Caspar de Fries
Buchautor und Schriftsteller
Zitat: Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben
Texte : Caspar de Fries
Bildmaterialien: Caspar de Fries
Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2015
Die Handlung und die Namen der Darsteller sind frei erfunden, sonstige Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
Joe Marvin, der 1935 eingesetzte Kulturattaché der amerikanischen Botschaft in Berlin, war ein Nachkomme des Indianerhäuptlings Patkanims von den Tulalip, der 1855 die Indianer-Schutzbestimmungen mit unterschrieben hatte. Joe durfte auf Grund seiner Intelligenz und Begabung eine weiterführende Schule besuchen und studierte über das weiterführende Ausbauprogramm, dem Everett Community College, an der University of Washington neben der Lushootseed-Sprache noch Politwissenschaft und Germanistik. Dadurch erlernte er auch zusätzlich Deutsch und Französisch. Sein Studium schloss er mit Auszeichnung ab.
Joe Marvin wuchs in einem Reservat im Nordwesten der USA auf, im Bundesstaat Washington, nahe der kanadischen Grenze. Dort lernte er sehr früh durch Reiten, Fischen, Jagen und Sammeln sich zu behaupten. Er folgte als Freiwilliger dem Aufruf der Armee und besuchte die United States Military Academy in West Point in New York, mit Schwerpunkt der US Army Training and Doctrine Command (TRADOC), frei übersetzt: Heereskommando für Ausbildung, Einsatzschulung und Entwicklung. Auf Grund seines Studiums und seiner bisherigen Ausbildung stand seiner Karriere im diplomatischen Dienst der militärischen Abwehr nichts mehr im Wege. Er schloss die Gesamtausbildung als Major Command der United States Army ab. Seine neue Arbeitsstätte begann in Fort Monroe, nahe des Küstenortes Hampton in Virginia.
Man teilte ihn dem Offiziersstab von General David Parkins zu, der sich im militärischen Abwehrdienst bereits einen Namen im 1.Weltkrieg machen konnte. Ziel war es, Major Command Joe Marvin mit dem Diplomatischen Corps, also die Gesamtheit der politischen Vertreter, vertraut zu machen, wo sich auch die Weltelite aller Geheimagenten tummelte. Hier herrschten gewisse Spielregeln, an die man sich während diverser Empfänge zu halten hatte.
Er wurde Kulturattaché in der amerikanischen Botschaft in Berlin und musste sich recht schnell mit den dortigen Gegebenheiten und der geheimen deutschen Staatspolizei auseinander setzen, die ihn sofort in die Schublade eines Geheimagenten steckte, obwohl er in dieser Tätigkeit noch eine sehr weiße Weste anhatte. Seine recht unorthodoxe Art sich zu behaupten, machte ihn schnell zum Staatsfeind des Nazi-Deutschlands.
Der verlorene Zweite Weltkrieg als Untergang des Dritten Reiches und den zerbombten Städten, brachte dem deutschen Volk viel Leid, Hunger und Elend. Die Hauptstadt Berlin, mit seinem Mythos der Unsterblichkeit und den unfassbaren Zerstörungen, ließ die Überlebenden zusammenrücken. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als mit den vier Siegermächten, russische Sowjetunion, England, Frankreich und den USA zusammen zu arbeiten. Die Stadt wurde in Ost- und Westberlin geteilt. Ostberlin, unter russischer Besatzung und Hauptstadt der neugeschaffenen Deutschen Demokratischen Republik, sprich DDR, und Westberlin als freie Stadt Berlin, unter dem Einfluss der westlichen Alliierten, USA, England und Frankreich. Leider brach die Einigung 1947 zwischen der Sowjetunion und Ihren Kriegspartnern USA, England und Frankreich auseinander. Es entstand ein sogenannter „Kalter Krieg“ als Konflikt zwischen Ostinteressen der Sowjetunion und westlichen Ideen mit den USA und seinen alliierten Partnern. Ohne militärisch aneinander geraten zu sein, führte man diesen Konflikt mit nahezu Allen sonstigen Möglichkeiten aus; hierbei taten sich die vielen Geheimdienste der Staaten hervor; sie tummelten sich in Berlin und Umgebung, und beäugten sich misstrauisch, in der Erwartung, der mutmaßliche Gegner macht einen Fehler.
Joe Marvin mit seiner ehemaligen Gruppe M erhielt nach längerer Abstinenz aus diesem Geschäft den Auftrag, hier wieder tätig zu werden. Neben vielen untergetauchten ehemaligen Parteibonzen der alten NSDAP, die versuchten, im „Neuen Deutschland“ straffrei unter zu kommen, galt es, sie auf zu spüren und dem Nürnberger Gerichtshof für Kriegsverbrecher zu überstellen. Natürlich gehörten das Observieren der geheimdienstlichen Konkurrenz zu den alltäglichen Aufgaben, sowie das gegenseitige Bespitzeln der vielen Siegermächte, die in einem ständigen wirtschaftlichen Wettbewerb, sowohl in der Rüstungsindustrie wie auch der zivilen industriellen Produktion, einen gewaltigen Nachholbedarf hatten. Die vielen materiellen Zerstörungen brachten auch gleichzeitig zündende Ideen und praktische Erfindungen heraus, um die sich die „Freunde“ von einst voller Neid und Missgunst stritten. Der „Kalte Krieg“ war überall zu spüren.
