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Prolog




Schmetterlinge. Es hieß immer, sie waren wunderschön, sanft, empfindlich, zärtlich. Verletzlich. Bezaubernd.
Diese kleinen, zarten Wesen, dessen Flügel mit dünnem, regenbogenschimmernden Staub überzogen waren und die man nicht berühren durfte, kein kleines bisschen. Schmetterlinge, die von Blüte zu Blüte flatterten, so harmlos wie eh und je.
Das dachte man.
Aber ich wusste es besser. Schmetterlinge waren nicht bezaubernd. Sie waren auch kein Zeichen des Guten, nicht für mich. Sie waren nichts von all dem, was genannt wurde, nein. Glaubt mir, ich habe Ahnung.
Schmetterlinge waren gefährlich, schrecklich, dunkel.
Vielleicht konnten sie nichts dafür, dass sie so waren, wie sie eben nun mal waren. Aber ich fand sie trotzdem grauenhaft.
Ich konnte auch nichts dafür, dass ich so war, wie ich war. Verflucht, gezeichnet, krank, wie man es nennen mochte. Es war egal.
So jemand, wie ich es war, war nicht normal und würde es auch nie sein. Menschen hatten Angst vor mir, obwohl ich doch nichts anderes war als sie selbst. Warum war das so? Lag es an meinem Äußeren?
Nein, das tat es nicht. Zumindest nicht ganz. Es lag an meiner Aura.
Sie war einfach komplett anders als die anderer. Wenn ich in einem Raum auftauchte, wurde es ganz still, alle starrten zu mir herüber. Viele bekamen Angst. Diese Angst konnten sie nicht begründen, sie war einfach da. Man konnte nichts an ihr ändern. Sie fühlten sich unwohl in meiner Nähe. Sie hassten es, mich anzusehen, obwohl ich schön war. Lag das an meiner lilafarbenen Iris?
Sie zogen sich vor mir zurück, mieden meine Nähe, obwohl mir so oft gesagt wurde, wie wunderschön ich doch war. So wunderschön wie ein Schmetterling.
Ja, ich, das Schmetterlingsmädchen, auf dem ein grausamer Fluch lag. Was nützte mir mein Äußeres, wenn mich doch alle mieden?
Ich hasste das. Und ich konnte nichts daran ändern, das war das Schlimmste.
Wie viel Leid konnte man noch in meine Seele packen, bis sie explodieren, zerbersten würde? Ja, wie viel?
Ich wollte es nicht wissen. Und ganz bestimmt würde ich es nicht ausprobieren. Es lastete schon genug auf meinen zierlichen Schultern. Das musste nicht noch mehr werden.
Ich saß zusammengekrümmt in meiner Ecke, den Kopf an die Knie gelehnt, dass mir die schwedenblonden, leichten Korkenzieherlocken über die Beine fielen. Tränen tropften zu Boden. Niemand wischte mir die Flüssigkeit von den Wangen. Niemand, der mich trösten wollte oder konnte.
Still weinte ich, während meine Fingerspitzen die schmetterlingsartigen Ornamente, die man nur schwach im fast nicht vorhandenen Licht erkennen konnte, nachzeichneten.


Phill saß auf seinem Bett, die Finger miteinander verschränkt, während er ruhig aus dem Fenster blickte. Draußen war es schwer bewölkt, jegliche Sicht auf die Sonne wurde genommen. In seinem großen Zimmer war es dunkel.
Sein Herz hüpfte, es schlug so furchtbar schnell, wie es noch nie geschlagen hatte. Phill spürte etwas.
Etwas, das er noch nie vorher gespürt hatte. Es jagte ihm Angst ein und doch wurde er neugierig. Was war das nur für ein Gefühl? Wo kam es her?
Er spürte, dass bald etwas geschehen würde. Ja, bald. Vielleicht jetzt. Vielleicht morgen. Vielleicht in einer Woche. Er wusste es nicht genau. Er fühlte nur, dass etwas geschehen würde. War es Gut oder war es Schlecht?
