Caspar de Fries
Schriftsteller
Zitat : Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben.
Texte und Bildmaterialien: Caspar de Fries
Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2013
Die Handlung und die Namen der Darsteller sind frei erfunden, sonstige Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
Der Roman befasst sich mit einem sozialkritischen Thema aus dem Mittelalter und beginnt mit dem Frühjahr des Jahres 1439.
Die Ausbeutung der Bevölkerung durch die Feudalherren wurde oft sehr übertrieben. Während die reichen Landbesitzer sich in ihrem überschwänglichen Lebensstil frönten und immer mehr Abgaben aus den kargen Erträgen der Landbevölkerung forderten, versuchten diese Leute mit Geschick, Mut und Lebenswillen ihre oft kinderreiche Familie durch viel Arbeit zu kleiden, zu ernähren und am Leben zu halten. So nebenbei führten die regierenden Fürsten nachbarliche Kriege, um ihren Ruhm zu stärken und die Ländereien aus zu dehnen. Um dieses zu bewerkstelligen, musste jede Familie männliche Personen als Soldaten zur Verfügung stellen. Natürlich gingen diese Maßnahmen nicht ohne Probleme von Statten, viele junge angehende Soldaten, ab 14 Jahre, versuchten dieser „Einberufung“ aus dem Wege zu gehen. Leider gelang dies nicht allen jungen Männern, denn sogenannte Presskommandos holten die Drückeberger aus ihren Verstecken und zwangen sie zum Soldatendasein. Flucht bestrafte man auch zu dieser Zeit mit dem Tode.
Die meisten Familien lebten von der Landwirtschaft oder gingen einem Handwerk nach. Die Abgaben an die Herrschaftsfamilien waren so hoch, dass auch die letzten Rücklagen der eigentlich selbstständigen Leute wie eine Zitrone ausgequetscht wurden. Es folgte der Weg in die Leibeigenschaft und eine vollkommene Abhängigkeit zur herrschenden Schicht, die einseitig nicht gekündigt werden kann. Eine Flucht hieraus bezahlten die Meisten mit ihrem Leben.
Die Geschichte erzählt vom Leben, den Abenteuern und dem beruflichen Aufstieg des fast fünfzehn jährigen Kasper, der mit viel Mut und Willen das karge und entbehrungsreiche Leben seiner Familie verlässt und sein kommendes Schicksal selbst bestimmen möchte. So wie seine beiden älteren Brüder wollte er nicht enden, sie versuchten sich vor den Schergen des Kurfürsten Jacob I. von Trier zu verbergen, und verloren dabei ihr Leben.
Sein junges eigenständiges Arbeitsleben begann mit der Verpflichtung als Fuhrmann, was bereits, in dieser Zeit, schon als sehr angesehen und mit sehr viel Respekt betrachtet wurde. Ein Fuhrmann musste verschiedene Berufe können, vom Wagenlenker bis zum Tierarzt, vom Seiler bis zum Stellmacher oder Wagner, vom Schmied bis zum Spurenleser. Die Fuhrleute waren eine eingeschworene Gesellschaft, die nicht jeden in ihrer Gemeinschaft auf nahmen. Es gab einen Ehrenkodex untereinander: Helfe in der Not, so hast Du Freunde im Leben, und bis in den Tod. In der Zeit des fortschreitenden Handels in ganz Europa, der Besiedelung verödeter Landschaften, war die Verpflichtung eines guten Fuhrmannes viel Wert und wurde überdurchschnittlich gut bezahlt. Hinzu kam, dass sie keiner bestimmten Knechtschaft oder Lehnsherrschaft angehörten. Ihr Beruf gehörte zu den freien Berufen und unterstand nur dem Kaiser oder König des Landes. Ein Fuhrmann konnte die Möglichkeit nutzen auf zu steigen und als eigener Händler mit einer eigenen Fuhrmannschaft die Länder bereisen, bloß fehlte den meisten die Gabe, lesen und schreiben zu können.
Noch vor Sonnenaufgang spannten Kasper und sein Vater den Ochsen vor den Karren, beluden den hinteren Teil mit Zwiebeln, Speiserüben und ein paar Kohlpflanzen, dazu stellten sie noch eine Holzkiste mit zwei selbst gezogenen Hühnerküken, um sie feil zu bieten.. Das frühe Erreichen des Marktes in der naheliegenden Stadt Kieleburch, ermöglichte das Ergattern eines günstigen Platzes zum Verkauf ihrer Waren. Der Ort befand sich im hügeligen Gelände des Eifelvorlandes und war Teil des Kurfürstentums Trier. Der ausgefahrene Weg mit den tief gefurchten Wagenspuren beanspruchte viel Geschick mit dem Umgang des schwerfälligen Ochsen und dem rumpelnden Gefährt, zumal es die Nacht regnete, und das Geläuf sehr aufgeweicht und glitschig war. Der junge Kasper, ein kräftiger heranwachsender junger Mann, mittlerer Größe, wirkte leicht schlaksig, mit etwas abstehenden Ohren, einer gebogenen Nase, grünblauen Augen und sehr widerspenstig wachsenden blonden Haaren, lenkte das Gespann sehr umsichtig, sodass sein Vater sich gemütlich nach hinten lehnte und seine Tonpfeife genussvoll paffen konnte. Beide schwiegen und hörten den ersten Gesängen der bereits wachen Vögel zu. Im Osten ging langsam die Sonne auf, ein sanft orangeroter Schimmer am Horizont vergrößerte sich. Leichte Bodennebelschwaden verschwanden durch das Ansteigen der Tagestemperatur. Welch ein immer wieder kehrendes Schauspiel mit immer neuen Varianten lud den Betrachter zum Träumen ein, um aber kurz darauf in die volle Realität zurück zu schnellen, als hinter ihnen Peitschengeknalle und Kommandorufe einer nahenden Kutsche zu hören waren. Beide blickten sich um und erkannten die herrschaftliche Kutsche in vollem Tempo auf sie zu kommen. Aber wohin sollten sie ausweichen? Der Kutscher rief bereits von weitem: „Wollt ihr wohl den Weg freimachen, ihr faules Pack? Ich lasse euch gleich die Peitsche spüren“. Kasper gab dem Ochsen seine Kommandos und fluchte vor sich hin, sein Vater saß ganz ehrfürchtig auf dem Karrenbock und hielt seine Kopfbedeckung in Form einer Kappe in der Hand. Irgendwie schaffte Kasper es, das schwere Gefährt auf die schräge Böschung zu lenken, um die Herrschaften vorbei zu lassen. Der Kutscher ließ es sich aber nicht nehmen, mit der Peitsche noch nach dem Vater von Kasper zu schlagen und traf ihn an der rechten Wange, sodass es blutete. Die zwei Soldaten, die hinten auf einem Podest der Kutsche standen, lachten und verhöhnten die beiden im Vorbeifahren. „So etwas müssen wir uns gefallen lassen, wir haben denen doch nichts getan. Irgendwann werde ich gegen diese Gemeinheiten etwas tun“, schnaufte Kasper und drängte den Ochsen zur Höchstanstrengung, um wieder auf den Weg zu kommen. „Was willst du denn gegen diese Menschen machen, das sind unsere Herren, wir müssen gehorchen“, erwiderte Kaspers Vater.
Sie erreichten die Stadt und mussten vor einem der mächtigen Stadttore eine Kontrolle der wachhabenden Soldaten über sich ergehen lassen. Dabei untersuchten die Wächter die mitgebrachten Waren sehr genau, selbst die beiden Hühnerküken durchlebten ihre erste Bewährungsprobe. Kasper lenkte den Karren unter einen Baum am Rande des Marktplatzes, nicht weit entfernt von der Kirche, während sein Vater den Marktherren suchte, um sich einen Verkaufsplatz zu weisen zu lassen, und um den entsprechenden Marktzoll, je nach Stand und Lage, zu entrichten. Ihr heutiger Platz befand sich in der Nähe des Prangers, wo ein vor verurteilter Dieb, eingezwängt in der Halskrause und den beiden Handzwingen, auf seine heutige Verurteilung wartete. So ein Marktgericht bedeutete einen großen Menschenandrang und für die anpreisenden Händler einen guten Umsatz. Kasper versorgte den Ochsen mit Wasser und Futter und baute mit seinem Vater neben dem Karren den kleinen Marktstand in Form eines Brettes mit zwei seitlichen Stützen auf. Die Zwiebeln, den Kohl und die Speiserüben verteilten sie auf dem Brett, die Kiste mit den beiden Küken stellten sie darunter, damit die kleinen Tiere nicht in der direkten Sonne standen.
Der Markt füllte sich, die Menschen drängten sich um die Stände, um die besten Angebote aus zu loten. Die reichen Bürgerfrauen erkannte man an den Sonnenschirmen, den weißen Häubchen und den etwas eleganteren Kleidern, die Bauersfrauen trugen meist graue Kleider mit Schürzen und Holzschuhen, dazu grobmaschige Hauben oder breitkrempige Strohhüte. Auch deren Gang und Sprachweise unterschied sich von denen der Stadtfrauen. Zu Allem gesellten sich noch ein paar Gaukler, die ihre Kunststücke präsentierten, ganz in der Nähe von Kasper und seinem Vater baute eine Wahrsagerin ihr Zelt auf, Musikanten mit verschiedenen Instrumenten zeigten ihr Können. Mitten auf dem Marktplatz stand ein Podest für das spätere Gericht und gab Marktlesern die Möglichkeit, wichtige amtliche Bekanntmachungen vor zu lesen, um auch den im hintersten Bauernland lebenden Menschen mit den neuesten Informationen zu versorgen.
