Caspar de Fries
Schriftsteller
Zitat: Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben
Texte : Caspar de Fries/ Brigitte Schwab
Bildmaterialien:Caspar de Fries / Bundesarchiv über Wikipedia, eigene Bilder
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Buch versteht sich nicht nur als eine Zeitzeugengeschichte aus den letzten Tagen des 2.Weltkrieges im Jahr 1945, sondern soll als eine Art Mahnmal gelten, dass sich derartige Machtereignisse in Europa nicht wiederholen.
Heute am 28.Februar 1994, will ich anfangen, meiner Freundin „Gisela G.“, zu ihrem 80.Geburtstag, am 25. März 1994, unsere gemeinsame erlebte Zeit in den kritischen Fluchttagen des Jahres 1945 aus Dramburg, in Hinterpommern, zusammen zu schreiben.
Liebe Gisela,
Miterleber aufregender Tage des Kriegsendes, das Dich Deine Heimat, und mich den Ort meiner langjährigen Arbeit in der pommerschen Saatzucht GmbH, das heißt, deren Hauptzuchtstation ( Getreide und Kartoffeln ) in Dramburg, Ost-Pommern, zum Verlassen zwang.
Wir zwei kannten uns seit einigen Jahren über die Mitgliedschaft des Roten Kreuzes und des Dramburger Turnvereins. In den letzten Kriegsjahren verbrachten wir viele gemeinsame, sehr angenehme Abende mit Deinen Eltern, die sich, schweren Herzens, auch dazu entschlossen, mit der pommerschen Saatzucht auf die gemeinsame Flucht zu gehen.
Die ganze Stadt Dramburg war am Anfang des Jahres 1945 – wie wohl die meisten Orte im Osten – in Aufruhr, denn die russische Front rückte immer näher und näher, alle hatten furchtbare Angst, keiner wollte den Russen in die Hände fallen, vorbei ziehende Flüchtlinge berichteten von grausigen Übergriffen, Vergewaltigungen und Erschießungen.
Die Hauptverantwortlichen der Saatzucht verweilten derzeitig in der Hauptverwaltung in Stettin, und überließen mir die Leitung und Abwicklung allen Geschehens.
2.Januar 1945
Am Abend des 2. Januar 1945 erreichte ich, nach vielen Unterbrechungen, wie Überfüllung der Züge, Anhalten auf der Strecke wegen feindlichen Tiefflugangriffen, Warten, Umsteigen und ähnliches in Dramburg an. Ich verbrachte meinen Weihnachtsurlaub 1944 in Breslau und in Nieder- Ullersdorf, ein kleiner Ort in der Niederlausitz im Kreis Sorau. Dort unterhielten mein Mann Gustav und ich eine gemeinsame Wohnung, die wir aber – er an der Front in Russland, und ich in Dramburg – an eine ehemalige Saatzuchtkollegin aus dem evakuierten Berlin vorübergehend wohnen ließen.
In Dramburg herrschte eine unglaubliche Unruhe, eine gewisse Hektik, aber das Leben musste einfach weiter gehen. Man versteifte sich in die viele Arbeit, hörte mit einem Ohr aber auf die anschwellende Gerüchteküche. Wir ließen uns es aber nicht nehmen, weiterhin ins Kino zu gehen.
Seit meiner Heirat mit Gustav Schwab im März 1940 hatten wir zwar noch unseren eigenen Hausstand in Nieder-Ullersdorf, aber im Februar 1943 wurde Gustav zur Wehrmacht einberufen und direkt nach Stalingrad geschickt. Seit der Zeit arbeitete ich wieder in Dramburg in der Saatzucht. Ich wohnte dann in der Labeser Chaussee im Haus vom Lehrer Boeck, genau gegenüber vom Haus der Familie Kamrath, der Eltern von Gisela. Meine Verpflegung erhielt ich aber weiter über die Saatzucht, wenn die eigentliche Bezahlung schon mal ausfiel. Viele Abende verbrachte ich in Kamrath`s Haus.