Nun, er würde es erfahren. Bald. Ja.


Kapitel eins




Vor meinem inneren Auge tauchte ein atemberaubendes Bild auf.
Der Himmel war bewölkt, jedoch fiel kein Regen. Staub wurde von einer Prise aufgewirbelt. Er verteilte sich in der Luft und sank an einer anderen Stelle wieder langsam zu Boden. Dort würde er verharren, bis er wieder weggeweht wurde.
Links und rechts war Gras, hohes Gras. Es war verwildert. Die Grashalme wuchsen nicht regelmäßig nebeneinander, nein, sie überkreuzten und verhakten sich untereinander. Einige von ihnen waren gelb.
Inmitten dieser Wildnis zogen sich alte Eisenbahnschienen geradlinig über den Boden. Sie verliefen stur geradeaus, es sah aus, als führten sie zum Horizont, weil sie sich weiter hinten verloren. Die Erde war nun mal rund.
Hier war schon lange kein Zug mehr gefahren. Das konnte man am Rost und an den Spinnweben erkennen, die sich um die Schienen webten. Würde die Sonne auf die Erde scheinen, würden sie schimmern.
Bäume gab es hier keine. Nur ganz hinten, auf der einen Seite der verdorrten Wiese, stand ein alter, mächtig wirkender Baum, der seine breiten Äste schützend über die Schienen streckte. Das Blätterdach hatte an manchen Stellen schon Lücken, war jedoch noch immer dicht und saftig grün.
Insekten tanzten durch die Luft, flogen kleine Muster. Das Zirpen der Grillen und das leise Racheln der Grashalme waren die einzigen Geräusche, die hier existierten. Der Ort hier war gottverlassen, so gespenstisch still und doch so furchtbar friedlich.
Ja, dieser Ort war magisch. Man konnte die Spannung in der Luft fast sehen. Nirgendwo konnte man auch nur den Anschein einer Straße entdecken.
Der Ort wirkte, als gehöre er zu einer Geisterstadt im wilden Westen, so verlassen und einsam und doch so berauschend. Dieses Bild in meinem Kopf beruhigte mich. Ich sehnte mich nach diesem Ort, würde am liebsten sofort dort hingehen. Aber das durfte ich nicht.
Ich riss die Augen auf.
Ich wusste nichtmal, ob es diese Stelle überhaupt gab. Meine üppige Fantasie hatte mir schon oft Streiche gespielt.
Ich drehte meinen Kopf auf die Seite, um nach draußen sehen zu können. Dad fuhr mal wieder viel zu schnell.
Die Bäume, Häuser und Schilder draußen verschwommen zu bunten Flecken, die schnell an uns vorbeirasten. Ich konnte nicht viel von ihnen erkennen.
Das laute Rauschen der Autoreifen auf dem Aspahlt erstickten die Laute aus dem Radio. Ich schaltete es ab und presste meinen Rücken fest in den Autositz.
Dad neben mir wirkte nervös und zappelig. Ihm schien es nicht gut zu gehen. Vielleicht bildete ich mir dies aber auch nur ein. Bestimmt war meine Aura ihm unangenehm, wie es jedem anderen auch war.
Andere fühlten sich in meiner Nähe nicht wohl, ganz und gar nicht. Sie konnten es bei mir nicht aushalten. Jeder normale Mensch ergriff die Flucht vor mir. Sie hatten Angst vor mir.
Angst, obwohl ich doch nichts anderes als sie selbst war. Ich war ein Mensch.
Nein. Ich log mir etwas vor, und das wusste ich ganz genau. Ich war kein Mensch, nicht mehr.
Seit dem Tag, an dem ich begonnen hatte, mich zu verändern, war ich nicht mehr menschlich. Nein. An dem Tag, an dem etwas, das in mir war, mich verändert hatte.