Um dieses Podest drängten sich bereits viele Menschen, gierig auf die Neuigkeiten, um sie dann den Nichtanwesenden in eigener Version weiter zu erzählen. Ein Mann mittleren Alters, graue Perücke, grüne Jacke, dicker Bauch, weißes Hemd, Kniebundhose, weiße Strümpfe, rollte eine Papierrolle auf und las mit einer vollen dröhnenden, aber sehr sonoren Stimme, seinen Text. Vor dem Podest stand ein Tisch und ein Stuhl, auf dem ein weiterer, ähnlich aussehender Herr Platz nahm. Mit einer Feder kritzelte er auf ein Blatt Papier, um dann inne zu halten, denn der Vorleser begann seinen Text:
Ihr Leute dieser schönen Stadt Kieleburch und des Landes. Wer träumt nicht vom Paradies, welches er sich selbst erschaffen kann? Eigenes Land, frei von jeglicher Knechtschaft, eigener Herr seiner eigenen Hufe, eingetragen im Landregister, vorerst keine Steuer, Bereitstellen von Bau- und Brennholz, Bereitstellen von Ackergerätschaften aus Eisen mit den Zugtieren! Wir suchen solche tatkräftigen Leute wie euch, die durch harte Arbeit für sich selbst arbeiten und sich nicht immer von anderen treten lassen wollen. Nur die Reise dahin müsst ihr schon selber vornehmen. Wer dieses Paradies auf Erden erreichen will, braucht sich hier nur amtlich eintragen zu lassen, denn wann die Reise beginnt, wohin es geht, werden wir jedem nach der Eintragung sagen. Leute tretet näher und überlegt nicht lange, denn solch eine Gelegenheit gibt es nur einmal im Leben.
Kasper und sein Vater schauten sich an und sahen hinüber zu dem Rednerpodest und dem Tisch, wo sich bereits eine größere Menschentraube gebildet hatte. Kasper war begeistert, sein Vater zweifelte. „Vater, das ist die Gelegenheit aus dieser Knechtschaft zu entfliehen, lass uns dort neu anfangen“.
Kaspers Vater schüttelte den Kopf: „ Ich werde das erst mit deiner Mutter und deinen Geschwistern besprechen, bevor ich mich entscheide. Wie ich sehe, hast du dich bereits entschieden. Für dein Leben kann ich nicht mehr sprechen, sei aber nicht unüberlegt.“
Kasper stellte sich in die Schlange der Wartenden und hörte geduldig auf das, was um ihn herum gesprochen wurde. Als er an der Reihe war, schaute der ältere Herr am Tisch ihm direkt eindringend in die Augen, fragte nach dem Namen, und dem Alter. „Mein Name ist Kasper und ich werde diesen Monat 15 Jahre alt. Ich kann arbeiten, mit einem Pferd, einem Zugochsen und Gespann umgehen.“ Die anderen Anwesenden hörten andächtig auf die bestimmenden kurzen und knappen Worte vom jungen Kasper. Der Herr am Tisch lächelte freundlich und meinte: „ Für unseren Treck bis zum Siedlungsland brauchen wir tatkräftige und zupackende junge Fuhrleute. Wäre so eine Arbeit etwas für dich?“ Kasper guckte ihn begeistert an, schluckte, und sagte zu. „Wir sind noch ein paar Tage in der Stadt, wer sich noch nicht eingeschrieben hat, erreicht uns ständig im Roten Ochsen,“ sagte dies, stand auf, ergriff seine Unterlagen und schritt davon.
Kasper ging langsam zum Verkaufstand seines Vaters und verdaute erst einmal innerlich und recht nachdenklich die letzten Geschehnisse. Sein Vater sah ihm die Gemütslage an, ließ Kasper zunächst in Ruhe und stellte keine weiteren Fragen.
An den Tisch setzte sich jetzt ein Gerichtsdiener, ein sehr schmächtig wirkender, blasser Mann, mittleren Alters, dünnen Hals und hervorquellenden Augen. Er versuchte sehr würdevoll seinen Platz aus zu füllen, was ihm aber nicht so ganz gelang. Dann kam die wichtigste Persönlichkeit, der Marktrichter, in Begleitung von vier Marktwachen und einem dunkelgekleideten, sehr düster wirkenden, grobschlächtigen Mann, der in einem schwarzen Behältnis seine Utensilien mitbrachte. Er war allen bekannt, als der Vollstrecker der Gerichtsbarkeit, und sollte heute ein Urteil direkt vor Ort vollstrecken. Der Marktrichter entrollte ein großes Papier und verlass die Anklage, die das Marktgericht gegen den seit Stunden im Pranger eingepferchten Mann erhob:
„Ihr Bürger der Stadt Kieleburch, das Marktgericht sah es als erwiesen, das Karl der Besenbinder in schändlicher Absicht und Profitgier den Verkaufsstand von Anna der Blumenfrau in ihrer menschlichen Pause weit abseits stellte, auf diesen freien Platz seinen Besenstand aufbaute, um sie dann, bei Rückkehr von ihrem Bedürfnis, während des Streitgesprächs unsittlich zu berühren. Jeder kennt die Regeln dieses Marktes, keiner darf sich auf Kosten anderer einen Vorteil verschaffen. Im Namen seiner Durchlaucht, Kurfürst Jakob I. Erzbischof und Kurfürst von Trier, des Marktgerichtes dieser Stadt, bin ich bevollmächtigt das Urteil zu verkünden:
Karl der Besenbinder darf von heute an einen Monat diesen Markt nicht betreten, oder vor der Stadt seine Ware feilbieten. Des Weiteren erhält er zur Warnung fünfzehn Peitschenhiebe. Ich bitte den Marktvollstrecker, waltet Eures Amtes, und vollstreckt.“
Der Angesprochene öffnete sein schwarzes Behältnis, nahm eine kurzstielige Peitsche heraus, deren Spitze dreimal geteilt war. Er schaute in die Runde, um sich zu vergewissern, dass ihn auch alle beachteten, ging zum Pranger, riss dem Delinquenten das Hemd am Rücken auf, trat ein paar Schritte zurück, schaute zum Marktrichter und wartete auf sein zustimmendes Nicken, welches auch sofort erfolgte.
Nach dem ersten Schlag vernahm man nur ein gepresstes Schnaufen, nach dem fünften Schlag hörte man ein leiseres Stöhnen, rote Striemen zeichneten sich bereits auf dem Rücken des Gepeitschten ab. Nach dem zehnten Schlag schrie der Mann gellend auf, die Haut platzte auf, Blut floss aus seinem Mund, weil er sich wohl auf die Lippe gebissen hatte. Die letzten fünf Schläge gingen in seinem lauten Gebrüll unter. Einige der begeisterten Zuschauer bekamen ganz leuchtende Augen wegen dieser für sie so tollen Darbietung.
Kasper wandte sich ab, weil ihn Vorstellungen solcher Art anekelten, und er es als unmenschlich ansah.
Den Gepeinigten entließ man aus dem Pranger, er versuchte so schnell wie möglich den Markt zu verlassen, um nicht noch weiteren Demütigungen ausgesetzt zu sein.
Kasper und sein Vater verkauften komplett die mitgebrachten Waren, spannten den Ochsen vor den Karren und rumpelten schweigend mit gemischten Gefühlen zu ihrer Bauernkate zurück.
Der Himmel schüttete sich aus, es regnete ununterbrochen. Kasper stand am Fenster der kleinen Wohnstube und schaute auf das Dach der naheliegenden Scheune, wo das Regenwasser in Sturzbächen auf den sonst so bevölkerten Hühnerhof herunter lief. Er hing seinen Gedanken nach und versuchte sie zu sortieren. Immer wieder schlug er mit der rechten Faust in die linke Handfläche, um sich die wichtigste Entscheidung seines Lebens noch einmal selbst zu bestätigen. Seine Eltern, die zwei jüngeren Schwestern und der kleine sechsjährige Bruder saßen an dem klobigen, selbstgezimmerten Tisch und warteten auf ein paar Worte von Kasper. „Ich werde die Arbeit eines Fuhrmannes annehmen, sie wird gut bezahlt. Ich bekomme jede Woche einen Silbertaler, dazu erhalte ich richtige Fuhrmannskleidung, zu essen und zu trinken. In dem Siedlungsgebiet übertragen sie auf meinen Namen eine freie Hufe und Bauholz für ein eigenes Haus, was sagt ihr dazu?“ Sein Vater räusperte sich, um den möglichen Klos im Hals herunter zu schlucken. „Kasper, deine Mutter, deine Geschwister und ich haben entschieden, diese sehr beschwerliche Reise nicht mit zu machen, wir wollen hier bleiben und so leben, wie wir es gewohnt sind. Wenn du diese Entscheidung getroffen hast, dann geh mit Gott, aber geh. Wir stehen Dir nicht im Wege.“ Er ging zu einer in der Ecke stehenden Kiste, kramte darin herum und fand eine alte Holzpfeife.
„Diese Pfeife hat einmal deinem Großvater gehört, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dieses Andenken weiter zu geben. Diese Pfeife soll dich immer an deine Familie erinnern.“
Kasper war ganz gerührt, denn er wusste, dass sein Vater dieses letzte Andenken an seinen Vater sehr behütet hatte.