Seit den massiven Bombenangriffen im Rheinland und in Stettin quollen viele Häuser in Dramburg über voll evakuierter Menschen aus Duisburg und Bochum. Viele Mitarbeiter der Saatzucht aus Stettin flüchteten nach Dramburg. Schreckliche familiäre Tragödien spielten sich ab.
Am 13.Januar 1945 zwischen 21.30 und 23.00 Uhr flogen unfassbare Mengen an Flugzeugen über uns in Richtung Nordwesten, das Riesenfeuerwerk der Streubomben war bis zu uns zu sehen und zu hören. Ein schrecklicher Grossangriff auf Plölitz, etwas nördlich von Stettin war das Ziel. Dort entstand Hitlers Wunderwaffe, die V2, in unterirdischen Werkshallen. Dieser Grossangriff hatte wohl manche deutsche Hoffnung zu Fall gebracht……und damit das Kriegsende beschleunigt.
Am 14. Januar 1945 begann der Grossangriff der Russen. Panzer über Panzer rollten heran und beschossen die fliehenden deutschen Soldaten. Wir konnten die vielen Schüsse der Panzergranaten hören. Für Dramburg noch zu weit weg. Der Koloss kam ins Rollen – und damit viel Unruhe in die Bevölkerung. – Aber dass sie wirklich hierher kommen könnten – das glaubten nur die Pessimisten. Leider!
Der Winter hatte uns fest im Griff, die Russen natürlich auch, deshalb kam deren Vormarsch nicht so schnell voran, wie erwartet.
Es war Sonntag, der 21.Januar , wir ließen es uns nicht nehmen am Wuckersee noch mal zu rodeln, das heißt die Kamrath`s Schwestern zwei ehemalige Schulfreunde und ich.
Am Nachmittag gingen wir noch ins Kino, dem Capitol, und sahen uns einen Film an. Während der Vorstellung kam eine Durchsage, dass alle Rotkreuz-Mitglieder sich in der Dienststelle zu melden hatten, weil 3600 Flüchtlinge aus Ostpreußen am Bahnhof erwartet wurden, sie sollten in der Kirche untergebracht werden. Neue Unterbrechung, Fliegeralarm.
Ich hielt mich bereit und kam der Aufforderung des Roten Kreuzes nach. Noch verlief alles sehr ungeordnet, Zuständigkeiten fehlten, jeder organisierte sich selbst, so gut er konnte. Man brauchte Männer, Wagen und Gespanne. Ich sollte mich am Telefon bereit halten. In voller Rot-Kreuz-Kluft zog ich wieder in die Räume der Saatzucht und wartete am Telefon auf die Notrufe, die leider ausblieben. Die Stettiner Kollegen blieben nicht in den Büroräumen der Saatzucht, sondern flohen weiter zu Freunden oder Verwandten.
22. Januar 1945, ich schaute auf die Strasse und sah Flüchtlinge über Flüchtlinge, zu Fuß, voll bepackte Pferdewagen mit Menschen und ihren Habseligkeiten – Sie gehörten nun zum täglichen Stadtbild.
23. Januar 1945, laut Radiobericht wurde Breslau geräumt. Im Südosten hörten wir das erste Mal schwere Artillerie. Es hörte sich wie das schwere Grollen eines nahen Gewitters an.
An diesem Dienstag, dem 23. Januar wurden die amerikanischen Kriegsgefangenen in ihren Häuschen eingeschlossen, damit sie nicht sahen, wie wir Mitarbeiter der Saatzucht zwei große Kisten auf Schlitten hieften und in einer Feldscheune wertvolles Zuchtmaterial der Saatzucht vergruben. Wir wollten sicherstellen, dass wir für „kurze Zeit“, dachten wir, Dramburg verlassen müssten, um später, nach unserer Rückkehr alles wieder weiter verwenden könnten.