Sicher war ich mir nicht, was die Menschlichkeit betraf. Aber ich konnte es spüren.
Andere hatten diese Zeichnungen, Male nicht, die man schwach schimmernd und hell auf meiner Haut erkennen konnte. Auf den ersten Blick vermochte man nicht, sie zu sehen, aber ganz sicher auf den zweiten Blick.
Sie waren wirklich sehr hell. Fliederfarben. Hübsch. Grausam. Ein Fluch.
Im Licht schimmerten sie leicht wie Perlmutt.
Diese schmetterlingsartigen Ornamente auf meiner Haut waren nicht meine einzige Besonderheit. Meine Augen waren es auch.
Sie waren magenafarben, mit einem Stich Lila. Eigentlich war diese Farbe wunderschön. Aber sie war unnatürlich.
Die Leute redeten über mich, steckten die Köpfe zusammen, wenn ich an ihnen vorbeilief. Viele kamen auf Schlüsse, die es gar nicht geben sollte. Schlüsse, die nicht existieren durften, die nicht menschlich waren. Fantastisch.
Sie konnten es nie glauben. Gut so.
Wenn mich jemand nach meinen Augen fragte, log ich. Kontaktlinsen. Die einfachste Erklärung und so leicht. Warum, wusste ich nicht.
Die meisten kamen gar nicht dazu, mit mir zu sprechen, weil sie sofort die Flucht ergriffen. Sie fürchteten sich. Lag es daran, dass sie nicht wussten, was ich war? Oder war es doch meine Aura? Beides konnte zutreffen.
Sie rannten nicht vor mir davon, weil ich hässlich war, das wusste ich ganz genau. Denn ich war alles andere als hässlich.
Ich musterte mich im glatten, eingebundenen Rücken meines Buches, das auf meinem Schoß lag.
Meine schwedenblonden, leichten Korkenzieherlocken lagen über meinen Schultern. Mein Vater stammte aus Schweden und ich sah ihm ähnlich. Mom war Amerikanerin.
Mein Gesicht mit der elfenbeinfarbenen Haut war schmal und schön. Meine Augen waren recht groß und mit langen, dichten, dunkelblonden Wimpern umrahmt. Die Nase war nichts ungewöhnliches, sie passte perfekt in mein Gesicht und war wohlgeformt. Meine Lippen waren immer etwas dunkler und von Natur aus rot.
Weißblond fiel mir mein gerader Ponni ins Gesicht. Meine Haare waren wirklich nicht gerade die dicksten...
Ich war nicht immer so schön gewesen.
Es hatte begonnen, seit dieser unbekannte Fremdkörper in mir hauste. Ich hatte angefangen, mich zu verändern. War schöner und intelligenter geworden. War einfach anders geworden. Wegen diesem Ding, diesem Virus, oder was auch immer es sein mochte. Eines war klar: Es hatte sich rasend schnell in meinem Körper ausgebreitet, mich so stark verändert. Meine Eltern waren geschockt, entsetzt und überrascht gewesen.
Sie hatten Angst um mich gehabt und ich glaubte, die hatten sie heute auch noch.
Sie waren nie mit mir zu einem Arzt gegangen, weil sie genau wussten, dass das, was da mit mir vorging, nicht normal war, nicht gewöhnlich. Also hatten sie es sein lassen. Gut so. Hätte ja sein können, dass mich die Ärzte unter Karantäne genommen hätten. Wissenschaftler und Professoren hätten mich untersucht, als Wunder der Menschheit. Nein, das war nichts für mich.
Niemand wusste, wie es mit mir weitergehen würde. Konnte sein, dass ich schon morgen nicht mehr erwachen würde.
Wie oft hatte ich mir das schon gewünscht? Tausend mal? Mindestens.
Es war einfach nur wunderbar, daran zu denken, nicht mehr leben zu müssen, nicht mehr verspottet und ausgegrenzt zu werden. Nichts war geschehen, ich lebte noch immer.