„Sobald der Regen aufhört, bringe ich dich mit dem Wagen in die Stadt, damit du ohne Schwierigkeiten an der Stadtwache vorbeikommst.“
Kasper suchte seine wenigen Sachen zusammen, legte sie fest in ein Tuch und knotete es zu. Er schlang sich ein Stück Seil um den Hosenbund, befestigte daran eine Lederschlaufe als Halterung für sein Messer mit dem selbst geschnitzten Knauf. In die rechte Hosentasche verstaute er noch seine Steinschleuder mit ein paar Kieselsteinen, um bei einer möglichen Hasenjagd erfolgreich zu sein.
Der Regen ließ nach, die Wolkendecke brach auf, sodass die Sonne sich mit ein paar Strahlen durchsetzen konnte. So gleich begann die Erde zu dampfen, ein Regenbogen zeigte sich am Horizont, überall erwachte das Leben mit lautem Gezwitscher.
Kasper drückte noch einmal seine Geschwister und nahm seine Mutter ganz fest in den Arm. Sie lächelte ihn an, strich im über das Haar und sagte: „bleib gesund mein Bub`, und gehe den Streitigkeiten aus dem Weg, benutze lieber deinen Verstand.“ Kasper schluckte ganz kräftig und bekam ein ganz komisches Gefühl, setzte sich auf den Bock des bereitgestellten Wagens, sein Vater knallte mit der Peitsche und rumpelnd setzte sich das schwere Gefährt in Bewegung. Seine Mutter und die Geschwister standen vor dem Haus und winkten, bis der Ochsenkarren hinter einer Wegbiegung verschwand. Kaspers Vater sagte kein Ton, obwohl er seinem Sohn noch vieles mit auf den Weg geben wollte. Doch sehr gesprächig war er nie gewesen, er war ein Mann, der seine Arbeit liebte und das Reden lieber anderen Leuten überließ.
Sie erreichten das große offene Stadttor. Die beiden Stadtwächter saßen vor ihrem Wachhäuschen und winkten recht müde zur Weiterfahrt. Sie zeigten an dem rumpelnden Gefährt kein Interesse.
Vor dem „Roten Ochsen“ hielten sie an, damit Kasper sich nach den beiden Herren umschauen konnte, die am Vortag auf dem Marktplatz die Leute anwarben. Sie saßen an einem blank gescheuerten Tisch, tranken einen Krug Wein und erkannten Kasper sofort. „Bitte setz dich zu uns und erzähl uns etwas von dir.“ Kasper setzte sich, während sein Vater noch hereinschaute und ebenfalls zum sitzen aufgefordert wurde, höflichst dankend ablehnte und sich noch kurz von Kasper verabschiedete. Stumm umarmten sich beide. Kaspers Vater ging zu seinem Ochsenkarren und rumpelte davon.
Um ein richtiger Fuhrmann zu werden, machten die beiden Anwerber Kasper mit einem alten Fuhrmann, namens Konrad bekannt, der auf allen Wagenfurchen in Europa unterwegs war und dem jungen Kasper so einiges beibringen konnte. Konrad grinste über alle Runzeln seines gebräunten Gesichtes und schob seine Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen. Er quetschte zwischen den Zähnen ein:„ na, dann komm mal mit, du junger Hüpfer,“ hervor und schaute den jungen Mann ganz fest mit seinen graublauen Augen an. Kasper erwiderte den festen Blick, ohne weg zu gucken. Dem alten Fuhrmann gefiel, was er da sah und betrat mit Kasper einen Art Mietstall, wo ein großer Teil der Zugpferde untergebracht waren, die ihre Fracht nach Osteuropa ziehen sollten. „Zuerst lernst du unsere Pferde kennen, und die Pferde dich. Wichtig ist, dass du zu ihnen Vertrauen hast, viel mit ihnen redest, damit sie den Tonfall deiner Stimme behalten und im richtigen Moment die Kommandos ausführen. Fang schon mal an den Stall aus zu misten, und sprich dabei mit ihnen.“ Kasper legte los, wie er es von zu Hause gewohnt war. Er klopfte den Tieren freundschaftlich an den Hals, kraulte etwas hinter den Ohren und sprach ganz beruhigend auf sie ein. Dabei nutzte er die Mistgabel und füllte die Handkarre mehrere Male und merkte gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Zwei Pferde, eine braune Stute mit weißen Fesseln und ein Wallach mit einem weißen Fleck auf der Stirn, hatten es ihm besonders angetan, denn sie fingen an, mit ihm zu schmusen und rieben ihre Nüstern ganz vorsichtig an seiner Schulter. Kasper merkte selbst, welch seltene Fähigkeit und guten Draht er zu den Tieren besaß.
Eine ganze Zeit lang beobachtete Konrad das erfreuliche Verhalten der Tiere zu seinem Schützling und war froh, so einen Schüler unter seine Fittiche zu haben.
Der Tag verging, die gesamte Mannschaft nächtigte in den Fremdenzimmern des Wirtshauses, die auch den Mietstall unterhielten. Kasper und Konrad bewohnten eine winzige Kammer unter dem Dach. Ein großer Krug mit Wasser und eine flache Schüssel zum waschen stand zwischen den sehr harten Nachtlagern, jeder hatte eine recht muffelige Decke zum Zudecken, als Kopfkissen nutzte man seine eigene Jacke. Kasper konnte vor Aufregung kaum einschlafen, die vielen neuen Eindrücke verhinderten einen ruhigen Schlaf.
Noch vor Sonnenaufgang begann bereits der neue Arbeitstag. Die Tiere mussten versorgt werden, danach gab es ein bescheidenes Frühstück in Form von Milch, etwas Brot und Käse. Konrad drängte zum Aufbruch, um die Wagen zu begutachten und eventuelle Reparaturen vor zu nehmen. Danach sollten die Tiere an die Deichsel und das Geschirr gewöhnt werden, um unterwegs nicht unliebsame Überraschungen zu erleben. „Du bekommst ab so fort die beiden Braunen, die dich doch wohl besonders lieben“, meinte Konrad zum jungen Kasper und grinste über das ganze Gesicht. „Ich habe dich gestern beobachtet, und war sehr erfreut, von dem, was ich da sah. Ich glaube, aus Dir mache ich noch einen guten Fuhrmann.“ Kasper freute sich über so viel Lob und konnte es kaum erwarten, die beiden Zugpferde an die Deichsel zu bekommen.
An den Wagen brauchten keine größeren Reparaturen durchgeführt werden. Jetzt kam es darauf an, wie die Pferde sich im Geschirr verhielten. Kasper zeigte, was er von seinem Vater gelernt hatte und führte die Pferde nach und nach an ihren Platz, redete ruhig auf sie ein und gab nach dem einwandfreien Einschirren beiden je ein Stück Rübe, die er im Stall neben der Futterkiste gefunden hatte. So, als wenn er nie etwas anderes gemacht hätte, hörten die beiden Pferde mit einer Selbstverständlichkeit seine Kommandos. Sie spitzten die Ohren und reagierten auf jede Kleinigkeit, die Kasper von ihnen verlangte. Konrad stand am Stallausgang, die Pfeife im Mund, er vergaß sogar sie hin und her zu schieben, so begeisterte ihn die Vorstellung, die Kasper und sein Gespann boten.
Nachdem die Fuhrleute ihre Gespanne ausprobierten, saßen alle im Wirtshaus um einen großen runden Tisch und bekamen einen großen Teller Suppe mit Brot und Dünnbier zur Stärkung. „Sag mal Kasper, was hast du diesen Pferden gesagt, dass sie wie ein Hund alle Befehle ausführen? Oder bist du gar ein Pferdeflüsterer?“ Kasper wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Tatsache war, dass diese einfach denkenden Menschen ihn von nun an sehr respektvoll ansahen und ihn, trotz seines jugendlichen Alters, in ihrer Mitte aufnahmen.
Kasper stand schon sehr früh auf, um frühzeitig die Tiere zu versorgen. Er hatte ihnen auch schon Namen gegeben, weil er fand, dass dies persönlicher zu den beiden Pferden wäre. Die Stute nannte er Else und den Wallach Jacob. Am heutigen Tag sollten die zwölf Fuhrmannswagen mit verschiedenen Gebrauchsgütern beladen werden, eine Feldschmiede, Wasserfässer, Lebensmittel, Ersatzteile für die Wagen, Zelte und vieles mehr. Kasper war so sehr mit dem Anspannen seines Wagens beschäftigt, dass er Konrad gar nicht bemerkte, der ganz lässig am Pfosten des Stalleingangs lehnte, an seiner Pfeife paffte, unter dem Arm ein verschnürtes Bündel trug und abwartend die Arbeitsverrichtung von Kasper beobachtete, dabei nickte er anerkennend. „Wenn Du so weit fertig bist, kannst du dir ja dieses Bündel vornehmen und mir Bescheid geben, ob es dir gefällt.“ Kasper öffnete die Verschnürung und bekam ganz leuchtende Augen. Vor ihm lag die komplette Montur eines Fuhrmannes mit den dazugehörenden Schaftstiefeln und einem breitkrempigen Hut mit Lederriemen, damit bei schlechtem Wetter die Kopfbedeckung nicht davonflog. Weiterhin fand er aufgerollt eine richtige Lederpeitsche mit kurzem Stil, die man bei Nichtgebrauch an den Gürtel hängen konnte. Kasper zog sich direkt um und war ganz begeistert. Seine bisher getragenen Sachen verschnürte er mit den Bündelriemen der neuen Kleidung und verstaute sie unter dem Wagenbock. Die Vorstellung bei den Fuhrmannskollegen gab eine anerkennende Zustimmung und alle freuten sich mit Kasper.