Der Zweite Weltkrieg endete am 8.Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht gegenüber den alliierten Kriegsgegnern. Ein langer Alptraum endete, das Nazi-Deutschland lag am Boden, verantwortlich für viele Millionen tote Menschen. Die Siegermächte teilten das Land in vier Besatzungszonen, mit wenigen Ausnahmen. Die Häfen der Stadt Bremen und Bremerhaven erhielten durch ihren Zugang zum offenen Meer einen Sondernutzungsstatus, weil die Amerikaner über diese Häfen einen Großteil ihres Nachschubs abwickelten.Berlin, als ehemalige Landeshauptstadt, lag mitten im sowjetisch besetzten Gebiet und bildete eine Ausnahme. Die vier Siegerstaaten teilten die Stadt in vier Sektoren, wobei der Teil Ostberlin zur neuen Landeshauptstadt der neugeschaffenen DDR aufstieg, während Westberlin als freie Stadt durch seine drei Sektoren einen Sonderstatus durch die Sieger des Zweiten Weltkriegs erhielt und von ihnen verwaltet wurde.Das Saarland nutzten die Franzosen als Saarprotektorat, der später als eigener Gliedstaat in der neuen Bundesrepublik Deutschland integriert wurde.
Joe Marvin, Jack Forrester, Gräfin Mary zu Eltz und Janette Portier, die Hausdame der Gräfin, Freunde aus den Wirren der Kriegsjahre aus Berlin, saßen bei herrlichem Frühlingswetter im Jahr 1947 auf der mit wildem Wein umrankten Terrasse des ehemaligen Gutshofes in Gilten nahe der Lüneburger Heide und ließen sich den leckeren selbstgemachten Bienenstich der Bäuerin Emma Schönberg schmecken. Ihr Mann Karl-Friedrich Schönberg und sie bewirtschafteten noch einen sehr kleinen Teil der früheren bäuerlichen Großanlage, die zum Familienbesitz der Gräfin zu Eltz gehörte. Während der letzten Kriegsjahre ließen Joe Marvin und seine Freunde einen Teil der damaligen Stallungen und Landarbeiterunterkünfte in recht luxuriöse Wohnungen umbauen, um hier im ruhigen ländlichen Raum einen Rückzugsort für die Zeit nach dem Krieg zu haben.
Des Weiteren sollten auch die vielen Gold-Schmuck- und Kunstgegenstände aus dem Nazibunker des Reichssicherungshauptamtes im Prinz-Albrecht-Palais, Berlin-Friedrichstadt, Wilhelmstraße 102 ein eigenes Lager erhalten, damit die vielen wertvollen Gegenstände vor Feuchtigkeit geschützt und vor zufälliger Sichtung vorbei ziehender Soldaten am ehemaligen Flugzeughanger außerhalb von Berlin verborgen blieben. Was mit den vielen wertvollen Bildern zeitgenössischer Künstler, dem Schmuck aus Beständen entsorgter Juden im KZ, Goldbarren und Mengen voller Echt-und Falschgelder verschiedener Währungen geschehen sollte, wussten sie auch noch nicht.
„Sag mal Jack, hat sich das damalige Hauptquartier der MI 5 schon mit dir in Verbindung gesetzt?“
„Ja, aber nicht unter der Bezeichnung MI5, Military Intelligence, Section 5, sondern unter MI6, Section 6. Sie wollen unsere ganze Gruppe M, für ihre weiteren Aktionen integrieren und einplanen.“„Und, wollen wir das überhaupt?“
„Ich habe noch nicht zugesagt. Ich sagte, dass ich zunächst mit der ganzen Mannschaft darüber sprechen möchte.“
„Ich frage dich deshalb, weil mich der INR der USA, Bureau of Intelligence and Research, angesprochen hat. Er hat im Auftrag der US-Army damals meine Ausbildung bezahlt und mich im diplomatischen Dienst über das Auswärtige Amt als Kulturattaché angestellt. INR will, dass ich meinen damaligen Job als Attaché in Deutschland wieder aufnehme. Die jetzige Botschaft befindet sich in Bonn, eine neue Vertretung der USA in West-Berlin hat sich in Berlin- Dahlem in der Kronprinzenallee angesiedelt. Außerdem will er ebenfalls die Gruppe M, zu der ich doch anscheinend angehöre, in ganzer Stärke übernehmen. Ich sollte mit dem Leiter dieser doch wohl sehr erfolgreichen Anti-Nazi-Gruppe ein paar freundliche Worte wechseln.
„Das ist doch wunderbar“, meinte Jack und grinste in die Runde, „dann brauchen wir doch nichts in unserer eigenen kleinen Organisation ändern, dann bleibt alles beim Alten.“
„Nicht ganz Jack, sie alle wollen uns mit Haut und Haaren, sie buhlen um uns, um der geheimdienstlichen Konkurrenz einen großen Schritt voraus zu sein. Aber ich persönlich möchte mal für einen gewissen Zeitpunkt Urlaub machen, und euch Dreien das Land meiner Vorfahren zeigen. Ich lade euch ein, mich nach Nordamerika, in das Indianerreservat meiner Vorväter, meines Stammes, der Tulalip, zu begleiten. Ich möchte euch, als meine hiesigen engsten Vertrauten und Freunde, meinen dortigen Freunden, Verwandten und Familie vorstellen. Es würde mich sehr freuen, wenn ihr zustimmt. Die neuen Aufgaben hier in Deutschland können noch ein paar Wochen warten.“
Sie schauten ihn nachdenklich, aber doch sehr erfreut an, denn einen größeren Freundschaftsbeweis als diesen gab es nicht. Er, der sonst sehr verschlossen sein voriges Leben behütete, wollte ihnen seine ganze Vergangenheit, seine Träume und wichtigen Dinge des Lebens vor die Füße legen. Gräfin Mary zu Eltz nickte ganz versonnen und sagte:
„Joe, ein größeres Geschenk konntest du uns nicht machen. Ich spreche jetzt für mich, denn jetzt glaube ich, dass es dir wirklich ernst um unsere Liebe geht, um uns und unsere Zukunft. Ich danke dir von ganzem Herzen um diesen Vertrauensbeweis.“
Sie stand auf, und küsste ihn lange und intensiv auf den Mund.