Das hier, heute, würde mein fünfter Schulwechsel sein. Schon wieder. In der anderen Schule hatte ich es nicht mehr ausgehalten. Außerdem wären wir sowieso umgezogen.
Hier würde es auch nicht besser werden, das wusste ich einfach. Man würde vor mir davonlaufen, wie alle es taten. Es war unvermeidlich.
Was mein Äußeres betraf, würde ich meine Klassenkameraden anlügen müssen, wenn sie mir irgendwelche Fragen stellen würden, was bestimmt nicht passieren würde. Kontaktlinsen in den Augen. Ja, das war gut.
Lügen. Lügen, wie ich es mein ganzes Leben getan hatte.
Am liebsten würde ich in die Klasse schreien: Ich bin wie ihr, ich bin ganz normal!
Das wäre nur eine weitere Lüge gewesen. Denn ich war eben nun mal anders, nicht wie sie.
Ich war kein Mensch mehr. Aber was war ich denn dann?
Das Schmetterlingsmädchen? Möglicherweise.
Gäbe es das »Schmetterlingssyndrom« nicht, würde ich das, was mit mir vorging, wohl so nennen. Aber das Schmetterlingssyndrom war etwas ganz anderes, deshalb konnte ich das nicht tun.
»Janna, wir sind gleich da.«, sagte mein Vater und pustete sich das fedrige hellblonde Haar aus der Stirn.
Wenn mein Vater vorgehabt hätte, mich damit zu ärgern, hätte es geklappt. Ich wollte es nicht hören.
»Es wird schrecklich, es wird so schlimm...«, dachte ich, während ich meine volle Unterlippe auf die etwas schmalere, spitzere Oberlippe presste.
Mom meinte dann immer, ich würde einen Schmollmund ziehen.
Wir verließen den Roadway und kamen auf eine andere Straße. Dad verringerte die Geschwindigkeit.
Ich wäre selbst gefahren, wenn ich ein Jahr älter wäre. Den Führerschein hatte ich schon gemacht, ich war eine gute Autofahrerin.
Wir fuhren durch den Wald, der dunkel und bedrohlich wirkte. Lag vielleicht an den dunklen Wolken, die die Umgebung verdüsterten.
Bald schon verließen wir ihn wieder und fuhren an der totalen Einöde vorbei.
Dad hielt den Wagen und schaute mich an.
»So, wir sind da.«
Das hier war also meine neue Schule. Klein, verlassen, allein, düster. Okay.
Das Äußere würde nichts im Vergleich mit den Schülern sein, die innen auf mich warteten.
Ich seufzte, packte mein Buch in die Schultasche und rutschte vom Beifahrersitz.
»Ich hole dich dann heute ab.«, sagte Dad und lächelte mich an.
Ich schlug die Autotüre hinter mir zu und kehrte dem großen Wagen meines Vaters den Rücken zu.
Er war froh, dass ich ausgestiegen war. Das spürte ich. Wer würde denn nicht froh sein, wenn das Mädchen, das neben einem gesessen hatte und eine unerträgliche Aura besaß, weggehen würde?
Das hieß nicht, dass mein Vater mich nicht liebte. Nein. Er und Mom, ja, sie beide liebten mich sogar sehr und das hatten sie mich immer spüren lassen.
Aber sie waren eben auch nur Menschen. Und Menschen hassten meine Nähe, so freundlich und schön ich war.
Langsamen Schrittes ging ich über den grauen, tristen Pausenhof, näherte mich dem Schuleingang, auf dessen Stufen zwei Mädchen lungerten.
Kaum zu glauben, das dass hier eine Elite-High School war.
Ich würde die Jüngste an dieser Schule sein, mit meinen Fünfzehn Jahren. Meine Noten waren schon immer überdurchschnittlich gewesen. Meine Leistungen steigerten sich immer weiter. Das lag bestimmt an dieser Seuche, die in meinem Körper wucherte.
