Name : Rainer Göcht
Land : Deutschland
Zitat: Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben.
Einsamkeit weckt Wunschträume
Originaltext des Briefes
Eine Schülerin berichtet ihre Empfindungen in einem Brief an ihre Eltern:
Seit ich von zu Hause fort und in die Stadt zog, um dort das Gymnasium zu besuchen, war ich, was das Briefe schreiben angeht, sehr säumig. Es tut mir leid, dass ich so unachtsam war und nicht schon früher geschrieben habe. Ich will Euch nun auf den neusten Stand bringen, aber bevor Ihr anfangt zu lesen, nehmt Euch bitte einen Stuhl. Ihr lest nicht weiter, bevor Ihr Euch gesetzt habt!
Okay?
Also, es geht mir inzwischen wieder einigermaßen.
Der Schädelbruch und die Gehirnerschütterung, die ich mir zugezogen hatte, als ich aus dem Fenster des Wohnheims gesprungen bin, nachdem dort kurz nach meiner Ankunft ein Feuer ausgebrochen war, sind ziemlich ausgeheilt. Ich war nur zwei Wochen im Krankenhaus und kann schon fast wieder normal sehen und habe nur noch einmal am Tag diese wahnsinnigen Kopfschmerzen.
Glücklicherweise hat der Tankwart einer Tankstelle das Feuer im Wohnheim und meinen Sprung aus dem Fenster gesehen und die Feuerwehr sowie Krankenwagen gerufen. Er hat mich auch im Krankenhaus besucht - und da das Wohnheim abgebrannt war, und ich nicht wusste wo ich unterkommen sollte, hat er mir netterweise angeboten, bei ihm zu wohnen. Eigentlich ist es nur ein Zimmer im 1. Stock, aber es ist doch recht gemütlich.
Er ist ein sehr netter Junge und wir lieben uns sehr und haben vor zu heiraten. Wir wissen noch nicht genau wann, aber es soll schnell gehen, damit man nicht sieht, dass ich schwanger bin. Ja, Mama und Papa, ich bin schwanger. Ich weiß wie sehr Ihr Euch freut, bald Großeltern zu sein -und ich weiß, Ihr werdet das Baby gern haben und ihm die gleiche Liebe, Zuneigung und Fürsorge zukommen lassen, die Ihr mir als Kind gegeben habt.
Der Grund, warum wir nicht sofort heiraten, ist, dass mein Freund Aids hat, daher ist es uns nicht möglich eine voreheliche Blutuntersuchung durchzuführen, denn auch ich habe mich angesteckt. Ich weiß, Ihr werdet ihn mit offenen Armen in unserer Familie aufnehmen. Er ist nett und ehrgeizig, wenn schulisch auch nicht besonders ausgebildet. Auch wenn er eine andere Hautfarbe und Religion hat als wir, wird Euch das sicherlich nicht stören.
Jetzt, da ich Euch das Neuste mitgeteilt habe, möchte ich Euch sagen, dass es im Wohnheim nicht gebrannt hat, ich keine Gehirnerschütterung oder Schädelbruch hatte, ich nicht im Krankenhaus war, nicht schwanger bin, nicht verlobt bin, mich nicht angesteckt habe und auch keinen Freund habe.
Allerdings bekomme ich eine sechs in Mathe und eine fünf in Deutsch und ich möchte, dass Ihr diese Noten in der richtigen Relation seht!
Eure Tochter Sarah
PS: Was wollte uns diese junge Frau sagen?
Ein Jahr nach diesem Brief verstarb sie nach einem Unfall.
Texte: Rainer Göcht / Sarah M.
Bildmaterialien: Rainer Göcht
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch widme ich einer jungen Frau mit Namen Sarah.