Die Wagen beluden die Fuhrleute vor einer Art Scheune, in der bereits seit längerem diverse Güter lagerten. Jeder Wagen erhielt eine Plane, um sie mit stabilen Seilen an den seitlichen Haken mit speziellen Fuhrmannsknoten zu befestigen. Konrad zeigte Kasper diese Art Knoten, und betonte, in der freien Zeit viel Übung auf verschiedene Knoten zu legen, weil die auch einen Teil ihrer eigenen Sicherheit bedeuteten.
Die zwölf Wagen fuhren langsam hintereinander zu dem Treck-Sammelplatz außerhalb der Stadt. Der Platz war so gewählt, dass von einem naheliegenden Fluss das nötige Wasser zum Gebrauch geholt werden konnte. Überall standen Ochsenkarren und Pferdefuhrwerke in verschiedenen Größen, Familien mit ihren Kindern saßen bei ihren Wagen, davor qualmten verschiedene Lagerfeuer, Wäsche trocknete in der Sonne. Etwas abseits hielten sich bewaffnete Männer bei ihren Pferden auf, um als Eskorte für diesen zeitlich sehr langen Treck durch teilweise unbekanntes Gebiet gewissen Schutz zu gewähren. Sie standen im Kreis um einen mittelgroßen, schwarzbärtigen Mann mit einer langen Narbe auf der rechten Gesichtshälfte und einer großen Hakennase. Er führte den Treck an und besaß die Befehlsgewalt auf der langen Reise. Sein Wort bedeutete Gesetz.
Die kommenden Fuhrleute verwies man auf ihre künftigen Plätze im Treckverband, sie schirrten die Pferde aus und gingen mit Ihnen zum Fluss, damit sie ihren Wasserbedarf löschen konnten. Gleich neben dem Gewässer auf einer Wiese errichteten sie eine Seilumzäunung, damit die Zugtiere in Ruhe weiden konnten.
In der Mitte des Treckplatzes stand ein Zweispänner mit den Anwerbern. Sie saßen an ihrem Tisch mit den Unterlagen der Leute, die sich für diese lange Reise angemeldet hatten und riefen deren Namen, um die nötige Übersicht zu behalten. Am nächsten Tag sollte das Unternehmen starten. Einer der Anwerber stellte sich auf den Bock seiner Kutsche, rief mit weit hörbarer Stimme die Leute zusammen, wünschte im Namen des Herzog von Pommern ein gutes Gelingen der weiten Reise. Es stellte sich dann der schwarzbärtige Mann vor. „Mein Name ist Nicolaus von Lebbin, ich bin Offizier der herzoglichen Garde des Herzog von Pommern. Ich führe diesen Treck an und gebe gleich jedem, der für seinen Wagen verantwortlich ist einen Zettel mit einer Zahl. Dieser Zettel wird an dem Wagen sichtbar befestigt, um später die richtige Reihenfolge im Treckverband einhalten zu können. Wer nicht lesen kann, erhält die nötige Hilfe von meinen Leuten oder den Fuhrleuten. Die bewaffneten Männer sind zu eurem Schutz da, überstanden viele Kämpfe und sind sehr erprobt und geübt mit den Waffen. Vielleicht lernt der eine oder andere auf dieser langen Fahrt den Umgang mit Waffen, um sich in verschiedenen Situationen selber zu verteidigen.“
Kasper hörte dieser Ansprache fasziniert zu, denn so einen Mann hatte er noch nicht kennen gelernt. Konrad gab Kasper einen Zettel mit der Nummer 2, den er sogleich an den hinteren Kasten, sichtbar zum dahinter fahrenden Wagen, befestigte. Konrad befestigte die Nummer 1 an sein Gefährt, denn er führte mit seinem Wagen die lange Kolonne an. Insgesamt fuhren in dem Treck fünfzig Wagen, davon achtunddreißig Siedlerkarren, mit ihren Familien. Die zwölf Wagen der Fuhrleute verteilte man so, dass immer zwischen zwei Fuhrleuten mindestens vier Siedlergefährte zu finden waren, um bei möglichen Schwierigkeiten direkte Hilfe gewährleisten zu können.
Kurz vor Sonnenuntergang erreichte ein Trupp von dreißig Soldaten den Treckplatz um nach vermeintlichen Fahnenflüchtigen Ausschau zu halten. Nicolaus von Lebbin schritt auf den Reitertrupp zu, die direkt ausschwärmten und eine drohende Haltung einnahmen. Der Offizier betrachtete recht hochnäsig auf eine sehr beleidigende Art Herrn von Lebbin, entrollte ein großes Papier und begann, ohne seinem Gegenüber weitere Beachtung zu schenken, vor zu lesen, was die Landesherrschaft als oberstes Gericht beschlossen hatte:
Seine Durchlaucht, Kurfürst Jakob I., Erzbischof und Kurfürst von Trier und oberster Reichsverweser des Landes, hat zu dieser Ansammlung von fremden Elementen auf dem kurfürstlichen Hoheitsgebiet keine Genehmigung erteilt und seinen Soldaten den Befehl gegeben, die Auflösung der gesamten Lagerstätte vor zu nehmen, die Karren, Wagen und Tiere zu konfiszieren, die Fremden außer Landes zu jagen und diejenigen, die sich wider rechtlich aus dem Land davon schleichen wollten, gefangen zu nehmen. Wer sich widersetzt, ist mit dem Tode zu bestrafen.
In einer übertriebenen Ruhe rollte er das Papier wieder zusammen und wollte es in seine Satteltasche schieben, als Nicolaus von Lebbin in einer besonders gedehnten Art dem Offizier eine Abfuhr erteilte.
„Mein Herr, darf ich dieses Schriftstück Eures Landesherrn einmal sehen? Ich möchte mich von diesem bescheidenen Befehl selbst überzeugen.“ Seltsamerweise überreichte der Offizier Herrn von Lebbin diese Schriftrolle, der las sich alles noch einmal betont langsam durch, schritt zu einem der nahen Lagerfeuer und warf die Rolle in die Glut. Eine knisternde Stille breitete sich über dem Platz aus, selbst kein Pferd schnaubte, als wenn alle gespannt die Luft anhielten. Der Offizier lief rot an und zitterte vor Erregung. Er hob die rechte Hand, um seinen Leuten den Befehl zum Lager räumen zu geben, als Herr von Lebbin seinen Leuten einen knappen Befehl zu rief und ein Pfeil eines Langbogens sich vor den Hufen des Offizierpferdes in den Boden bohrte. Das Pferd scheute und der Reiter hatte Mühe, das Tier unter Kontrolle zu halten. „Ihr seht, so leicht lassen wir uns nicht vertreiben. Wir haben gegen kein Gesetz des Landes verstoßen. Diese Leute in meinem Treck ziehen auf Einladung des Herzogs von Pommern in ein anderes freies Land, um es zu besiedeln und urbar zu machen. Betrachtet Ihr das als ein Verbrechen? Oder hätten sie Euch noch vorher auf Wiedersehen sagen sollen?„Wir hatten unseren Befehl vorgetragen und beugen uns vorläufig der Gewalt. Ihr werdet von uns hören.“ Seine Stimme zitterte dermaßen vor Wut, dass man seine Erwiderung kaum noch verstand. Er drehte sein Pferd, gab seinen Soldaten ein Zeichen zum Rückzug und verschwand mit ihnen über einen nahenden Hügel.
Die Situation hatte sich verändert. Ruhe und Besonnenheit, aber auch List und Wachsamkeit waren gefragt. Nicolaus von Lebbin beratschlagte mit seinen Leuten und den Fuhrmännern und erklärte allen seinen Plan. „ Ein paar meiner Leute werden als hinterer Horchposten dienen und den Treck frühzeitig vom Nahen der Soldaten warnen. Die Zugtiere sollten noch vor der Nachtruhe angespannt werden, damit ein geordnetes Abrücken möglich sei. Bevor der Treck abrückt, werden die Lagerfeuer noch einmal richtig angefacht, um die Soldaten zu täuschen, und um einen Vorsprung heraus zu holen. Sobald es möglich ist, fahren die Fuhrwerke zu zweit nebeneinander, um sich besser gegenseitig zu schützen. Frauen und Kinder bleiben unter den Planen, Fußgänger und Treiber der Reservetiere kommen mit auf die Fahrböcke, die Reservetiere werden alle mit an die Wagen gebunden. Hat jemand noch Fragen? Keiner. Und nun an die Arbeit.“
Kasper fühlte sich sehr erhaben, denn er durfte an den Planvorbereitungen mit teil haben, seine Stimme war gefragt. So etwas wie Stolz erfüllte ihn, aber auch eine gewisse Sorge über die kommenden Stunden setzte sich fest. Er holte seine beiden Tiere, Else und Jacob, schirrte beide ein, klopfte ihnen liebevoll an den Hals, kraulte hinter ihren Ohren und redete leise mit ihnen. Sie spitzten die Ohren und schnaubten leise, als wenn sie verstanden, welch ungemütliche Angelegenheit auf sie zu kam.