„Joe“, räusperte sich Jack mit einem leicht belegten Unterton in seiner Stimme, „ich merke, dass es dir ernst ist. Du hast mich noch nie so sprachlos erlebt. Dazu passt gleich meine weitere Ankündigung, denn Janette Portier und ich wollen auch in Zukunft zusammenbleiben und uns ein gemeinsames Leben auf bauen. Ich denke, darauf sollten wir mit einem guten Glas Champagner anstoßen. Liebe Emma und Karl-Friedrich, ihr könnt näher kommen, wir haben gemeinsam etwas zu feiern.“
Das Telefon schellte.
„Hier spricht Korotkow. Ich möchte Kulturattaché Marvin sprechen.“
„Joe, Telefon für dich.“
„Marvin.“
„Hier spricht Korotkow, guten Tag Mr. Marvin, es ist lange her. Ich möchte Sie warnen, in Geheimdienstkreisen will man Ihren Kopf. Aber vorher suchen gewisse Leute das Nazi-Gold. Passen Sie auf sich auf.“
„Woher wissen Sie, wo ich mich aufhalte?“
„Mr. Marvin, Sie vergessen anscheinend in welchem Milieu ich mich ständig aufhalte. Ich werde immer herausfinden, wo Sie derzeitig sind. Aber diese Warnung wollte ich Ihnen in alter Bekanntschaft weiter geben, guten Tag.“
Joe erzählte seinen Freunden von diesem seltsamen Gespräch. Sie schüttelten nur den Kopf, bis Mary fragte:
„Wer ist Korotkow wirklich?"
Joe und Jack, zuckten mit den Schulter, wobei Joe murmelte:
"Das weiß keiner so genau. Ein Schatten? Ihr Schatten?"
Zumindest nahmen sie diese Warnung sehr ernst, ließen es aber erst einmal nur dabei, nicht weiter darüber nach zu denken, sondern sich um aktuelle Dinge zu kümmern.
Sie setzten sich mit den Hauptquartieren ihrer Organisationen, zwecks Planung eines mehrwöchigen Urlaubs, in Verbindung. Während Joe für sein Vorhaben nach Frankfurt reiste, musste Jack Forrester das Hauptquartier der britischen Militärverwaltung in Bad Oeynhausen aufsuchen, wo im Hotel Königshof auch ein Büro des MI 6 untergebracht war. Das „Bureau of Intelligence and Research“, kurz INR, befand sich in Frankfurt im I.G.-Farben-Haus der amerikanischen Militärverwaltung für Deutschland. Joe Marvin nutzte, wie Jack, einen der beiden viertürigen Opel-Olympia aus ehemaligen amerikanischen Botschaftsbeständen, weil er meinte, mit dem luxuriösen Mercedes-Maybach zu sehr auf zu fallen. Er fuhr auf der holprigen Landstraße in Richtung Hannover, und musste oft Panzerkolonnen der englischen Armee bis an den Rand der Straßengräben ausweichen.
Die britischen Panzerfahrer machten sich einen Spaß aus dieser Geschichte, denn Relikte aus vergangenen Zusammenstößen säumten die Straßenränder und erzählten ihre eigene Geschichte. Sie grüßten und winkten noch im Vorbeifahren, oder riefen ein paar höhnische Sätze. Joe wusste, dass er hier keine Chance hatte sich durch diverse Beschwerden Gehör zu verschaffen. Er stellte auf dem vorgelagerten Parkplatz des Hannoverschen Hauptbahnhofs seinen Opel ab, um sich laut Fahrplan einen Zug zum Frankfurter Hauptbahnhof heraus zu suchen. Irgendwie hatte Joe das Gefühl, beobachtet zu werden.
Eine geheime Staatspolizei in Form des SD-SS gab es nicht mehr. Wer sollte jetzt, in den beginnenden Nachkriegszeiten, an seiner Person Interesse haben? Er beendete die Studie des ausgehängten Fahrplanes, der ihm sagte, dass in bald 50 Minuten ein Schnellzug, von Hamburg kommend, hier anhielt und über Frankfurt Hauptbahnhof nach Stuttgart weiter fuhr. Joe drehte sich vorsichtig um und erblickte einen alten Bekannten. Er nannte ihn stets „Laubfrosch“, weil er als Droschkenfahrer in Berlin ein grünes Fahrzeug fuhr und ihm in verschiedenen Momenten aus der Klemme half.
„Hallo, “ meinte „Laubfrosch“, und kam direkt auf Joe zu, „mein derzeitiger Name ist Tim Malchow, „Laubfrosch“ gibt es nicht mehr. Ich arbeite für den INR, und soll Sie nach Frankfurt begleiten. Ich habe auch schon eine Fahrkarte für Sie in der Tasche, denn ich wusste, dass Sie bald hier am Bahnhof erscheinen, weil wir Sie und Ihre Freunde seit einiger Zeit rund um die Uhr observierten.“
„Warum habt Ihr uns beschattet? Zurzeit gibt es doch wenige gemeinsame Interessen, die es lohnt zu bewachen.“
„Tja, Mr. Marvin, das Nazi-Deutschland liegt am Boden und jede Gewinnernation will in den kommenden Jahren nicht als Verlierer dastehen. Die Positionen werden jetzt verteilt, dabei streben die Amerikaner, als die größte Nation, auch die größten Machtansprüche an. Ihr Engagement stellt auch gleich ein Bollwerk gegen den Kommunismus und dessen Verbreitung. Kommen Sie, der Zug erreicht gleich den hiesigen Bahnhof.“
Die beiden recht ungleichen Männer bestiegen einen der Wagen erster Klasse und hatten ein ganzes Abteil für sich. Jerry Marvin schwieg und schaute auf den Bahnsteig, wo einige britische Militärpolizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag präsent waren. Die hiesige britische Militärregierung ging anscheinend an öffentlichen Plätzen kein Risiko ein. Dazu zeigten sich offen verschiedene Personen in Zivil, die von allen Reisenden Fotos anfertigten, um über sie eine Identifizierungsdatei an zu legen. Joe war sich darüber im Klaren, dass er und Jack ihre alte Verkleidungstaktik wieder aufleben lassen mussten, um unerkannt wichtige alltägliche Entscheidungen, ohne das Wissen gewisser Beobachter, durchführen zu können.
