Schultern etwas an, lächelte verschmitzt und Fragte: „Magst du keine Kinder?“ „Doch, doch, sehr!“ betonte ich. Wir waren jetzt per "Du".


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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Liebe Willen

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