Konrad erkundigte sich nach seinem Befinden und war mit Kaspers angespannter Gelassenheit zu frieden. Beide stellten ihre Gespanne auf die ihnen zugewiesenen Plätze und halfen den hinter ihnen fahrenden Umsiedlern ebenfalls die ihnen zugewiesenen Positionen ein zu nehmen. So nach und nach ordnete sich die Treckreihe, denn die Leute arbeiteten alle sehr besonnen, ruhig und ohne Hektik.
Kurz vor Sonnenaufgang, es dämmerte bereits, hörten sie den erlösenden Befehl:
„Wagen Marsch“, rief Nicolaus von Lebbin, er hob die Hand und zeigte dann in Richtung Osten. Die Wagen rumpelten an. Es dauerte eine ganze Weile, bis auch der letzte Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte. Herrn von Lebbins Reiter geleiteten die Wagen rechts und links der Kolonne und hielten gebührenden Abstand um im Umland nach den Soldaten zu schauen. Zwei Mann von ihnen erhielten den Befehl weit vorne, in der Nähe der Furt, die Lage zu erkunden, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Kasper schaute sich noch einmal die Landschaft an, sanfte Hügel, weite grüne Wiesen, zwischendurch ein paar Wäldchen. Er zog diese Eindrücke tief in sich auf, seine Herkunft wollte er nie vergessen. Denn hier in der Nähe war bis jetzt sein zu Hause, hier bauten sie ihr Gemüse an, und hier ging Kasper mit seinem Vater auf Hasenjagd. Ihm fielen seine zwei Brüder ein, die altersmäßig gerade mal ein Jahr auseinander waren, und so früh sterben mussten. Ihre rebellische Ader kostete ihnen das Leben. Sie wollten bei keinem unsinnigen Krieg des tyrannischen Landesherren mitmachen und entzogen sich der Soldatenpflicht, als überall die kurfürstlichen Redner ihre amtlichen Bekanntmachungen vorlasen. Beide versteckten sich in den umliegenden Wäldern. Die Presskommandos der Armee fingen sie aber doch ein, dabei kam es zu einem kurzen Kampf, wobei beide ihr Leben verloren. Kasper wollte so nie enden und verpflichtete sich lieber als Fuhrmann.
Die Wagenkolonne musste einen Fluss überqueren, und wäre in der Furt am meisten gefährdet. Nach kurzer Zeit meldeten die beiden vorausgerittenen Treckbegleiter, dass eine größere Gruppe Soldaten, ca. 60 Mann, an der Furt in voller Kampfausrüstung auf die Kolonne wartete. Nicolaus von Lebbin rief alle seine Leute zusammen, um zu beratschlagen. Den Treck ließ er erst einmal weiterfahren, weil die Furt noch ca. 2 Stunden, gemäß der Treckgeschwindigkeit, entfernt war. Einer der beiden Furtbeobachter, ein Vertrauter vom Treckführer, meinte: „Nur eine List könnte die Soldaten täuschen. Ein Stück vor der Furt befindet sich ein Wäldchen mit viel Unterholz, zur Furt hin wächst Schilfgras mit noch vielen trockenen Halmen aus dem vorigen Jahr. Wenn wir uns teilen und die Soldaten in den Wald treiben, während die anderen vor dem Wald auf die Soldaten warten und den Wald so anstecken, dass das Feuer schräg auf sie zukommt, überraschen wir sie, und können die Übermacht ausgleichen. Auf den Wagen liegen viele Pechfackeln, wenn wir die brennend in das trockene Unterholz werfen, hätten wir die Soldaten in der Zange. Der Treck weicht ein Stück nach Süden aus, um dann in Flussnähe wieder weiter östlich in Richtung Furt zu fahren. Er verliert vielleicht drei Stunden. In der Zwischenzeit müssten wir die Soldaten erledigt haben, oder zumindest vertrieben haben.
Konrad erhielt die vorübergehende Treckführung, während die Reiter um Nicolaus von Lebbin ihren beschlossenen Plan gegen die Soldaten des Kurfürsten durchsetzten. Kurz vor dem Wäldchen teilten sie sich in zwei Gruppen, während die kleine Gruppe mit fünf Mann wartete und in jeder Hand abwartend eine Pechfackel hielt, umrundeten die anderen das Wäldchen und erreichten den Fluss ungefähr fünfzig Meter neben der Furt. Sie ließen die Pferde stehen und schlichen sich vorsichtig an die Soldaten heran. Sie hatten sich zu beiden Seiten vor der Furt so positioniert, um den Treck von beiden Seiten an zu greifen. Herr von Lebbin schickte zwei Leute als Kundschafter voraus, die nach sehr kurzer Zeit zurückkamen und berichteten, dass direkt vor ihnen, keine zwanzig Meter, zehn Mann im Gebüsch verharrten. Gegenüber im Schilf hörten sie Stimmen einer weiteren Gruppe, der Haupttrupp hielt sich mit den Pferden vor dem Wäldchen auf. Sie beschlossen, im Nahkampf die Überraschung zu nutzen, und zuerst die Soldaten vor ihnen im Gebüsch zu erledigen. Gleichzeitig bereiteten sie die Fackeln zum Werfen in das nahe Schilf vor. Ein paar Bogenschützen sollten dann die wartenden Soldaten am Wald beschießen, um dann die große Verwirrung zu nutzen. Fünf Mann schlichen sich nach vorne und sprangen, mit ihrem langen Messer in der Hand, zwischen die im Gebüsch wartenden Soldaten und machten kurzen Prozess mit ihnen. Einer von ihnen versuchte noch zu fliehen und bekam eines der Messer als Wurfgeschoß in den Rücken, ein letztes Röcheln und er fiel auf sein Gesicht. Der Messerwerfer zog das Messer aus dem Rücken des Erledigten, wischte das Blut an dessen Kleidung ab und wartete auf das Vorrücken seiner Truppe. Zwei der besten Weitwerfer entfachten inzwischen die Fackeln und warfen sie in das trockene Schilfgras, welches sofort Feuer fing und hohe Flammen nach oben schleuderte. Die im Schilf wartenden Soldaten wurden von diesem Angriff vollkommen überrascht. Sie brüllten verzweifelt, einige versuchten ihre brennende Kleidung durch einen Sprung in den Fluss zu löschen, dabei liefen sie in die Pfeile der Bogenschützen und trieben tot im Wasser. Die Soldaten, die sich am Waldrand bei ihren Pferden aufhielten, versuchten vor den Pfeilen im nahen Unterholz des Waldes in Deckung zu gehen, als ein gewaltiges Krachen und Knacken hinter ihnen zu hören war. Sie sahen nur noch eine gewaltige Feuerwand auf sich zu rasen, die Pferde scheuten, rissen sich mit angstvoll verdrehten Augen los, wieherten und stoben heraus aus dieser Hölle. Die Soldaten schrien und kreischten, versuchten sich an den Pferden fest zu halten, wurden entweder mitgeschleift, umgerissen oder von den herbei sausenden Pfeilen getroffen.
Keiner der kurfürstlichen Soldaten überlebte. Das Ganze dauerte gerade mal eine halbe Stunde. Sofort begannen sie die Toten zusammen zu tragen, nahmen ihnen alles Brauchbare ab, zogen die noch intakten Pfeile aus den toten Körpern und bedeckten die Leichen mit Steinen, um noch einen gewissen Respekt vor den erledigten Gegnern zu zeigen.
In der Zwischenzeit erreichte auch der Wagenzug, unter stellvertretender Führung von Konrad, die Furt, und sofort begannen sie mit der Flussüberquerung, um die Weiterfahrt noch bei Helligkeit fort zu setzen.
Kasper, wie auch andere des Zuges, schauten auf die frischen Steinhügel und wussten sofort, wer darunterlag. Ihm lief ein Schauer den Rücken herunter und dachte mit Bedauern an die armen jungen Kerle, deren Leben auf so grausame Art enden musste. Aber anscheinend kann der Preis der Freiheit derzeitig nur mit diesen Mitteln erreicht werden.
Dem Wagenzugführer Nicolaus von Lebbin war klar, dass dieser Kampf mit den kurfürstlichen Männern nicht ohne Folgen blieb. Er glaubte nicht, dass der Fürst die Angelegenheit so einfach auf sich beruhen ließ, denn noch hielten sie sich auf seinem Land auf und sicherlich betrachtete er diesen Kampf als Affront gegen seine Person. Dies kam einer Kriegserklärung gleich.
Herr von Lebbin ließ seine Leute ausschwärmen, um früh genug über mögliche Aktivitäten seiner Feinde in Kenntnis gesetzt zu werden.
Der Wagenzug kam gut voran. Das Wetter spielte mit, blauer Himmel, keine Wolke, angenehme Temperaturen. Seit dem Zwischenfall mit der kurfürstlichen Truppe fuhren alle Fußgänger, verteilt auf den Wagen, mit, damit bei eventuellen Übergriffen die Treckleitung besser reagieren konnte.