Der Zug ruckte an und rollte langsam aus dem Bahnhof. Dicke Qualmwolken stieß die schwere schwarze Lok aus, um die Geschwindigkeit auf dem großen Schienengewirr langsam zu steigern. Immer wieder ratterten sie über die holprigen Gleisanlagen, deren Weichen über ein großes Stellwerk mechanisch und von Hand in die richtige Position gebracht wurden. Am Rand der Schienenanlage wucherte bereits hohes Unkraut über die Reste verkohlter Waggons oder alter ausgebrannter Loks. Joe stellte sich gerade vor, wie die angreifenden Flugzeuge im Tiefflug über die fahrenden Züge flogen und die vollbesetzten Waggons mit ihrem Bord-MG beschossen, oder ihre Bomben ausklinkten, um die Züge während der Fahrt durch die Wucht der vielen Explosionen aus den Schienen zu heben.
„Ich muss mal für kleine Männer“, sagte Tim Malchow und ging langsam in Richtung Toilette. Joe schaute hinter ihm her, und sah, dass zwei recht große Männer in braunen Lederjacken aus dem Nebenabteil Tim Malchow folgten. Joe dachte:
„Freund oder Feind?“
Er beschloss, den Beiden zu folgen und an die feindliche Variante zu glauben. Dabei erkannte er gerade im letzten Moment, dass sie aus dem hinteren Hosenbund eine Waffe zogen und sofort schossen. Ihre zwei Schüsse trafen die Holzverkleidung, welche die Toilettentür einrahmte, sausten als Querschläger durch den Gang, vorbei an den Abteilen und trafen den Schaffner, der gerade in den Gang trat. Joe sprang beiden Schießwütigen in den Rücken, und schlug ihnen mit der Handkante blitzschnell von der Seite an den Hals, dass sie augenblicklich zusammenbrachen. Der Schaffner hatte Glück im Unglück, beide Kugeln durchschlugen seine rechte Schulter und den Oberarm.
„Tim Malchow, du kannst aufmachen, die beiden können dir nichts mehr anhaben.“
Jerry wählte das vertraute „du“, was sie bereits in den Zeiten von Berlin als normale Anrede nutzten.Tim öffnete vorsichtig die Toilettentür, schaute erst auf die beiden bewusstlosen Männer und dann auf den verletzten Schaffner.
„Komm hilf mir mal tragen, wir legen den verletzten Schaffner in eines der leeren Abteile. Am Wagenende hängt ein Verbandskasten, der wird wohl fürs Erste genügen, um den Mann zu verbinden, sonst verblutet er uns noch.“
Ein weiterer Zugbegleiter nahm sich seines verletzten Kollegen an und beauftragte die Zugleitung, bei dem nächsten Kontrollabschnitt zu halten, um über ein Streckentelefon einen Arzt und Krankenwagen, sowie die britische Militärpolizei zu informieren, damit sie an der nächsten Haltestelle die beiden „Probleme“ im Zug übernahmen.Einer der beiden nieder geschlagenen Männer wachte auf und wollte sofort aufstehen. Joe drückte ihn mit dem Fuß auf den Fußboden des Waggons zurück und fragte:
„Was sollte diese sinnlose Schießerei, der Krieg ist bereits vorbei. Wer seid ihr?“
Keine Antwort.
„Seid ihr taub, oder sprecht ihr eine andere Sprache als Englisch? Französisch, deutsch, russisch? Na wird`s bald, heraus mit der Sprache.“
Sie sprachen keinen Ton, sondern starrten nur stur zur Waggondecke.
„Weißt du was Tim, wir schmeißen sie einfach aus dem Waggon, bei dem Tempo des Zuges überlebt das keiner. Dann sind wir erst einmal alle Sorgen los.“
„Ist ja gut, versuchen kann man es doch“, sagte einer der Männer schnell, damit Tim und Jerry es sich noch anders überlegen konnten, „wir arbeiten für den sowjetischen Geheimdienst, dem NKGB.“
„Nein, “ meinte Tim und grinste dabei, „ihr wollt Russen sein? Was Besseres fiel euch wohl nicht ein. Na, so viel Flunkerei auf einmal, kann doch kaum einer glauben. Ich will euch sagen, wer ihr seid.“
Dabei schaute Tim die beiden Männer mit so wütender Miene an, dass sie dabei ganz unruhig wurden.
„Ihr seid zwei Auftragskiller des früheren deutschen SD-SS, und gehört der „Organisation Gehlen“ an, dem neuen deutschen Geheimdienst, gebilligt und organisiert durch die Amerikaner, zusammengewürfelt aus der Abteilung „Fremde Heere Ost“. Euer Chef, Reinhard Gehlen, war General der Wehrmacht. Euer Auftrag, möglichst viele bekannte Agenten aus den konkurrierenden Organisationen auf spüren, um sie zu liquidieren. Ist es so, oder ähnlich?“
„Warum fragst du denn noch, wenn du es doch schon weißt?“
Joe schüttelte mit dem Kopf. Wie hatte sich doch die Situation in so kurzer Zeit verändert? Das Nazi-Deutschland liegt zerstört am Boden und eine der Siegermächte erlaubt dem ehemaligen Gegner sich neu aufzustellen? Aber warum? Will man so die vielen versprengten und untergetauchten Leute vom Reichssicherheitsdienst hervorlocken, um sie festzusetzen, oder bedient man sich ihres Wissens gegenüber anderen Geheimdiensten? Joe durchsuchte beide Männer gründlich und fand natürlich nichts. Klar, wer was zu verbergen hat, trägt nicht auch noch einen Ausweis mit dem entsprechenden Namenshinweis bei sich. Die Waffen sollten die englischen Militärpolizisten an sich nehmen, sie gehörten zum Beweis der Schießerei. Joes Blick wanderte zufällig zu den Schuhen dieser beiden Männer. Sie waren mit extra dicken Sohlen versehen, deren Art ihm irgendwie bekannt vor kam.