24. Januar 1945, unser Inspektor Wilhelm Zietz baut mit den amerikanischen Kriegsgefangenen unsere Treckwagen um. Im Wehrmachtsbericht überschlagen sich die Berichte, demnach eroberten die Russen bereits viele Orte in Ostpreußen, zum Beispiel Mohrungen, wo Gustavs Schwester Herta, eine Medizinstudentin, als Arzthelferin arbeitete – ob sie herausgekommen ist? – und das zur rechten Zeit?
25.1.1945, Breslau – Befehl der Wehrmacht, die Stadt soll bis zum letzten Stein und Mann verteidigt werden. – Ob meine Eltern raus sind? – Telefon mit Ursel in Boitzenburg, Uckermark, auch sie weiß nichts darüber.
Die Stettiner Saatgut-Angestellte sollen nach Stettin zu allen Anbauern in Vorpommern trecken. Dauernde Besprechungen, Planung von Treckrouten, möglichst Landwege, der Wehrmachtsbewegung wegen, die Verteilung von Menschen und Material auf den wagen wird diskutiert, geplant, notiert, Übernachtungsorte festgelegt.
Und immer noch Flüchtlinge über Flüchtlinge, auf unserer Strasse, der Ost – West – Strasse, der unglaubliche lange, traurige Strom der Flüchtlinge reist nicht ab.
Dazu Schneesturm und sehr kalt.
Wenn wir doch nicht losziehen brauchten.
26. Januar 1945, das Radio meldet, Woldenburg ist von den Russen eingenommen. Gerüchte? Nein, die Meldungen erweisen sich als wahr.
Woldenburg liegt nur 50 Km von hier.
Die Spannung nimmt zu.
Nun beginnen auch die internen Streitigkeiten der Saatgutleute, von wegen mit Pferd und Wagen nach Stettin, dafür bekommen sie keinen Wagen, der eine verlangt, die große Buchungsmaschine unbedingt mit zu nehmen, andere sagen keine Maschine, nur Menschenleben. Die Ansichten gingen im großen Streit auseinander.
Der Bahnhof von Dramburg war überfüllt mit Menschen – alle hatten die Hoffnung, auf einen Platz im Zug. Regelmäßigen Zugverkehr gab es schon lange nicht mehr. Ab und zu wurde ein Zug eingesetzt, woher er auch immer kam. Ohne irgendeine Mitteilung, es herrschte Chaos, schon mal kam ein Güterzug, überfülltmit Menschen, viele versuchten sich von außen daran fest zu klammern.
Die Nacht vom 26. zum 27.Januar 1945 um ca. 2.oo Uhr ruft Annelore Kamrath an: „Brigitte, es ist soweit, wir ziehen los! Das klang wie ein Paukenschlag in meinen Ohren. Sollten die Russen durchgebrochen sein? Schnell angezogen und los. Mal sehen, was in der Stadt los war. Bis auf wenige Gestalten, wenige Treck- oder Militärwagen, nichts. Bei Kamraths wurden die Hansa-Wagen mit Gepäck beladen. Im Schnee erstickt jedes Geräusch. Ich erfuhr, dass im Polizeirevier Treckberechtigungsscheine für Verpflegung und Unterkunft für unterwegs ausgegeben werden. Die Polizisten wollten eine Liste mit allen, die vorhaben, mit unseren Wagen mit zu fahren, ich komme auf 30 Stück, lächerliche, Fahrkarten große Stücken fahrkartengelben Papiers mit einem lächerlichem Aufdruck, scheinbar aus Einzelbuchstaben gesetztem Aufdruck: „Flüchtlinge des Kreises Dramburg, Kreis Dramburg der NSDAP“ – oder so ähnlich. Diese Wische sollten uns Tore und Türen öffnen, --- Wir haben sie nie gebraucht.
Die Polizeibeamten; „Was? Die Saatzucht will auch schon los? – Wer bleibt denn noch? Und wir? Wir müssen hierbleiben. Nach uns fragt keiner“, bemerkte einer bitter.