Als ich an den beiden Mädchen vorbeiging, zogen sie sich sofort zurück, wichen von mir, gingen mir aus dem Weg. Sie krallten sich aneinander.
»Die macht mir Angst. Und ich weiß noch nicht einmal, warum.«, flüsterte eines der Mädchen dem anderen zu.
Fing ja schon mal gut an. Trauer keimte in mir auf. Es würde sein wie immer. Schrecklich. Mehr nicht.

Der Lehrer, Mr Schuman, lief vor mir und lachte.
»Nimm es nicht persönlich, falls sie dir Dinge an den Kopf werfen sollten, die du eigentlich nicht hören wolltest.«, sagte er.
Ich hatte ihn soeben auf dem Gang getroffen und ihn gefragt, wo der Raum Nummer einhundert war. Es hatte sich herausgestellt, dass er mein neuer Klassenlehrer sein würde.
»Hmhmm.«, machte ich nur und folgte ihm, darauf achtend, genug Abstand zu halten.
Tolle Aufheiterung. Ich konnte es kaum abwarten, meine neue Klasse kennenzulernen.
Mr Schuman wollte meiner Nähe entfliehen und war dennoch freundlich zu mir. Das hatte ich selten erlebt. Es fühlte sich gut an, zur Abwechslung wie ein normaler Mensch behandelt zu werden.
Ich mochte Mr Schuman schon jetzt. Er hatte die Ornamente auf meiner Haut bemerkt, hatte jedoch nicht weiter danach gefragt. Das war ein Pluspunkt.
»Wir sind gleich da.«
Er bog um eine Ecke. Ein langer Gang lag vor uns, links und rechts davon Türen, die mit Schildern, auf denen Nummern prangten, versehen waren. Raum 98, Raum 99, Raum hundert.
Wir waren da.
Er legte seine Hand auf die Türklinke, was mir gerade noch genug Zeit verschaffte, tief durchzuatmen und meinen Mut zu sammeln. Ich würde mich gerne damit aufheitern, dass das, was mich darin erwartete, nicht so schlimm sein würde. Aber da es eine Lüge gewesen wäre, tat ich es nicht.
Er drückte metallene Klinke herunter und öffnete schwungvoll die Türe. Mit angeschwollener Brust und erhobenem Haupt marschierte er in die Klasse, mit einem breiten Grinsen auf den Lippen.
»Einen wunderschönen guten Morgen, allerseits!«, flötete er fröhlich und knallte seine Lehrertasche auf das Pult.
Irgendetwas bei diesem Mann war schiefgelaufen. Er war unglaublich fröhlich, konnte jedoch seine Tasche wie ein Wütender auf denTisch knallen, um die Klasse damit zu erschrecken und hellhörig zu machen.
Noch immer stand ich vor der Türe und wagte nicht, dieses Zimmer zu betreten. Ich war verwurzelt mit dem Boden.
Die Schüler redeten, kicherten, meckerten. Einige murmelten ein »Guten Morgen«.
Mr Schuman schritt langsam in die Mitte des Raumes und verkündete lautstark:
»Ihr Lieben, ich darf euren Tag heute mit einer guten Nachricht bereichern. Ihr bekommt eine neue Klassenkameradin!«
Er sagte das, als wäre dies ein Grund zum Feiern und nicht zum Weinen.
Vor der Türe lief ich rot an, mein Herz begann, schneller zu schlagen. Musste er das so sagen? Irgendwie war das peinlich.
Mr Schuman wirkte mit seinen etwa sechzig Jahren von dem Charakter her wie ein siebenjähriger Junge.
Ich fragte mich, wie das Schuljahr werden würde...
Die Klasse verstummte sofort, kaum waren seine Worte draußen.
»Du kannst jetzt reinkommen.«, rief er mir zu.