Er zog beiden Männern die Schuhe von den Füßen und sah grinsend auf die löchrigen Socken, die auch schon mal bessere Tage erlebt hatten. Die Sohlen ließen sich durch einen versteckten Verschluss aufklappen. Joe pfiff anerkennend durch die Zähne, denn hier hatten sich findige Schumacher etwas Besonderes ausgedacht. In einer Sohle steckte eine superflache Walter P38 mit abnehmbarem Lauf, dazu ein Reservemagazin mit acht Patronen. In der anderen Sohle entdeckte Joe eine Minikamera, mit einem hochauflösenden Objektiv, dazu Spezial-Einbruchswerkzeuge zum Öffnen verschiedener Schlösser und für den Notfall aufgerollte Einhundert-Dollar-Noten, um von der wirklichen Bühne abzutauchen.
Nur wenn diese Männer so einen Aufwand mit ihren Hilfsmitteln trieben, wo waren die Pässe? Joe nahm sich beide Lederjacken der Herren vor und fand in dem lockeren Ledergürtel auf dem Rücken der Jacken eine schmale Öffnung, groß genug, um verschiedene Dokumente zu verstecken. Joe zog drei verschiedene Pässe hervor, einen deutschen, britischen und amerikanischen Pass. Dazu eine russische Legimitation als Mitglied der neu gegründeten Deutschen Volkspolizei, genannt Polizei der Länder. Joe und Tim schauten sich an und grinsten, denn diese beiden Herren gehörten zu den Profis der Geheimdienstler. Joe probierte es mit der deutschen Sprache und meinte:
„Meine Herren, wenn ich mir eure Pässe anschaue wird mir klar, dass ihr Mitglieder der polizeilichen Eliteeinheit Himmler wart, die in recht brutaler Art die Judenfrage in Berlin lösten.“
Die Reaktionen von ihnen auf die deutsche Sprache zeigte ein gewaltiges Erschrecken, sie wussten, man hatte sie enttarnt.
„Nun Friedrich Steinhoff und Karl Ahrend, dies scheint eurer richtiger Name zu sein, ich ging einfach davon aus, dass einer der Namen auf diesen Pässen eure richtige Identifikation preisgab. Ich denke, die britische Militärpolizei wird sich über euren Besuch in ihren Zellen mit gesiebter Luft freuen.“
Der Zug hielt im stark beschädigten Hauptbahnhof von Kassel, wo man durch große Einschusslöcher der Bahnhofhalle in den blauen Himmel schauen konnte. Ein Krankenwagen mit Notarzt holte den verletzten Schaffner ab, um ihn in einem naheliegenden Krankenhaus ärztlich versorgen zu können. Sechs schwerbewaffnete britische Militärpolizisten bestiegen den Zug-Waggon, um die beiden deutschen Nazi-Killer ab zu holen. Ein britischer Sergeant schrieb sich die Angaben zum Vorgang und Teile des indirekten Verhörs von Joe auf, steckte die teils gefälschten Pässe ein und wünschte eine gute Weiterfahrt.
Der Schnellzug erreichte mit reichlicher Verspätung den Frankfurter Hauptbahnhof. Der Bahnhof trug nur wenige Beschädigungen der jüngsten Luftangriffe aus dem Zweiten Weltkrieg davon. Lediglich größere Glasflächen, sowohl im Dach- wie auch im Seitenbereich, zerplatzten durch die nahen Explosionen der Bomben und Granaten. Man half sich mit Holzverschlägen, um die Fahrgäste vor Schlechtwetterkapriolen zu schützen. Ein Provisorium, was noch viele Jahre erhalten blieb. Mit einem Taxi, vor dem Krieg noch Droschke, ließen sich Tim Malchow und Joe Marvin zum I.G.-Farben-Haus chauffieren, wo nicht nur das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte unter General Dwight D. Eisenhower in Deutschland untergebracht war, sondern auch das US-Office of Military Government for Germany, kurz OMGUS= Amt der Militärregierung für Deutschland, Außenstelle Frankfurt am Main. Außerdem bezog auch das Büro of Intelligence and Research, INR, Nachrichtendienst des Außenministeriums der USA, hier ein paar Räumlichkeiten.
Der Amtsleiter, Ronald Couper, begrüßte beide Ankömmlinge, stellte die nächsten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor, um dann auch sehr schnell auf den Kern der ganzen Angelegenheit zu kommen.
