Cover

Prolog

Name: Rainer Göcht

Roman und Buchautor

Zitat: Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben

Texte: Rainer Göcht

Bildmaterialien: Rainer Göcht

Alle Rechte vorbehalten

Tag der Veröffentlichung: 12.11.2013

Martin und Adele

Diese Geschichte stammt aus den Vorkriegsjahren des zweiten Weltkrieges und wurde gerne von meiner Großmutter erzählt.

 

Im Pommernland gehörte die Weihnachtsgans zur ständigen Tradition. Viele Familien der Landbevölkerung zogen das Jahr über eine große Schar Gänse heran, um sie in der Weihnachtszeit als Mastgans zu verkaufen.

Bevorzugt wurde die große graugescheckte oder weiße Pommerngans, ein extra großer Vogel, der im Freiland bis zu 9 kg Lebendgewicht erreichte.

Die einzelnen Familien markierten ihre Gänse mit einem bestimmten Ring am Gänsebein und einem schmalen, meist farbigen Halsband, um sie besser am Abend, nach dem Abtrieb in den eigenen Stall zu bringen. Jeden Tag brachte eine Treiberin, genannt Gänseliesel, die vielen Gänse auf die weiten saftigen Wiesen hinaus, damit sie sich gut entwickeln konnten. Die pommersche Liesel aus dieser Zeit war eine sehr junge, alleinerziehende Mutter mit einem kleinen Jungen namens Martin, der im Jahr zuvor, genau am Martinstag, geboren wurde. Jeden Tag nahm sie den kleinen Martin mit hinaus auf die weiten Wiesen zum Treiben der riesigen Gänseschar. Das unglaubliche Geschnatter dieser vielen Vögel schien dem kleinen Martin zu gefallen, denn er versuchte mit seiner kindlichen Stimme diesen heiseren und rauen Ton der Gänse nachzuahmen. Irgendwie gewöhnten sich die Tiere an diesen kleinen Jungen, und schienen ihn zu mögen. Die Gänseliesel setzte ihren Sprössling mitten zwischen die große Schar der Gänse, um sich so ihrer eigentlichen Arbeit, dem Umkreisen und Zusammenhalten der Vogelschar, zu kümmern. Dabei nutzte sie einen langen dünnen Stock, um sich besonders freche Gänse vom Leib zu halten, oder alleinherumlaufende Tiere zur Hauptgruppe zurück zu schicken.

Der kleine Martin stakste auf seinen kleinen Beinchen zwischen den Gänsen hin und her, quietschte vor sichtlichem Vergnügen, zog der einen oder anderen Gans am Schwanz, und klatschte dabei in die Hände. Eine Gans hatte es ihm besonders angetan, denn sie entwickelte zu ihm mütterliche Gefühle. Sie blieb immer in seiner Nähe, und achtete wie ein Wachhund darauf, dass ihm auch nichts passierte. Wenn seine Mutter ihm sein vorbereitetes Essen brachte, knurrte die Gans ganz warnend, und beobachtete jede Bewegung, die von der Gänseliesel ausging. Ihr blieb diese seltsame Freundschaft natürlich nicht verborgen. Sie ermunterte und beruhigte die große Graugans auch noch zu diesem seltsamen Gehabe, denn so konnte die Liesel sicher sein, dass ihrem Filous nichts geschah.

Diese ungewöhnliche Freundschaft sprach sich auch in der gesamten Region herum. Der Besitzer dieser Gans schüttelte nur mit dem Kopf. Ihm war klar, dass diese Freundschaft zwischen der Gans und dem kleinen Jungen Martin nur von sehr kurzer Dauer sein konnte. Jeden Morgen, vor dem Auftrieb zu den Wiesen, beobachtete er das seltsame Schauspiel zwischen Martin und der Gans. Die Wiedersehensfreude nahm an Intensität zu. Die Gans schnatterte, drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, der kleine Martin klatschte vor Vergnügen in die Hände, und seine Augen leuchteten vor unsagbarem Glück. Die umstehenden Leute schüttelten nur noch mit dem Kopf, denn so ein seltenes Schauspiel bekamen sie nicht alle Tage zu sehen.

An einem schönen sonnigen Morgen, gerade als die Liesel die große Gänseschar auf die Wiesen treiben wollte, geschah das Unfassbare. Der kleine Martin stand ganz aufgeregt vor seiner Gans und quasselte auf sie ein. Alle Leute, die sich in der Nähe aufhielten, unterbrachen ihre bereits begonnene Tätigkeit und hörten staunend zu.

Sie schwörten, den Namen „Adele“ verstanden zu haben. Immer und immer deutlicher verstanden nun Alle dieses erste ausgesprochene Wort des kleinen Jungen. In aller Munde sprach man nur noch von „Martin und Adele“.

Der Besitzer der „verrückten Adele“ stand vor einem furchtbarem Dilemma. Sein Gewissen sagte ihm, dass er unmöglich „Adele“ zur Schlachtbank schicken konnte. Seine Nachbarn und Freunde redeten ihm zu, dem kleinen Martin diese „Freundin“ zu schenken. So geschah es, dass das seltsamste Paar in Pommern vereint wurde.

Die Gans Adele lebte noch einige Jahre als schnatternder Wachhund mit der Liesel und ihrem Sohn Martin zusammen.

Impressum

Texte: Rainer Göcht
Bildmaterialien: Rainer Göcht
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner Grossmutter, die uns Kindern diese Geschichte erzählte.

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