27. Januar 1945, der Tag war voller Spannung und Aufregung. So mancher zieht ab. Wer irgendeine Adresse wusste, und sich loseisen konnte, versuchte alles.
Telefongespräche waren nicht mehr zu bekommen, die Vermittlung arbeitete nicht mehr, Panikstimmung auf der Post.
Wir hatten fest vor, morgen zu trecken.
Da kommt aber abends Inge von B.: „Trecken ist verfrüht, noch ist nichts zu befürchten.“
28. Januar 1945, morgens hatten wir alle vor los zu ziehen, ließen es aber doch. Jeder dachte, vielleicht dreht sich das Blatt, und wir können hierbleiben. – Statt dessen kamen immer mehr Flüchtlinge und nächtigten in unseren Räumen. Wir hatten alle Hände voll zu tun.
Auf unserer Strasse ziehen Flüchtlinge über Flüchtlinge vorbei, aus allen möglichen Kreisen wie Bromberg, Deutsch-Krone, Wirsitz und natürlich Ostpreußen…Kommen wir auch noch dran? ………Wenn sie alle, von so weit her, jetzt erst hier sind, zum Teil ohne Russenberührung, dann haben wir ja auch noch Zeit. Diese und ähnliche Gedanken beschäftigte die Bevölkerung. Aber die Unruhe stieg.
Das Stettiner Saatgutkollegium wollte zurück nach Stettin, sie waren auch nicht mehr um zu stimmen, sogar ohne Buchungsmaschine. Da sie aber kein Gefährt von den Dramburgern zu erwarten hatten, holte sie der Verwalter von Gut Prützen mit einem überspannten Kastenwagen ab, ich sah sie nie wieder.
Am gleichen Tag geleitete ich meine Kolleginnen Irme Loeper und Pomplun mit einem Schlitten zum Dramburger Güterbahnhof. Ich sah, dass Irme nur Sommerkleider mitnahm, solche Einzelheiten fielen mir auf. Sie erwischten doch tatsächlich in einem Personenabteil einen Platz eines heute noch startenden Zuges. Ziel war Berlin. Am gleichen Tag entschlossen sich Frau Kuss mit Tochter in einem Militärzug nach Düsseldorf zu fahren.
Mir war sehr wehmütig zu Mute, einer nach dem anderen verschwindet und sieht zu, Dramburg zu verlassen. Wäre es nicht auch das Richtigste, sich auf den Weg zu machen?
Ich hätte mehrere Adressen, die ich anpeilen könnte, aber ich hatte Kamrath`s den Treckplatz versprochen, und empfinde es als meine Pflicht, als Rot-Kreuz-Schwester meine Aufgaben und Pflichten hier zu übernehmen. Hier brauchen mich die Flüchtlinge, das Rote Kreuz und die vielen verwundeten Soldaten, die in riesigen Scharen auf dem Bahnhof in Dramburg landen. Je näher die Front heranrückte, je mehr Aufgaben und Arbeiten erwarteten mich. Täglich wurden wir gefragt, wenn wir los trecken, ob wir den oder den mitnehmen, und das wir ohne sie nicht abfahren. – Ich kann jetzt noch nicht fort!
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Caspar de Fries - Brigitte Schwab
Bildmaterialien: Caspar de Fries - Bundesbildarchiv von Deutschland über wikipedia
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2012
ISBN: 978-3-7309-4498-1
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
In Gedenken an Brigiite Schwab, deren Tagebuchaufzeichnungen die Grundlage zur Erstellung dieses Buches waren, und an meine Mutter, die
mit ihrer Freundin Brigitte diese erlebnisreiche, beschwerliche und aufopferungsvolle Flucht unternahm.
Ich denke dabei auch an meine Großeltern, die diese Flucht ebenso unternahmen, ihr Haus nebst Hab und Gut verloren, ausgeplündert, geschändet und missbraucht wurden.