„Mr. Marvin, Ihr guter Ruf in Geheimdienstkreisen eilt Ihnen voraus. Ihre Tätigkeit als Kulturattaché und Helfer vieler jüdischer Familien, die durch Ihre Hilfe vor den Nazis fliehen konnten, zollt Ihnen einen gehörigen Respekt. Aber der Krieg ist vorbei und wir müssen uns neu aufstellen. Ihr Arbeitgeber ist immer noch die US-Army, Sektion militärischer Abwehrdienst, zu dem auch der INR als direkte Unterstellung des Außenministeriums gehört. Major Command Joe Marvin, wir wollen uns neu organisieren. Sie gingen in Berlin einen sehr kompromisslosen wie auch unorthodoxen Weg, um gegen den SD-SS zu bestehen. Wir aber wollen, dass sie sich unserer Organisation unterordnen und in unseren vorbereiteten Maßnahmen mitwirken. Selbstverständlich bleiben Sie für Deutschland auch weiterhin der Kulturattaché, damit wir über sie die Kontakte zur adeligen Gesellschaft pflegen können.“
„Mr. Couper, bevor Sie mir hier noch lange Vorträge über das Geheimdienstwesen halten wollen, werde ich Ihnen gleich sagen, wie mein künftiger Weg im Nachkriegsdeutschland aussieht. Doch vorab erkläre ich Ihnen mit ein paar Worten meine Meinung zum Geheimdienst. Ich habe mich nicht in die Rolle eines Agenten gezwängt, sondern wollte auf Grund meines Studiums die Kultur in Deutschland weiterhin pflegen. Man hat mich von Seiten der Nazis und der USA in eine Rolle gebracht, die ich gar nicht bekleiden wollte. Um meine persönlichen Ziele zu erreichen, musste ich mich mit den Wölfen arrangieren. Das beabsichtige ich auch weiterhin zu tun, aber mit meinen Vorstellungen und meinen Ideen. Ich werde wohl das INR in gewisser Weise unterstützen, aber nicht Ihr Befehlsempfänger sein. Die nächsten Wochen trete ich einen mehrwöchigen Urlaub in den USA an, um nach mehreren Jahren endlich meine Familie wieder zu sehen. Das zu meinen Plänen in der nächsten Zeit, alles Weitere ergibt sich während meiner Tätigkeit.“
„Major Command, so geht das nicht, Sie können hier nicht Ihre eigene Suppe kochen, Sie müssen sich schon an die allgemeinen Spielregeln halten und die schreibt Ihnen die amerikanische Armee vor.“
„Mr. Couper, Sie haben mich nicht ganz verstanden, ich bin als Kulturattaché für Deutschland eingestellt worden, demnach unterstehe ich dem amerikanischen Botschafter und nicht dem Geheimdienst. Ich weiß nicht, was Sie bezwecken, aber ich lasse mich nicht von Ihnen in ein Korsett stecken, was letztlich nicht passt. Die Botschaft gehört zum Außenministerium und untersteht hier in Deutschland dem Außenminister der USA. Er ist mir gegenüber weisungsbefugt und nicht Sie vom INR. Damit betrachte ich unser Gespräch als beendet.“
„Major Command Marvin, so einfach können Sie sich das nicht machen, das grenzt schon an eine Befehlsverweigerung.“
„Mr. Couper, ich weiß nicht in welchem Rang Sie stehen, aber der dürfte nicht höher sein als meiner. Sie wollen mir eine Befehlsverweigerung unterstellen, obwohl bis jetzt noch nicht einmal ein Befehl ausgesprochen wurde? Was bilden Sie sich eigentlich ein? Ich werde nach meinem mir zustehenden Urlaub meine Tätigkeit als Attaché wieder aufnehmen und nicht vorher. Guten Tag.“
Joe Marvin stand auf und verließ stink sauer und innerlich aufgewühlt das Büro des INR. Was sind das hier für aufgeblasene Typen. Befehlsverweigerung unterstellen, so weit kommt es noch. Das wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Er ging hinunter in die große Eingangshalle, stellte sich vor die große Hinweistafel, um zu erfahren, wo das Büro des General Dwight D. Eisenhower zu finden war.
„Guten Tag, Major Mavin, suchen Sie jemanden?“Joe drehte sich um und stand seinem ehemaligen Ausbilder Sergeant Billy Boysen aus Fort Monroe gegenüber. Joe war hoch erfreut, diesen doch sehr erfahrenen und besonnenen Mann wieder zu sehen.
„Hallo, First Sergeant Boysen, schön Sie hier zu treffen. Wie ich sehe, hat man Ihre Beförderungen schnell voran getrieben. Ich freue mich für Sie, denn wenn es jemand verdient hat, dann Sie. Ja, First Sergeant, ich war gerade im Büro des INR und habe das Büro sehr verstimmt verlassen. Man will mich zwingen für den INR geheimdienstlich tätig zu sein, obwohl meine eigentliche Aufgabe die des Kulturattaché für Deutschland ist. Man unterstellt mir sogar Befehlsverweigerung. Ja, ich habe in Berlin während der Kriegsjahre den Reichssicherheitsdienst bekämpft, aber immer unter der Primmisse Gerechtigkeit für politisch Verfolgte, wobei meine Aufgabe als Attaché eine wichtige Rolle spielte. Jetzt soll ich hier als unterster Befehlsempfänger irgendwelche Observationen vornehmen. Ich möchte mich gerne mit General Eisenhower unterhalten, den ich bereits in den USA kennen lernte.“
„Major, ich bringe Sie zum General, er ist gerade für ein paar Tage in Frankfurt. Er wird sich freuen, Sie zu sehen.“
Sie gingen durch mehrere Flure, ein paar Treppen nach oben in den 2.Stock des riesigen Gebäudes und standen vor der Bürotür des Generals. First Sergeant Boysen klopfte und sie hörten ein kräftiges „Herein“.
„Ah, First Sergeant Boysen mit Besuch, was kann ich für Sie tun?“
„Sir, Major Command Joe Marvin möchte Sie gerne sprechen.“
„Major Command Joe Marvin, waren Sie nicht im Offiziersstab von General David Parkins und traten in den diplomatischen Corps?“
„Ja, Sir, das ist richtig. Ich trat danach 1935 meine erste Stelle in Berlin als Kulturattaché an. Ich bin jetzt zehn Jahre in Deutschland, es hat sich viel verändert.“
„Major, was kann ich für Sie tun? Ich glaube nicht dass Sie mich nur zu einem Plausch aus alten Zeiten besuchen, da steckt sicherlich mehr dahinter. Na, los, schießen Sie los.“
Joe berichtete kurz über seine Zeit in Berlin, der Zusammenarbeit mit der MI5, jetzt MI6, aus der eine schlagkräftige geheime Truppe M hervorging und der jetzigen Aufforderung des INR, da tätig zu werden. So nebenbei erwähnte er noch seinen ersten Urlaub nach zehn Jahren Dienst, den man ihm nicht gewährte.