Okay. Ganz ruhig. Ich holte noch einmal tief Luft und setzte dann einen Schritt nach dem anderen in den Raum, bis ich neben Mr Schuman stand. Die Hände hatte ich hinter dem Rücken verschränkt. Erst starrte ich meine Füße an, dann hob ich den Kopf und blickte in die Schülermenge.
Einige hoben die Hände vor die offenen Münder, andere teilten ihr Entsetzen nicht so offensichtlich mit. Gemurmel wallte durch den Raum.
Ein Mädchen in der ersten Reihe stieß sich mit den Füßen nach hinten, woraufhin ihr Stuhl über den Boden quietschte und schließlich an den Tisch hinter ihm stieß. Der Junge neben ihr flüsterte ihr leise zu:
»Man, ich habe gerade eine Gänsehaut, und ich weiß nichtmal, warum. Ich fühle mich unwohl.«
Mein Herz wurde schwer. Es war wie immer.
Alle Schüler senkten ihre Köpfe, sie konnten es nicht ertragen, mich anzusehen. Der Finger eines zierlichen Mädchens schoss in die Luft. Obwohl sie versuchte, sich zu beherrschen, zitterte ihre Hand.
»Ja, bitte, Gina?«, sagte Mr Schuman.
»Ich, ähm... Darf ich bitte mal schnell an die frische Luft? Mir ist aufeinmal so schlecht!«
Er nickte und wies auf die Türe. »Aber nicht zu lange.«
»Ähm, ich gehe mit ihr, kann ja sein, dass sie umfällt!«, brüllte ein Junge hinter ihr.
»Ich gehe auch mit! Falls sie sich übergeben muss!«
Die drei standen gleichzeitig auf und verließen schnellen Schrittes das Klassenzimmer. Im Vorbeigehen warf mir keiner der drei einen Blick zu.
Mr Schuman hob den Zeigefinger in die Luft und setzte an, etwas zu sagen, aber da waren die drei auch schon verschwunden. Sein Mund stand noch einige Sekunden offen, dann ließ er den Finger wieder sinken und schloss den Mund.
»Okay, das war jetzt seltsam gewesen. Stell dich doch bitte vor.«
Er schaute mich ernst an und wandte dann sofort wieder den Blick von mir ab.
Meine linke Hand ballte sich ganz von alleine zu einer Faust. Niemand bemerkte es, alle musterten interessiert die Kritzeleien auf den Tischplatten.
»Ich bin Janna, fünfzehn Jahre alt und freue mich, hier zu sein.«, brachte ich flach hervor.
Mein Herz überschlug sich. Ich wünschte mir fest, an einem Herzinfarkt sterben zu dürfen. Jetzt. Sofort.
»Die Freude ist ganz unsererseits.«, grinste Mr Schuman.
Mein Blick streifte durch die einzelnen Sitzreihen. Die Schüler sahen entsetzt und geknickt aus. Freude. Ja, klar.
»Janna, setze dich doch bitte auf den letzten freien Platz dort hinten.«
Mr Schuman deutete auf die letzte Reihe, die eigentlich nur aus drei Tischen bestand. Ein Junge, der den Kopf gelangweilt in die Hände gstemmt hatte, saß ganz an der Wand. Daneben waren zwei Plätze frei.
Ich setzte mich nicht neben den Jungen, sondern an den Rand. Ich wollte ihn nicht unnötig quälen. Außerdem gehörte der Platz neben ihm bestimmt schon jemandem, der heute, so wie es aussah, nicht anwesend war.
Mr Schuman begab sich zu seinem Pult, setzte sich hin und kramte eine Liste hervor.
»Gut. Dann wollen wir doch mal die Anwesenheit prüfen.«
Er las Namen vor, und auf jeden bekam er ein gepresstes »Anwesend«. Der Junge fast neben mir, sagte, als er an der Reihe war: »Anwesend, leider.«
Dabei sah er kurz zu mir herüber.
Mit einem Klos in der Kehle starrte ich stur geradeaus.

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Texte: Copyright @ by raine.
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Michael

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