Kaspers ständiger neuer Begleiter war ein ehemaliger Prediger namens Samuel, der bei seinen Herrschaften in Ungnade gefallen war, weil er angeblich die Tochter des Bürgermeisters geschwängert hatte und für sie nicht sorgen wollte. Kasper verstand sich mit diesem schmächtigen, etwas seltsamen Zeitgenossen recht gut, denn ihm war es egal, was wer vorher getan oder nicht getan hatte, hier begann ein neues Leben, und jeder hier im Treck hatte seine eigene Geschichte. Samuel las viel in einem Buch über Sternenkunde, welches er bei jeder sich bietenden Gelegenheit herausholte. Das Buch sah auch schon recht abgegriffen und speckig aus. Kasper betrachtete es sehr ehrfürchtig, denn er hatte, außer der Bibel, noch nie ein anderes Buch gesehen. „Ich kann Dir lesen und schreiben beibringen, wenn Du magst? Bis wir im Osten angelangt sind, wirst Du es können.“ Kasper war ganz begeistert von diesem Vorschlag. So begann der ungewöhnlichste Schulunterricht mit Knoten lernen, schreiben, lesen und rechnen, und neuerdings auch einen Schnellkurs in der Selbstverteidigung durch einen der Wagenzugbegleiter namens Ambrosius von Lingen, ein echter Ritter aus einem Rittergeschlecht, drahtig gebaut, schulterlange dunkle Haare und einem Adlerblick. Über seine Vergangenheit schwieg er, nur eine recht innige Verbundenheit zum Wagenzugführer von Lebbin ließ er durchblicken.
Kasper bekam von einem der Wagen eine handliche Holzstange als Angriffs- und Verteidigungswaffe. Man brachte ihm bei, wie man sich bei einem Gegner gegenüber richtig bewegte, auswich, angriff und zuschlug. In den Treckpausen, lernte er die Buchstaben und malte sie in den Sand oder auf altes Schiefergestein. Samuel zeigte Kasper in seinem Buch die Sternabbildungen und versuchte sie ihm auch am Himmel zu zeigen, immer verbunden mit den Richtungsangaben Ost-West-Süd-Nord. So begriff er, wie er sich auch nachts an den Sternen orientieren konnte. Konrad zeigte ihm alles, was er über das Handwerk eines Fuhrmannes wusste. Er zeigte ihm in welcher Situation und bei welcher Ladung der richtige Knoten an zu wenden war, wie bestimmte Reparaturen am Wagen selbst erledigt werden können, die Tierpflege, Kräuter für Mensch und Tier, welches Futter wichtig und welches zu vermeiden ist und vieles mehr. In Kasper hatten alle einen gelehrigen Schüler, der vieles an Wissen in sich aufsaugte. Aber vom ihm konnten auch einige andere Leute des Trecks lernen, denn Kasper war sehr treffsicher mit seiner Steinschleuder, die man auch als Waffe nutzen konnte. Wenn es darum ging Hasen zu jagen, brauchte man nur Kasper losschicken, denn selten kam er ohne ein erlegtes Tier wieder. Seit seiner Kindheit besaß er eine Steinschleuder und konnte mit ihr meisterhaft treffen.
Die Treckbegleiter meldeten ihrem Chef, dass der Wagenzug von verschiedenen Leuten beobachtet würde und dass in der Ferne mehrere Reitertrupps zu sehen wären. Herr von Lebbin rief noch mehr zur Wachsamkeit auf und ließ nachts die Wachen verstärken.
Die Vorausreiter meldeten, dass die kurfürstliche Landesgrenze nahte und sicherlich eine Entscheidung zu befürchten sei.
Es war Vollmond, gute Sicht für den Treck wie auch für die Gegner. Sie beschlossen, die Nacht durch zu fahren, nach Süden aus weichen, und nach einem Tagesmarsch sich wieder in östlicher Richtung zu halten. Vielleicht konnte man auf diese Art und Weise etwas Zeit herausschinden und den Gegner verwirren. Sie banden wieder die Reservetiere hinter die Wagen um kein Tier zu verlieren und fuhren in Zweierreihen, um schnell in eine doppelreihige Wagenburg fahren zu können. Auf dem alten Rastplatz entfachten die Wagenzugbegleiter nochmals verschiedene Lagerfeuer, damit die Gegner getäuscht wurden, ein Versuch war es wert. Als zweite Täuschung zogen von Lebbins Reiter trockene Sträucher hinter sich her, um möglich Spuren zu verwischen. Alle waren sehr angespannt, hier und da musste ein Kind beruhigt werden, manche fingen leise an zu weinen, andere fluchten unterdrückt vor sich hin. Jeder verarbeitete diese verzwickte Lage anders.
Der Morgen brach an, dunkle Wolken zogen sich zusammen, ein Gewitter nahte. Welch ein Glück für den Wagenzug, denn Regen machte alle Spuren unbrauchbar und sie hatten die Gelegenheit durch die Maschen der Kurfürstlichen Kontrollen zu schlüpfen. Schnell wurden die Reservetiere eingeschirrt, um die Tiere, die in der Nacht die Lasten ziehen mussten, ausruhen konnten.
Dann ließ der Himmel ein Donnerwetter herunter, so, als wenn die Erde untergehen sollte. Der Wagenzug quälte sich durch die mittlerweile sumpfigen Wege. Wenn die Karrenräder einsackten und mit allen Kräften wieder aus dem Matsch befreit wurden gab es immer ein schmatzendes Geräusch. Plötzlich hörte der Regen auf, nur noch in der Ferne war ein dumpfes Grollen zu hören, die Erde dampfte, es bildete sich ein Bodenebel, der in zwei Meter Höhe aufhörte. Kalte Luftmassen versuchten die wärmeren Bodenschichten zu vertreiben, dabei bildete sich diese Nebelwand.
Die einzelnen Wagen mussten noch enger zusammenrücken, damit keiner verloren ging, denn diese Wetterkapriole bedeutete einen Wink des Schicksals, um den Schergen des Kurfürsten doch noch zu entgehen. Höchste Anstrengung und Konzentration war geboten, um auf dem richtigen Weg zu bleiben und um nicht auf gefährliche Hindernisse zu stoßen, die dem Wagen und den Menschen, die darauf saßen, schadeten. Immer und immer wieder umrundeten die Treckbegleiter die Kolonne, um alle Gefahren sofort zu erkennen. Während der Mittagszeit lichtete der Nebel etwas auf, sodass sie es wagen konnten wieder in Richtung Osten um zu schwenken. Sie rasteten, gönnten den Tieren eine Verschnaufpause, gaben ihnen Wasser und Futter, untersuchten die Hufe der Pferde nach Schäden, schirrten die ausgeruhten Tiere ein und setzten die Reise fort. Am Ende eines Felsenmeeres sahen sie eine Grenzmarkierung des Nachbarlandes, welches bekundete, dass der Wagenzug die Soldaten des Kurfürsten genarrt hatte. Herrn von Lebbin sah man die Erleichterung an, dass sie alle diese so schwierige Lage recht glimpflich überstanden und recht ansprechend meisterten.
Die erste gemeinsame Bewährungsprobe überstand der Wagenzug recht ordentlich. Diese so schwierige Lage ließ die vielen verschiedenen Charaktere zusammenrücken und eine eingeschworene Gemeinschaft werden. In der naheliegenden größeren Stadt Siegburg sollte eine mehrtägliche Pause gemacht werden, um die Vorräte auf zu füllen, notwendige Reparaturen vor zu nehmen und ein paar Pferde mit neuen Hufeisen zu versehen. Es gab genügend zu tun.
Nicolaus von Lebbin und ein paar seiner Leute ritten voraus, um bei dem Stadtkommandanten vorstellig zu werden und einen Lagerplatz vor den Stadttoren zu erfragen. Der Zug fuhr langsam auf die mit sehr hohen Mauern umgebene Stadt zu und hielt in einem gebührlichem Abstand an, um auf die Rückkehr des Herrn von Lebbin zu warten. Dessen übrige Reiter sicherten derweilen weiter den Wagenzug, um nicht doch noch überrascht zu werden.
Ihr zugewiesener Lagerplatz lag am anderen Ende der Stadt an der Sieg, einem Bach mit angrenzenden Wiesen. Dazu war noch gut eine Stunde Fahrt nötig, und man sah ehrfürchtig das ganze Ausmaß der gewaltigen Stadtbefestigung mit seinen riesigen Batterietürmen und den drohenden schwarzen Kanonen. Auf den Wehrgängen erkannte man wachhabende Stadtsoldaten, die mit gleichmäßigen Schritten ihren Abschnitt, den sie zu bewachen hatten, abschritten. „Welch eine langweilige Aufgabe, da hin und her zu gehen, bei Tag und bei Nacht.“ Brummelte Kasper so vor sich hin. „Jeder ist seines Glückes Schmied,“ betonte Samuel und schaute sehr interessiert die sehr hohen Stadtmauern an. „Solange diese Soldaten in keinen Krieg verwickelt sind und mit ihren riesigen Kanonen hier unten im Land auf kein Armee vertreiben muss, sind sie versorgt, haben zu essen und zu trinken, einen Schlafplatz, müssen en bisschen ihr Revier säubern, und führen ein ruhiges Leben.“ Meinte Samuel und widmete sich weiter seiner Sternlektüre.