„Major Marvin, ich verstehe Ihre ganzen Beweggründe und wäre auch nicht erpicht auf diesen Dienst. Außerdem glaube ich, dass Ihre kleine Truppe viel effektiver arbeiten kann, wenn sie weiter aus dem bisherigen Verborgenen arbeitet und weiterhin die kleine Unbekannte im großen Geheimdienstgefüge spielt. Major Marvin, ich unterstelle hiermit Ihren Job als Kulturattaché von Deutschland der amerikanischen Militärverwaltung Berlin und Frankfurt. Ihre Aufgabenverteilung soll in freiem Ermessen geregelt sein. Sämtliche Hilfsmittel zur Erfüllung Ihres Jobs erhalten Sie über meine Verwaltung, der Sonderabteilung West.
Sie melden sich gleich bei Colonel James Brighton, der Ihnen alle Sondervollmachten mit meiner Unterschrift zur Verfügung stellt. Während First Sergeant Boysen Sie dahin begleitet, werde ich den Colonel von unserem Gespräch unterrichten. Weiterhin führe ich noch ein kurzes Telefonat mit der Abteilung INR, die Sie dann nicht mehr behelligen wird. Ach da wäre noch etwas. In drei Tagen fliege ich nach Berlin, ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten. In Hannover-Evershorst existiert ein Fliegerhorst der Kanadischen Armee, dort mache ich einen Zwischenstopp, Sie steigen zu, wir fliegen dann zusammen weiter Nach West-Berlin. Wir haben zwar dort keine Botschaft, wie zur Zeit der Nazis, aber in der Kronprinzenalle in Dahlem eine sehr gute amerikanische Niederlassung. Außerdem zählt Westberlin auch zu Ihrem Aufgabengebiet. Was halten Sie davon?"
„Ich bin sehr überrascht, aber auch hoch erfreut, Sie begleiten zu dürfen, Sir.“
„Major Marvin kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“
„Nein Sir, ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Ich werde pünktlich am Fliegerhorst eintreffen.“
„Ach noch etwas Mr. Marvin, First Sergeant Boysen wird ihnen die Abflugzeiten besorgen.“
Joe Marvin verließ tief in Gedanken das I.G.-Farben- Haus, die Hände in beiden Hosentaschen vergraben, schlenderte er um das Gebäudekomplex und blickte auf eine wunderschöne Parkanlage, mit Terrassen und stufig angeordneten Wasserbecken, wo besonders eine Nymphenskulptur von einem Frankfurter Bildhauer und Künstler mit Namen Fritz Klimsch hervorstach. Den Blick auf das große Kasino, eingerahmt von sehr altem Baumbewuchs, meinte man für einen Moment in einer anderen Welt zu sein.
An einem Nebeneingang des I.G.-Farben-Hauses hing ein kleines Schild, was Joe sehr bekannt vor kam: Department of the Army Detachement, kurz: DAD, Abteilung des Armeesonderkommandos. Joe wusste aus vergangenen Lehrzeiten, dass dies die Tarnbezeichnung für „die technische Zentrale der CIA“, oder auch Hauptquartier der CIA in Deutschland war. Hier hatte sich also die mächtigste Geheimdienstorganisation der Welt, die CIA, eingenistet. Klar, das machte auch Sinn, direkt in der Nachbarschaft die INR als Informationssammler für das Außenministerium, oder die Armeeschaltzentrale der US-Army als Militärverwaltung in Deutschland.
Joe setzte sich an eines der Wasserbecken, um seine Gedanken zu sortieren. Man hatte ihn mit vielen Sondervollmachten ausgestattet; er hatte Zugang zu allen amtlichen Passämtern; man stattete ihn und seine Gruppe mit der neusten elektronischen Technik aus; Fahrzeuge neuster Bauart, neuste Waffentechnik, Reisemittel für sich und seine Gruppe, weltweit; und, er als amerikanischer Kulturattaché Joe Marvin jetzt für ganz Deutschland sollte General Eisenhower nach Berlin begleiten. Joe musste diese Ankündigungen zunächst mal verdauen. Wollte man ihn ködern? Auf eigene Leute ansetzen? War dieses Vertrauen nicht ein wenig hoch gegriffen? Oder wollte man seine bisherige Arbeit noch bestärken? Er wusste es nicht und nahm sich vor, sehr vorsichtig mit allen Privilegien umzugehen.
Zwei Wasserbecken weiter saß Tim Malchow auf einer Bank, tief in sich gekehrt, so als wenn ihn etwas sehr beschäftigte. Joe ging langsam auf den ehemaligen „Laubfrosch“ zu, setzte sich, ohne etwas zu sagen, neben Tim auf die Bank, lehnte sich zurück, um die noch letzten Strahlen der Sonne auf zu fangen.