Sie fuhren die Wagen in einen großen Kreis, schirrten die Tiere aus und führten sie zu dem Bach um sie saufen zu lassen. In der Zwischenzeit errichteten ein paar Männer mit Seilen und in den Boden gerammte Pflöcke eine eingezäunte Weide für die Zugtiere. Ein fester Plan bestimmte, wer die derzeitige Wache an der Weide hatte. In diesem Fall musste Kasper die erste Wache halten, was ihn aber nicht störte, denn er beaufsichtigte gerne die Tiere. Der alte Konrad blieb in seiner Nähe und sah, wie Kasper die alte Pfeife seines Großvaters hervorkramte und sie gedankenvoll betrachtete. „Kasper ich sehe, du hast eine Pfeife, ich habe dich aber noch nie rauchen sehen.“ Kasper schaute auf die Pfeife und erklärte: „Mein Vater hat sie von seinem Vater erhalten, jetzt hat sie mein Vater mir als ewiges Andenken an die Familie mitgegeben. Mein Großvater hat sie selbst geschnitzt. Ich habe auch noch nie geraucht. Ich weiß nur, dass mein Vater sich bestimmte Kräuterblätter gepflückt und getrocknet hatte.“ „Möchtest du es mal probieren?“ „Ich würde es gerne mal.“ Konrad kramte in den Unendlichkeiten seiner Taschen herum und beförderte einen alten Lederbeutel an das Tageslicht. Er zog die Lederschlaufe auf und ließ Kasper daran schnuppern. Ein eigentümlicher, aber nicht unangenehmer Geruch stieg Kasper in die Nase. „Diese Kräuter kennst du, es sind die gleichen, die wir für die Tiere und unsere Medizin verwenden.“ Konrad stopfte sich etwas in seine Tonpfeife, ging zum nahenden Lagerfeuer und hielt ein kleines Holzstöckchen so lange ins Feuer, bis es an der Spitze glühte, steckte es in den gefüllten Pfeifenkopf und zog so lange die Luft an, bis sich durch das Ansaugen Rauch entwickelte, den er dann mit dem Mund ausstieß. So oft er an der Pfeife sog, entwickelte sich wohlriechender Dampf. Kasper beobachtete Konrad genau und wollte es ihm nachmachen. Dem ersten Zug mit seiner Pfeife folgte ein Gehuste und Gewürge. Damit hatte er nicht gerechnet. Konrad klopfte ihm auf den Rücken und meinte: „So fängt jeder an, probier es gleich noch einmal, du wirst merken, dass Du es ohne husten überstehst.“ Kasper folgte seinem Rat und zog wesentlich vorsichtiger an der Pfeife und empfand auch eine gewisse Behaglichkeit. „Die für dich richtige Mischung der getrockneten Blätter musst du dir selbst herausfinden.“
Die Wachablösung für die Weide der Zugtiere kam und löste Kasper ab, somit hatte er genügend Zeit, sich die Stadt an zu sehen. Vorher wusch er sich im Bach, ordnete seine Kleidung und ging gemächlich auf die riesigen Stadttore zu, die noch zusätzlich durch ein riesiges Gatter, welches von oben herabgelassen werden konnte, gesichert wurden. Zwei Stadtwächter beäugten ihn neugierig, aber nicht unfreundlich. „Wenn du die anderen Fuhrleute suchst, sie sind derzeitig im Goldenen Löwen.“ Erklärte einer der Wachhabenden und zeigte Kasper, wie er zu gehen hatte. Kasper betrat die Wirtschaft und wurde direkt mit einem Hallo begrüßt. „Setz dich zu uns, trink einen Krug Dünnbier und lasse dir von der netten Wirtin einen Teller Suppe geben.“ Sagte Johann, einer der Fuhrmänner aus seinem Wagenzug. Die Wirtin, eine blonde Frau mittleren Alters und üppigen Formen stand vor dem Eingang zur Küche, stemmte die kräftigen Arme in die Hüften, warf einen forschenden Blick in die Runde, um jede neue Situation direkt zu erfassen und gegebenen falls entsprechend zu reagieren. Sie kannte die Mentalität der Fuhrleute, wenn die bei zuviel Bier über die Stränge schlugen. Aber im Moment brauchte sie nirgendwo aktiv werden. Sie sah den jungen Kasper, und sofort huschte ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht. So etwas wie mütterliche Gefühle regten sich in ihr und sie bedeutete Kasper mit zu ihr in die Küche zu kommen und an einem Tisch Platz zu nehmen. Die Fuhrmannskollegen grinsten sich an und konnten gewisse Bemerkungen nicht unterlassen. Ihr Benjamin weckte wohl einen unverhofften Drang bei Frauen.
Kasper wusste nicht, wie er diese Sachlage einschätzen sollte, fühlte sich aber nicht unwohl, bloß, so etwas war nun total neu für ihn. Aber er wartete erst einmal ab, wie sich alles entwickelte. „Du siehst sehr hungrig aus, hast wohl die letzten Tage nicht richtig gegessen. Ich glaube, da muss etwas gegen getan werden.“ Sie sprach das so resolut, dass Kasper nichts entgegen zu setzen wagte. Sie stellte ihm einen großen Teller einer Gemüsesuppe mit viel Fleischeinlage hin, dazu gab es frisch gebackenes, herrlich duftendes Fladenbrot und einen Krug mit Dünnbier. „Falls du danach noch nicht satt bist, lass es mich wissen.“ Sagte dies, verließ die Küche um in der Wirtschaft nach dem Rechten zu schauen und den durstigen Männern erneut die Krüge zu füllen. Sofort kam die Frage auf, wie es Kasper geht. Dazu musste die Wirtin sich einige Bemerkungen gefallen lassen, was ihr eigentlich nichts aus machte, sie spielte dieses normale Männergetue mit.
Kasper leerte seinen Teller, wischte den Rest noch mit dem frischen Brot aus, rülpse recht laut, spülte alles mit dem restlichen Dünnbier herunter und fühlte sich behaglich und wohl. Er lehnte sich im Stuhl zurück, ließ seine Gedanken schweifen und nickte etwas ein. Dabei träumte er von zu Hause, seinen Eltern und Geschwistern. Wie wird es ihnen ergangen sein, kam der Vater auf dem Feld ohne ihn zurecht? Sein Traum wurde durch eine Hand auf seiner Schulter unterbrochen als die Wirtin ihn von der Seite her ansprach: „Bist du satt geworden? Hat es dir geschmeckt?“ Kasper sagte: „So gut habe ich schon lange nicht mehr gegessen. Ich bin rund um satt und glaube, eingeschlafen zu sein.“ „Wenn du magst, kommst du morgen wieder, denn dann haben wir Schlachttag, und viele Gäste werden hier essen und trinken.“ „Ich komme gerne, vielen Dank für das tolle Essen, ich werde mir gleich erst einmal die Stadt ansehen und danach früh schlafen gehen, denn die Arbeit beginnt im Morgengrauen.“ Kasper war froh, als er die Küche verlassen konnte, denn er fühlte sich leicht in seiner Freiheit eingeschränkt, die Nähe dieser netten Wirtin machte ihn sehr verlegen. Die anderen Fuhrmänner prosteten ihm im Vorbeigehen zu, als er sich in Richtung Ausgang bewegte. Draußen, vor der Wirtschaft, saß Konrad auf einer Holzbank, die Beine von sich gestreckt und zog genüsslich an seiner Tonpfeife. Als er Kasper bemerkte, forderte er ihn auf sich zu setzen. „ Setz dich und genieße bei einer Pfeife den schönen Abend.“ Kasper kramte die Holzpfeife hervor und stopfte sich aus Konrads Kräutervorrat etwas in den Pfeifenkopf, ging noch einmal in die Wirtschaft an einen der ersten Tische, wo eine Kerze brannte, hielt einen kleinen Holzstock in die Flamme der Kerze und zündete seine Pfeife an. Dann setzte er sich zu Konrad auf die Bank und genoss mit ruhigen Zügen seine Pfeife. Beide so altersunterschiedlichen Männer hingen ihren Gedanken nach. „Glaubst du, dass die Soldaten des Kurfürsten uns noch etwas anhaben können?“ Fragte Kasper und schaute lächelnd zwei Kindern zu, die im staubigen Dreck der Strasse spielten. „Wir müssen noch weiterhin vorsichtig sein, denn soweit ist die Landesgrenze nicht entfernt, und ich weiß nicht, wie gut die benachbarten Länder zu einander stehen. Hier im Bereich der Stadt sind wir zunächst sicher, denn hier genießen wir den besonderen Schutz der Stadtherrschaft.“ Nach ihrem Pfeifengenuss schlenderten beide, die Hände in den tiefen Hosentaschen vergraben, durch die Stadt, über den Marktplatz, an der Kirche und dem daneben befindlichem Abtei vorbei, und beobachteten ein paar Mönche, die eiligst die Kirche aufsuchten, um ihre abendliche Messe zu feiern. Kasper hatte vorher noch nie Mönche gesehen, seltsam gekleidet mit ihren dunkelbraunen Kutten und einem Stück Seil um die Hüften geschlungen, an den Füssen trugen sie eigentümliche Schuhe mit Riemen, die Zehen guckten aus den Schuhen heraus. Die Haarfrisur mit dem kahlen Hinterkopf fand er lustig. Konrad grinste über beide Backen, als er das verwunderte Gesicht von Kasper bemerkte: „Je weiter du nach Osten kommst, je mehr merkwürdige Menschen wirst du antreffen und auch kennen lernen. Die herrschenden Klöster bauen in der Region, in der wir die Siedler hinbringen, viele Siedlungen und Kirchen und wollen das öde Land wieder urbar machen. Du wirst es sehen, es ist eine ganz andere Welt.“