„Sag mal Joe, du scheinst wohl in Geheimdienstkreisen eine große Nummer zu sein. Als der General bei Couper anrief, sprach nur Einer, und das war der General. Mit wenigen Sätzen nahm er Couper aus einander, und drohte ihn zu degradieren. Couper wäre viel lieber in ein kleines Loch gekrochen. Welche Vorteile hast du? Der General hat wohl an dir einen Narren gefressen.“
„Weißt du Tim, wir beide kennen uns bereits eine lange Zeit. Du hast mir in Berlin schon aus mancher problematischen Lage geholfen, dafür bin ich dir sehr dankbar. Ich habe gegen die Nazi-Schergen als Attaché versucht anzugehen; ich traf sie an ihren empfindlichsten Stellen. Doch meine ureigenste Aufgabe als Kulturattaché hat etwas mit Kultur zu tun, Kunst, Musik, Sprache und Geschichte und das schien Mr. Couper nicht zu begreifen. Er sieht den Attaché genauso als heimlichen Agenten, wie die SD-SS der Nazis auch, der sich angeblich hinter seiner Aufgabe versteckt. Ich gebe zu, dass ich meine Stellung auch in dieser Richtung etwas missbraucht hatte, aber immer nur dann, wenn es die jeweilige Situation verlangte. Weißt du Tim, mich zu observieren, lohnt sich nicht. Das ist vertane Zeit. Ziehe deine Leute ab und konzentriere dich auf wichtigere Dinge. Vielleicht sehen wir uns mal wieder, es würde mich freuen, nur im Moment möchte ich mit meiner zukünftigen Frau in die USA reisen, damit sie meine Familie und meine Heimat kennen lernt. Alles, was danach hier in Deutschland auf mich zukommt, schiebe ich noch weit weg. Mache es gut.“
Joe musste ihn ein wenig anflunkern, denn die Gruppe M sollte weiter im tiefsten Verborgenen arbeiten, kein Außenstehender erhielt unmittelbaren Zutritt zu dieser kleinen Gemeinschaft. M blieb eine unsichtbare Institution. Nur so war es möglich, erfolgreich bestimmte Aktionen durchzuziehen.Joe Marvin erreichte ohne weitere Zwischenfälle den Hauptbahnhof von Hannover und verließ den Zug mit wachen Augen, um alle Eventualitäten im weiteren Blick zu haben. In der Bahnhofshalle kaufte er sich eine Tageszeitung und einen Becher Kaffee, stellte sich an einen der Stehtische und trank den recht heißen Kaffee in kleinen Schlucken. Dabei riskierte er einen gelangweilten Rundblick, schaute zwischendurch in seine Zeitung und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sehr dilettantisch hatten sich vier Männer mit breitkrempigen Hüten in der Bahnhofhalle verteilt, um ihn genau zu beschatten und nicht aus den Augen zu verlieren. Joe holte aus seiner Jackentasche die kleine hochauflösende Kamera heraus, legte sie so ganz nebenbei auf den Stehtisch und fotografierte die vier Männer, wie in früheren Zeiten. Er faltete die Zeitung zusammen, trank den restlichen Kaffee und ging auf den nächst stehendem Mann zu und sagte:
„Wenn Sie mich schon beschatten wollen, dann versuchen Sie es mal professionell. Ihre anderen drei Kollegen machen auch keine bessere Figur. Ihr Kollege Tim Malchow scheint in der Personenauswahl seiner Agenten kein gutes Händchen gehabt zu haben. Also, macht, dass Ihr verschwindet, solche Typen wie euch Vier lasse ich noch am kleinen Finger verhungern. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“
Der Mann schaute so verdattert drein, dass ihm keine weitere Erwiderung einfiel. Joe konnte noch aus den Augenwinkeln erkennen, dass sie zu ihrem Kollegen eilten und wissen wollten, was ihr Zielobjekt eigentlich wollte. Joe setzte sich in seinen Opel-Olympia und nutzte die Landstraße nach Gilten, am Rand der Lüneburger Heide. Unterwegs fuhr er in einen schmalen landwirtschaftlichen Wirtschaftsweg, um auf das Fahrzeug seines „Begrüßungskommandos“ zu warten, welches auch nach kurzer Zeit im Eiltempo an ihm vorbeirauschte.
Joe schaute auf seine Landkarte der Umgebung, um zu sehen, welche zusätzlichen Wege er noch nutzen konnte. Aber anscheinend gab es keine weiteren Ausweichmöglichkeiten, sodass er die Landstraße mit den vielen Schlaglöchern durch englische Panzer weiter befahren musste. Es dauerte auch nicht lange und eine Panzerkolonne, bestehend aus fünf Cromwell Cruiser Tanks, zottelte langsam Joe Marvin entgegen. Sonst jagten sie mit Höchsttempo durch die Natur, heute schien ihr Geschwindigkeitsrausch verebbt zu sein. Sie fuhren am Opel von Joe vorbei, ohne ihn zu beachten.
Joe hielt an, fotografierte die vorbeifahrenden Ungetüme aus reiner Vorsicht und setzte seine Fahrt in Richtung Gilten weiter fort. Die Erklärung für das sonderbare langsame Fahren der englischen Panzer wurde auch gleich, wie im Film, geliefert. Das Fahrzeug der vier Agenten des INR lag sehr zermatscht und zerknittert im Straßengraben, der Motor zischte noch, Wasserdampf schoss aus einem geplatzten Schlauch, dazwischen vier Männer, furchtbar entstellt, sie klemmten in den Blechresten des Autos. Ihr Blut floss langsam durch das Gras in den Straßengraben. Ihnen konnte keiner mehr helfen. Eine Tragödie, die sicherlich nicht gewollt war, aber durch diese sinnlose Raserei der Panzerfahrer schon mehrere Male heraus gefordert wurde. Joe schaute noch einmal auf diesen furchtbaren Unglücksort und fuhr mit seinem kleinen Opel sehr nachdenklich die letzten Kilometer nach Gelten. Sie warteten bereits auf ihn, die Dämmerung zog über das Land, es versprach ein lauer Juliabend zu werden.
Sie setzten sich zusammen mit den Bauersleuten Schönberg auf die umrankte Terrasse, tranken einen kühlen trockenen Weißwein und aßen dazu kalten Braten mit frischem Fladenbrot.
„Nun Jack, was wollte der MI6 von dir?“
„Wie du bereits sagtest, sie wollen unsere ganze Truppe, ohne wenn und aber. Außerdem hätten sie es nicht gerne, wenn sich eigene Leute selbständig machten und ohne Abstimmung mit dem MI6 bestimmte Aktionen durchführten. So etwas verstieß gegen die festen Regeln der Organisation. Ich habe nur dazu geäußert, dass ich früher mit dem MI5 über eine vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit wertvolle Agentenarbeit ganz im Verborgenen leisten konnte und wär nicht bereit, stur im militärischen Befehlsjargon sinnlose Schattenspiele vor zu nehmen. Dieser Büroleiter, Johnesson Smith, fauchte mich an, dass sich die Zeiten geändert hätten und der jetzt neuentstandene MI6 militärische Disziplin in den ganzen Laden gebracht hat, damit nicht jeder seine eigene Suppe kochen könnte. Ich erklärte ihm im ganz ruhigen Ton, dass die noch nicht bestandene Zusammenarbeit hiermit beendet sei. Ihr glaubt nicht,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Caspar de Fries
Bildmaterialien: Caspar de Fries
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7597-5
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