Nicht weit von dem Kloster, in einer engen Seitengasse sah Kasper sehr neugierig auf die bunten flackernden Lampen vor den Hauseingängen. Kasper war schon auf dem Weg dahin, als Konrad ihn an der Schulter sanft zurückhielt, und ihn mit einer Ausrede von diesem Ort weg zu locken. Aber so leicht war Kasper nicht von diesem Vorhaben ab zu bringen, sich alles an zu sehen. Konrad zuckte die Schulter und grinste still vor sich hin. Aus einem dieser Häuser kam Johann der Schmied und knöpfte sich noch den Rest seiner Hose zu. Johann sah die beiden, grinste, und meinte: „ Na, Kasper, will dein Lehrer dir die richtige Welt zeigen?“ Konrad stand hinter Kasper, zeigte Johann einen Vogel, und sagte erst nichts. So langsam begriff Johann und kratzte sich am Kopf. „Was hast du hier gemacht?“ fragte Kasper den Schmied. Der wurde etwas verlegen, rückte dann aber mit der Sprache heraus und meinte: „ Hier kann man eine Frau mieten, damit man mit ihr körperlichen Spaß hat, den Mann und Frau so ab und zu brauchen.“ „Du meinst, ihr versucht ein Kind zu machen?“ fragte Kasper mit dem normalsten Ausdruck im Gesicht. „Naja, soweit natürlich nicht, diese Frauen bezahlt man dafür, weil man nicht verheiratet ist und hin und wieder so tut, als wenn man ein Kind machen will. Diese Frauen stellen sich dafür zur Verfügung, um so einfachen Männern, wie wir es sind, eine Freude zu bereiten. Deshalb nennt man sie auch Freudenmädchen, oder Huren, weil man sie für Geld mieten kann.“ „Finde ich sehr praktisch, wir sind solange unterwegs, da hätte eine Ehefrau auch nicht viel von.“ Überlegte Kasper so vor sich hin. „Irgendwann gehe ich da sicher auch mal hin und frage so eine Hure, aber im Moment habe noch andre Sachen zu tun.“ Erklärte Kasper. Konrad war ganz froh, dass Kasper nicht noch mehr bohrende Fragen stellte. Nicht weit von der Freudenhausgasse blieb Kasper vor einer offenen Töpferwerkstatt stehen, und beobachtete einen älteren Mann und eine junge Frau, wie sie noch recht matschigen Ton auf einer Platte formten und mit den Füßen ein Rad betätigten, damit diese obere Platte sich sehr schnell drehte, dabei formten sie sehr geschwind den Ton zu einem Krug. Kasper war ganz fasziniert von dieser Dreh- und Formtechnik. Die junge Frau schaute ihn an, lächelte und rief: „Wenn du morgen wiederkommst, ist dieser Krug fertig, dann gehört er dir.“ Kasper wurde ganz verlegen, grüßte und ging mit seinen Kollegen weiter. Konrad grinste wie immer, und dachte sich seinen Teil, Johann der Schmied meinte: „Wenn ich du wäre, würde ich dieser freundlichen Aufforderung nachkommen. Wer weiß, wozu es gut ist.“ Auch er grinste über das ganze Gesicht.
Sie beendeten ihren Stadtgang, durchquerten das große Stadttor und erreichten den Lagerplatz des Wagenzuges, wo sie die Wache des Lagers ansprach, um sich zu erkennen zu geben. Sie setzen sich noch an das Lagerfeuer, wo bereits andere Fuhrmänner saßen und lachend und scherzend die beiden begrüßten. Es versprach eine fröhliche Runde zu werden.
Die paar Tage in der Stadt verliefen recht positiv, die Vorräte wurden ergänzt, Pferde neu beschlagen, einige Wagenräder erneuert, die Siedler versorgten sich ebenfalls mit allem Notwendigen, kurzum, der Treck konnte gut gerüstet seinen Weg fortsetzen.
Kasper besuchte noch einmal die Wirtin, die ihn sehr in ihr Herz geschlossen hatte erhielt von ihr noch einen großen Beutel mit „Extraversorgung“, und er musste ihr versprechen, auf seinen Wegen irgendwann wieder vorbei zu kommen. Er schaute auch bei der Töpferwerkstatt vorbei und traf die junge Frau alleine an. Sie erkannte ihn direkt wieder und freute sich über seinen Besuch. „Ich habe vorhin frisches Brot gebacken, magst du ein Stück?“ „Gerne,“ erwiderte Kasper ganz schüchtern und verlegen. Sie saßen schweigend nebeneinander, Kasper kaute auf dem frischen Brot und unterbrach das Schweigen. „Zum Morgengrauen werden wir weiterfahren, unsere Fahrt geht nach Osten, wir bringen viele Siedler dahin.“ „Bist du ein Fuhrmann?“ fragte sie und schaute ihn durchdringend an. „Ja, ich habe mich vor ein paar Wochen dieser Mannschaft angeschlossen, um im Osten auch ein Haus bauen zu können. Danach werde ich weiter Fuhrmann sein. Vielleicht komme ich hier wieder vorbei.“ „Ich werde auf dich warten.“ Sie sagte dies in einem ernsten Ton und schaute Kasper durchdringend an. „Ich heiße Elisabeth.“ Fügte sie noch hinzu, stand auf und überreichte Kasper den gerade fertigen Krug. „Vielleicht denkst du ja an mich, wenn du daraus trinkst, ich würde mich freuen.“ „Mein Name ist Kasper, diesen Krug werde ich behüten, vielen Dank.“ Er stand auf und verabschiedete sich, sie hauchte ihm noch einen Kuss auf die Wange, sodass Kasper ganz rote Ohren vor Verlegenheit bekam.
Die Tiere wurden angespannt, jeder rollte auf seinen festen Platz im Zug, Nicolaus von Lebbin saß auf seinem Pferd, hob den Arm und rief: „Wagen Marsch, auf nach Osten.“ Sein ausgestreckter Arm zeigte in die Richtung und der Wagenzug rumpelte los. Es war schon imposant mit an zu sehen, mit welcher Ordnung und Disziplin der Marsch von Statten ging. Hinter dem Treck begannen die Treiber die Ersatztiere mit lauten Rufen in Bewegung zu setzen. Einige Tiere wollten nicht so richtig losgehen, weil eine saftige Wiese und ein fließender Bach viel angenehmer war, als hinter dem Staub aufwirbelnden Treck her zu gehen. Besonders die Zugochsen für schwere Lasten mussten mit Hilfe der Peitsche zu ihrem Glück gezwungen werden.
Vor den Stadttoren standen einige Schaulustige und winkten dem Zug hinterher. Kasper meinte die Wirtin und Elisabeth gesehen zu haben und winkte zurück.
Nicolaus von Lebbin schickte so gleich seine Leute zur weiteren Beobachtung der Gegend los, denn man erzählte in der Stadt von Übergriffen auf Fuhrleute, und von Lebbin nahm diese Warnungen sehr ernst. Seine Leute meldeten zwar frische Spuren beschlagener Hufe, gesehen hatten sie nur vereinzelte Reiter in weiterer Entfernung. Die Landschaft veränderte sich, es wurde hügeliger und die Wege beschwerlicher. Die vielen dicken Steine auf der zerfurchten Handelsroute mussten von vorausgehenden Leuten zur Seite geräumt werden. Von Lebbin schickte die einzelnen Fußgänger und diejenigen, die gerade keinen Wagen lenken brauchten, nach Vorne, um somit schnell unliebsame Hindernisse zu beseitigen.
Sie hörten von vorne nur ein lautes Halt, dann ein Geschrei und Fluchen. Von Lebbins Reiter stürmten zu der Steine- Wegräum- Kolonne und konnten nur mehrere Gestalten wahrnehmen die eiligst in den naheliegenden Büschen verschwanden. Was war geschehen? Ein dicker Baum lag über dem Fuhrweg, zwei von der Steine- Räumkolonne lagen tot auf dem Rücken, in beiden Körpern steckten kurze spitze Eisenstücke, eher pfeilähnliche Gebilde. Einer der Reiter sah sich die Eisenpfeile an und meinte: „Das sind Pfeile oder Bolzen aus einer Armbrust. Wir haben es mit üblen Gegnern zu tun. Die schießen aus dem Hinterhalt und treffen fast immer.“ Nun musste der Wagenzug seine ersten Verluste beklagen. Es nutzte nichts, der Baum musste weg. Dafür holten sie zwei Zugochsen nach vorne, schirrten sie ein, befestigten verschiedene Seile um den längs liegenden Baumstamm und am Geschirr der Zugochsen. Die Tiere legten sich arg ins Zeug, nach einigen Versuchen ruckte der Baumstamm und der Weg konnte mühselig frei geräumt werden. Die beiden Toten legte man an den Wegrand, überdeckte sie mit den zahlreichen Steinen. Jemand sprach ein kurzes Gebet und die Fahrt ins Ungewisse wurde direkt fortgeführt.
Der durchfurchte Weg wurde immer schmaler, sodass die Wagen sich nur noch hinter einander in einer langen Schlange bewegen konnten. Eine gefährliche Situation für alle, ein guter Schutz der begleitenden Reiter war nicht mehr gegeben.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Caspar de Fries
Bildmaterialien: Caspar de Fries
Tag der Veröffentlichung: 02.08.2013
ISBN: 978-3-7309-5245-0
Alle Rechte vorbehalten